Eine Schneevatergeschichte

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von Hauptmann Pismire (SUSI)
Online seit 09. 12. 2014
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Der Fortsetzungsroman in der Wochenendbeilage der Times bringt Pismire auf die Frage: Fakten oder Fiktion - was steckt wirklich hinter der Geschichte über den Geisterbesuch in der Schneevaterzeit?

Für diese Mission wurde keine Note vergeben.

"Mergel war tot, damit wollen wir anfangen."[1]
"Mergel war tot, damit wollen wir beginnen? Das geht ja gar nicht. So ein Unfug. Das soll der Anfang einer Kindergeschichte zum Schneevaterfest sein!?"
Pismire räusperte sich noch einmal: "Das steht hier aber so -Mergel war tot, damit wollen wir anfangen. Und ich wäre dir sehr verbunden, Frau Hüppunter, wenn du mich weiter vorlesen lassen könntest. Also, ah ja: Mergel war tot, damit wollen wir anfangen. Daran war kein Zweifel möglich. Sein Totenschein wurde von einem Wächter, einem Priester der geringeren Götter, dem Leichenbesorger und seinem einzigen Erben, dem vornehmsten Leidtragenden, unterschrieben. Geizler unterschrieb ihn, und Herrn Geizlers Name wurde auf den Märkten und bei deren Händlern akzeptiert, wo er ihn nur hinschrieb. Der alte Mergel war so tot wie ein Türnagel."
"Wie ein Türnagel? Tot wie ein Türnagel? Wieso bei Anoia ein Türnagel? Wer schreibt denn so einen Blödsinn?"
Umständlich blätterte Pismire in der Wochenendbeilage der Times mit seinem Finger als Lesezeichen dort, wo er gerade beim Vorlesen unterbrochen worden war, und suchte am Ende der Spalte. "Kein geringerer als Karl-Johann Grantlerteufel - diesjähriger Gewinner der silbernen Feder der AM-Times für seine bisherigen Fortsetzungsromane im Unterhaltungsteil der Wochenendbeilage besagter Zeitung - dessen neuestes Œvre ich dir - auf deinen ausdrücklichen Wunsch hin - vorlesen sollte."
"Ein Preis von der Zeitung für die er regelmäßig schreibt - ah ja, besten Dank aber auch." Emerentia Hüppunter, wohnhaft in der Kohlschrubbergasse 12, ehrsame Wittib und Vermieterin von Hauptmann Pismire in Personalunion, schaute missbilligend über den Rand ihrer Brille und den auf Brusthöhe hängenden halbfertigen Strumpf aus grauer, harter, kratziger und übelriechender Wolle, der einem vom Pech verfolgten Bewohner der ärmeren Viertel von Ankh-Morpork zweifelsfrei das Schneevaterfest gründlich verderben würde, hinweg zu ihrem Gegenüber.
"Kann ich jetzt weiter vorlesen?", wollte der alte Mann wissen, "sonst sitzen wir noch morgen früh hier ..."
"Noch Kräutertee, mein Bester?"
"Äh, nein, Danke. Und wenn ich jetzt ...", gestikulierte er vielsagend mit der raschelnden Zeitung vor seiner potentiellen Zuhörerin herum.
"Also ich weiß nicht. Wenn schon am Anfang jemand tot ist - wo bleibt denn da die Spannung?", nörgelte die strickende Witwe weiter. "Und sollte eine Geschichte zum Schneevaterfest nicht irgendwie - naja, fröhlicher sein? Mehr Rotkehlchen und so. Und nicht mit toten Leuten, die wie Türnägel sind, ins Haus fallen? Kommen denn jetzt wenigsten Rotkehlchen?"
"Nein, Madam Hüppunter", meinte Pismire beiläufig, während der versuchte, den kommenden Teil der Geschichte querlesend zu erfassen, "erst noch ein wenig der Türnagel, dann - irgendwie logisch - der Sargnagel und die Frage wer toter aber dafür im Sprichwort ungebräuchlicher ist, und dann noch ein paar Worte über diesen Geizler und dessen zweifelsfrei verabscheuungswürdigen Charakter. Und die Erinnerung daran, dass Mergel unzweifelhaft und wahrlich tot war."
"Also irgendwie ist da zu viel Tod am Anfang. Und das mit dem Nagel, dass er - ich weiß nicht. Dass will mir irgendwie nicht gefallen."
"Tot, genagelt und gefallen - wow, was für ein vielversprechender Anfang einer Geschichte. Ich störe doch hoffentlich nicht bei etwas", die rauchige, tiefe Stimme in der Tür wurde ein wenig lasziver "delikatem?" Zur Stimme gehörte noch ein breit ausladender Hut mit einem Schleier, hinter dem noch die Konturen eines üppigen, rot geschminkten Mundes zu erkennen waren, ein hautenges, schwarzes Kleid mit einem ab dem Knie weit aufgefächerten Rock, in dem eine hochgewachsene Frau steckte. Weder Pismire noch Frau Hüppunter hatten das Eintreffen der Person, die nun aufreizend in der Tür zu Wittib Hüppunters Wohnzimmer - pardon: Salon - lehnte, bemerkt.
"Du hattest den Riegel nicht vorgelegt, Emmi, da bin ich einfach reingehuscht. Und genau zum richtigen Zeitpunkt, wie mir scheint." Mit aufreizendem Hüftschwung glitt die Person durch den Raum und streckte dem Hauptmann die Hand zum Kuss hin.
"Oberleutnant Pismire - wie schön, dich zu sehen ..."
"Äh, ja, Madame, Ahschangteh und so, aber: Hauptmann", entgegnete dieser und versuchte angesichts des Auftritts, sich seiner Restwürde bewusst zu bleiben.
"Hauptmann", hauchte sie mit gespielter Ehrfurcht. "Wie überaus - beeindruckend. Wir schienen uns eine E-wig-keit nicht mehr gesehen zu haben. "
Kurz überschlug der Hauptmann die Frage, ob der Donnerstag der letzten Woche wohl schon eine Ewigkeit zurück lag, entschied sich dann dafür, das Spiel mitzuspielen - immerhin kannte er Madame LaManda, mit bürgerlichem Namen Madelaine Wehschläger, geboren als Markus Wehschläger [2] samt seinen - äh, korrigierte er sich in Gedanken: ihren - Eigenheiten schon seit geraumer Zeit, und hauchte pflichtschuldig einen Kuss auf die dargebotene Hand.
"Ach Mäddy, du bist es. Ist es schon sieben Uhr?", unterbrach Frau Hüppunter den kleinen Dialog, während sie prompt den Strumpf in das Handarbeitskörbchen neben ihrem Sessel fallen ließ und sich erhob.
"Ja, Emmi, meine Liebe. Zeit zu gehen, sonst kommen wir noch zu spät zu unserem kleinen Frauenabend."
"Nun, Hauptmann Pismire, dann dir auch einen guten Abend - und denk dran: nicht später als halb acht ins Bett. Und ich glaube, das mit der Geschichte lassen wir besser. Der Anfang ... nein, der Anfang will mir nicht gefallen. Das ist nichts für Kinder."

