Senrays Ausbildung zur Verdeckten Ermittlerin (Husky) bei DOG. Noch kein Einsatz, sondern alles andere was dazu gehört und einfach so dazu kommt. Von Rattentraining, Taubenpost und einer hoffnungsvollen Idee...
Dafür vergebene Note: 11
"Und das hier ist...", der Zwerg sah noch einmal genauer auf das Papier, "oh, es handelt sich ganz offensichtlich um den Speiseplan der Kantine. Sehr sehr nützlich falls man sich zum Pseudopolisplatz verirrt."
Mit diesen Worten legte er das Blatt auf den Stapel Akten und loser Blätter den Senray vor ihm balancierte. Jetzt musste sie das Ganze noch in ihr Büro schaffen, ohne etwas zu verlieren.
"Äh, ja Sör, danke Sör. Kann ich dann jetzt...?"
Glum, der bereits in den nächsten Akten blätterte und sicher noch etwas Interessantes gefunden hätte, sah sie kurz an.
"Sicher, wenn du noch etwas Besseres zu tun hast, Gefreite." Damit wandte er sich wieder den Akten zu, doch Senray konnte deutlich hören wie er etwas über "die Baum" und "Alter" grummelte. Sie seufzte, doch als sie etwas erwidern wollte ertönte Horatius Stimme hinter ihr, der sie zu Lilli rief.
Gerade als die junge Frau in Richtung ihres Büros gehen wollte, um die Papiere loszuwerden bevor sie zu ihrer Ausbilderin ging, stand die hinter ihr auf dem Gang. Senray bemerkte sie erst, als Horatius für sie sprach.
"Gefreite Rattenfaenger?" Die Angesprochene macht erschrocken einen kleinen Satz in die Luft, der sie einige der oberen Zettel kostete, und drehte sich sofort um. "Mäm?"
Deren Finger waren bereits mit Tippen beschäftig. "Daran müssen wir noch arbeiten." Vorsichtiges Nicken, erneutes Tippen. "Jetzt in mein Büro."
Damit machte der Oberfeldwebel auf dem Absatz kehrt und verschwand im Drunter und Drüber. Senray bückte sich schnell, um die herunter gefallenen Blätter wieder aufzuheben und eilte der Vorgesetzten dann hinterher.
Lilli hatte sich um Papierberge, Aktenstapel und den Schreibtisch herumgeschlängelt, so dass sie jetzt hinter letzterem Stand und Senray dabei beobachtete, wie sie herein kam und sich einen Platz suchte. Ihr entging auch der misstrauische Blick in die Ecken und Schattennischen des Büros nicht. Sofort tippte sie auf Horatius Kasten.
"Wie läuft das Training mit Mimosa?"
Senrays Miene erstarrte. Sie schluckte, atmete tief ein und stellte sich bewusst entspannt hin.
"Mäm. Gut, Mäm, soweit sich das sagen lässt."
Die Augenbrauen ihrer Ausbilderin hoben sich zweifelnd, natürlich wusste sie von den letzten Vorfällen. Allerdings war das Training Auflage dafür gewesen, dass Senray bei DOG anfangen konnte. Wie sollte sie also sagen: 'Ich wäre fast auf dem Fenster des zweiten Stocks gesprungen um von dieser schrecklichen Ratte weg zu kommen'?
Die junge Gefreite wäre zwar nicht so weit gegangen, allerdings hatte sie kurzzeitig mit dem Gedanken gespielt, vor allem weil das Fenster näher als die Tür war und sie darauf hoffen konnte, sich nach oben bis zum Dach hangeln zu können.
Lilli betrachtete sie immer noch, wie immer stumm, und langsam wurde Senray zutiefst unwohl. "Mäm?", fragte sie verunsichert.
Einen Moment wartete die andere, fast schien sie es auszukosten, dann tippte sie wieder.
"Wir müssen eindeutig an deiner Mimik arbeiten. Und an deiner Fähigkeit, zu lügen. Nicht zu vergessen, dass du noch etwas intensiver mit Mimosa üben solltest." Die letzten Worte sagte Horatius nicht ohne eine gewisse Genugtuung in der Stimme.
Ein Blick in sein grinsendes Gesicht bestätigte Senray diese Vermutung. "Ja Mäm. Selbstverständlich, Mäm."
Gerade als die Rothaarige sich umwandte um zu gehen und endlich die Akten, die Glum ihr gegeben hatte, abzulegen und durchzusehen, hört sie wieder das Geräusch der S.P.R.E.C.H.-Tasten. Sie hielt inne und drehte sich noch einmal zu Lilli um.
Die war gerade fertig und deutete auf einen Haufen Stoff. "Hast du nicht etwas vergessen, Gefreite?"
