Droben

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von Obergefreite Mimosa (RUM)
Online seit 10. 02. 2014
Zeitmönche haben die Geschichte auf den 10. 02. 2011 datiert
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Ein Wolkenbruch spült eine Leiche in die Stadt, die vermeintliche Todesursache könnte in der (klatschnassen) Metropole ein politisches Pulverfass in die Luft jagen. Die Zwerge haben noch nicht tief genug gegraben, um mit den Vorgängen drunten, tief unterhalb der Stadt in Berührung zu kommen. Ein Mord im sicheren Hafen der Stadtwache bringt das (mittlerweile unter dem Wasserdruck zerbrochenen) Fass zum Überlaufen. Jemand muss in die Dunkelheit hinabsteigen, um den Vorfällen auf den Grund zu gehen- und womöglich noch tiefer...

Dafür vergebene Note: 12

Prolog vor dem Prolog: Ich habe vor ca. 2-3 Jahren angefangen, dann ist "Drunten" dank meines Uni- und Diplomarbeitsstresses in den Untiefen meines PCs verschwunden. Zum Glück hatte ich noch eine Kopie auf meinem Notebook, als mein PC vor einigen Monaten einen Totalabsturz hatte, sonst wäre gar nichts mehr dagewesen. Da ich im Moment einfach nur versuche wieder den Anschluss zu finden und mich wieder zu motivieren, was anderes außer Fachchinesisch zu schreiben, bitte ich um Verzeihung, wenn die Ränge und Gegebenheiten nicht mehr mit dem aktuellem Wachestand übereinstimmen. Jetzt noch mal alles umzuschreiben, würde auch wegen der Charaktere Stücke aus der Geschichte reißen. Bitte betrachtet "Drunten" somit als einen archivierten, gerade wieder ausgebuddelten Fall. Der Fall wird mit "Drunten" (in Arbeit) fortgesetzt.



Betrachtet man die Gauß'sche Wahrscheinlichkeitskurve der Planetenentwicklung, findet man am einen Ende so langweilige Dinge wie willkürliche Anhäufungen von Molekülen, Plasmawolken und was sonst noch gerade zufällig in der Gegend herumschwirrte; in der Mitte hübsch bunt gefärbte Gesteins- und Gaskugeln in allen erdenklichen Formen und Farben, die jedem Astronomen vor Verzückung Begeisterungsschreie entlocken; und am anderen Ende... an dieser Stelle wird der Vortragende aller Wahrscheinlichkeit nach zum Rednerpult gehen, einen Schluck aus dem bereitstehenden Wasserglas nehmen, hüsteln und diesen Teil dezent unter den Tisch fallen lassen. Schließlich wäre es mehr als unangenehm zugeben zu müssen, dass dort draußen irgendwo ein Exemplar der Gattung Chelonia universa PRATCHETTII 1983 von wahrhaft gigantischen Ausmaßen umherpaddelt, auf dessen/deren [1] Rücken vier Elefanten stehen, die wiederum eine pizzaförmige Welt auf dem Rücken tragen...- schließlich weiß jedes vernunftbegabte Lebewesen, dass das Universum entstand, weil der Schöpfer eine überbackene Kartoffel im himmlischen Herd vergaß! Und als der geheiligte Käse hinabtropfete zu dem heißen Bleche, begab es sich- doch wir schweifen vom Thema ab.
Festzuhalten bleibt nur, dass alles möglich ist, weil alles irgendwo existiert, also ist alles irgendwo möglich, und nur weil es nicht hier passiert, passiert es nicht nicht, folglich kann alles überall passieren, also passiert es insbesondere auch hier... oder so ähnlich. Ja, das hat irgendwie mit Quanten zu tun. Und auch mit der Hose der Zeit. Nein, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, ich werde an dieser Stelle nicht näher darauf eingehen, versprochen. Äh, der Herr im grauen Anzug? Nein, mit Pizzen kann ich nicht dienen, aber gleich um die Ecke ist ein nettes Lokal, sehr zu empfehlen. Bitte schließen Sie die Tür hinter sich...
Tja, sonst noch jemand? Dann bitte ich alle noch Anwesenden Fenster und Türen zu schließen, ein wenig näher zusammenzurücken und die Dunkelheit auszusperren, denn genau hiervon wird die Geschichte handeln: von der Dunkelheit außen und von der Dunkelheit innen. Allen zart besaiteten sowie minderjährigen Zuhörern wird an dieser Stelle nahegelegt den Raum zu verlassen. Im Namen des Eigentümers des Gebäudes möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass für bei Ohnmachtsanfällen oder panikartigem Verlassen des Gebäudes entstandenen Verletzungen keine Haftung übernommen wird.
...
Allen jetzt noch Anwesenden gratuliere ich zu ihrem mutigen Entschluss und lade Sie hiermit herzlich ein meiner Geschichte zu folgen. Hierzu begeben wir uns an das oben erwähnte Ende (oder Anfang) der Wahrscheinlichkeitskurve.
Betrachten Sie die Sternenschildkröte in der Aufsicht. Sehen Sie das wunderbare meteorologische Wechselspiel der verschiedenen Wolkentypen? Ich möchte Ihr Augenmerk ganz besonders auf dieses wunderschöne Exemplar einer Kumulonimbus-Wolke lenken, dort, genau über der größten Stadt der Scheibenwelt- Verzeihung, die können Sie natürlich im Moment nicht sehen, die Wolke ist im Weg. Gucken Sie einfach hierhin, auf diesen dicken, fetten, unansehnlichen schwarzen Fleck; glauben Sie mir, so groß ist der Unterschied gar nicht.
Sie werden sich sicherlich fragen, was eine Gewitterwolke mit Dunkelheit zu tun hat; nun, die Wolke verdunkelt natürlich die Stadt, aber das spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Die Wolke ist bestenfalls sekundär wichtig, essentiell ist hingegen, was sie mit sich bringt- gewaltige Mengen Hazweioh.





Dumpf klang das heisere Keuchen ihres eigenen Atems von den Wänden wieder. Unter ihren Fingerspitzen fühlte sie rauen, abbröckelnden Stein, verschmiert mit einer zähen schleimigen Masse, die sie sich trotz allem verzweifelt wünschte sehen zu können. Die andere Hand vor sich in die undurchdringliche Schwärze gestreckt, die Augen weit aufgerissen, tastete sie sich durch die beinahe substantielle Dunkelheit. Ganz behutsam hob sie ihren Fuß, trat langsam vor und setzte ihn nahezu lautlos wieder ab. Sie atmete nur flach. Nackte Panik schnürte ihr die Kehle zu und es gelang ihr nicht die Schluchzer komplett zu unterdrücken.
Ein weiterer zögernder Schritt, platsch-platsch
platsch platsch platsch
Sie verharrte augenblicklich. Ihr Körper verkrampfte sich in ihrem verzweifelten Bemühen die Dunkelheit zu durchdringen, ganz gleich mit den Augen, den Ohren oder auf sonst eine Art und Weise. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust und übertönte jedes andere Geräusch, ob wirklich oder eingebildet.
Es dauerte Ewigkeiten, bis sie wagte sich wieder zu regen. Langsam hob sie einen Fuß aus dem fauligen Schlamm und tastete sich weiter vorwärts. Sie hörte lediglich ihren eigenen Atem.
Plötzlich war die Mauer weg. Sie taumelte überrascht, die mühsam im Zaum gehaltene Panik brach wieder durch, als sie sich ohne den geringsten Halt im Nirgendwo wiederfand. Die Mauer hatte ihr einen Bezugspunkt gegeben, den einzigen Halt, Schutz und eine Richtung.
Ihr Atem ging immer schneller und ihre Beine drohten unter ihr nachzugeben, als sie sich endlich wieder unter Kontrolle bekam und es schaffte, ein paar Schritte zurückzugehen.
Beinahe wäre sie in hysterisches Gelächter ausgebrochen. Die Mauer war noch da und, halleluja, ein trockener Gang zweigte ab! Ohne zu zögern folgte sie dem neuen Gang, wagte es sogar etwas schneller zu gehen. Sie hatte wieder neue Hoffnung geschöpft. Bestimmt war sie nahe einem Ausgang, hier musste einfach einer sein!
Ron war ein solcher Idiot. Er hatte sie hier runter gelockt, in das alte Kanalisationssystem, sie und Dora und Archie. Wenn sie nur erstmal wieder hier raus war, dann würde sie...
Sie hielt inne. Tränen liefen ihr die Wangen hinab, als sie realisierte, dass es keinen Ron und keine Dora und keinen Archie mehr gab, nie mehr.
Nie mehr...
Sie sackte zu Boden, presste sich gegen die Mauer und biss in den zerfetzten Ärmel ihres Kleides um ihr Stöhnen zu unterdrücken. Sie musste hier raus!
Irgendwie schaffte sie es, wieder auf die Beine zu kommen. Ihr anfänglicher Enthusiasmus beim Betreten der Abzweigung war wie weggeblasen. Angst und Verzweifelung triumphierten über zehntausend Jahre neuronale und soziale Evolution und reduzierten ihr Selbst zu einem kleinen wimmernden Tier, das schutzlos durch die Dunkelheit kroch und sich nach einem Funken Licht sehnte, um nicht vollends den Verstand zu verlieren.
Sie war nur noch zu zwei bewussten Gedanken fähig: laufen und lauschen, laufen und lauschen. Mantraartig spulten sich diese Worte immer und immer wieder in ihrem Kopf ab, im Rhythmus ihrer Schritte.
laufen lauschen
tap tap
laufen lauschen
taptaptap
Sie brach in kalten Schweiß aus, zitterte am ganzen Körper. Instinktiv krallte sie ihre Hand fester ins Gestein und spürte nicht den Schmerz in ihren blutenden Fingern. Eine warme Flüssigkeit lief ihre Beine hinab. Sie registrierte es kaum. Ihr eigener Körper ließ sie im Stich, produzierte stark riechenden Schweiß und Urin, überschwemmte ihren Blutkreislauf mit Adrenalin und ließ ihr nur noch zwei unmögliche Optionen: Kämpfen oder Fliehen. Beides war aussichtslos.
Sie trat an die Mauer, presste den Rücken gegen diese vermeintliche Sicherheit. Ihre Augen irrten blicklos in der sie umgebende Finsternis umher. Unbewusst schaukelte sie mit dem Oberkörper vor und zurück, vor und zurück und hinterließ neue Spuren am Gestein. Sie merkte es nicht. Es spielte keine Rolle mehr, nichts spielte mehr eine Rolle, sie war
taaaap
ausgeliefert, diesem
tap
Ding, dieser
tap
Kreatur, dieser
tap
unaussprechlichen Karikatur eines lebenden Wesens.
tap
Sie wollte nicht sterben.
tap
Ich will leben!
tap
Sie rutschte an der Mauer herab, fiel auf ihre eigenen verdrehten Beine, die nicht mehr die Kraft hatten sie zu tragen. Sie zog ihre verkrampften Beine an die Brust, schlang die Arme um sie, presste die Stirn so fest sie konnte gegen ihre Knie. Ihre Lippen wiederholten immer und immer wieder die ersten zwei Zeilen eines alten Kindergebetes, das ihre Amme sie hatte aufsagen lassen.
taaaaa...
Großer Om Beschütze Mich Wache Immer über Mich Großer Om Beschütze Mich Wache Immer Über Mich Großer Om Beschütze

Dap!