***


"Was für ein Blödsinn - nichts für Kinder", schnaubte Tornada gekränkt und zog eine Flunsch. "Meine Oma ist so ... so altmodisch. Alle meine Freundinnen lesen die Wochenendbeilage der Times - oder bekommen sie vorgelesen. Also bitte, Pismire", wechselte sie das Register von Schmollen zu Plüschaugen, "du liest mir einfach die Geschichte vor, ich gehe auch diesmal ohne zu murren schlafen und keiner muss davon erfahren, nicht wahr? Und vorher bürste ich meine Haare und putze mir gründlich die Zähne", erhöhte die zehnjährige Enkeltochter von Pismires Vermieterin ihren Teil des Kuhhandels.
Nachdenklich kratzte der alte Mann sich die Bartstoppeln, schwieg aber.
"Mit ordentlich geflochtenen Zöpfen und ohne großartige und stundenlange Suche nach Pluster", dem augenblicklichen Lieblingsstofftier, ohne dass sich das Einschlafen von Tornada aber auch unter gar keinen Umständen bewerkstelligen ließ, kam die Angebotserhöhung nach einigen Sekunden des Schweigens. Und mit einem Blick auf das Gesicht des Alten holte das kleine Mädchen mit einem strahlenden Lächeln die hinter dem Rücken gehaltene Stoffkatze hervor, drückte sie Pismire in die Hand und bemerkte dazu altklug: "Am besten nimmst du sie - wer weiß schon, wo ich sie unter Umständen verlieren könnte."
"Und zu deiner Oma?"
"Kein Sterbenswörtchen - sind wir im Geschäft?"
"Wir sind."

