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Für Rekruten (erste Mission):
Auf dem heutigen Ausbildungsplan steht "Das Hauptwachehaus".
Heute lernst du jeden noch so fernen Winkel des Wachehauses am Pseudopolisplatz kennen. Komisch nur, dass du dazu mit einem Eimer und einem Mob ausgerüstet wurdest.
Dafür vergebene Note: 10
5.00 Uhr: Der Tag fing schon seltsam an. Sie wurde vom Schrei eines Tieres geweckt. Sie kannte diese Art von Tier nicht, aber sie hatte den Schrei schon einmal gehört, an einem frühen Morgen auf einem Hof. Panisch sprang sie auf und wollte flüchten, doch dann wurde ihr klar, dass sie doch längst nicht mehr gejagt wurde. Dieser Schrei hatte sie nur daran erinnert.
"Schäm' dich!", schalt sie sich. "Als angehende Rekrutin hast du doch keine Angst vor so einem Federvieh!"
Moment, Rekrutin, da war doch was... Oh verdammt, heute war doch der Termin, oder? Ihr erster Tag als Rekrut?? In der Wache??? Um halb sechs??!??!
Zwanzig Minuten später hatte sie es irgendwie geschafft, in ihre Kleidung zu springen, und hetzte durch die Straßen. Nur noch drei Kurven... Merde, da waren Leute. Einige hatten Eisen dabei. Also umdrehen, vier Straßen Umweg und das war's mit dem guten Eindruck durch Überpünktlichkeit.
Jawoll! Da war die Tür, gerade noch pünktlich. Im vollen Lauf jagte sie darauf zu. In der Tür hatte Spica tatsächlich ihre Schritte auf ein halbwegs normales Tempo reduziert. Sie schloß vorsichtig die Tür, allerdings nicht ohne zu kontrollieren, ob sie eventuell jemanden dazwischen zerquetschte oder ihm den Weg versperrte. Alle Blicke lagen auf ihr, das spürte sie. War ja auch irgendwie klar, ein neues Gesicht und dann auch noch ein so abnormaler Anblick. Immerhin sah man nicht alle Tage eine rothaarige Elfe, die sich ohne Glamour zeigen konnte. Sie drehte sich um… und blickte auf eine vor Waffen starrende Menge. Mit EISENwaffen! Wie war sie nur auf diese völlig hirnverbrannte Idee gekommen, sich HIER einzuschreiben! Sie würde den ganzen Tag mit dieser Menge EISEN in einem Raum sein! 24/8!!!
"Noch kannst du gehen!", dachte die Elfe. Aber sie würde nicht kneifen. Nie wieder. Beim letzten Mal hatte sie noch zu den anderen gehört. Deshalb hatten sie sie zurückgelassen. Aber an die Zeit dachte sie nicht gern zurück. Sie ging durch den Raum zum Schalter und hörte, kaum dass sie sich umgedreht hatte, dass sich hinter ihrem Rücken sämtliche Wächter zueinander drehten und tuschelten. Spica wusste, was sie sagen würden und hörte absichtlich weg, was nicht einfach war, weil die meisten Wächter jenes Flüstern beherrschten, das man im dritten Stock noch hörte, wenn man nur am Schornstein lauschte.
"Mein Name ist Spica Virgo. Ich werde von Oberfeldwebel Feinstich erwartet. Können Sie mir bitte sagen, wo ich sie finden kann?"
"Hmmm?", kam es von dem wohl ziemlich verschlafenen Rekruten hinter dem Schalter.
Das war unbefriedigend. Also griff sie kurzerhand über die Theke, packte ihn am Kragen und zog ihn direkt zu ihrem Gesicht.
Sie starrte ihm in die Augen und zischte: "Oberfeldwebel Feinstich! Wo finde ich sie?"
Jetzt war der Rekrut wach. "Sie kommt gleich runter, du solltest also vielleicht einfach hier warten. Und kannst du mich runterlassen, bitte?"
Spica ließ los. "Danke", kam es von dem jetzt ziemlich eingeschüchterten Jungen. Jetzt tat er ihr irgendwie leid.