Es regnete nicht. Man konnte noch nicht einmal guten Gewissens behaupten, dass das Wasser vom Himmel strömte. Oder dass es goss. Sogar die Redewendung "Der Himmel öffnet alle Schleusen" wäre noch eine schamlose Untertreibung gewesen. Das Wasser floss vom Himmel, in einem einzigen endlosen reißenden nassen Strom. Die Welt war weiß, mit einer Sichttiefe von vielleicht fünfzehn Zentimetern.
Hunde verbissen sich in Türzargen, um nicht vor die Tür geschickt zu werden.
Diebe saßen in ihren Schlupflöchern, übertrumpften sich in wechselseitigen Räuberpistolen und feilten an ihren Dietrichen.
Assassinen schlenderten gemächlich durch die langen Galerien ihres Gildensitzes, in den behandschuhten Fingern die neueste Abhandlung über nicht nachweisbare Gifte, und fachsimpelten über die korrekte Handhabung des Stiletts.
Die Golemfeuerwehr war rund um die Uhr im Einsatz, pumpte Keller leer und schützte öffentliche und private Gebäude durch Barrikaden aus Sandsäcken, Holzklötzen, Steinen und in einem Fall einen Troll, der sich zu langsam bewegt hatte.
Sogar der Patrizier legte für einen Moment die Spionageberichte aus der Hand und blickte versonnen auf die Wand aus Wasser, die sich vor seinem Fenster auftat.
Im Wachhaus am Pseudopolisplatz hielten sich ungewöhnlich viele Rekruten auf, bewaffnet mit Lumpen und Eimern, rutschten auf den Knien über den Fußboden und versuchten der stetig hereinströmenden Flut Herr zu werden.
Die Stadt stand still, keine Menschen- und auch keine andere Seele wagte sich freiwillig auf die Straßen. Wer auch immer mehr als die Nasenspitze aus der Tür streckte, brauchte Kiemen um zu überleben. Die Stadt stand still- aber nicht die Stadtwache.

***

Ettark starrte missmutig auf den Regen. Er stand unter einem Dachvorsprung im Hof des Wachhauses und wartete auf Bjorn. Theoretisch hätte er vor dem Regen geschützt sein sollen. Praktisch stand er fast bis zu den Knöcheln im Wasser und unberechenbare Sturmböen sorgten dafür, dass der Regen von alles Seiten auf ihn einprasselte- sogar von unten und von hinten, obwohl er an einer Mauer lehnte. Was für ein Scheißwetter. Das eiskalte Wasser kroch unter seine Rüstung, durchweichte Leder und Stoff. Seine Narben verkrampften sich schmerzhaft. Es war Frühling, verdammt, und seine Finger waren dermaßen steifgefroren, dass er kaum mehr in seine Tasche greifen konnte, routinemäßig nach einem gewissen tröstlichen Flachmann tastend- der nicht mehr da war. Für einen Moment verharrte seine Hand in der Tasche, zu oft war diese Bewegung durchgeführt worden. Dann schlug die bittere Realität mit einem metamorphorischen Vorschlaghammer zu.
Ettark spie aus und fluchte. Beides wurde glücklicherweise vom Regen verschluckt. Was für eine absolut hirnverbrannte Schnapsidee, bei diesem Wetter auf Streife zu gehen! Oder zu schwimmen. Was war er, ein verdammter Fisch?
Und dann noch mit Bjorn. Ettark zweifelte ernsthaft an Reas Kompetenz in Bezug auf den Streifenplan. Mal ganz von ihren zwischenspezieschen Problemen abgesehen, würde der Zwerg wahrscheinlich weggespült werden und im ausnahmsweise mal flüssigen Ankh landen. Ettark grinste hämisch. Vielleicht wurde die Streife mit Bjorn ja doch ganz lustig.

Nur fünf Minuten später nahm Ettark alles zurück. Sturmböen ließen ihn taumeln und stolpern. Er war von oben bis unten durchweicht und hatte keinen einzigen trockenen Faden mehr am Leib. Der viel kleinere Zwerg bot weniger Angriffsfläche, außerdem war zu kompakt, um vom Wind als Pingbongball missbraucht zu werden.
Ettark landete erneut in einer Pfütze und knurrte wütend. Hinter ihm ertönte ein belustigtes Glucksen. Im Nu schoss er auf die Beine und fuhr herum, doch Bjorn sah ihn vollkommen ausdruckslos an- wobei ohnehin nur der bartfreie Bereich um die Augen etwas hätte ausdrücken können- und enthob sich jeglichen Kommentars.
Ettark drehte sich schnaubend um und stapfte wütend weiter die Straße entlang, während er versuchte sich so klein wie möglich zusammenzuducken, um dem Sturm zu trotzen. Stoisch setzte er einen Fuß vor den anderen, um ihn herum ertönte eine Kakophonie aus Gluckern, Rauschen und Platschen- und trotzdem meinte er ab und zu ein gedämpftes Kichern zu hören. Sich nur mühsam beherrschend, biss er die Zähne zusammen. Und die Streife hatte gerade erst angefangen!
In stillschweigendem (eine Absprache war bei dem um sie herum herrschendem Geräuschpegel auch kaum möglich) Einverständnis kürzten sie die Route ab und kämpften sich die Rauhreifstraße hinab, bis sie die Vertragsbrücke erreichten. Wahre Sturzbäche schossen den Ankh hinab und nagten an den Fundamenten der doch schon recht betagten Überführung, so dass sich die beiden Wächter insgeheim fragten, ob sie noch eine weitere Belastung in Form von zwei schwer bewaffneten und klatschnassen Männern, beziehungsweise einem Mann und einem Zwerg, aushielt oder direkt unter ihren Füßen zusammenkrachte. Selbst wenn ihnen ein unfreiwilliges Bad beschert werden würde: Noch nasser konnten sie unmöglich werden.
Trotzdem zögerten beide, keiner wollte als erster sein Glück riskieren. Vor ihren Augen lösten sich kleine Steinbrocken und Mörtelstücke und verschwanden augenblicklich in der aufgetosten weißen Gischt. Größere Steine, Äste, Reste von Möbeln, Lumpen und allerlei Unrat hatte sich am Rand der Brücke verfangen; die Stadt wurde zum ersten Mal seit undenkbarer Zeit [2] gründlich sauber gespült. Zwischen allerlei menschlichen Hinterlassenschaften, deren Ursprungsort die zwei Stadtwächter lieber nicht genauer in Erfahrung bringen wollten, fanden sich die bemitleidenswerten Überreste von einigen Tieren, verlauste Straßenköter genauso wie liebevoll verhätschelte Hauskatzen, die nicht rechtzeitig von Herrchen oder Frauchen in Sicherheit gebracht worden waren. Und dort, direkt neben dem halb zerfetzten Kadaver eines rostfarbenen Mischlings, da ragte noch etwas anderes hervor...
Ettark kniff die Augen zusammen und beugte sich wider besseres Wissen vor. Mit einer Hand hielt er sich am Geländer fest, mit der anderen griff er einen Holzprügel und stach auf den Lumpenhaufen ein.
"Hast du den Verstand verloren? Wenn du da rein fällst-"
Der Zwerg hatte sich vorsichtshalber einige Schritte vom reißenden Fluss entfernt, doch jetzt trat er näher, um ebenfalls in Augenschein zu nehmen, was die Aufmerksamkeit seines Kollegen so sehr in Anspruch nahm, dass der Bergiger noch nicht einmal eine sarkastische Antwort gab.
Ettark stocherte weiter im Abfall. Kleinere Brocken des Unrats lösten sich und wurden sofort weggeschwemmt, und etwas Längliches, Weißes wurde sichtbar.
Bjorn schluckte und trat allen Bedenken zum Trotz auf die Brücke, um von oben zugreifen zu können. Mittlerweile ragte klar erkennbar ein weißer Arm aus dem übrigen Müll, eingehüllt in zerfetzte Kleidungsreste. Ettark schob die Hand mit seinem Stock nach oben, so dass Bjorn sie greifen konnte, dann sprang er ebenfalls auf die Brücke, wodurch sich noch mehr Stützwerk ablöste. Mit vereinten Kräften wuchteten die beiden Wächter die Leiche auf die Brücke. Das Zerren und Ziehen hatte dem Korpus keinen Gefallen getan; der größte Teil der Haut fehlte, so dass das darunterliegende zerschundene Fleisch sichtbar wurde. Die Gesichtshaut fehlte nahezu komplett; Nase und Wangenknochen waren zertrümmert, ebenso wie die Gliedmaßen. Der Leichnam hing wie eine zerbrochene Gliederpuppe über dem Geländer, welches sich protestierend weiterer Steine entledigte. Wortlos starrten die beiden auf den übel zugerichteten Leichnam: tragischer Unfall oder Mord?
Bjorn fragte zögernd:
"Gibt es eine Quittung?"
Ettark schnaubte vielsagend.
"Glaubst du die wär noch da?"
Trotzdem suchten sie widerwillig die Reste des Kleides ab. Keine Quittung, und auch sonst nichts, wodurch die Leiche hätte identifiziert werden könnten.
Ettark schüttelte den Kopf.
"Das wird nichts. Sollen sich doch die Susen die Rübe zerbrechen."
Widerstrebend zogen die beiden Wächter ihre Mäntel aus und hüllten den Körper darin ein, um weitere Beschädigungen zu verhindern. Dann schleppten sie sie unter etlichen Flüchen zum Pseudopolisplatz.