Kurze Zeit später war es an dem Wächter, seinen Teil der Abmachung zu erfüllen, und erneut begann der alte Mann mit der eingangs erwähnte Passage über den alten Mergel, sein Ableben und die Tatsache, dass er so tot wie ein Türnagel war - diesmal ohne Unterbrechungen und Einschübe; im Gegenteil: Die Tatsache, dass mehrfach und wiederholt eindrücklich auf den Umstand, dass der alte Mergel verstorben war, seitens des Autors eingegangen wurde, schien dem kleinen Mädchen zu gefallen.
Langsam nahm Herrn Grantlerteufels Erzählung über die Ereignisse einer Schneevaternacht und das, was dem habgierigen Herrn Geizler in ihr alles zustieß, Fahrt auf.
"Ja, er war ein wahrer Blutsauger, dieser Geizler! Ein raffgieriger, zusammenkratzender, festhaltender, knauseriger alter Sünder. Hart und scharf war er - wie ein Kiesel", fuhr Pismire mit dem Lesen fort.
"Die Kälte seines Herzens formte auch sein Gesicht: sie ließ seine Züge hart, seine Nase spitz, sein Gesicht runzlig, die Augen rot, die Lippen blau und verkniffen, den Gang steif und seine Stimme zu einem harten Krächzen werden. Selbst seine Haare, der Bart und die Augenbrauen wirkten wie von Raureif überzogen, und wenn er einen Raum betrat, so hatten allen den Eindruck, die Temperatur wäre um einige Grad fallen."
"Boah - unheimlich - genau wie der alte Söhne", platzte Tornada in die Erzählung.
"Äh, wie bitte? Was für alte Söhne? Und wenn, dann heißt es richtig: die alten Söhne", korrigierte Pismire erstaunt, der zu diesem Zeitpunkt mit keiner Unterbrechung gerechnet hatte.
"Nein, der alte Söhne, der Ladenbesitzer in der Kickelburststraße. Der Besitzer von "Dickens und Söhne". Kennst du den denn nicht?"
"Nein, der Name sagt mir jetzt nichts."
"Er sieht haargenau so aus wie dieser Geizler - meinst du, dass das seine Geschichte in der Zeitung ist?"
"Wieso sollte es seine Geschichte sein?", fragte Pismire immer noch ein wenig verwirrt zurück. Tornada war für die Sprunghaftigkeit ihrer Gedanken bekannt.
"Vielleicht hat Herr Grantlerteufel sich das ja gar nicht ausgedacht, sondern einfach nur das abgeschrieben, was sich wirklich ereignet hat. Demiamanda meint, dass hätte er bei der Geschichte von Oliver Springspiel auch gemacht."
Pismire erinnerte sich - das war die Geschichte von den Waisenjungen und seinem schier unglaublichen Schicksal zwischen Diebesgilde, Armenhaus, unbekannten Verwandten, schweren Erkrankungen und der ebenso unvermeidlichen wie überraschenden Wendung zum Besseren gewesen, das den Sommer über in der Times für Aufregung bei den kleinen Lesern gesorgt hatte.
"Demiamanda meint, dass der Junge gar nicht Springspiel geheißen habe, sondern in Echt ihr halb-halb-halb-Cousin dritten Grades mütterlicherseits gewesen wäre, und in Wirklichkeit Ruppert Bohnsack geheißen habe, und auch keine Waise sondern nur ausgebüxt, aber der Rest wär' genau so wie es in der Zeitung gestanden habe, und zwar weil der Grantlerteufel kein andere als der Herr Müller vom Entenplatz und das nur sein Pseu-do-nühm, was aber keiner wissen soll, weil ihn sonst keiner lesen täte - ist wie bei Sängern - die kommen auch immer aus Brindisi auch wenn sie aus der Blut-und-Schleim-Straße kommen, aber es kling besser."
Je länger die atemlose Wiedergabe von Demiamandas (der dreizehnjährigen Nachbarstochter, die in Pismires Augen einen zu großen Einfluss auf die kleinen Tornada zu haben schien) Weisheiten andauerte, desto verwirrter wurde der altem Mann.