Kurze Zeit später hatte sie alles in ihrem Büro, dem kharmesienrothen Ritherzimmer, aufs Bett geworfen, nur um anschließend unter leisem Fluchen die Akten wieder zu ordnen. Nun, immerhin ist das auch eine gute Übung, dachte Senray. Die einzelnen Blätter den jeweiligen Gilden zuordnen.
Immer wieder viel ihr das Wort "unbekannt" in die Augen, viel zu oft um genau zu sein. Und die Daten der letzten Aktualisierungen... bei manchen Gilden funktionierte es gut. Sehr gut sogar. Die Informanten brachten Informationen, alles wurde ordentlich geprüft und korrekt abgeheftet. Bei anderen Gilden hingegen fehlte es an Informanten, Informationen, an Ordnung und insgesamt an allem.
Deswegen bin ich ja hier. Oder eher dafür. Einen kurzen Moment hing die Gefreite an dem Gedanken, dann nahm sie sich eine der dickeren Akten und schlug sie auf.
Während sie so die Akte studierte, vergaß sie vollkommen die Zeit, erst ein harsches Klopfen an der Tür riss sie aus der Lektüre.
"Was, wer ist da? Äh, herein?", verwirrt sprang Senray vom Boden auf, die Akte immer noch in der Hand.
Glum hatte kaum das herein abgewartet, schon stand er in der Tür. "Hast du nicht etwas vergessen?"
"Was, ich, ich bitte um Verzeihung Sör!"
Geschockt sah Senray ihren Vorgesetzten an. Was genau hatte sie denn vergessen? Mit Akten war sie soweit gut versorgt, für einen Termin mit Lilli kam mit Sicherheit nicht Glum zu ihr und es war noch nicht einmal Mittwoch, mittlerweile Senrays verhasster Tag, da sie an dem ihr "Rattentraining" mit Mimosa hatte. Zum Glück war das jedoch erst morgen wieder soweit.
„Na, das will ich aber auch hoffen! Immerhin kann Bruder Laudes nicht jeden Tag eine frische Taube beschaffen um sie auf dich abzurichten!“
Die Gefreite hielt verdutzt inne. „Was, die Taube … aber, also, war der Termin nicht auf, nun, morgen vereinbart, Sör?“
Doch noch während sie sprach schnappte sich die junge Frau ihre Jacke und ging zur Tür. Glum zuckte mit den Schultern und zeigte auf einen Mann im Flur. „Offensichtlich hatte er heute schon Zeit.“
Offensichtlich, dachte Senray, und ging vorsichtig auf den Gefreiten zu.
„Guten Abend, Sör. Ich, also, was … nun, was soll ich tun?“
Die Frau und der Zwerg beobachteten den KommEx der DOG, während der Senray einen Augenblick länger betrachtete, ehe er die Sprache wieder gefunden hatte.
„Guten Abend. Zuerst sollten wir rausgehen und dort erkläre ich dann alles weitere. Selbstverständlich schön langsam, aber es ist auch nicht zu kompliziert wie ich anmerken darf.“
Senray nickte verwirrt und die beiden machten sich auf den Weg nach unten, mit gebührendem Abstand gefolgt von Glum, der sich entschlossen hatte, eine Pfeife an der frischen Luft wäre jetzt genau das richtige für ihn.
Als die Schritte im Treppenhaus verklungen waren, kam Lilli aus dem Drunter und Drüber und stellte sich wie zufällig an das Fenster, von dem aus sie am besten in den Hof zu ihren Wächtern sehen konnte.
Eine Weile beobachtete sie das Geschehen, selbstverständlich stumm und mit unmenschlicher Geduld. Gerade als sie genug gesehen hatte und sich zum gehen umwandte, sprang Horatius am Fenster hoch und sah ebenfalls hinaus.
„Soso, Senray hat also jetzt eine Taube. Na dass sie einen Vogel hat wusste ich schon lang-“ Hier brach er plötzlich in schallendes Gelächter aus, so dass sich Lilli noch einmal zum Fenster umwandte. Draußen waren ein polternder Zwerg und zwei verschreckte Menschen mitsamt eines aufgebrachten Vogels zu erkennen.
Horatius lachte immer noch. „Glum muss sich eindeutig mal wieder den Bart waschen!“
Die Abteilungsleiterin der DOG konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen und verschwand leichtfüßig wieder in ihrem Büro. Sie hatte fürs Erste genug gesehen.