Sie ging vom Schalter weg zur Wand, von der aus sie alle Türen, alle Fenster, sämtliche anwesenden Personen und sogar das Rohrpostsystem, von dem sie schon einiges gehört hatte, sehen konnte und die eine halbwegs sichere Position darstellte, an der sie sich bewegen, wehren und verstecken konnte. Das war eine Art Tick von ihr, sie traute nicht vielen und erwartete immer einen Angriff. In einer Stadt, in der wirklich jedes Kleinkind mit Eisen herumlief, war das auch eine gute Idee, immerhin würde sie sonst an jeder Straßenecke umkippen und dann womöglich noch zu einem Arzt gebracht werden. Da war es schon besser, jede Gesellschaft zu meiden.
Sie merkte, dass sie wohl etwas abgelenkt gewesen war, denn die Wächter starrten sie an, als hätten sie einen Geist gesehen. Verdammt, der Glamour! Das passierte jedes Mal, wenn sie nicht aufpasste. Gleich würde sie sich mit sechs Schwertern am Hals wiederfinden und dann musste sie weiterziehen. So lief das immer.
In diesem Moment ging eine Tür auf und ihr Name wurde gerufen. Spica sah auf und stand ihrer Ausbilderin gegenüber. Zackig salutierte sie und erntete einen kollektiven schiefen Blick von den Wächtern. Das schienen sie nicht oft zu machen. Naja, Anfängerfehler. Sie musste noch viel lernen, war ja Rekrut, dazu war sie da.
"Ah, die neue Rekrutin! Komm bitte mit in mein Büro.", sagte Rogi Feinstich. Spica sah deutlich, dass der Oberfeldwebel versuchte, ihr Misstrauen nicht so offensichtlich zu zeigen, und dass sie sich alle Mühe gab, Spica gegenüber offen zu sein. Das gelang ihr zwar nicht ganz, aber sie versuchte es zumindest, weshalb Spica beschloss, sämtliche kleine Vorurteile, die sie auf diese oder jene Art äußerte, auszublenden und das Gespräch als absolut positiv und vorurteilsfrei aufzufassen. Auf dem Weg kamen sie an ein paar anderen Wächtern vorbei und Spica spürte sofort die Blicke, mit denen sie traktiert wurde. Sie waren nicht feindselig, eher neugierig, aber sie empfand nahezu jede Aufmerksamkeit als Bedrohung. War ja auch kein Wunder, wenn man monatelang verfolgt worden war. Elfe sein war nicht immer praktisch.
Im Büro angekommen setzte sich Rogi hinter den Schreibtisch. Spica blieb zögernd stehen.
"Fetf' dich doch!", meinte der Oberfeldwebel und deutete auf einen Stuhl ihr gegenüber. Spica setzte sich und blickte sie erwartungsvoll und – zugegeben – etwas nervös an.
"Hallo erftmal.", sagte ihr Gegenüber, "Ich gehe davon auf, daff du dich über deine fukünftigen Aufgaben alf Wächter informiert haft. Fallf nicht, kein Problem, ich gebe dir jetft einfach eine kleine Einführung. Alf Rekrut bift du einem Grofteil der anderen Wächter unterftellt, du haft diefe alf Vorgefetfte fu behandeln. Du wirft Befehle befolgen und Fälle aufklären (helfen, da du erft Rekrut bift). Du wirft ftetf bereit fein, Leben fu retten und Verbrechen fu bekämpfen. Du wirft lernen, zwischen lifenfierten und unlifenfierten Morden, Diebftählen, allgemein Verbrechen fu unterscheiden. Du wirft..."
Spica schaltete innerlich ab, ließ die Worte durch das eine Ohr hinein- und durch das andere wieder hinausfließen und träumte von großen Taten, die sie vollbringen würde. Oberfeldwebel Feinstich schloss ihren Monolog mit den Worten "Haft du noch irgendwelche Fragen?"
Ja, die hatte sie, und zwar nicht zu knapp. Doch da wurde sie schon unterbrochen, wieder ohne dass sie etwas gesagt hätte.