"Stopp - stopp - stopp. Jetzt aber mal der Reihe nach, junge Dame. Wer ist hier wer, wessen Pseudonym - und woher weißt du überhaupt, was ein Pseudonym ist - ist Grantlerteufel, und was um der geringeren Götter willen hat die Geschichte von Oliver Springspiel mit all dem zu tun - und vor allem: was ist jetzt der Zusammenhang mit der Schneevatergeschichte, die ich dir eigentlich vorlesen sollte!?"
"Also", holte die Kleine aus, "Oma meint, dass Schriftsteller sich alles ausdenken und aus den Fingern saugen, auch die Sachen, wo die Leute meinen, dass sie in Wirklichkeit auch so wären, was aber nicht so ist, weil diese feinen Herren ja keine Ahnung vom richtigen Leben haben." Hinter all den grammatischen Schnitzern konnte Pismire exakt die ressentimentalen Vorstellungen seiner Vermieterin erkennen.
"Aber Demiamanda meint, dass ihr Vater gesagt hat, dass einige Schriftsteller - und er will hier auch keine Namen nennen - sich gar nichts ausdenken, weil sie dazu gar nicht in der Lage sind, sondern nur in Spelunken rumlungern", (wo Demiamandas Vater sie zweifelsfrei regelmäßig traf, da Spelunken sein bevorzugter Aufenthaltsort waren - ein Gedanke, den Pismire aber nicht äußerte, um Tornada nicht zu unterbrechen), "um dort die hart arbeitende Bevölkerung" (zu der Herr Meerschaum garantiert nicht gehörte) "zu belauschen und dann das so Erlauschte als ihr eigenes geistiges Eigentum für teuer Geld an die Zeitungen verhökern, ohne ihre Informanten angemessen zu entschädigen. Und ein Pseu-do-nühm ist, wenn man gar nicht so heißt wie man tut sondern anders, damit keiner weiß, dass man das ist. Wenn ich mal später eine berühmte Lebedame bin, werde ich mir such ein Pseu-do-nühm zulegen."
An diesem Punkt spuckte Pismire bei dem Ausruf: "Wie bitte - Lebedame?", fast seinen Tee auf Tornadas Bett. "Wolltest du nicht noch letzte Woche Wächterin werden?"
Eine großartige Geste wischte das Gesagte aus der Vorzeit beiseite. "Ja, aber da war ich ja noch sooo klein. Wächter müssen immer die Gesetze einhalten und haben kaum Geld - Lebedamen hingegen brauchen das nicht und räkeln sich im Gold. Und sind auch noch viel interessanter, meint Demiamanda."
"Soso, meint Demiamanda. Was meinst du denn, was eine Lebedame so den ganzen Tag interessantes macht?"
Die Kleine zuckte mit den Schultern. "Was feine Damen so tun: Einkaufen und feine Kleider tragen und tolle Frisuren haben und lange Schlafen und sie trinken Schokolade im Bett - und zwar jeden Tag. Und sie müssen nicht arbeiten. Und alle reichen Männer schenken ihnen Schmuck und liegen vor ihnen auf dem Boden rum in ihren Salongs."
"Du meinst: zu ihren Füßen"
"Oder so. Und abends gibt es Sohare-en und Bälle und die Oper und so. Oma ist keine Lebedame - oder? Jedenfalls liegt kein Mann in ihrem Wohnzimmer rum."
"Nun", meinte Pismire und musste sich ein Lachen verkneifen, "ich würde deine Großmutter nicht danach fragen, ob sie ein Lebedame ist."
"So klug bin ich jetzt auch", maulte die Kleine. "Sie hat gedroht, mir den Mund mit Seife auszuwaschen, wenn ich das Wort noch einmal verwende, und mit ein paar hinter die Ohren angedroht. Dabei leben die doch nur als Damen - das sagt doch schon der Name."
Die kurze Pause in ihrem Redefluss nutze der alte Mann, um das Gespräch wieder in die ursprünglichen Bahnen zu lenken: "Aber mal zurück zu der Sache mit Herrn Grantlerteufel - das ist ein Pseudonym? Der heißt gar nicht so?"
