Marmor

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von Gefreiter Tunnelblick
Online seit 17. 12. 2000
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Ein Sekretär des Patriziers findet ein altes Gesetz im Archiv, nach dem jegliches Papier in Ankh-Morpork verboten ist.
Wird sich die Wache daran halten?

Dafür vergebene Note: 12

Gerade als Rince seine Hand auf die Klinke legen wollte, öffnete sich die Tür zum Rechteckigen Büro wie von Geisterhand. Er schauderte, bemühte sich jedoch um einen möglichst unbeeindruckten Ausdruck.
"Ah, Rince. Nett, dass Du Dich so beeilt hast." Der Kommandeur der Wache verbiss sich einen Fluch - er hatte über eine halbe Stunde vor der Tür gewartet. "Setz Dich." Zu seiner Überraschung entdeckte Rince einen freien Stuhl. Er nahm vor dem Patrizier Platz. Um bequem d arauf sitzen zu können, war der Stuhl zwei Zentimeter zu niedrig.
"Illiteral der Einfache", sagte der Patrizier und legte seine Fingerspitzen aneinander. Ein unangenehmes Schweigen erklang. "Er konnte nicht lesen."
Rince konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass eine Antwort erwartet wurde. Er trug seinen Teil zur Konversation bei: "Äääh..."
"Illiteral", so wurde er sofort unterbrochen, "regierte von 1259 bis 1272. Er war ein aufgeklärter Herrscher und der Ansicht, dass ein Monarch so gebildet sein sollte wie die besten seines Volkes. Und er konnte nicht lesen."
Rince griff zu bewährten Mustern. "Äääh..."
"1270 erließ er das Gesetz zur Gleichheit der Bildungschancen. Es verbietet jede Form von Papier in Ankh-Morpork."
Rince musste eine gewisse Originalität des Ansatzes anerkennen. Aber der Grund seines Hierseins verschloss sich ihm weiterhin. "Äääh..."
"Es gilt noch heute."
"Was?"
"Es gilt noch heute. Drumknotts Vertreter hat es im Archiv gefunden und pocht auf die Durchsetzung."
"Und wir sollen..."
"...es wieder dort verschwinden lassen. Wie soll denn ohne Papier Spionage getrieben werden? Wie übermittelt man geheime Botschaften?"
"Aber Sir, es ist Gesetz!" erwiderte der Kommandeur. Lächelnd sah er sich die bedrohlich schwankenden Formularstapel vom Schreibtisch in den Kamin fegen.
"Möchtest Du Deine Berichte in Marmor meißeln?"
Das Lächeln erstarb. "Ich sehe das Problem. Dieser Sekretär..."
"Herr Clete."
"Menschenfeind, weltfremd, gefährlich, rücksichtslos und völlig wahnsinnig?"
Nicken.
"Ich glaube, ich habe den richtigen Mann für den Fall."