Als Senray abends in ihrer Wohnung angekommen war, verschwand sie als allererstes ins Bad und blieb dort eine Weile. Diese Taube war wirklich sehr aufgebracht gewesen. Nachdem sie ihre Notdurft auf Glum verrichtet hatte, nicht nur sie, wie der Zwerg lauthals kundgetan hatte. Verständlich war es ja. Sie hätte sich mit Sicherheit auch so aufgeregt wenn dieses Mistvieh ihr auf den Bart -, nun, wenn es ihr auf die Stiefel geschissen hätte.
Die Gefreite hielt einen Moment inne und verbesserte sich selbst gedanklich. 'Nicht Mistvieh. Immerhin brauchst du diesen Vogel und er wird verdammt wichtig für dich. Wie sonst willst du deine Informationen übermitteln und weitere bekommen?' Senray betrachtete ihr zerzaustes Spiegelbild und schüttelte den Kopf. Immerhin musste sie dieses Taubentraining jetzt mehrmals in der Woche mit Bruder Laudes wiederholen, von verschiedenen Orten aus, um sicherzustellen, dass das Tier sie auch fand.
Hinter ihr fiel etwas polternd um und als Senray sich umdrehte, fand sie ihre Katze Miezi die sich schnurrend auf den von der Taube befleckten Klamotten wälzte. Während sie sich abtrocknete betrachte sie diese scheinbar friedliche Katze und dachte weiter über die Taube nach.
Gerade als Miezi dabei war, ihre Hose mit seinen Krallen zu bearbeiten um sich einen bequemen Schlafplatz zu sichern, rief ihr Frauchen
[1] „Ich habs!“ und hob sie hoch. Der verdutzte Jäger landete wieder sanft auf dem Boden, neben der verlockend duftenden Kleidung und Senray verschwand aus dem Raum. Miezi, die sehr wohl hörte und auch roch, dass die Wächterin ihr gerade Fressen in eine Schüssel füllte und sie rief, nahm sich noch einen Moment um sich das Fell zu putzen. Es war schließlich wichtig, seinen Menschen gut zu erziehen und das richtige Timing war dabei alles.
Am nächsten Tag machte sich die Gefreite mittags auf den Weg zum Pseudopolisplatz. Im Wachhaus wurde sie von dem diensthabenden Rekruten mit einem Kopfnicken und Grinsen begrüßt. Während sie schnell ihre Anwesenheit unterschrieb, tauchte ein zweiter Rekrut auf.
„Ist etwa schon wieder Mittwoch?“
Die Frage klang nicht ohne Grund spöttisch, Senray aber seufzte nur. Es war auf keinen Fall gut, dass mittlerweile jeder über ihr mittwöchiges Treffen mit Mimosa Bescheid wusste. Noch dazu, da es jeder als eine Art Vorstellung zu sehen schien. Zumindest jeder, der nicht verzweifelt den Kopf schüttelte oder sich alle Mühe gab, das Geschehen zu ignorieren.
Der Rekrut wurde von seinem Kollegen geboxt und mit einem strengen Blick bedacht, doch gerade als er sich wieder Senray zuwenden wollte, ging die Tür zum Tresenraum auf. Die Gefreite, erleichtert darüber, nichts weiter sagen zu müssen, nutzte die Gelegenheit um zur Treppe und diese hinauf zu gehen.
Eine Weile stand Senray vor der Tür zum Büro 207a. Irgendwie fühlte sie sich mulmig, wohl von dem was gerade noch passiert war. Nun, wenn man es genau nahm, dann war es ihr bisher eigentlich jedes Mal so gegangen, wenn sie vor diesem Büro stand. Immerhin wusste sie, dass hinter der Tür eine Ratte auf sie wartete. Sie seufzte.
In dem Moment in dem sie die Hand zum Anklopfen hob, hörte sie das Rascheln von Röcken und eine Stimme.
„Senray Rattenfaenger?“
Die Angesprochene drehte sich, mit immer noch erhobener Hand, um und sah verwirrt auf die Frau vor sich.
„Ja, Mäm?“ Als sie der Rangabzeichen gewahr wurde, salutierte die Gefreite schnell. Woher nur kannte sie diese Frau?
„Wie ich sehe bist Du jetzt Gefreite. Herzlichen Glückwunsch! Zu wem möchtest Du denn?“
„Zu Mimosa, Mäm.“ Gab es tatsächlich noch jemanden in der Wache, der nichts von ihren Terminen wusste? Irgendwie war das schwer vorstellbar. Senrays Blick hing an den Gesichtszügen der scheinbar Fremden. Woher aber waren sie ihr nur so vertraut?