"Stimmt. Eigentlich ist er Herr Müller und wohnt am Entenplatz. Er ist mit Tante Madelaine verwandt", eine Bemerkung, die der Hauptmann mit einem Achselzucken quittierte - hier, im ehemaligen Dorf Grausensen, dass mittlerweile zum Nilpferd gehörte, war jeder mit jedem verwandt, "und lebt eigentlich von dem, was ihm seine Mutter hinterlassen hat. Aber wenn er sich Herr Grantlerteufel nennt, dann schreibt er Geschichten, die in richtige Büchern und auch in der Times stehen - "Oliver Springspiel" ist von ihm und auch "Der kleine Herr Kupferfeld" und "Martin Kesselwitz". Und die Geschichte von Oliver Springspiel ist eigentlich die Geschichte von Demiamandas Halb-halb-halb-Cousin und müsste eigentlich "Ruppert Bohnsack" heißen. Klingt aber nicht so gut. Und deshalb denke ich ja, dass die Geschichte hier, die von Herrn Geizler, auch falsch heißt. Denn der Herr Geizler sieht haargenau so aus wie der Herr Söhne aus dem Laden Dickens und Söhne in der Kickelburststraße. Und deswegen ist das auch seine Geschichte, und der Herr Müller hat das gar nicht erfunden, sondern das ist echt. Weil der Herr Dickens ist ja auch schon tot wie der Herr Mergel vom Anfang, weißt du noch - der Türnagel, und der Herr Söhne hat das auch einfach so stehen lassen am Laden wie hier."
"Tja, wer kann das schon wissen?" meinte Pismire erstaunt. "Ich weiß es einfach nicht."
"Jaja, Erwachsene", kommentierte die Kleine frech. Und schob, als sie den gerunzelten Blick sah schnell ein halb zerknirschtes "Entschuldige, Pismire" hinterher.
"Soll ich dann weiterlesen und wir lassen für einen Augenblick einmal die Frage beiseite, ob das nun die erfundenen Erlebnisse eines Herrn Geizler oder die wirklichen Abenteuer von Herrn Dickens ..."
"Söhne - Dickens ist tot - wie Mergel. Und wie ein Türnagel", fuhr Tornada mit einem listigen Grinsen dazwischen.
"Ja,ja, Herrn Söhne also - weiterlesen?
"Ja, bitte!"
Und so fuhr Pismire fort, bis zu der Stelle, wo der alte Geizler am Vorabend zur Schneevatersnacht in seinem eigenen Türklopfer das Gesicht seines vor Jahren verstorbenen Kompagnons Dickens zu erkennen glaubte und vor der Vision zutiefst erschrak.
Tornada zupfte aufgeregt an Pismires Gewand. "Das ist Herrn Söhne auch mal passiert - hat Demiamanda erzählt. Genau so." Und mit diesen Worten lehnte sie sich wieder zurück.
"Und woher weiß Demiamanda das so genau?", fragte Pismire skeptisch zurück und fiel damit endgültig aus der Rolle des Vorlesers.
"Weil der Herr Müller das Demiamandas Vater erzählt hat. Ist aber schon eine Weile her - im letzten Jahr am Schneevater. Da ist die Wache zum Herrn Söhne gekommen, weil er vor seiner Tür auf einmal ganz laut geschrien hat. Er hat dann gesagt, er hat gedacht, da wäre eingebrochen worden, aber dann war gar nichts passiert und als die Wache nachgefragt hat, da hat er nur so rumgedruckst, weil er nicht zugeben wollte, dass der Türklopfer ausgesehen hätte wie der alte Dickens und ihn gewarnt hätte vor kommendem Unheil. Nachher musste er aber das dann doch zugeben, weil die Wache ihm erst nicht glauben wollte - und der Nachtwächter vom Entenplatz hat es dann Herrn Müller erzählt - weil der ja da wohnt, und der hat das dann Demiamandas Vater erzählt."
"In der Spelunke."
Tornada zuckte mit den Schultern. "Wo er das erzählt hat, weiß ich auch nicht - ich gehe nicht in Spelunken, weißt du", entfuhr es ihr mit einiger Würde.
"Ja, schon gut. Aber ich denke, wenn ich jetzt noch weiterlese, kommt deine Großmutter noch vor dem Ende der Geschichte nach Hause ..."
"... und wir fliegen auf. Alles klar, Hauptmann. Ich kann schweigen wie ein Türnagel. Morgen ist Oma zu Hause, aber Übermorgen ist sie Abends bei den Hüppaufs eingeladen. Liest du mir dann den Rest vor?"
"Mach ich. Aber nun schlaf schnell ein."