Tunnelblick hielt die Finger seiner rechten Hand gebeugt, wenn auch nicht ganz zur Faust geschlossen. Den rechten Arm hatte er im Schultergelenk nach vorne abgewinkelt, im Ellenbogen nach oben. So stand er vor der geschlossenen Holztür und bewegte die Hand im Handgelenk dreimal kräftig nach vorne, wobei die Außenseite der ersten Fingergelenke - vom Körper aus gezählt, nicht von den Fingerspitzen - beim Aufprall ein klopfendes Geräusch erzeugte. Fasziniert lauschte Gefreiter Tunnelblick.
"Herein!" rief eine Stimme und schickte ein meckerndes Lachen hinterher. "Hätt-hätt-hätt."
Tunnelblick bewegte den Arm in der Schulter nach unten und öffnete gleichzeitig die Finger, die sich somit um die Klinke schließen konnten. Er drückte sie nieder, stieß die Tür nach vorne und trat ein.
"Gefreiter Tunnelblick zur Stelle, Herr. Ich soll Euch unterstützen, das Gesetz zur Gleichheit der Bildungschancen durchzusetzen. Seid Ihr Herr Kröte?"
"Clete." Der Sekretär war indigniert. "Du weißt, worum es geht?"
"Ja, Herr." Tunnelblick fixierte einen Punkt hinter der linken Schulter seines Gesprächspartners.
"Gut, fangen wir an."
"Womit, Herr?"
Pause.
"Du hast doch gesagt, du weißt, worum es geht."
"Ja, Herr."
"Und?"
"Es geht um das Gesetz zur Gleichheit der Bildungschancen."
"Und wo ist das Problem?"
"Was steht in dem Gesetz, Herr?"
Wieder entstand eine Pause. Clete schluckte trocken. Er ärgerte sich - sonst rief er diesen Effekt bei anderen Leuten hervor.
"Das Gesetz zur Gleichheit der Bildungschancen", so sprach er mit beherrschter Stimme und zog eine Schriftrolle aus einem Futteral, "verbietet jedes Papier in Ankh-Morpork."
"Oh."
"Jawohl! Hätt-hätt-hätt!" Allmählich bekam der Sekretär wieder Oberwasser.
"Die Leute werden es vermissen."
"Sollen sie Marmor stattdessen nehmen."
Tunnelblick ersetzte in seinem Kopf die Papierrollen auf dem Abort mit Marmorplatten. "Es wird eine Weile brauchen, sich daran zu gewöhnen."
Herr Clete ahnte, dass er und der Gefreite von verschiedenen Dingen sprachen. Auch ahnte er, dass er nichts genaueres über die Gedanken seines Gegenübers wissen wollte.
Tunnelblick fuhr fort. "Habt Ihr an die armen Straßenmädchen gedacht? Sie werden arbeitslos werden."
Nun war Clete völlig verstört. Er war regelmäßiger Kunde bei der Gilde der Näherinnen, aber er hatte ihre Tätigkeit nie in besonderem Maße mit Schreibaufwand in Verbindung gebracht. Tunnelblick hingegen dachte an das bettelnde Kind in der Glatten Gasse, das arge Probleme haben würde, Marmorblumen zu falten.
"Es wird Tote und Verletzte geben." Clete war in Gedanken immer noch bei den Mädchen, so dass sich nun unverhohlene Panik in seinen Augen zeigte - er wollte nicht wissen, welche Praktiken sich Tunnelblick da ausmalte. Tunnelblick hingegen dachte an die netten Werbebotschaften, die die Flugdämonen in letzter Zeit über der Stadt abwarfen ("Flugblätter 1 Dollar, zahlbar bei Ablieferung. Und damit treibe ich mich selbst in den Ruin!"). In der Tat war die Verletzungsgefahr bei Marmor erheblich höher als Papier. Er war sich nicht einmal sicher, ob sein Helm ihn schützen konnte.
Inzwischen war Herr Clete zu der Überzeugung gelangt, dass die Durchsetzung des Gesetzes bei weitem nicht so vergnüglich sein würde, wie er gedacht hatte. Um es genau zu sagen, erzeugte der Gefreite nackte Angst in ihm. Da erinnerte sich Tunnelblick wieder seiner Pflichten. "Aber wenn es Gesetz ist...", sagte er, schnappte sich den Kerzenständer und warf ihn in den offenen Bücherschrank.
"Nein!" brüllte Herr Clete und versuchte, die äonenalten Folianten (die übrigens noch besser als Zunder brennen) zu löschen. "Hilf mir! Hier geht gleich alles in Flammen auf!"
"Bitte stellt das Löschen ein. Ihr verstoßt gegen das Gesetz zur Gleichheit der Bildungschancen."
"Dieses Gesetz gibt es nicht!" schrie Clete und warf die Schriftrolle in die Flammen. Interessiert sah Tunnelblick zu, wie das alte Pergament verschmorte.
"Es scheint, als hätte sich die Rechtslage geändert. Ihr dürft weiterlöschen. Ich vermute aber, dass Ihr es nicht mehr schaffen werdet. Schade. Die Bücher müssen zehntausende Dollar wert gewesen sein."
"Hilf mir! Sonst brennt der ganze Palast ab!"
"Der Palast kann nicht abbrennen. Der Boden und die Wände sind aus Marmor."
Beim letzten Wort verfiel Herr Clete in Starre. Tunnelblick lächelte ihn aufmunternd an, nickte und ging.

Im Wachaus hielt Rince den Gefreiten am Arm fest.
"Ich dachte, du hilfst Clete bei der Gleichheit der Bildungschancen!"
"Ein solches Gesetz gibt es nicht."
Rince zögerte kurz, entschied sich aber, nicht nachzufragen. Es genügte ihm zu wissen, dass er den richtigen Mann gewählt hatte. Und dass er den Bericht auf Papier bekommen würde, nicht auf Marmor. Hoffentlich.




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