"Die normalen Fragen beantworte ich schon mal vorweg. Deine Aufbilderin bin ich, das Training fängt heute Nachmittag an. Um vier, fei pünktlich. Deine Uniform bekommft du, wenn ich es arrangiert bekomme, dir einen Fpind fufuteilen. Da liegt fie dann drin. Waffen darfft du erft tragen, wenn du daran aufgebildet wurdeft und wenn du Glück haft, nimmt dich bald jemand auf einen Aufeneinfatf mit, vermutlich ich. Daf fragen alle, haft du noch andere Fragen?"
"Ja, eine Frage hätte ich da noch.", antwortete die Elfe. "Werde ich an solchen Waffen ausgebildet, wie die anderen Wächter tragen oder an anderen?"
Rogi schien verwirrt. "Die Frage hat mir tatfächlich noch keiner geftellt. Ich würde davon ausgehen, daff du an denfelben Waffen aufgebildet wirft. Warum?"
Spica schwieg. Ihre Ausbilderin starrte sie an. Ein paar Sekunden später verstand sie.
"Du bist ja eine Elfe, nicht war? Keine Angft, daf schaffen wir schon irgendwie. Im Fweifelffall übft du mit Holfschwertern und fafft die Armbruft mit Handschuhen an. Oder du beforgft dir irgendwo ein Meffer, daf du berühren kannft ohne umfukippen. Keine Forge, daf schaffen wir!"
"Ich kenne jemanden, der sehr gute Bronzemesser macht.", antwortete die Rekrutin. "Ich hole auch meine Küchenmesser immer da."
"Na dann ift doch allef geklärt, oder? Ich erwarte dich dann heute Nachmittag um vier unten vor der Tür. Und du weift ja, Pünktlichkeit ift allef. Wegtreten."
Mit diesen Worten wurde sie von ihr zum Gehen aufgefordert. Sie stand auf, salutierte zackig und ging mit schnellen Schritten aus dem Gebäude. Sie hatte noch etwa sieben Stunden, bis sie wieder im Wachhaus sein musste. Die Zeit wollte sie nutzen. Schließlich brauchte sie zumindest noch etwas Erfahrung, was den Umgang mit Menschen betraf.
Auf dem Weg zu ihrem Lieblings-Bronzeschmied machte sie normalerweise einen Umweg, um nicht direkt über irgendeinen Markt laufen zu müssen. Heute hatte sie sich vorgenommen, keinen einzigen davon auszulassen. Sie hatte sich sogar eine Liste geschrieben. Vom Gewürzmarkt bis zum Hier-gibt's-alles-Platz standen alle großen Plätze mit möglichen Menschenmengen darauf. Immerhin konnte man eine Wächterin, die nicht mit Menschen klarkam, wohl eher wenig gebrauchen.
Auf etwa zwei Drittel der Plätze fand sie auch relativ viele Menschen auf relativ wenig Platz und zwang sich dazu, sich mitten durch sie hindurch zu drängen. Als sie bei ihrem Schmied ankam, bot der der abgehetzt wirkenden Elfe erstmal einen Kaffee an, der auch dankend angenommen wurde. Spica konnte acht Liter Kaffee am Tag trinken und tat das auch ziemlich oft.
Als sie sich etwas beruhigt hatte, besprach sie ihr Anliegen mit dem Schmied. Der erklärte sich sofort bereit, einer seiner wenigen Kundinnen einen Bronzedolch zu schmieden "von dem selbst Könige nur träumen" (sein Wortlaut). Er würde ihn am nächsten Tag an der vereinbarten Stelle auf den Ankh legen, von wo er zu ihrem wegen der Strömung fest verankerten Floß hinuntertreiben würde. Er hatte sich schon immer über die Abmachung gewundert, traute sich aber nicht, das auszusprechen, aus Angst, eine seiner wenigen Kundinnen zu verlieren. Dass sie auf dem Ankh lebte, wusste er allerdings nicht, das wusste keiner. Sie hatte sich ihr Häuschen auf einem Floß gebaut, damit sie, falls es nötig werden sollte, mobil war und auf der Stelle das Land verlassen konnte. Man konnte als Elfe ja nie wissen, ob vielleicht eine paar altmodische Zwerge in der Nähe waren. Zwerge hassten Elfen. Normalerweise jedenfalls. Spica war bisher nur einem einzigen Zwerg begegnet, der sie nicht sofort mit seiner Axt hatte köpfen wollen, und das auch nur, weil er so betrunken war, dass er nicht mehr erkannt hatte, welche Rasse vor ihm stand.