***

Der nächste Morgen und der darauffolgende Vormittag präsentierten sich diesig grau und düster. Die Wolken hingen so tief, dass jeder, der gezwungen war sein Haus zu verlassen, sich unwillkürlich duckte. Die Luft war feucht und schwer, in der ganzen Stadt herrschte ein dämmriges Zwielicht, doch zumindest hatte es für den Moment aufgehört zu regnen. Ein paar unverbesserliche Optimisten (oder habgierige Raffzähne, denen es in der Seele leid tat auch nur den Gewinn eines einzigen Tages, ach was, einer einzigen Stunde zu verlieren) hatten schon wieder erste Marktstände auf dem Hiergibtsalles-Platz errichtet. Ihre Stimmen verhalten dumpf und beklommen im aufkommenden Nebel, der die Stadt bald aussehen ließ wie ein Kessel mit "Reste-von-den-drei-vorherigen-Wochen-verfeinert-mit-Kehricht-aus-der-Backstube" Haferbrei- mit dem Kunstturm als überdimensionalem Rührlöffel. Selbst die abgebrühtesten Schläger äugten misstrauisch dreimal über die Schulter, bevor sie Hauseingänge und Erker verließen und verstohlen durch das immer noch knöcheltief stehende Wasser zu ihren Stammkneipen schlichen. Die schmatzenden Geräusche ihrer dem Schlamm entrissenen Stiefel wurden bald vom Nebel aufgesogen, und zurück blieb nur eine drückende, unheilsschwangere Stille, welche die gestrige Lärmkakophonie komplett abgelöst hatte. Ankh-Morpork kauerte unter den Dunstschwaden und hoffte auf den großen Paukenschlag, der das allseits bekannte bunte Treiben inklusive einiger wohlplatzierter Schreie in der Stadt wiederherstellen und der auch gewiss kommen würde- schließlich war dies die große Wahooni. In der Zwischenzeit verhandelte ein gewisser T.m.s.i.d.R. Schnapper mit einem Händler von Sto-Lat über den Import von Sonnenstrahlen in Gläsern.
Ansonsten spielte sich das Leben vorübergehend in den Häusern ab- und darunter. In den Kellern beziehungsweise tieferen Stockwerken der größtenteils menschlichen Bevölkerung hieß es zwar meist Land unter, doch die Zwergenstollen waren dank ausgeklügelter jahrhundertelang entwickelter Entwässerungstechniken noch begehbar. Die in Ankh-Morpork ansässigen Tiefener hatten von dem Unwetter an sich wenig mitbekommen und waren trotzdem die einzigen Nutznießer, denn in ihren Minen tummelten sich unzählige halb und auch ganz ertrunkene Ratten, die nur knapp (oder auch gar nicht und einfach angespült wurden) den Wassermassen im alten Kanalisationssystem entkommen waren. Also feierten die Zwerge unten dieses Geschenk der Tiefe, während die Menschen oben auf den Himmel fluchten und ausspuckten. Se la wie.

***

In der Stadtwache waren wieder normale Verhältnisse eingekehrt, soll heißen, übliche Verhältnisse. Man musste nicht mehr befürchten bei jedem Schritt über (ganz leise, besonders wenn Vorgesetzte in Hörweite waren) fluchende Rekruten zu stolpern und außer den Streifen verließ auch kaum ein Wächter das Wachhaus. Die bedrückte Stimmung in der Stadt schien trotz des für lichtscheues Gesindels eigentlich idealen Wetters auch den Dieben, Einbrechern und Vertretern artverwandter Berufe auf das Gemüt geschlagen zu haben, oder die Bürger empfanden es einfach als nicht lohnend, sich wegen solcher Lappalien zum Wachhaus durchschlagen zu müssen. Also versammelte man (oder frau, oder auch es) sich in der Kantine, malträtierte das Pfeilbrett und dezimierte nach Kräften die Keks- und Kaffeevorräte [3] . Die Kaffeedämonen muckten zwar auf, wurden aber per Mehrheitsbeschluss akustisch überstimmt. Die Stadtwache genoss kollektiv ein paar, in einigen Einzelfällen sicherlich wohlverdiente, freie Stunden.
Die allgemeine "Arbeite-ich-heut-nicht-brauch-ich-morgen-auch-nichts-tun" Stimmung erstreckte sich indes nicht auf das gesamte Wachhaus. In der Pathologie ging ein einzelner, pflichtbewusster Wächter gewissenhaft seiner Arbeit nach- die im Moment darin bestand, in aller Gemütsruhe auf einem Metalltisch zu sitzen, in einem höchst interessantem Buch über die Auswirkungen unterschiedlicher Druckverhältnisse bei der Pasteurisation von Ziegenmilch (die seiner Erfahrung nach ein wenig zu dramatisch dargestellt wurden, aber schließlich sollte sich das Buch ja verkaufen- wenn auch nur in Kennerkreisen) zu schmökern und ansonsten den Kulturbanausen ein Stockwerk über ihm zu entkommen. Ab und zu warf der Gerichtsmediziner einen gewissensgeplagten Blick auf das Eisfach, in dem sich nur eine einzige Leiche befand, die zu untersuchen er noch den ganzen Tag Zeit hatte. Ganz kurz drängte sich ihm der Gedanke auf, Huitzli oder Avalania hochzuordern und sich selbst der halboffiziellen Party anzuschließen, doch dann seufzte Pismire halblaut, markierte die gelesene Seite mit einem Befundsformular und brachte das Buch in Sicherheit, bevor er sich dem Eisfach zuwandte.
Trotz fortgeschrittenen Alters wuchtete er den zugegebenermaßen leichtgewichtigen Korpus auf den metallenen Untersuchungstisch. Obwohl er so umsichtig wie möglich zu Werke ging, lösten sich einige Fleischfetzen von der übel zugerichteten Leiche und besudelten den Fußboden und seine Schürze. Missmutig verzog er das Gesicht. Es war kaum zu hoffen, dass heute eine Putzkraft erscheinen würde, also musste er jegliche Sauerei, die die Obduktion verursachte, selbst wieder beseitigen. Toll.
Er vermied es, sich den Körper schon jetzt genauer zu betrachten- die ersten Eindrücke waren häufig die wichtigsten- und hieb mit der flachen Hand gegen den Kasten, der über dem Metalltisch an einer Schnur von der Decke baumelte. Nichts rührte sich. Er schlug wieder zu, diesmal ein wenig fester. Endlich bequemte sich der Dämon dazu, eine Klappe zu öffnen.
"Hast du sie noch alle? Ich soll JETZT arbeiten? Da oben geht's hoch her und ich soll mir hier einen abbibbern? Nee! Das kannste vergessen!"
Pismire verdrehte die Augen. Die schnellste, einfachste und effektivste Möglichkeit dieses kleine Motivationsproblem zu lösen war es zu ignorieren.
"Neunzehnter Spuni im Jahr des tanzenden Webhuhns, dreizehn Uhr fünfzehn. Untersuchender Gerichtsmediziner Oberleutnant Pismire. Untersuchungsobjekt: menschliche Leiche, gefunden am achtzehnten Spuni, ungefähr sechzehn Uhr, im Wehr der Vertragsbrücke. Ikonografien im ungeöffneten Zustand"
Pismire nahm einen bereitliegenden Ikonographen zur Hand und fertigte simultan zu seinem Vortrag die erforderlichen Bilder an
"des Gesamtkorpus, Kopf, Rumpf, obere und untere Extremitäten in Bauch- und Rückenlage."
Er legte den Apparat zur Seite. Der Dämon über ihm verdrehte gelangweilt die Augen, während er den schon tausendmal gehörten Sermon gehorsam mitstenografierte.
"Es handelt sich um eine menschliche weibliche Wasserleiche, ein Meter neunundfünfzig groß, achtundvierzig Kilo schwer, in relativ schlechtem Zustand. Die Epidermis ist nahezu komplett abgelöst, Dermis und Subcutis weisen schwere Läsionen auf und sind zum Teil ebenfalls abgelöst, so dass Muskelgewebe und teilweise sogar Knochen freiliegen. Der Korpus weist multiple Frakturen in allen Extremitäten, am Rumpf und am Kopf auf. Die Gesichtsknochen sind stark deformiert, was eine Identifizierung erschwert. Anhand der Brust und des Beckens lässt sich die Leiche jedoch zweifelsfrei als weiblich erkennen."
Pismire verharrte einen Moment und betrachtete das Gesicht der Toten. In seinem Job, und insbesondere in seiner Spezialisierung, waren Gefühle eindeutig fehl am Platz. Doch diese Frau war noch sehr jung gewesen. Weil die Leiche längere Zeit im Wasser gelegen hatte, war jegliche Körperbehaarung ausgefallen, was die Identifizierung zusätzlich erschwerte. Wie hatte sie ausgesehen? Wer war sie gewesen? Und, das Allerwichtigste- wie war sie gestorben? Unfall, Mord? Ohne genaue Untersuchung ließ sich das bei einer Leiche in diesem Zustand kaum sagen. Ob die Verletzungen prä oder post mortem entstanden waren, konnte nur eine genaue Untersuchung erweisen.
Vorsichtig hob er die Finger der Leiche an. Die Nägel waren ebenfalls abgeschwemmt, die noch vorhandene Haut an den Händen war weich und weiß und vollkommen ohne Schwielen. Das hatte allerdings nicht viel zu sagen, wenn man bedachte, wie lange der Körper wahrscheinlich im Wasser getrieben hatte. Anhand der Kleidung, die man noch hatte identifizieren können, gingen die Wächter allerdings von einer gutbürgerlicher Herkunft aus.
"Aufgrund des Zustandes der Leiche lässt sich das Alter nicht genau festlegen, vorläufige Schätzung: zwischen sechzehn und vierundzwanzig Jahren. Ebenfalls stark erschwert ist die Bestimmung der Todeszeit. Ausgehend vom Verwesungs- und Fraßgrad liegt der Zeitpunkt des Todes wahrscheinlich zwei bis drei Tage zurück."
Er griff hinterrücks nach einer Lupe und beugte sich über den rechten Arm der Toten.
"An der Leiche sind Fraßspuren verschiedener Tiere zu erkennen. Am rechten Unterarm sieht man deutlich einen halbrunden Gebissabdruck, der---"
Interessiert beugte sich der Dämon nach vorne und besah sich das Szenario, dass sich ihm bot. Unter ihm lag die nackte Leiche, doch er würdigte sie keines zweiten Blickes. Die Reaktion von Pismire war viel spannender. Dem hartgesottenen Gerichtsmediziner hatte es die Sprache verschlagen.