***


Nachdenklich saß Pismire, nachdem er die ganze Geschichte zu ende gelesen hatte, in Emerenzia Hüppunters Wohnzimmer und wartete auf seine Vermieterin, die kurze Zeit später eintraf, offensichtlich guter Laune und nicht wirklich nüchtern.
"Und, Hauptmann, alles in Ordnung mit meinem kleinen Engelschen - hupp, entschuldige, Engelchen?"
"Aber ja, Frau Hüppunter. Ich habe ihr noch eine Geschichte aus den Grimmigen Märchen vorgelesen und prompt ist sie eingeschlafen."
"Ja, da sind wenigsten anständige Geschichten für Kinder. Und nicht das moderne Zeug von heute."
"Nun, die Geschichte von Oliver Springspiel war doch herzergreifend", legte Pismire seinen Köder aus.
"Naja, aber doch ziemlich an den Haaren herbeigezogen. Wie alles von Walter."
"Walter?"
"So heißt er eigentlich. Walter Müller. Und nicht Karl-Johann Grantlerteufel, alles Unfug."
"Ach, tatsächlich? Ein Pseudonym?"
"Nanana Hauptmann, nicht aus Psedopolis. Nein, nein, direkt von hier. Ein ureigener Grausensener. Genau wie sein Vater: Ein Geschichtenerzähler und Schluckspecht vor dem Herrn und andauernd abends im Geriebene Klöppel zu finden. Aber ich geh jetzt mal lieber ins Bett, war ein langer Tag, Hauptmann."
Auch Pismire zog sich zurück, kündigte aber noch einen Spaziergang "an der frischen Luft" an, den seine Vermieterin mit einem ausführlichen Vortrag über die Wichtigkeit gut verschlossener Türen in diesen unsicheren Zeiten konterte.

***


In seine Umhang gehüllt wanderte Pismire mehr oder weniger zielstrebig in Richtung der Zehntes-Ei-Straße, wo er den "Geriebenen Klöppel", das ehemalige Stammlokal der Glockengießergilde der Stadt, die aber schon vor vielen Jahren in ein zentraler gelegenes Etablissement am Fünf-und-Sieben-Hof weitergezogen war, wusste. Dort hatte er kein Glück - der Laden spärlich besucht, und weder Herr Müller noch Herr Meerschaum waren zu finden. Der Wirt hingegen war mürrisch und wenig gesprächig, so dass Pismire nach einem lustlos getrunkenen, sauren und vermutlich reichlich mit Wasser gepanschten Wein seine hiesige Recherche beendete.
Aber ich könnte mir wenigstens noch den Laden in der Kickelburststraße ansehen, dachte er, so weit weg ist da auch nicht ..."