Sie bezahlte den Schmied wie immer im Voraus und ging, auch diesmal ohne einen Marktplatz auszulassen, zurück zum Fluss, stieg auf die Kruste und löste sich nach ein paar Metern in Luft auf. Eigentlich tat sie das nicht, es sah nur so aus, aber genau so sind die Geschichten entstanden, denen zufolge ab und an Menschen in abgelegenen Gegenden (oder eben auf dem Ankh) bei helllichtem Tage vom Erdboden verschluckt und manchmal nie wieder gesehen werden. Spica war nur in ihre private Tarnzone um ihr Floß eingetreten. Die Zone wurde von einer Trom aufrechterhalten. Sie hatte die Trom während der Zeit ihrer Verfolgung gefunden und war mit ihr gereist. Als Beitrag zu ihrer Gemeinschaft baute die Trom den Traum des unsichtbaren Floßes auf. Die Elfe hingegen brachte ihr alles, alles was sie brauchte, und sorgte dafür, dass sie auch noch eigene Träume haben konnte. Allerdings achtete Spica immer darauf, dass ihr keiner zusah, wenn sie nach Hause ging, denn es würde eine Katastrophe geben, wenn sie jemand verschwinden sehen würde. Einmal hatte sie ganze sieben Stunden gewartet, bis endlich niemand mehr am Ufer stand. Sie mochte sich gar nicht ausmalen, wie es sein würde, wenn auf einmal eine Horde verrückter Forscher auf den Ankh gerannt kämen und "das Rätsel um die verschwundene Jungfrau" zu lösen versuchten. Dabei würden sie auf jeden Fall einige interessante Entdeckungen machen, aber bis dahin wäre sie schon längst nach Klatsch ausgewandert. Dabei versuchte sie doch gerade, endlich Fuß zu fassen in einer Welt, die ihrer eigenen so fremd war, wie sie nur sein konnte.
"Wir werden uns die Erde untertan machen!", hatte die Königin ausgerufen. Haha, sehr witzig. Und jetzt saß sie hier und hoffte auf eine Zukunft bei der Wache, um die Vergangenheit zu vergessen.
"Selber schuld, Königin!", dachte sie. "Du hast eine Verbündete weniger in deiner Welt, und dafür eine Feindin mehr in der anderen."
Spica grinste böse, als ein ziemlich grausamer Gedanke durch ihren Kopf zuckte. Dann schüttelte sie ihn ab und dachte lieber an den kommenden Nachmittag. Was sie wohl alles würde tun müssen? Wie lange würde die Ausbildung dauern, wann würde sie welchen Teil des Wächterlebens lernen, wie war das „Training“ wohl aufgebaut? Ganz leise stieg die Ahnung in ihr hoch, dass sie wohl besser hätte zuhören sollen, als ihre Ausbilderin von ihren Aufgaben zu schwafeln begonnen hatte. Egal, das würde sich schon irgendwie finden. Eine Frage fiel ihr ein, die sie während des Gesprächs völlig vergessen hatte: Hatte sie Kameraden? Es gab doch bestimmt andere Rekruten, oder? Ja klar, der Typ hinter dem Tresen war doch Rekrut gewesen. Aber er war schon so viel länger da als sie, er würde wohl kaum mit ihr trainieren, oder? Ziemlich in Gedanken machte Spica sich ans Kaffeekochen.
Es war kurz nach drei. Spica saß am Küchentisch, philosophierte über Überschneidungen und rührte ihren Kaffee. Das war auch nötig, denn sie bevorzugte ihn mit mindestens sechs Löffeln gemahlenem Kaffee. Pro Tasse. Schön dickflüssig. Sie konnte theoretisch auch normalen Kaffee trinken, verstand aber nicht, wieso sie dieses wässrige Zeug einem guten starken Kaffee vorziehen sollte. Irgendwo in ihrem Kopf klingelte ein Wecker.