„Oh, ich fürchte die ist vorhin an mir vorbei gekommen, scheinbar hatte sie etwas Dringendes zu erledigen.“
Die kleine Rothaarige lies die Schultern hängen und sah über eben jene die Tür an. „Oh, na dann … Danke, Mäm.“
Ihr Gegenüber bemerkte, wie zerknirscht sie über diese Information war, auch wenn sie es missdeutete. Anstatt darüber enttäuscht zu sein, dass sie versetzt wurde, frustrierte Senray der Gedanke erneut in dem Schneeregen durch halb Ankh Morpork zu laufen, nachdem die erste Wanderung schon für nichts war. Und das, wo sie gerade dabei war eines der Kleider, welches Lilli ihr am Vortag gegeben hatte, auf ihre Größe umzunähen.
„Möchtest Du kurz bei mir im Büro warten? Ich bin sicher, Mimosa kommt gleich wieder, wenn ihr verabredet wart.“
Das freundliche Lächeln der Frau veranlasste Senray zu nicken. Tatsächlich waren es nur einige wenige Schritte, dann hielt der Feldwebel vor einer Tür an.
„Hier. Möchtest Du eine Tasse Tee?“
„Wenn es, also, Ihnen keine Umstände macht, Mäm.“
„Aber nein.“
„Danke, Mäm!“
Im Vorbeigehen sah Senray unauffällig auf das Türschild und blieb mitten im Rahmen stehen. Ophelia Ziegenberger? Aber … in ihrem Kopf ratterte es. Ophelia hatte doch eine Art Informationsstunde über den Dschob des Verdeckten Ermittlers gemacht. Senray betrachtete die Frau vor sich und tatsächlich, das war Ophelia. Nur mit kurzem Haar und die Farbe passt auch nicht. Ob sie es wohl wegen einem Einsatz verändert hatte?
Fast ehrfürchtig trat die junge Gefreite nun in das Büro und sah sich um. Ob sie die Verdeckte Ermittlerin wohl ausfragen konnte? Vor einem Jahr war sie noch gerne auf die Fragen eingegangen, aber vielleicht war es Ophelia ja jetzt nicht mehr so recht? Unsicher, was sie tun oder sagen sollte stand Senray vor dem Schreibtisch.
Die Ältere bemerkte dies. „Setz dich doch. Du warst als Rekrutin recht interessiert über das verdeckte Ermitteln, wenn ich mich nicht täusche, hast Du immer noch Fragen?“
Dankbar kam Senray der Aufforderung nach und setzte sich. „Ja Mäm, ich meine, nein Mäm, also, Sie, nun, Sie irren sich nicht. Ich bin jetzt auch bei DOG, Mäm, und dort, nun, mache ich die Ausbildung zur Verdeckten Ermittlerin. Aber Mäm, also, falls ich Sie dennoch etwas fragen könnte …“
„Aber natürlich!“ Ophelia wirkte begeistert und strahlte Senray an. „Frag einfach! Ich werde sehen, wie ich dir helfen kann.“
„Danke, Mäm. Also …“, setzte die Gefreite an, da Ophelia aber genau in diesem Moment eine Teetasse zu ihr balancierte, unterbrach sie sich selbst.
„Vielen Dank, Mäm!“ Vorsichtig nahm sie die Teetasse entgegen, wobei sich die Hände der beiden Frauen berührten.
Genau in diesem Augenblick flackerten alle Kerzen im Raum auf ein Mal und als würde ein Wind sie anfachen, leuchteten alle gleichzeitig etwas heller und ein fauchendes, zischendes Geräusch erklang. Es war dieser Moment, indem beide Wächterinnen gleichzeitig erschreckt die Tasse losließen, die der Schwerkraft folgend gen Boden steuerte und dort mit einem Krachen zerbrach. Erschreckt fuhr Ophelias Hand zum Mund, während Senray automatisch einen kleinen Satz nach hinten machte.
Der Spuk war vorbei, die Kerzen brannten normal und als die Beiden sich ansahen, erblickten sie dieselbe Verwirrung im Gesicht des Gegenübers. Dann holte auch der Rest der Realität sie wieder ein, als Mimosa in der Tür erschien.
„Ist alles in Ordnung? Ich habe etwa zerbrechen gehört.“
Er hatte nun schon so lange Zeit in diesem halbschlafenden, beobachtenden Zustand verbracht, dass er sich beunruhigt fühlte, als er die Augen öffnete. Was war das gerade eben gewesen? Es hatte sich angefühlt wie ein Stromschlag, der durch seinen Geist gejagt wurde. War das von der Frau ausgegangen?
Er zwang sich selbst zur Ruhe, durch die Überraschung hatte er kurzzeitig die Kontrolle verloren. Natürlich nur einige Sekundenbruchteile, aber sein Einfluss war wohl sichtbar gewesen. Unruhig beobachtete er, wie sein Schützling mit der anderen Frau, der Rattenfrau, den Raum wechselte. Da er in seinem Schlaf ihr Leben wie einen Traum miterlebte, wusste er über alles Bescheid. Aber selbst wenn sie in Not geraten war, hatte er bisher aus seinem Ruhezustand alles regeln können. Nichts hatte ihn bedrängt, angegriffen oder gar genötigt vollends aufzuwachen.