Dort angekommen musterte er das Ladengeschäft mit Interesse. Offensichtlich eine Pfandleihe der schäbigsten Art, darüber hinaus hingen auch Angebote für winzige, überteuerte und heruntergekommene Wohnungen im Schaufenster aus. Die Firmeninschrift war verwittert und lautete immer noch auf "Dickens und Söhne - Makler und Geschäfte aller Art". Ein rostiges Gitter sicherte den Eingang, und ein verwitterter Zettel belehrte den Leser, dass eventuell nach Geschäftsschluss hereinkommende Sendungen im nächsten Eingang im ersten Stock abgegeben werden konnten. Neugierig sah Pismire sich auch noch den Nebeneingang an. Eine morsche Tür sicherte den Eingang nur notdürftig - mehrere Bretterverschläge im Hausflur schienen diverse Gewerbetreibende zu beherbergen, der Geruch lies vermuten, dass der Innenhof wahlweise als Lager für Tierfutter oder als Müllplatz (wahrscheinlich für beides, dachte Pismire mit Widerwillen) Verwendung fand.
In der Dunkelheit tastete sich der Wächter die morschen Stiegen hoch, bis er sich eines besseren besann. Er konzentrierte sich und ließ seinen Geist schweifen. Na prima, keine Katzen, nur Küchenschaben - aber immer noch besser als gar kein optischer Sinn. Je weiter er jedoch seinen Geist wandern ließ, desto mehr fand er neben den erwarteten Küchenschaben und Asseln eine weitere Spezies vor: Schmeißfliegen in - für die Jahreszeit - ungewöhnlich hoher Zahl. Und er ahnte, was das bedeuten konnte: Im ersten Stock würde er eine Leiche finden.

Und tatsächlich - nach weiteren zwanzig Stufen, einer schlecht verriegelten Tür mit einem halben Dutzend billigen Schlössern, die den Hauptmann nicht wirklich aufhalten konnten, befand er sich in Söhnes Wohnung. Alles war im höchsten Maße heruntergekommen und schäbig. Der Putz bröckelte, Tapeten waren nur noch in Rudimenten vorhanden, Möbel: Fehlanzeige. Ein dunkler Flur endete vor einen halb geöffneten Tür, die allem Anschein nach in das Schlafzimmer führte. Dies war der erste Raum, in dem ein wenig Licht zu sehen war: eine einsame Kerze flammte trübe auf einem Tisch, der mit beschriebene Papieren bedeckt war, die seinerseits von der Leiche eines Mannes bedeckt waren, in dem Pismire anhand der Beschreibung aus Herrn Müllers Geschichte unschwer die Vorlage für Herrn Geizler erkennen konnte. Mit anderen Worten: Pfandleiher Söhne lag so tür- und sargnageltot wie einst sein Kompagnon Dickens vor ihm.

(Fortsetzung und Auflösung gibt es am 17. Dezember 2014)
[1] Wen jetzt diese Stelle an die wunderschöne und lesenswerte Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens erinnert, die mit dem Satz "Marley war tot, damit wollen wir anfangen" beginnt, erinnert, der liegt ganz richtig. Die vorliegende Geschichte bedient sich der Geschichte von Charles Dickens. Wer sie nachlesen möchte, dem sie diese Seite im Projekt Wikisourceans Herz gelegt

[2]  vgl. die Singlemission "Der Todeskern"




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Feedback:

Von Tussnelda von Grantick

02.1.2015

Mir gefällt besonders Deine Wortwahl - und gleichwohl die Mission noch nicht aufgelöst ist (sei auch der 17.12. schon vorbei... oder hab ich was verpasst?), sie gefällt mir von allen Weihnachtssingles am Besten: Ob der schönen Dialoge und der Figuren.

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