***

Laiza las sich den Obduktionsbericht durch und runzelte die Stirn. Pismire stand vor ihrem Schreibtisch und harrte ungeduldig der Dinge, die da kommen würden. Endlich legte die Abteilungsleiterin den Bericht zur Seite.
"Die Verletzungen wurden also vor dem Tod zugeführt?"
"Die Bissverletzungen, ja. Die Knochenbrüche nicht, die entstanden vermutlich durch den Fluss. Die meisten jedenfalls. Die Bissverletzungen sind aber auf jeden Fall vor dem Tod entstanden; lebendes Gewebe zerreißt anders als totes. Das Opfer ist auch nicht durch Ertrinken gestorben, sondern an massivem Blutverlust, verursacht durch Zerfetzen der Kehle. Die Bissverletzungen an den Armen wurden also definitiv vorher zugeführt."
Laiza verzog angewidert das Gesicht.
"Das Mädchen ist bei lebendigem Leib gefressen worden?"
Pismire hatte nach genauerer Untersuchung das Alter der Leiche zwischen sechzehn und achtzehn eingeschätzt. Er nickte niedergeschlagen.
"Könnte man so sagen, ja. So etwas habe ich in dieser Form noch nie gesehen. Es wurden regelrecht Stücke aus ihr, nun, herausgerissen."
"Während sie noch lebte."
"Ähm, ja".
Laiza stützte ihren Kopf mit der Hand ab. Man brauchte kein Hellseher zu sein, um zu wissen was jetzt kommen würde. Trotzdem konnte man ja noch hoffen.
"Und die Bissverletzungen stammen von Hunden?"
Einen Versuch war's wert.
"Naja. . ."
Pismire wand sich unbehaglich.
"Die Kiefergröße eines mittelgroßen Hundes würde zwar passen, aber das Zahnmuster nicht."
Laiza stieß schicksalsergeben einen Stoßseufzer aus. Da kam mal wieder jede Menge Papierkram auf sie zu. Die Werwölfe hatten zwar keine so starke Lobby in der Stadt wie die Vampire, aber man konnte todsichere Wetten abschließen, dass, sobald etwas von dieser Sache an die Öffentlichkeit drang, irgendein pflichtbewusster Bürger sich dazu berufen fühlte ungeachtet der tatsächlichen Tathergänge (und der Interessen der Beschuldigten) die Rechte der armen, unbescholtenen, absolut missverstandenen, gequälten, hier-jedes-beliebige-weitere-Adjektiv-einfügen Mitbürger zu verteidigen- während sich gleichzeitig ein riesiger Mob mit Heugabeln, Fackeln und Silberpfeilen ausrüstete und jagt auf alles vierbeinige mit Fell machte, was größer als eine Ratte war. Obwohl das manchmal gar nicht so einfach zu unterscheiden war: Die Ratten in Ankh-Morpork konnten verdammt groß werden. Manchmal konnte man beinahe glauben, dass jeder Durchschnittsbürger Fackel, Heugabel und/ oder Spruchband bereits einsatzbereit neben dem Bett liegen hatte- nur für den Fall, dass in der Nacht etwas Interessantes passierte und man sofort im Zentrum des Geschehens zu sein hatte.
"Also gut, bringen wir es hinter uns. Werwölfe?"
"Nuuun. . . sagen wir zur Hälfte."
"Zur Hälfte? Halbe Werwölfe?"
"Nein. Die menschliche Hälfte. Die Bissspuren stammen definitiv von menschlichen Kiefern . . . mehr als einem. Keine Werwölfe."
Laiza schlug beide Hände ins Gesicht. DAS würde wirklich jede Menge Papierkram nach sich ziehen. Zum Glück nicht nur für sie.

***

Ayure Namida und ihr sogenannter Schützling folgten dem Ankh entgegen seiner Fließrichtung. Das heißt, der Fließrichtung, die der Fluß noch vor zwei Tagen gehabt hatte. Mittlerweile staute sich der allgegenwärtige Unrat und Morast wieder im Flussbett und erzeugten wieder sowohl den beruhigend vertrauten Geruch als auch eine Wasseroberfläche, auf der man schon fast Ackerbau betreiben konnte. [4]
Mittlerweile hatte Ayure schon den Punkt erreicht, an dem sie leicht panisch wurde. Wie sollte sie IHN ausbilden? Der Hauptmann hatte jahrelange Diensterfahrung- und meistens eine wirklich üble Laune.
Leider half alles nichts, da musste sie durch. Aber wie hieß es denn so schön: Man (oder auch frau) wächst an den Aufgaben. Na denn...
"Zu den wichtigsten Aufgaben eines Ermittlers-" plapperte sie nervös drauflos. Daemon warf ich einen vernichtenden Blick von der Seite zu, der sie sogleich verstummen ließ. Das fing ja guuuuuut an!
Schweigend trotteten sie am Ufer entlang, behielten die Böschung auf der einen und neugierige Passanten auf der anderen Seite im Blick. Bei der immer noch starken Strömung wollten sie es nicht riskieren, aus Versehen angerempelt zu werden und ein unfreiwilliges Bad zu nehmen. Also lief Daemon am Rand der Straße, und Ayure übernahm - als pflichtbewusste Ausbilderin - die Vorbildfunktion und stapfte durch den Uferschlamm, um alles genau im Blickfeld zu haben. Und tatsächlich...
"Hauptmann?"
Daemon lief die Uferböschung hinab. Ayures Stimme klang drängend- und dumpf, denn sie steckte bis zu den Schultern in einem Abwasserrohr.
"Guck dir das mal an..."
An der Decke hing ein blauer Kleiderfetzen.
Die gegenwärtige und der zukünftige Ermittler schauten sich an. Die Spur war schon mehrerer Tage alt, doch man konnte nie wissen. Vielleicht war es noch möglich, etwas zu finden- und bis Verstärkung da war, zu spät. Ayure seufzte halblaut, dann kroch sie pflichtbewusst voran. Auch wenn es eigentlich lachhaft war: Sie musste ja ein gutes Beispiel abgeben.

Sie wusste nicht, wie lange sie schon durch die Dunkelheit gekrochen waren. Nach ihrem persönlichen Zeitgefühl irrten sie schon seit Stunden durch übelriechendes modriges Wasser, dass mit Klumpen durchsetzt war, deren genauen Ursprungsort sie gar nicht erst in Erfahrung bringen wollte. Wände und Decke waren von einer schleimigen, sehr nachgiebigen und äußerst klebrigen Substanz mit einer Vorliebe für Haare überzogen. Wenn sie hier wieder raus waren, schwor sich Ayure, würde sie sich im Badezimmer einsperren und die Tür verbarrikadieren. Angewidert zog sie ihre Hand aus der Brühe, welche sie nur widerstrebend mit einem lauten "Schmaaaatz" freigab. Die gleiche Prozedur mit der anderen Hand. Und beiden Knien, nur kamen diese erst gar nicht aus dem Abwasser heraus. Insgeheim befürchtete sie, dass diese Brühe schon längst ihre Klamotten zerfressen hatte. Und sie musste noch durch die Stadt zurück!
Wenigstens hielt Daemon sich zurück. Er machte keine abschlägigen Bemerkungen, murrte nicht und unterstellte ihr keine Unfähigkeit (worauf sie insgeheim gehofft hätte: Dann hätte sich jemand anderes mit ihm abquälen müssen). Allerdings befürchtete Ayure einen geharnischten Bericht, wenn sie zurück im Wachhaus waren. Ihre einzigen Hinweise waren mittlerweile drei blaue Kleiderfetzen, und ob das diese Tortur hier rechtfertigte?
Bei ihrem nächsten Griff in das Wasser stieß ihre Hand auf etwas pelziges, warmes, krabbelndes.... Was sich bewegte! Mit einem Aufschrei sprang sie hoch, stieß sich den Kopf an der niedrigen Decke und platschte bäuchlings in den Modder. Die Ratte quiekte und huschte in die entgegengesetzte Richtung.
Lauthals würgend versuchte Ayure sich den Schleim aus Augen, Nase und vor allem Mund zu wischen. Hatte sie etwa etwas davon verschluckt? Oh nein...
"Das- das reicht jetzt!" krächzte sie mit mühsam beherrschter Stimme. "Wir drehen um!"
Daemon zog interessiert ob ihres Anblicks die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts und drehte sich kehrtwendend um. Nun kroch Ayure hinter dem Hauptmann her und musste neiderfüllt feststellen, dass er nicht einmal halb so dreckig war wie sie selbst. Nach wenigen Metern bog Daemon in eine andere Röhre ab. Ayu packte ihn am Bein.
"Das ist nicht der Weg, auf dem wir reingekommen sind."
Dae seufzte.
"Wir sind etwa 40 Minuten hier herumgekrochen, meist nordwestlicher Richtung. Wenn wir uns jetzt eher westlich halten, müßten wir in der Nähe des Wachhauses am Pseudopolisplatz herauskommen."
Sprachs und übernahm die Führung. Ayu hätte sich in den Hintern beißen können... bis ihr wieder einfiel, wie dieser momentan aussah.
Tatsächlich erreichten sie schon nach kurzer Zeit einen Tunnel, der halbwegs trocken war und hoch genug, als dass sie aufrecht laufen konnten- und der mit mehr Müll übersät war, als nach der kürzlichen Überschwemmung eigentlich hier unten sein sollte.
Ayure hob fragend eine Papiertüte mit Schnappers Schriftzug "Best. Wü. d. St. Tr. Selb. RUIN!" (Er hatte einen Vertrag ausgehandelt, bei dem die Druckkosten pro Buchstabe bezahlt wurden). Dae winkte ab.
"Die Bettler kommen hier runter- warm und trocken."
Er betrachtete den pfützenübersäten Boden.
"Meistens jedenfalls. Die sind harmlos, außer du hast was Alkoholisches dabei. Dann bist du deines Lebens nicht mehr sicher."
Wie zur Bestätigung seiner Worte huschte eine Gestalt durch die Schatten- viel zu groß für eine Ratte. Die beiden Wächter griffen nach ihren Dienstwaffen.
"Stehenbleiben, im Namen der Wache!"
Die Gestalt verharrte tatsächlich. Im Zwielicht konnten die beiden nicht besonders viel erkennen, aber der (oder die, wir wollen ja nicht sexistisch sein) Unbekannte schien sich hingekauert zu haben. Er ergab sich? Gut.
Ayure trat ein paar Schritte in seine Richtung. Dae gab ihr an ihrer linken Seite Deckung. Der Verdächtige schien den Kopf schief zu legen und dann... erklang ein seltsames Schnüffeln, gefolgt von einem eindeutig abfälligen Schnauben.
Die beiden Wächter griffen ihre Schwerter fester.
Die Gestalt richtete sich auf und trat ein paar Schritte auf sie zu. Noch immer war es schwierig, sie genau zu erkennen oder sogar einer Spezies zuzuordnen. Ihre Proportionen waren zu verschwommen.
Ein kichernder Laut erklang.
"Wächterlein... Wächterleinchen.... Kleinchen kleine kleine oooooch hihihihihi"
Beide richteten die Spitzen ihrer Schwerter auf den Verrückten.
"Treten Sie sofort aus den Schatten heraus", befahl Ayure mit (hoffentlich) fester Stimme. Beide Wächter traten sicherheitshalber ein paar Schritte zurück. Der Tunnelkriecher hingegen hatte wenig Lust, diesem Befehl nachzukommen. Dies fing ja schließlich an, Spaß zu machen.