Bis auf diese Begegnung gerade eben. Unruhe machte sich in ihm breit, die noch durch die Nervosität seines Schützlings geschürt wurde. Da sie aber nicht in echter Gefahr zu schweben schien und diese andere Person, diese andere Frau wohl eine Art Kollegin und sogar eine Art Vorbild für sie war, würde er weiterschlafen können.
Eine gute Aussicht, wie er fand. Also machte er sich daran, sie umzusetzen. Doch sein Schlaf war nur noch sacht und unruhig, etwas wühlte sein Bewusstsein auf.
Man konnte mittlerweile von Erfolgen bei ihrem Training sprechen, fand Senray. Eindeutig. Immerhin schrie sie nicht mehr automatisch und sie floh nicht mehr reflexartig wenn sie eine Ratte, oder
die Ratte, sah. Sie beherrschte sich und analysierte erst die Situation. Mimosa gab ihr nun als neue Aufgabe Szenarios vor, in die sie sich hinein fühlen sollte. Also sollte sie in ihrer Rolle das Zimmer absuchen und dabei Schleicher entdecken.
Das hatte Senray gefallen, zumindest bis zu dem Moment, indem sie eine umher liegende Jacke hochgehoben hatte und von mehr als einer Ratte angesehen worden war. Das Schleicher einige Freunde mitbringen würde, davon war nicht die Rede gewesen.
Immerhin, dachte Senray während sie erneut seufzte und einigen Passanten auswich, der kleine Hopser und der erstickte Schrei waren schon fast damenhaft, so etwas lässt einem doch wohl jeder anständige Mensch durchgehen. Zumindest mir als Frau mit Sicherheit.
Dank des immer noch herrschenden Schneeregens kam sie durchnässt am Boucherie an und schüttelte sich in dessen Tür wie ein nasser Hund. ‘Wegen mir kann der Frühling wirklich kommen.‘
Mit dem Gedanken erklomm sie die Treppe zum ersten Stock und verschwand fast ungesehen in ihrem Büro.
Horatius streckte sich auf seinem Platz am Treppengeländer, gähnte, hüpfte hinunter und ging in Lillis Büro.
„Sie ist da. Soll ich ihr jetzt Bescheid sagen?“ Irgendwie war er, vorbei an sämtlichen Stolperfallen aus Papier, Stoff und allem anderen auf ihren Schreibtisch gekommen und stand nun auf der Akte, die die Abteilungsleiterin der DOG gerade dabei war zu lesen. Auf seine Worte hin sah sie ihn einen Moment nachdenklich an, dann schüttelte sie den Kopf.
Der Dämon zuckte nur mit den Schultern. „Gut, dann nich.“
Damit verschwand er wieder von der Akte und aus Lillis Blickfeld.
Senray nutzte den Baldachin des Bettes in ihrem Büro als Sichtschutz, um sich schnell umzuziehen. Der Raum gefiel ihr, das rot erinnerte sie an Feuer und nachdem sie zwei frische Laken über das Bett gezogen hatte, konnte sie es wunderbar als Ablage und zum Lesen der Akten nutzen.
Derzeit lagen auch einige Kleider auf dem Bett, von denen die junge Frau ein schlichtes dunkles auswählte und hineinschlüpfte. Es war ein ungewohntes Gefühl, ein Kleid zu tragen, und Senray sehnte sich automatisch nach einem Spiegel.
Nach einer unsicheren Drehung hob sie die abgelegten Kleider auf und hängte sie nach kurzem Zögern über ihren Schreibtischstuhl. Dort konnten sie zumindest antrocknen.
Schließlich öffnete sie ihren Zopf, bürstete ihn grob durch und flocht ihn.
‚Das müsste reichen. Zumindest fürs erste.‘
Eine erneute spiegellose Drehung, dann verließ die Wächterin ihr Büro, schloss die Tür leise und durchquerte den Flur.
Ihre Ausbilderin wartete bereits auf sie. Lilli hielt einen Zettel in der Hand, den sie der Gefreiten überreichte, kaum das die sie begrüßt hatte.