"Ach, stimmt ja! Das Rekrutentraining!", rief sie, stand auf und ging gemütlich in Richtung Wachhaus.
Punkt vier Uhr stand Spica mit ihrer Ausbilderin vor dem Wachhaus in der Kröselstraße.
"Hallo, Rekrutin Virgo!", wurde sie begrüßt. "Heute wirft du daf Herfftück unferer Wache kennenlernen: Unfer Hauptwachhauf. Um dein bifherigef Wiffen über unf fu teften, werde ich dich den Weg wählen laffen und ab und an Fragen ftellen, die du fu beantworten haft. Alfo: Wohin wollen wir?"
"In das Hauptwachhaus am Pseudopolisplatz, Frau Oberfeldwebel.", antwortete Spica.
"Korrekt. Und welchen Weg würdeft du gehen?"
"Kommt auf die Situation an." Spica versuchte ihre Antworten so umsichtig wie möglich zu formulieren. "Würde ich verfolgt werden, würde ich einen Umweg über jeden einzelnen Platz der Stadt machen. Würde ich hingegen Menschen meiden müssen, würde ich über die Dächer oder durch die kleinen Gässchen gehen, wobei die Dächer zu bevorzugen wären, weil da keiner ..."
"In unferer jetfigen Fituation, Rekrutin!", unterbrach ihre Ausbilderin sie. Sie war sichtlich genervt, versuchte das aber zu verstecken. "Wir werden weder verfolgt, noch müffen wir Menschen meiden. Wo gehen wir lang?"
"Na, dann würde ich durch die mittelgroßen Straßen gehen. Die großen sind immer verstopft.", antwortete die Elfe. Auf den Blick des Oberfeldwebels fügte sie hinzu: "Da runter."
Als sie am Pseudopolisplatz angekommen waren, hielt Rogi ihre Rekrutin zurück.
"Der Weg, den du gewählt haft, war definitiv nicht der kürfefte. Vielleicht follteft du dich noch einmal mit den Ftrafen hier vertraut machen.", sagte sie. "Jedenfallf: Da drin erwartet dich deine erfte Aufgabe."
Spica ging kleinlaut hinter ihr her, um ja nicht noch einen Fehler zu machen. Gleich am ersten Tag!
Sie blieben vor einer Tür stehen.
"Du wirft dir heute ein fehr detailreichef Bild von diefem Wachhauf machen. Hinter diefer Tür findeft du allef, waf du dafür brauchft. Ich gehe mir infwischen einen Kaffee holen. Ich fähle darauf, daff du deine Aufgabe gewiffenhaft erledigft. Und vergiff die Ecken nicht."
Dann war Rogi weg.
Vergiss die Ecken nicht. Was hatte sie denn damit gemeint?
Spica starrte erwartungsvoll auf die Tür. Was brauchte man denn, um sich ein Bild von etwas zu machen? Sie würde sich einfach eine Karte zeichnen, beschloss sie und öffnete die Tür. Der Raum war klein und an den Wänden waren Regale voller Behälter. Als sie hineingehen wollte, stolperte Spica über etwas. Sie sah nach unten und fand dort einen Wischmob. Das war also ihre Aufgabe. Sie sollte die Putzfrau spielen.
"Praktikantenarbeit!", schoss es ihr durch den Kopf. Aber dann fiel ihr auf, dass sie als Rekrut ja im Endeffekt das Äquivalent eines Praktikanten war, und sie machte sich daran, den Eimer, in dem der Mob gestanden hatte, mit Wasser zu füllen.