"Ein kleines Wächterleinchen durfte von der Leine
und spazierte duuuum und blöööd nach drunten.
Da kamen viele Rattilein und fraßen seine Beine,
sie ließen nur die Füße übrig, denn die stuuuuunken!"

Zur Verdeutlichung wedelte der Bettler mit der Hand vor dem Gesicht, dann ließ er sich auf den Rücken fallen und lachte schallend. Sein Gewieher schallte durch den Tunnel, wurde durch alte, ehemals kunstvolle Rückenbogen verstärkt und zurückgeworfen, bis der ganze Tunnel unter lautem Spottgelächter widerhallte.
Dae steckte sein Schwert in die Scheide und näherte sich dem Tunnelkriecher vorsichtig. Der widersetzte sich jedoch nicht im geringsten der Verhaftung. Die einzige Frage war, wie man ihn fesseln sollte: Der Mann war in mindestens zwölf Schichten übelriechender, schmutziger, schleimiger Lumpen eingewickelt und schien den Ekel auf den Gesichtern der Wächter auch noch zu genießen. Schließlich fesselten sie seine Handgelenke, banden ein Seil darum und Ayure führte in an der "Leine", während Dae mit gezogenem Schwert folgte. Der Rückweg zur Wache gestaltete sich interessant, lautstark und abwechslungsreich, zumindest aus Sicht ihres Gefangenen, der es sich nicht nehmen ließ jede Bewegung, jeden Geruch und jeden Stück Müll lauthals zu kommentieren- und gelegentlich zum allgemeinen Duftpotpourri noch eine eigene Note hinzuzufügen.
"Wenigstens laufe ich vor ihm", dachte Ayure. Nur ein kleiner Trost.

***

"Ist ja widerlich". Die Rekrutin wedelte mit der Hand vor ihrer Nase, doch der beißende Gestank schien sich in den Steinen, im Metallgitter und selbst in ihrer Uniform festgesetzt zu haben und attackierte in Form von Millionen kleiner Geruchspartikeln ihre gequälte Nase. Quelle des unliebsamen Geruchs war der gestern von Ayure und Hauptmann Llanddcairfyn angeschleppte Tunnelbewohner, der umgehend in eine Zelle gebracht wurde. Zuerst schien er sich köstlich zu amüsieren, kicherte und gackerte über sich selbst, die Welt und jeden vorbeikommenden Wächter, der dumm genug war in Reichweite seiner Wurfgeschosse zu kommen. Nachdem er sich mehrere Lagen zerfetzte Lumpen vom Körper gerissen hatte, gingen ihm die Wurfgeschosse aus und er behalf sich mit eher... organischen Materialien. Aus hygienischen Gründen mussten die anderen Gefangenen woanders untergebracht werden- oder wurden der Einfachheit halber gleich wieder auf freien Fuß gesetzt. Die Drohung, bei der nächsten Verhaftung mit "Kloaki" in eine Zelle gesteckt zu werden, sorgte für eine unglaublich niedrige Verbrechensrate von nicht-lizenzierten Straftaten. Gewisse Neuigkeiten sprachen sich nun mal schnell herum.

Am nächsten Morgen schien der Eifer des Neuzugangs jedoch merklich nachgelassen zu haben. Anstatt fröhlich die gesamte Speziesheit zu verfluchen, lag der Obdachlose leise wimmernd auf dem Boden, starrte die gegenüberliegende Wand an und ignorierte die beiden Wächterinnen, die vor der Zelle standen. Die Rekrutin versuchte mit ihrer Uniformjacke irgendwie ihre Nasenlöcher zu verstopfen, während die Püschologin Anna Orientierungslos den Gefangenen mit fachlichem Interesse musterte.
"Und Sie sind sich ganz sicher, dass Sie da rein wollen?" nuschelte die Rekrutin durch das grobe Tuch. Anna nickte knapp und fasste ihren Notizblock fester.
"Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass ich irgendwas aus ihm herausholen kann. Sieht mir schwer nach einem Drogenabhängigen aus. Wenn ich Glück habe, fällt ihm vielleicht sein eigener Name wieder ein!"
Sie seufzte und schloss die Tür auf, dann drückte sie den Schlüsselbund der Rekrutin in die Hand, die hinter ihr die Tür bewachte. Vorsichtig näherte sich der am Boden kauernden Gestalt.
"Hallo? Können Sie mich hören?"
Keine Reaktion, außer den monoton wippenden Kopfbewegungen. Anna hockte sich hin, achtete aber darauf, außer Reichweite zu bleiben.
"Sie befinden sich in einer Zelle der Stadtwache. Mein Name ist Anna Orientierungslos, ich bin Püschologin bei RUM. Wie heißen Sie?"
Sein Kopf schabte weiter über den rauen Steinfußboden. Blicklos starrte er durch Anna hindurch auf die gegenüberliegende Wand. Unter seinem Mund hatte sich eine feuchte, dunkel schimmernde Pfütze gebildet. Anna verzog angewidert das Gesicht, als Sabber und Rotz an seinem Gesicht herunterliefen und die Pfütze noch vergrößerten, zusammen mit allen übrigen in der Zelle befindlichen Körperflüssigkeiten. Der Gestank hatte fast physische Konsistenz erreicht und schien sich mit dem des Stinkenden Alten Rons messen zu wollen- ekelerregend, Haare wegätzend und beinahe greifbar. Durch die ständigen Kopfbewegungen des Mannes schob sich die Flüssigkeit auf Annas Füße zu. Sie zog ihren Schuh zurück, als sie die Farbe der Flüssigkeit bemerkte- und den leicht metallischen Geruch, der trotz allem in der überwältigenden Gestankskakophonie noch auszumachen war. Der Mann hatte sich die Wange am Steinfußboden abgescheuert, dickflüssiges Blut vermischte sich mit Speichel und tränkte den Boden- und er hörte nicht auf! Vor und zurück wippte sein Kopf, schabte über den rauhen Stein und scheuerte Muskelfasern und Ohrläppchen ab. Der Tunnelstreicher schien nichts davon zu spüren, völlig der Welt entrückt betrachtete er die Welt hinter seinen Augen, die außer ihm niemand wahrnehmen konnte. Annas Finger zitterten, als sie vorsichtig die Finger ausstreckte, ihren Ekel überwand und den Gefangenen leicht an der Schulter berührte.
"Sie..."
Ihre Stimme brach. Wie konnte, konnte ein Mensch soweit gebracht werden? Sie überwand ihre instinktive Abneigung erneut, konzentrierte sich auf ihre kleine Wohnung, ein Bad, eine saubere gefüllte Badewanne, das hier war nur ein Job, nur ihr Job, sie streckte die Hand aus- SchockSchmerz gepackt krallengleiche Nägel durchbohren ihre Haut Blut rotes Blut tropft auf den Boden ihr Blut geschockt die Rekrutin schreit wie paralysiert die Augen die Augen er sieht das Blut vermischt sich seins und ihres- ein Lächeln auf seinen Lippen- Schmerzen so stark krieg keine Luft KEINE LUFT und endlich ersehnte gnädige erflehte Dunkelheit.

***

Leise schloss er die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen, presste den Hinterkopf gegen das beruhigend feste Holz. Tief ein- und ausatmen. Er hätte es nicht verhindern können. Er hatte es nicht verhindern können, und sie war-
Ophelia war in sein Büro gestürmt, kreidebleich, ohne Formalitäten kam sie schlitternd vor seinem Schreibtisch zum Stehen. Ihre Pupillen waren vor Schock vergrößert gewesen, und als sie nach Worten ringend vor seinem Tisch stand, die zitternden Hände auf die Schreibtischplatte gepresst um nicht zusammenzubrechen, als er aufgestanden war und um den Tisch eilte um sie zu stützen, und er wusste, dass etwas Grauenhaftes geschehen war, war sein erster banaler Gedanke trotzdem gewesen: Wie ein Fisch. Wie ein Fisch mit seinen riesigen Augen in einer Glaskugel, der die Lippen auf- und zumachte und sinnlose Laute hervorblubberte. Am Rand seiner Wahrnehmung bemerkte er die anderen Wächter vor seiner Tür, eine in Tränen aufgelöste Rekrutin, viele bestürzte Gesichter, die den Blick befangen zu Boden senkten, und seine aufgelöste Stellvertreterin.
Es hatte schon immer... Verluste... gegeben.
Aus den unterschiedlichsten Gründen.
In Ausübung seiner Pflicht verstorben.
So hieß es.
Oder ihrer, seit einiger Zeit.
Auf der Streife.
Bei verdeckten Ermittlungen.
Bei Geiselbefreiungen.
Sprengstoffentschärfungen.
Aber Püschologen? Im Wachhaus? In einer Zelle? Einer gottverdammten Zelle, verflucht noch mal, wie konnte das passieren?
Es hätte nicht passieren dürfen.
Aber es war.

Tief ein- und ausatmen. Das Holz in seinem Rücken war fest und stütze ihn.
Er dachte, nichts könnte ihn mehr erschüttern. Zu lange war er in Überwald gewesen, zu lange in Ankh-Morpork, und viel zu lange in der Wache, als dass ihn noch irgendetwas erschüttern könnte.
Trotzdem.
Er hatte Ophelia in seinen Stuhl gepresst und immerhin so viel verstanden, dass es zu irgendeiner Art von Vorfall beim Verhör gekommen war. Er stürzte die Treppen herunter, in den Zellentrakt, mehrere Stufen auf einmal nehmend, rannte zu den bereits an der letzten Zelle stehende Wächtern- Bregs, Laiza, ein paar andere; alle sichtlich blass oder grün im Gesicht, einige mit Tränen in den Augen, alle mit geschocktem Gesichtsausdruck- sie sahen in die Zelle.
An der Wand lag ein Mann, und er war tot. Niemand, dessen Rückgrat so verbogen war, konnte noch am Leben sein. Doch alle Blicke waren auf Pismire gerichtet, der in der Mitte der Zelle über... etwas kniete. Ein blutiges, zerfetztes Bündel, an dem hier und da ein paar Stücke bloßer Haut zu sehen waren.
Pismire wagte es kaum, den Leichnam zu berühren. Die Todesursache stand ohnehin fest- Biss in die Kehle, aber die darüber hinausgehenden Verletzungen- den Bauch aufgerissen waren abnorm den Schädel am Boden zerschmettert und einfach nur falsch. Welches lebende Wesen konnte so etwas einem anderen Wesen antun? Nicht einmal Werwölfe im vollsten Blutrausch ihr Blut getrunken gingen dermaßen brutal vor.
Er fühlte seinen Magen rumoren, brauchte frische Luft. Dringend. JETZT. Er taumelte aus der Zelle.