„Heutige Lehktion – Unaufäligkeit auf der Strahsse“
Senray nickte und war bereits voller Tatendrang. Es ging auf die Straße! Lilli nickte und fing an, etwas auf die Rückseite des Zettels zu schreiben. Ohne groß darüber nachzudenken suchte die Gefreite den S.P.R.E.C.H.-Kasten, der die Kommunikation mit ihrer Ausbilderin wesentlich erleichterte. Keine Spur. Fast hätte die junge Frau geseufzt, sie konnte sich jedoch selbst noch aufhalten. Gerade da wurde Lilli mit Schreiben fertig.
„Du bist behreits umgezogen, gut. Lahs uns gleich lohs.“
„Ja, Mäm, gerne, Mäm!“ Senray war bereits wieder dabei in Richtung Tür zu gehen, da fing der Oberfeldwebel erneut an, etwas zu schreiben. Die auszubildende Husky stellte sich geduldig neben einen Papierstapel und wartete. Einige etwas längere Augenblicke später reichte ihr Lilli erneut einen Zettel und machte sich selbst ans Gehen. Während Senray ihr folgte, aus dem Büro hinaus und die Treppe hinunter, entzifferte sie die wenigen Wörter auf dem Papier und grinste. Das würde sie schaffen, die Straßen und Bürger Ankh Morporks warteten.
Mit einer bereits zur Gewohnheit gewordenen Geste faltete sie den abgerissenen Zettel und steckte ihn in ihre Gürteltasche. Neben leerem Papier und aufgeschnappten Gerüchten stand dort nun auch: „Und nehn mich auf keinen Fahl Mähm draußen!“
Der Tag war lang gewesen, so dass Senray schnell eingeschlafen war. Nun wälzte sie sich nervös im Bett, geschüttelt von Träumen, Erinnerungen. Verwickelt in der Decke drehte sie sich hin und her, fand keine Ruhe. Ihr braunrotes Haar lag in ihrem Gesicht, das matt von der flackernden Kerze beschienen wurde. Wie ein Boxer im Ringe tänzelte die Flamme auf dem Stumpf aus Wachs innerhalb der kleinen Laterne, kämpfte gegen einen unsichtbaren Feind.
Erschöpft wachte die junge Frau am nächsten Morgen auf, sie fühlte sich fast müder als am Abend zuvor. Als sie die Kerze löschen wollte hielt Senray kurz inne. Das Wachs war an allen Seiten übergetreten, die Kerze war ungleichmäßig abgebrannt. Hatte sie die Laterne am Abend zuvor nicht ordentlich verschlossen und irgendwie in die Zugluft gestellt? So musste es wohl sein, anders ließ sich das übergelaufene Wachs nicht erklären.
Senray gähnte und drehte die Laterne so, dass das kleine Türchen ihr zugewandt war. Die Erkenntnis, dass es keineswegs locker, geschweige denn offen war, verdrängte einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Müdigkeit. Misstrauisch betrachtete sie die Flamme noch einige Augenblicke, dann löschte Senray sie und nahm die Kerze vorsichtig aus der Halterung. Das würde sie sich später noch einmal genauer ansehen, beschloss die Wächterin.
Jetzt erst einmal frühstücken und dann zur Arbeit. Vielleicht, nein sicher gab es dafür eine logische Erklärung! Schon weit weniger misstrauisch wegen etwas falsch verschütteten Wachses machte sie sich auf den Weg ins Bad, um sich schnell zu waschen und anzuziehen. Als Senray ihren Schrank öffnete und von einem knurrenden Schnurren begrüßt wurde, vergaß sie die Kerze gänzlich. Es gab eindeutig wichtigeres. Dazu zählte auch, Miezis krallenbewährter Liebeserklärung auszuweichen und an die eigene Kleidung zu kommen.
Einige Stunden später saß Senray ruhig auf einem der vielen Dächer Ankh Morporks und wartete ab. Sowohl der warme Mantel, als auch die Kleidung darunter, die jener der Assassinenschüler nachempfunden war, sorgten dafür, dass sie sich hier oben etwas wohler fühlte. Der eine wegen dem Wetter, das andere, da es dazu führte, dass sie fast ungestört blieb.
Die Einzigen die es darauf ankommen ließen, einen potentiellen Assassinen auf einem Dach anzusprechen waren tatsächliche Schüler der Gilde, von denen sie zumindest randläufige Informationen aufschnappen konnte. Jene schrieb sie gewissenhaft auf und steckte sie in das Röhrchen an Mistviehs Bein, sobald die schmutzig graue Taube auftauchte. Dann, sobald der Vogel auf dem Weg zum Wachhaus war, wechselte sie über die Dächer den Stadtteil oder wenigstens einige Straßen weiter, wo das Spiel von vorne losging.
Scheinbar war dies das beste Training für die Taube und Senray wollte sich schließlich auf Mistvieh verlassen können. Bruder Laudes hatte ihr klar gemacht, wie wichtig der unscheinbare, Schmutz verursachende Vogel für sie werden könnte.