Im Erdgeschoss passierte noch nichts Ungewöhnliches. Sie wurde ziemlich seltsam angestarrt, aber das war ja normal. Einmal wäre ihr der Rohrpostdämon fast in den Putzeimer gefallen, weil sie das Rohr vorher poliert hatte. Er war circa 18 cm groß, wirkte muskulös und trug die Haare in einem Pferdeschwanz. Er hätte attraktiv sein können, hätte er nicht, als sie ihn auffing, eine heftige Schimpftirade losgelassen, "was ihr denn einfiele, ihm seinen Diestweg nahezu unpassierbar zu machen, ohne den Dreck fiele er bei dem Schwung, den er hatte, doch einfach raus, wieso ausgerechnet jetzt das Rohrsystem gereinigt werden müsste..." und so weiter. Das Meiste war Blödsinn, das wusste sie. Immerhin beschwerten sich die Rohrpostdämonen immer darüber, dass sie über den Dreck fielen. Das hatte sie in der Kantine aufgeschnappt, als sie in das Wachhaus in der Kröselstraße gekommen war. Aber da sie es nicht sonderlich mochte, beleidigt zu werden, polierte sie die Rohre von jetzt an besonders gründlich und stellte jedes Mal den Eimer genau darunter. Vielleicht fiel er ja noch mal heraus. Leider sah sie den Dämonen an dem Tag nicht mehr wieder.
Im ersten Stock war es ebenfalls herzlich langweilig, bis sie vor der Tür, auf der "Labor 2" stand, ankam. Sie putzte gemütlich den Flur, als sie plötzlich auf einen Hammer herabblickte. Es war kein gewöhnlicher Hammer, sondern einer von der Sorte, die man zum Kämpfen nimmt. Ganz langsam folgten ihre Augen dem Stiel, dann den Händen und Armen, die ihn hielten, zu einem Gesicht. Sie stand vor einem Zwerg. Und der wusste genau, was sie war. Plötzlich griff eine Hand von hinten die Schulter des Zwergs. Der drehte sich mit zornigem Gesicht um.
"Was ist?", fauchte der Zwerg.
Der Unbekannte antwortete: "Das ist eine neue Rekrutin, kein Wunder, dass wir keine mehr bekommen, wenn du alle so empfängst!"
"Aber siehst du das denn nicht?", schrie der Zwerg. "Sie ist eine von IHNEN!!!"
"Von was?", fragte der Unbekannte.
Spica wartete nicht auf den Ausgang des Gesprächs, sondern floh und versteckte sich in einem Raum weiter vorne auf dem Stockwerk.
Ein paar Minuten später hörte sie, wie der Zwerg fluchend an dem Raum vorbeiging und dem anderen zurief: "Wenn ich sie finde, dann ist hier aber was los, das kann ich dir versprechen!"
Spica beeilte sich mit dem Rest des Stockwerks und flüchtete regelrecht in das nächsthöhere.
In den anderen Obergeschossen war genauso wenig los wie im Keller. Spica wollte gerade den Mob wegstellen, als ihr einfiel, dass sie den Taubenschlag vergessen hatte. Also machte sie sich zähneknirschend noch mal auf den Weg, nahm aber diesmal noch eine harte Schrubbbürste und einen Staubwedel mit.
Im Taubenschlag angekommen starrte sie ungläubig um sich. Der Raum sah aus, als hätte hier schon seit Jahren niemand mehr geputzt. Das würde ein ganz schönes Stück Arbeit werden.
Zwanzig Minuten später kroch sie auf Knien durch den Taubenschlag und schrubbte. Nur gut, dass sie die harte Bürste mitgenommen hatte, ohne wäre das beim besten Willen nichts geworden. Ein paar Meter weiter fand sie ein Mauseloch in der Wand. Sie würde es zukleistern, wenn sie fertig war.
Um gefühlt zehn Uhr nachts, die Sonne war schon untergegangen, war Spica dabei, die Fenster abzustauben. Beim letzten Fenster blieb die Staubwolke seltsamerweise in der Luft hängen, aber sie dachte sich nichts dabei. Wieso auch, in großen Teilen Ankh-Morporks war das normal. Schließlich widmete sie sich dem Mauseloch. Doch gerade, als sie es zukleistern wollte, sah sie etwas sich darin bewegen. Etwas, das definitiv keine Maus war.
"Komm raus!", flüsterte sie. "Ich tu dir nichts. Ich muss das Loch zumachen, aber wenn du willst, suche ich dir einen anderen Platz."
Hinter dem Loch raschelte es und es klang, als würden sich kleine Gestalten untereinander beratschlagen. Schließlich erklang eine piepsige Stimme.
"Du wirst uns auch ganz sicher nichts tun?", fragte sie.