Romulus hatte sich so weit beruhigt, dass er zu seinem Stuhl gehen konnte. Das Begräbnis war... typisch gewesen. Ein Wächterbegräbnis eben. Auch fast nur Wächter anwesend, und es hatte geregnet. Der Priester hatte ein paar Worte genuschelt, die Wächter nickten. Der Sarg wurde in die Erde gelassen und verbarg den Leichnam gnädigerweise vor allen Augen.
Der Leichnam des Mörders wurde nach der Obduktion in eine Schindergrube geworfen. Ein Trollwächter hatte die Hilfeschreie der panischen Rekrutin gehört und nicht lange gefackelt. Sie konnten ihn nicht verhören, aber Romulus bezweifelte, dass der Mörder noch irgendetwas hätte erzählen können. Außerdem hätte er in der Lage des Trollwächters wahrscheinlich genauso gehandelt. Im Endeffekt kümmerte sich niemand um die Wächter- außer den Wächtern selbst. Selbst die sensationsgeilen Schmierfinken hielten sich vom Grab fern, nachdem sie keine Ikonographie der Leiche bekommen konnten. Ohne Bild war "Zerfleischte Wächterin" eben nur halb so interessant. Er hatte eine Wächterin am Grab zurückgelassen, falls einer dieser Zeitungsfuzzis auf die grandiose Idee kam, das Grab zu öffnen.

***

Der Regen trommelte in einem dumpfen Stakkato auf ihren Helm. Plopp-plopp-plopp-plopoppoloppopoppolloppollopp-plopp. Hinter ihr rutschte ein weiterer Moosklumpen vom Dach des kleinen Lagerschuppens, losgelöst von endlos fallenden weichen fließenden Regen, der die Welt in eine ruhige angenehme Stille verwandelte und gnädig alles Störende, Unangenehme bereinigte und überdeckte, nur eine weite graue endlose Eintönigkeit hinterlassend. Wie frisch gehobene Erde. Die Erdbrocken waren matschig und verschwommen, flossen mit anderem Schlamm ineinander und hinterließen keine sichtbaren Spuren mehr. Kein Zeichen, dass erst vor kurzem ein Loch gebuddelt worden war, in das etwas hineinplumpste.
"Der Boden ist so rutschig" leise. Dann geflüstert: "Es tut mir leid". Betretener Blick auf den Boden. Sichtbarer Gedanke hinter leicht trotzigen Augen: Sie merkt ja sowieso nichts mehr davon. Fast gefragt und laut ausgesprochen, herausfordernd: Oder? Um diese Angst zu unterdrücken. Dieses: Das darf nicht passieren. Nicht UNS. Da war diese Linie gewesen, diese unsichtbare Linie zwischen die und wir, zwischen ihrem Revier -draußen, die Schatten, die Straßen und der Hafen, kleine schmierige halbdunkle Spelunken und eine abgebrochene Flasche - und der magischen Linie, die nur aus einer einzigen Holzbohle bestand, die etwas knarrte, wenn man darauf trat: die Türschwelle zum Wachhaus. Dieses Rundherumgefühl- Sicherheit, Kameradschaft, WIR- immer noch vorsichtig sein, immer noch im Dienst, und manche Wächter hatten einen fiesen Sinn für Humor- doch die Angespanntheit war fort, die die Ohren ständig gespitzt hielt, die sämtliche Muskeln in Bereitschaft hielt und ständig die Straße hinter einem beobachtete- die Überreiztheit entlud sich in festen Klapsen auf diversen Schultern und Rücken, grimmigen Lächeln, halbwahren Berichten, noch weniger wahren Heldengeschichten und viel zu starken Kaffee, der einem Mund und Schleimhäute verätzte und die Zunge mit einem teerigen Belag bezog. Heim. Nicht zuhause, aber heim. Sicherheit, so sicher man eben sein konnte.
Mit einer zerfetzten Leiche im Keller. Einer von uns.
Der Regen kümmerte sich nicht um die introspektive Wächterin, sondern plätscherte weiterhin sanft auf die frische Erde. Mittlerweile fügte sich das Grab nahtlos in den Friedhof ein, der Regen verwischte die Grenzlinien frisch gestochener Erde, genau wie er die Tränenspuren im Gesicht der Wächterin verwischte.
Sie. Von allen. Ein Schwertkampf der Rekruten, und ein Gefühl der Blamage. Sie wollte schon aufgeben, alles hinschmeißen, zurück auf die Straße, das Leben, das sie kannte. Sie warf das Schwert weg und massakrierte die Trainingspuppe. Dann, auf dem Weg ins Wachhaus, ein Stups an der Schulter, und Anna: "Kannst du mir das beibringen?" Ein sanftes, scheues Lächeln- so etwas hatte sie noch nie gesehen. Ein Lächeln, das war: Ich bin besser als du, und du bist Dreck! Oder "Du tust es, und du tust es freiwillig, denn wenn nicht, tust du nie wieder etwas!"
Doch dieses Lächeln in Annas Gesicht sagte: Hallo! Ich bin auch fremd hier und neu, und ich werde dir nichts tun. Tust du mir auch nichts? Und ganz heimlich stahl es sich in ihr Gesicht und hob ihre Mundwinkel an, und ihr eigenes Gesicht lächelte: Ich tue dir auch nichts. Wie noch nie zuvor.
Training im Hof, und Anna lernte, wie in den Schatten gekämpft wurde. Dann ihre eigene Ausbildung zur verdeckten Ermittlerin bei Lilli: eine Wächterin, die nicht lesen konnte, sollte von einer Wächterin lernen, die nicht sprechen konnte und alles (sehr langsam) aufschrieb.
Diesmal war Anna die Lehrende, und sehr sehr geduldig. Auch wenn Schleicher schneller lernte. Misstrauische Blicke auf die Ratte, die zu wissend zurückblickte. Noch misstrauischere Blicke auf Mimosa, die noch unschuldiger zurückguckte. Anna hatte gewartet, dass Mimosa ihr endlich genug vertraute, um selbst zu sprechen- doch jetzt war die Gelegenheit vertan. Finito.
Viele der Tropfen, die noch auf das frische Grab fielen, waren salzig.

***

Romulus sah auf die Wächterin, die in Habachtstellung vor seinem Schreibtisch stand. Er hatte sie gegrüßt, doch die Obergefreite hatte sich nicht entspannt. Er war sich nicht sicher, ob es eine gute Idee war ausgerechnet ihr diese Mission aufzutragen. Sie war trotz allem noch sehr jung und die kürzlichen Ereignisse hatten sie offensichtlich sehr mitgenommen. Romulus kannte diesen betont-gleichgültigen Ich-sehe-durch-dich-hindurch-Blick. Die Augen waren leicht glasig und schienen alles hinzunehmen, doch dahinter brodelte ein Vulkan. Er räusperte sich leicht. Sei's drum. Im Moment hatte er niemand Besseren. Das heißt, Besseren ja, aber nicht einsatzbereit.
"Obergefreite, du wirst an einem äußert ungewöhnlichen Ort verdeckt ermitteln- im alten Kanalisationssystem."
Er wartete auf eine Reaktion, doch die rothaarige Wächterin starrte weiterhin einen imaginären Punkt irgendwo über seinem Kopf an.
"Dort unten leben Obdachlose. Die meisten sind sehr blass aufgrund des mangelnden Sonnenlichtes. Du wirst dort nicht auffallen".
Er betrachtete forschend ihre vampirbleiche Haut und die roten Augen. Die Rekrutin, die zugesehen hatte, als Anna Orientierungslos abgeschl-, getötet wurde, hatte ausgesagt, dass die Augen des Obdachlosen geglüht hätten.
"Ich weiß, dass die Nachrichtenübermittlung etwas schwierig werden kann, aber deine zahme Ratte hat ja schon Botschaften befördert".
Ein leichtes Nicken, doch die "zahme Ratte" auf der Schulter der jungen Frau sah ihm plötzlich genau ins Gesicht. Er schob eine Mappe über den Schreibtisch.
"Hier drin findest du alle relevanten Informationen. Hast du noch Fragen?"
Als sie ansatzweise mit dem Kopf schüttelte, entließ er sie. Leise schloss sie die Tür hinter sich. Er bezweifelte immer mehr, dass es eine gute Idee war ausgerechnet sie zu schicken, doch leider hatte er kaum eine Wahl. Er wollte nicht mal daran denken, was seine Stellvertreterin sagen würde, wenn er vorschlug, dass sie in der Kloake ermitteln sollte. Septimus war zwar unauffälliger, konnte aber schlecht mit den Obdachlosen interagieren, und in Lillis Fall bezweifelte er, dass die Tunnelschleicher lesen konnten. Also Mimosa.

Besagte Obergefreite war zwei Tage vom regulären Dienst befreit, um sich besser auf ihren nächsten Einsatz vorbereiten zu können. Unter Vorbereitung verstand sie, auf ihrer Pritsche in der winzigen Dachgeschoßwohnung zu liegen, die staubigen Dachbalken anzustarren und Schleicher die Berichte lesen zu lassen.