Auf jeden Fall hatte er das im selben Atemzug in den Raum geworfen, in dem er auch Senray angeklagt hatte wie sie das wunderbare Tier ständig Mistvieh nennen konnte. Dass sie beschlossen hatte, ihren Dienstvogel so zu taufen machte die ganze Angelegenheit nicht unbedingt besser.
"Ich gebe ja zu, dass es manchmal anstrengende Tiere sind und das einem dann zum fluchen zumute sein könnte. Wobei man es sich, junge Dame, nicht so einfach machen darf und deswegen den Vogel mit seinem Namen beschimpft! Zumal gerade eine junge Frau mehr Anstand beweisen sollte und..."
Genau in dem Moment war, zu Senrays Freude, teilweise aber auch zu ihrem Schrecken, Oberfeldwebel Baum aufgetaucht und hatte die beiden mit einer klaren Frage angesehen. Senray musste nicht auf Horatius warten, um zu wissen, dass ihre Ausbilderin wissen wollte, was hier los war. Also erklärte die junge Gefreite es ihr so kurz es eben möglich war.
Die Überraschung hielt sich die Wage mit einer unausgesprochenen Kritik, welche sich noch verschärfte als Bruder Laudes die junge Frau unterbrach: "Mistvieh hat sie den unschuldigen aber ehrwürdigen Vogel genannt! Dabei könnte er ihr das Leben retten!"
Senray schüttelte leicht den Kopf und wartete bis sie wieder sprechen konnte. Lillis auffordernder Blick tat sein übriges.
"Genau darum geht es ja, Mäm. Es sollte ja im Zweifelsfall nicht, also, erkennbar sein, dass sie meine Taube ist, nicht wahr? Und wenn ich einen zufällig nach Fressen suchenden und deswegen, naja, herbei flatternden Vogel mit der Hand wegscheuche, dabei rein... zufällig einen Zettel ins Röhrchen stecke und den Vogel dann beim Verjagen beschimpfe, ist das nicht das, also, Unauffälligste? Aber ich will die arme Taube ja nicht wirklich beschimpfen, also, deswegen taufe ich sie so, dann ist sie das gewohnt und weiß, dass es, also, so gut ist. Oder nicht? Mäm?"
Bruder Laudes hob erneut zum protestieren an, aber Lilli gebot ihm mit der Hand zu schweigen und nickte Senray zu. Einen kurzen Moment und das Tippen einiger Tasten auf Horatius Kasten später, atmete Senray auf.
"Keine schlechte Idee, Gefreite. Nenn den Vogel Mistvieh. Aber kümmer dich gut um ihn und halt dich an Bruder Laudes Anweisungen, wie du das am besten machst."
Ein fast triumphierendes, vielleicht aber auch verklärtes Lächeln erschien auf dem Gesicht des Angesprochenen. Ihre Vorgesetzte nickte den beiden noch einmal zu, dann verschwand sie wieder.
Deswegen kletterte sie gerade von Dach zu Dach und wartete darauf, das Mistvieh auftauchte. Dabei konzentrierte sich Senray stets darauf, wo sie gerade war und welche Gilden in der Nähe waren. Immerhin lohnte es sich, zu überprüfen, ob man von oben nicht etwas sehen konnte. Das waren zwar zumeist ungenaue und unwichtige Daten, sodass ihre Beobachtungen nicht groß in die Gildenakten aufgenommen wurden, allerdings waren diese Beobachtungen für die Gefreite dafür umso wichtiger, um sich zu orientieren. Ihre diesbezüglichen Notizen sammelte Senray in von ihr extra dafür angelegten Akten.
Bei einer verdeckten Ermittlung kann alles von Bedeutung sein. Diesen Satz hatte sich die Gefreite zu Herzen genommen und immerhin hoffte sie darauf, bald wirklich in einer Gilde ermitteln zu dürfen.
Gerade jetzt stellte Senray fest, dass sie nur noch zwei Straßen vom Pseudopolisplatz entfernt war. ‚Warum nicht dem Wachhaus einen Besuch abstatten? Vielleicht hat Mimosa ja Zeit oder, falls nicht, könnte ich ja das Gespräch mit Ophelia fortführen? Ich muss mich sowieso noch entschuldigen wegen der Tasse …’
Ophelia saß in ihrem Büro und hielt die Teetasse mit der gesunden Hand umklammert. Hausarrest. Nicht aus dem Wachhaus dürfen. Ganz abgesehen von allen Unannehmlichkeiten, die damit einhergingen, hieß das, dass sie ihn nicht mehr ohne weiteres sehen konnte.