"Nein, komm ruhig raus.", antwortete die Elfe.
Drei kleine Gestalten kamen aus dem Loch heraus. Sie waren alle klein, aber nur eine ähnelte einer Maus. Die Maus war weiß, erinnerte irgendwie an ein Haustier. Die Person, die gesprochen haben musste, war winzig und flog mit kleinen glitzernden Flügelchen. Das dritte war nicht schwer zu erraten; Es war ein Kaffeedämon. Die Staubwolke kam herabgeschwebt und hing jetzt über den dreien.
"Wer seid ihr denn?", fragte Spica.
"Ich bin eine Fee.", antwortete das geflügelte Wesen. "Aber das Ganze mit dem Gehorchen und süß sein war mir viel zu stressig. Also hab ich versucht, eine andere Arbeit zu finden und bin hier untergetaucht."
"Wie du vielleicht schon entdeckt hast,", quäkte der Dämon. "bin ich ein Kaffeedämon. Ich saß mal in der Kaffeemaschine in der Kantine, aber ich kann nun mal keinen Kaffee kochen und wurde immer nur beschimpft, da hab ich das Handtuch geworfen. Dabei hätte ich so gerne mal gemalt. Ich hab immer kleine Rosen und so'n Zeug auf den Schaum gemacht. Das fanden die aber nicht toll, die wollten nur Kaffee."
Die Maus piepste. In Spicas Kopf erschienen die Worte: "Ich bin eine Universitätsmaus. Ich bin aus der Unsichtbaren Universität entwischt. Da habe ich anscheinend etwas von der Magie abbekommen. Und jetzt bin ich hier gelandet."
Plötzlich hörte Spica eine vierte Stimme. Sie war weich und melodisch, schien aus der Staubwolke zu kommen.
"Ich bin die Göttin des Staubs. Man glaubt nicht mehr an mich. Ich habe mir einmal einen Spaß daraus gemacht, hier alles zuzustauben, aber dann hat sich das Tor geschlossen und jetzt komme ich hier nicht mehr weg. Dabei will ich das auch gar nicht. Es ist so schön hier."
Spica fühlte sich an ihre eigene Geschichte erinnert. Die Göttin war, genau wie sie, gewechselt und dann nicht mehr zurückgekommen und genau wie sie sah sie das Positive daran. Doch ihr blieb nicht viel Zeit in Erinnerungen zu schwelgen, denn auf einmal schrien alle durcheinander.
"Bitte, lass uns hierbleiben!", war das Einzige, das sie verstehen konnte.
"Wisst ihr was?", antwortete sie mitleidsvoll. "Ihr kommt jetzt mit mir mit in die Kantine und dann frage ich meine Ausbilderin, ob ihr hierbleiben könnt. Vielleicht kann ich ja sogar neue Aufgaben für euch arrangieren. Du malst doch gerne, nicht wahr? Warum versuchst du es nicht als Ikonographie-Dämon? Meines Wissens können die da immer welche brauchen." Das war gelogen. Spica hatte keine Ahnung, ob die Abteilungen jemals Mangel an Dämonen hatten. Aber es hatte funktioniert. Sie würden ihr alle bereitwillig folgen.
Sie ging mit den Geschöpfen die Treppen herunter und die Flure entlang und musste alle paar Meter den Dämonen oder die Maus davor retten, getreten zu werden. Schließlich fiel irgendjemandem dieses Grüppchen auf und er folgte ihnen. So schlossen sich ihnen tatsächlich mehr und mehr andere Wächter an, die einfach nur neugierig waren, wo Spica die schon wieder her hatte. Sie hörte hinter sich Spekulationen darüber, ob sie eine Hexe sei oder Tore zu fremden Welten öffnen konnte. Innerlich schmunzelte sie über diese Gedanken. Immerhin hätte sie schon längst gehen können, hätte sie das gekonnt. Andere wollten wissen, zu wem sie die Geschöpfe wohl bringen möge. Es entstand ein sehr lustiges Bild. Fünf rassisch völlig verschiedene Wesen, allesamt aus anderen Welten (oder Größen) gingen gemütlich Richtung Kantine, gefolgt von so ziemlich jedem Wächter, der gerade in der Nähe war und etwas von dem Schauspiel mitbekam. Direkt vor der Kantine fiel dann den Wächtern plötzlich ein, dass sie ja etwas extrem Wichtiges zu erledigen hatten und sie wuselten von dannen. Also ging Spica allein mit ihrem kleinen Grüppchen hinein.