"Die Bettlergilde meldete, dass es in den letzten Wochen mindestens 3 Vermisste gab, also Leute, denen man nicht zutraut besoffen den Ankh mit dem Abort verwechselt zu haben oder in den Schatten spazieren gegangen zu sein."
"Aha."
"Und einige Bedienstete im Patrizierpalast meldeten ungewöhnliche Geräusche aus den Kellern gehört zu haben."
"Aha."
"Es sind dort auch ziemlich viele Ratten verschwunden...", murmelte Schleicher mehr zu sich selbst.
"Aha."
Die Ratte sah sie scharf an.
"Gestern tanzte ein rosafarbener Alligator auf dem Hiergibtsallesplatz Ballett!"
"Aha."
Die Ratte seufzte tief, soweit es ihr eben möglich war, und sprang vom Tisch auf die Pritsche. Vorsichtig trippelte Schleicher Mimosas Arm hinauf und tupste seine kühle Schnauze gegen ihre Wange.
"Hey."
Seine menschliche Freundin schwieg ihn an.
"Sie war-"
"Es spielt keine Rolle."
"Wenn du nicht darüber reden möchtest... "
"Diese ganzen Berichte spielen keine Rolle. Niemand weiß, was da unten los ist, und dieses ganze Geschreibsel macht mich nur kirre im Kopf. Wir sollten einfach aufbrechen."
Schleicher entgegnete nichts, sah sie nur prüfend an. Vielleicht war Arbeit wirklich das Beste, aber ihm wäre es lieber gewesen einfach für ein paar Tage untertauchen zu können, wieder in den alten Trott, Tag für Tag, und die Wache ihren aussichtslosen Kleinkrieg gegen die unorganisierte Kriminalität alleine ausfechten zu lassen.
Sie gehörten hier nicht her, nach oben, in ein kleines enges stickiges Zimmer mit fließendem Wasser, igitt. Schleicher schüttelte sich heftig und dachte leicht wehmütig an offene Himmel, lange Tage mit Dösen verbracht in irgendeinem Heuhaufen, an Nächte über den Dächern der Stadt und die Wetten, welcher dumme nächtliche Spaziergänger als nächstes ausgeraubt wurde. Andererseits... sein Blick verirrte sich zu einem Glas mit so festem Verschluss, dass er es trotz seines Geschicks nicht aufdrehen konnte. Die Vorteile eines geregelten Keksnachschubs waren natürlich nicht zu unterschätzen. Dann sah er wieder zu Mimosa, die immer noch durch die Decke starrte, die Pupillen erweitert und glasig. Viel zu erweitert und glasig. Ganz vorsichtig krabbelte er zu ihrer Hand und biss sie sanft in den Finger- keine Reaktion, auch nicht nach einem zweiten, diesmal blutigem Biss. Er trippelte über ihre Brust zu ihrem Gesicht und leckte an ihren Lippen: ganz schwach hing noch der Geruch von Süßblüte daran. Plötzlich fühlte er sich viel schwerer, er erinnerte sich, Süßblüte brachte süße Träume, aber so schwer, so schwer, sein Körper sackte in sich zusammen. Was war? Der Fall, aber morgen, morgen- Mimosa? So müde... wen kümmert's... Mim- seine Pfoten zuckten einmal, zweimal, dann überrollte ihn selige Vergessenheit.

***

Ankh-Morpork wurde auf Ankh-Morpork gebaut. Nach jeder Frühjahrs-Überschwemmung des Ankh blieb eine Schicht mehr Lehm auf den Straßen und wurde von unzähligen Füßen plattgetreten. Frühjahre kamen und kamen jedes Jahr, und jedes Jahr wurden Erdgeschosse zu Tiefparterre, zu Kellern, zur Vergangenheit. Ankh-Morpork wuchs unaufhörlich in alle Richtungen, sogar in die Tiefe.
Sie waren übereingekommen, nicht vom Keller des Wachehauptquartiers aus zu ihrer Mission zu starten. Auch wenn sowohl die Erkundigungen der Kontakter als auch Schleichers eher inoffizielle "Wenn du nichts ausspuckst beiß ich dir den Schwanz ab" Fragen ergeben hatten, dass sich in unmittelbarer Nähe dieses speziellen Gebäudes keine Obdachlosen aufhielten, wurde es als sicherer befunden, einen neutralen Einstieg zu wählen. Mimosa und Schleicher hatten sich nachts mitsamt ihrer Ausrüstung aus der Stadt geschlichen und in einer Fuhre Heu versteckt. Sobald die Tore morgens geöffnet wurden, würden sie mit dem Heu in ein Lagerhaus gekarrt werden, das in der Nähe des Ortes lag, an dem Ayure und Daemon den Verrückten aufgegriffen hatten. Thask hatte mit ein paar Münzen sichergestellt, dass der Fahrer auf die übliche Mistgabel-blinder Passagierprüfung verzichtete. Noch war es eine gute halbe Stunde bis zum Sonnenaufgang, schätzte Schleicher, auch wenn die ersten hellen Schimmer schon erkennbar waren und empfindlich in seine an die Nacht angepassten Augen stachen. Mimosa lag hinter ihm und war nicht zu überriechen: anstatt ein wertvolles Kostüm aus dem Fundus zu ruinieren, hatte Romulus vorgeschlagen von Ayures Uniform sämtliche Abzeichen zu entfernen. Nach ein paar strategisch angebrachten Rissen und Löchern wirkte Mimosa in der Tat authentisch, besonders da ihr die Klamotten viel zu kurz waren. Der Geruch belästigte sie nur kurz, zu lange hatten sie in der Gosse gelebt und sich schnell wieder daran gewöhnt. Doch Schleicher machte sich immer noch Sorgen um die lethargische Mimosa, die er praktisch nur dauergereizt kannte, und war sehr erleichtert, als Mimosa plötzlich die Hand ausstreckte und ihm im Nacken kraulte, genau da, wo er es am liebsten hatte. Der Wagen setzte sich rumpelnd in Bewegung, Schleicher machte genüsslich einen Buckel und streckte Mimosa den Nacken entgegen, bis er einen flüchtigen Geruchsfetzen erhaschte und begriff, warum sie seine Nähe suchte: seine Freundin, die mit einem Dutzend wilder Stadthunde um einen Mülleimer gekämpft - und gewonnen! - hatte, die in stockfinsterer Nacht über meterbreite Häuserschluchten sprang, die nie Angst hatte, sondern nur stinkwütend wurde- seine Wildblume zitterte.

Das Lagerhaus leerte sich, das große Tor fiel dumpf ins Schloss- Mittagspause. Schleicher kuschelte sich an Mimosas Nacken.
"Wir müssen nicht da runter, das weißt du", flüsterte er. "Wir könnten einfach gehen, niemand würde es wissen. Die Stadt ist groß, sie finden uns nie- oder denken, dass du auch gestorben bist. Oder Sto Lat oder Überwald- wir könnten verschwinden, oder im Wad leben, oder" er dachte an das Glas mit Keksen, "wir könnten auch zu deinem Boss zurückgehen. Er wird es verstehen, glaub ich. Oder sag du bist krank, oder du hast dir das Bein gebrochen. Oder brich dir das Bein wirklich. Wir-"
Mimosa wischte ihn unwirsch von ihrem Kopf hinunter und fiel steif vom Wagen. Schleicher folgte wesentlich eleganter, blieb aber still, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte. Nicht Wut, nicht Angst, nur kalte Entschlossenheit, ein Funkeln in den verengten Pupillen. Erst wenige Minuten später fiel ihm auf, dass es in der Scheune finster wie in einem Rattenar- popo war.

***

Der Widerhall des Deckels klirrte metallisch im dämmrigen Tunnel und schien noch meilenweit hörbar zu sein. Schleicher spürte, wie sich jedes einzelne seiner vielen Härchen aufrichtete. Es klang so endgültig. Mimosa und er standen bewegungslos im Halbdunkel, bis auch das letzte Echo verklungen war und dickes, wattiges Schweigen sie fast körperhaft niederdrückte. Als er es nicht mehr aushielt, rieb Schleicher seine Nasenspitze an Mimosas Wange. Schweigend lief diese los, ins endlose Dunkle der ankh-morporkianischen Unterwelt.
Sie stapfte durch das knietiefe Dreckwasser, spritzend durchtränkte es ihre Hose, Weste und den zerschlissenen, von Schnüren zusammengehaltenen Rucksack. Um nicht aus der Rolle zu fallen, wenn sie überrascht werden sollten, hatten die beiden auf jeglichen Komfort verzichtet und so führte sie nur das Allernötigste mit sich: ein paar widerlich aussehende Müsliriegel als eiserne Reserve, einige Wasserflaschen, mehrere dünne, löchrige Decken und einen scheinbar verrosteten Dolch. Gut versteckt in ihren von außen verspakten, aber innen gefütterten und wasserdichten Stiefeln waren mehrere dünne Stilette im Futter verborgen, im Inneren des Taus, das ihr als Gürtel diente, steckte ein Garottendraht. Ganz unten, in mehreren Schichten stark riechender Blätter eingewickelt, war noch ein anderes Kraut in ihrem Rucksack verborgen, dessen Geruch Schleicher trotz der Minze wahrnahm, doch er blieb stumm.
Außerdem führte Mimosa etwas Straßenkleinkram mit sich, wie jeder der oberirdischen Bettler: kleine Münzen, Drahtgeflechte, interessant aussehende Dinge, aus dem Straßendreck und Rinnsteinschmutz gepult, die vielleicht noch als Tauschobjekte dienen konnten. Die Besitzlosen hatten ihre ganz eigene Währung, die nicht unbedingt mit dem Münzamt konform ging. Schleicher hoffte, dass sich die oberirdischen nicht so sehr von den unterirdischen Bettlern unterschieden.
Stunde um Stunde liefen und krochen sie durch Gänge, manchmal bis zur Hüfte im Wasser. Schleicher verließ seinen behaglichen Sitzplatz in Mimosas Kapuze nicht, er könnte mit seinen kurzen Beinchen kaum mithalten. Außerdem musste er navigieren- die wenigen Karten, die es vom unterirdischen Teil Ankh-Morporks gab, hatte er auswendig gelernt. Nicht dass sie eine große Hilfe waren, zu oft hatten die Wassermassen der Frühjahrsüberschwemmung oder der Druck der darüber liegenden Häuser ganze Tunnel zum Einsturz gebracht und Eingänge verschoben, oft mussten sie weite Umwege gehen, nur um doch wieder am Ausgangspunkt anzukommen. Doch Schleicher spürte, dass sie ihrem Ziel näher und näher kamen: dem alten Teil der Stadt, dem ursprünglichem Morpork, dem ältesten Kern eines Ortes, an dem schon immer Menschen gelebt und gebaut hatten. Seine (quiekenden) Kontakte hatten ihm versichert, dass die "Glühenden" dort weiter hinabstiegen. Er verstand nicht ganz, worauf sich seine Verwandten bezogen. Auch wenn nur er die Menschensprache verstand, waren seine Artgenossen nicht dümmer als er. Dumme Ratten überlebt nicht in einer Stadt voller Zwerge, die durchschnittliche Ratte in Ankh-Morpork war klüger als der durchschnittliche Mensch- zumindest klüger als die Vertreter der Gattung Homo insapiens, die in eine Zwergenbar marschierten und einen Kurzen verlangten. Alle befragten Ratten bestätigten, dass es dort fieeeeek gab, also Fleisch und Futter, aber auch friikk- Verschwinden, meist Tod gab. Das kam Schleicher sehr seltsam vor- wenn es so viel Futter gab, was frei verfügbar war, warum sollte irgendetwas noch Ratten fressen? Leider war die Rattensprache nicht sehr differenziert, aber alle Ratten nannten den Bereich um die Tunnel, die laut seinen alten Karten und Nachforschungen in die tieferen Ebenen führten Quiek-ek, was ihm jedes Mal ein flaues Gefühl in der hinteren Körpergegend verschaffte, wenn er daran dachte. Er war nicht sehr religiös, aber das waren normale Ratten auch nicht. Und wenn ein überzeugter Atheist einem den Hinweis gibt: da wohnt der Tod, dann sollte man seine Reiseplanung überdenken. Seine Meinung wurde im Moment aber nicht besonders geschätzt beziehungsweise vollkommen ignoriert. Er hatte es aufgegeben, Mimosa auf die Ratten aufmerksam zu machen, die den Bereich weiträumig mieden. Ohnehin waren sie nur sehr wenigen Ratten begegnet, seit sie in die Tunnel hinabgestiegen waren, aber das hing sicherlich mit der kürzlichen Überschwemmung zusammen- oder?
Schleicher spitzte die Ohren. Sein Fell juckte und kribbelte, aber er hatte es ausschließlich auf die Nervosität geschoben. Jetzt erst bemerkte er, wie unglaublich still es war- außer Mimosas platschenden Stiefeln- "Halt mal an!"- war kein Laut zu hören.
Plötzliche, ohrenbetäubende Stille. Kein Dröhnen der geschäftigen Großstadt über ihren Köpfen, keine quiekenden Ratten, keine huschenden Tiere in dunklen Ecken. Die Wände hatten sich verändert, jetzt überwogen raue unregelmäßige Klaftersteine, die nicht mit Mörtel verbunden waren, sondern unregelmäßig geformt Kante auf Kante lagen- und hauptsächlich durch ihr eigenes Gewicht gehalten wurde. Schleicher schluckte schwer, als er an die tonnenschweren Gebäude über ihnen dachte.
Ein kleines Steinchen löste sich und plupste ins Wasser. Ein dumpfer Laut- und es war weg. Das Wasser war viel zu dickflüssig, als dass es Kreise gezogen hätte. Noch einen Atemzug lauschten sie der Stille, die sich dumpf auf ihre Ohren legte, drückte und zerrte und einen unerträglichen Pfeifton erzeugte. Beide merkten, dass sie schwerer atmeten, Geräusche erzeugten um die Leere zu kompensieren, ihren Ohren und Gedanken Beschäftigung zu geben.
"Lass uns weitergehen", sagte Mimosa.