Spica blieb vor ihrer Ausbilderin stehen, die sie völlig verwirrt anstarrte, und salutierte.
"Ich habe diese Wesen im Taubenschlag gefunden, Frau Oberfeldwebel.", sagte die Rekrutin. "Sie fragen, ob sie hierbleiben dürfen."
Rogi blinzelte stumm.
"Ich würde vorschlagen, sie nach ihren Fähigkeiten einzusetzen, Frau Oberfeldwebel.", sagte die Elfe. "Dieser Dämon beispielsweise könnte ein guter Ikonographie-Dämon werden.", setzte Spica kleinlaut hinzu. Sie hatte plötzlich Angst, eine Grenze überschritten zu haben.
"Vielleicht follteft du mir erft einmal fagen, waf daf überhaupt für Geftalten find, die du mir da anschleppft.", antwortete Oberfeldwebel Feinstich.
"Wir haben hier eine telepathiebegabte Universitätsmausmaus, eine Fee, die keine Fee mehr sein möchte, einen Kaffeedämon, der keinen Kaffee machen kann, und die Göttin des Staubs, an die keiner mehr glaubt." Spica deutete in der Reihenfolge auf die Personen.
Rogi blickte den wilden Haufen an und murmelte: "Daf glaubt mir doch keiner, wenn ich daf in den Bericht schreibe."
Laut sagte sie: "Wenn du einen geeigneten Dschob für diefe Geftalten findeft, dürfen fie meinetwegen bleiben."
Ein paar Minuten später hatte Spica sämtliche Vorlieben und Talente der Taubenschlag-WG erfragt. Außerdem hatte sie nachgefragt, ob irgendwo ein Ikonographie-Dämon gebraucht wurde und hatte so schon mal einen Job für den Dämonen gefunden. Die Göttin des Staubs konnte ungestört weiter im Taubenschlag Staub verteilen, damit man sie nicht ganz vergaß, und der Verschlag blieb trotzdem sauber, denn die Zahnfee stellte sich als hervorragende Putzfrau heraus. Bei ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Herumfliegen und Singen, wedelte sie mit ihren Flügelchen den Staub von den Gegenständen und hielt sie so, trotz des stetigen Zuwachses durch die Göttin, sauber. Das hätte sie zwar auch vorher schon machen können, aber laut ihrer eigenen Aussage hatte sie darin keinen Sinn gesehen. Für die Maus hatte sie keinen Auftrag parat, bis schließlich Rogi auf die Idee kam, sie könne ja den Tauben bei weiten Strecken auch außerhalb der Stadt den Weg via Telepathie vermitteln, womit die Maus ebenfalls völlig einverstanden war. Allerdings hatte sie den Wesen gesagt, sie sollten sich nicht zeigen und weiterhin verstecken, da ihr Erscheinen bereits einmal ein heilloses Chaos ausgelöst hatte und ein Zweites nicht gewünscht würde. Folglich hielt die Fee sich bedeckt, die Göttin des Staubs war unsichtbar und eine Maus samt Loch fiel eh niemandem auf.
Auf dem Rückweg vom Taubenschlag hatte sich Rogi das Haus genau angesehen. Nirgendwo war Staub zu sehen, ihre Rekrutin nahm das mit dem Befehle ausführen anscheinend ziemlich ernst.
Spica war zufrieden. Sie hatte ihre Befehle befolgt, hatte ein gutes Werk getan und hatte dabei nicht einmal im Weg gestanden. Nachdem sie die Putzmittel weggeräumt hatte, ging sie mit ihrer Ausbilderin zur Kröselstraße zurück, wo sie sich von ihr verabschiedete und mit dem obligatorischen "Wegtreten!" entlassen wurde. Das war ein guter Tag gewesen. Sie bereute es auf einen Schlag nicht mehr, zur Wache gegangen zu sein.
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