***

Drei Ewigkeiten später hatten sie ihr Ziel erreicht. Schweigend standen sie am Rand eines tiefen, schwarzen Lochs. Eine Wendeltreppe führte hinunter, bot aber nicht mehr als eine Wendung Sichttiefe. Mimosa kniete nieder und strich über die obersten Stufen. Die Regenfälle hatten auch vor diesem alten, etwas höher gelegenen Teil nicht halt gemacht, auch wenn die Wassermarken an den Wänden deutlich zeigten, dass die Tunnel nicht wie die näher am Ankh gelegenen Abschnitte vollkommen unter Wasser gestanden hatten. In der Mitte der Stufen war wesentlich weniger Schmutz, außerdem erkannte sie Schleifspuren. Schleicher bestätigte nach einem kurzen Schnüffeln, dass sich an den Stufen sehr viele verschiedene Schlammspuren befunden, und zwar von anderer Zusammensetzung als der Umgebungsschlamm. Einen Moment lang trafen sich die Augen der beiden ungleichen Freunde: Sie wussten, dass jetzt der letzte Moment war, an dem sie noch abbrechen konnten. Wenn sie jetzt weitergingen, und von den Tunnelkriechern entdeckt wurden, mussten sie ihre Mission durchführen, oder Leib und Leben wäre in Gefahr. Mimosa zögerte kurz, leckte sich nervös über die Lippen. Schleicher hatte sich schon halb abgewendet. Kurz entschlossen packte sie ihn am Fell und in ihre Kapuze. Dann stieg sie, eine Hand an die rauhe Steinwand gepresst, in die bodenlose substantielle Dunkelheit, Fuß um Fuß tiefer in die Eingeweide einer Stadt, die seit Jahrhunderten kein Tageslicht mehr gesehen hatten.
Eine Wendung folgte der nächsten, schon längst war jeglicher Rest trüben Dämmerlichts weit hinter - und über - ihnen zurückgeblieben. Einzig ihre besonderen Augen, Ergebnis einer magischen Explosion, ermöglichten ihr noch die diffusen Umrisse ihres Körpers zu erkennen, während sie von einer Dunkelheit verschluckt wurde, die mehr war als die bloße Abwesenheit von Licht. Als ihre tastenden Hände schließlich ins Leere griffen, stolperte sie und stürzte auf den rauen Felsboden. Sie spürte natürlich gewachsenen Fels unter ihren Fingern, keine gemauerten Böden. Ihre seit Stunden an völlige Stille gewohnten Ohren schmerzten unter einem Ansturm an Geräuschen, scharren-schmatzen-grunzen-schnauben-kratzen, und Echos, hallende, verwirrende Echos, verrieten ihr, dass sie sich in einer großen Kaverne befinden musste. Als sie es schließlich wagte den Kopf zu heben, sah sie schattenhafte, ungeschlachte Körper, glühende Augen und wusste, dass sie angekommen war- Drunten. Im Dunkel.

~Ende Teil 1~

[1] Gegenstand vieler heftiger und zum Teil sehr blutig verlaufender Diskussionensrunden

[2] also seit etwas länger als: Als ich noch jung war, da...

[3] wobei "dezimieren" eigentlich bedeutet: "um ein Zehntel verkleinern". Die Wächter verkleinerten besagte Vorräte um so viele Zehntel, dass sie hinterher nur noch hypothetisch existierten

[4] Tatsächlich war diese Annahme übertrieben enthusiastisch gewesen. Der speziell importierte achatische Reis konnte tatsächlich eingepflanzt werden, aber leider lösten sich die Wurzeln auf.

Zählt als Patch-Mission für den Verdeckte Ermittlerin-Patch.



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Feedback:

Von Mimosa

07.03.2014 12:55

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Von Ophelia Ziegenberger

08.03.2014 11:14

Tut mir leid, ich bin diesmal nicht zum Lesen gekommen. Ich möchte das auch gerne noch nachholen aber momentan stecke ich halt besonders viel Zeit in meine terminlich gebundenen Nähprojekte. Nach dem Conquest im Sommer sollte sich das spätestens wieder geben, dann lese ich auch alles nach. :-)

Von Sebulon, Sohn des Samax

08.03.2014 13:22

Wenn du Rückmeldungen willst, klar:

Mir hat deine Geschichte gut gefallen.

Am besten fand ich die Charaktäre, besonders Ettarks Darstellung halte ich für gelungen.

Dadurch, dass es eine Fortsetzungsgeschichte ist, wollte ich mich noch mit Kritik zurückhalten, da diese sich unter Berücksichtigung des anderen Teils verflüchtigen kann. (Bisher ist es beispielsweise viel Beschreibung und der Anfang fügte sich m.E. nicht so mit der Erzählung zusammen ... das kann sich allerdings noch ändern, stilistisch ist da einiges möglich.)

Insofern bin ich sehr gespannt auf den 2. Teil.

Von Sillybos

09.03.2014 18:11

Auch von mir eine kurze Rückmeldung:

Eine schöne Geschichte, die ich aus verschiedenen Gründen interessant fand.

Eine Stärke von dir sind die schönen Beschreibungen und Metaphern. Mehrmals ertappte ich mich beim Lesen und dachte: wow, das ist gut.

Zum andereen spielst du viel mit der Perspektive - das gefällt mir, weil es zeigt, dass du dir viele Gedanken beim Schreiben machst. Es wirkt auf mich so, als würdest du dir gut überlegen, aus wessen Perspetive du die Geschichte schreibst, und experimentierst dabei auch gerne- insbesondere die letzten Szenen aus Schleichers Perspektive. Für meinen Geschmack hättest du das ruhig noch weiter ausbauen können, denn auch wenn du manchmal durchaus bei einer Person verharrst und in die Tiefe gehst, fand ich einige Szenen auf mich zu schnell abgehandelt. Dieses unterschiedliche Tempo der Geschichte wirkte etwas unrund. Und was ein gutes Stilmittel sein kann - eine Szene mit Pronomen zu beginnen, ohne zu Beginn den Protagonisten zu nennen - kann bei zu häufigen Gebrauch auch irritieren. Ich glaube, dies sollte man sich gut überlegen. In der Szene, wo Romulus vom Vorfall in der Zelle erfährt, erwähnst du seinen Namen beispielsweise in der kompletten Szene nicht (ich nahm ursprünglich an, dass es Bregs sei). Kurzum: man muss nicht aus jeder Szene was Besonderes machen und durch eine stilistische Besonderheit hervorheben. Manchmal ist weniger mehr.

Aber auch ich bin gespannt auf den zweiten Teil. :-)

Von Mimosa

12.03.2014 11:38

Vielen Dank für die Komplimente ^^



Ich hatte beim Schreiben eigentlich keine bewussten Spielereien mit der Perspektive vor. Diese Art des Schreibens liegt mir einfach am meisten. Meine Testleser hatten allerdings auch angesprochen, dass die Geschichte etwas zu "dicht" sei und es zu wenig Beschreibungen gäbe. Ich schätze, das ist eine Nebenwirkung des Studiums gewesen. Man bekommt permanent zu hören jedes nicht absolut notwendige Wort herausstreichen, keine Füllwörter, Protokoll auf die Hälfte kürzen... ich bewundere wirklich Stephen King. Der schafft es ein einziges Gefühl auf 10 Seiten auszudehnen und es ist trotzdem noch spannend zu lesen. Hohlbein macht das zwar auch, aber da kann man einfach 10 Seiten weiter blättern...



Die Geschichte wirkt stellenweise etwas gestückelt, weil zwischen Anfang und letztem Satz Jahre liegen, in denen sich sowohl mein Stil als auch meine Gemütsverfassung stark geändert haben. Ich habe in letzter Zeit eher Kurzgeschichten geschrieben und merke selbst, dass sich Drunten stellenweise eher wie nacheinanderfolgende Szenen als wie etwas ganzes liest. Als ich angefangen habe zu schreiben hatte ich auch einen ganz anderen Hintergrund und Ende im Kopf. Mittlerweile ist die Geschichte um einiges dunkler und morbider geworden, obwohl ich ursprünglich eher etwas skurrilles, aber lustiges geplant hatte.

Meine Geschichten entwickeln gerne ein Eigenleben und ich hinke dann mit einem Stift und einem Block hinterher und versuche dem ganzen noch irgendwie einen Sinn zu geben, aber ich schätze, dieses Problem kennen die meisten hier in der einen oder anderen Form.



Danke für die sachliche Kritik. Damit kann man viel mehr anfangen als mit einem "schöne Geschichte".

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