Und das, obwohl dieses „Leck“, wie Ettark es genannt hatte, auch durch Wände hindurch ging. Wie hatte das nur passieren können?
Während sie einen Schluck des nur noch lauwarmen Getränkes nahm, fragte sie sich abermals, wie viele Wächter betroffen waren. Und wen sie alles ungewollt, ja sogar unbewusst gefährden konnte.
Zu Ophelias Erleichterung wurden diese Gedanken von einem unsicheren Klopfen an ihre Tür unterbrochen. Ihr eigenes „Herein“ hört sich dafür fast zu überschwänglich an, immerhin wusste sie nicht, wer da eventuell neue schlechte Nachrichten brachte.
Schwarze Kleidung und ein langer Umhang betraten elegant das Zimmer, der Auftritt stand absolut im Gegensatz zu dem Klopfen und der noch unsichereren Frage: „Haben sie, nun, Zeit, Mäm? Ich möchte auf keinen Fall stören …“
„Aber nein, Senray, Du störst nicht, setz dich. Willst Du einen Tee? Was gibt es denn?“
Die junge Frau wirkte erleichtert, was Ophelia ein Lächeln aufs Gesicht zauberte. Geschäftig hantierte sie an der Teekanne, während sich die Gefreite auf den ihr angebotenen Stuhl setzte.
„Gerne, Mäm, danke. Oh, und es tut mir unglaublich Leid wegen der Tasse, also ich wollte nicht …“
Der Feldwebel schüttelte sanft den Kopf.
„Mach dir da mal keine Gedanken, manchmal zerbricht eben die eine oder andere. Ich hätte ja auch merken müssen, dass Du sie noch nicht sicher in der Hand hattest.“
‚Ach ja, die Tasse. Wie albern, ich hatte sie fallen gelassen, nur weil ein paar Kerzen etwas geflackert hatten, als ob das so untypisch für das Wachhaus wäre. Nun, wahrscheinlich war es wirklich etwas viel ungewöhnliches und immerhin …’ Genau in dem Moment hielt Ophelia inne, den die Kerze auf ihrem Schreibtisch, die sie ohne groß darüber nachzudenken ins Visier genommen hatte, leuchtete hell. Nicht nur wesentlich heller als sonst, nein, was Ophelia zum Erstarren brachte, war die Tatsache, dass die Kerze aus war, bevor Senray das Zimmer betreten hatte. Immerhin war es noch mitten am Tag und Ophelia wollte das Wachs nicht verschwenden.
Nach einem kurzen Zögern lächelte der Feldwebel wieder und trug die Teetasse zu Senray.
„Hier, dein Tee, eine beruhigende Kräutermischung.“
Wie beiläufig sah sie zu der Kerze und meinte: „Du magst Feuer, oder, Senray?“
Die Angesprochene wirkte einen kurzen Moment ängstlich - oder war es doch einfache Verwirrung? – dann entspannte sie sich wieder.
„Könnte man so sagen, Mäm, warum, Mäm?“
Zu Ophelias Entsetzen hatten die Kerzen kurzzeitig wieder wie verrückt geflackert, um sich dann zu beruhigen und ein etwas dunkleres Licht als davor zu verbreiten. Ihr Blick glitt wieder zu der Gefreiten und sie zwang sich selbst zur Ruhe.
„Oh, nur weil Du die Kerze angezündet hast.“
„Aber, Mäm, das habe ich nicht!“ Nun wirkte Senray wirklich verwirrt und sie schüttelte den Kopf. „Die Kerze war bereits an, als ich herein kam, Mäm, ich war nämlich etwas verwundert, immerhin ist es nicht so dunkel in Ihrem Büro, aber, nun ja, also, Mäm … ich dachte vielleicht brauchen Sie sie, zum, also, Lesen oder so, Mäm.“
Die junge Frau wirkte etwas verlegen, und Ophelia war sich sicher, dass sie die Wahrheit sagte. Das machte die Angelegenheit allerdings nicht beruhigender, zumal die Kerze erneut flackerte und nun schwach zitternd rötlich leuchtete. ‚Wie albern. Ist es wirklich schon so weit, dass ich mir Gedanken wegen einer Kerze mache?’, schalt sich die Wächterin selbst.
„Oh, nun dann. Verzeih mir, ich bin mit meinen Gedanken etwas abwesend. Lass mich nur noch schnell die Kerze löschen, dann bin ich voll für dich da.“
Senray nickte, während Ophelia den dafür vorgesehenen Löscher suchte, geschickt nahm und auf die Kerze setzte. Als sie ihn wieder anhob, tänzelte die kleine Flamme elegant auf dem Docht, erzitterte kurz und fing dann wie wahnsinnig geworden an zu flackern. Ophelia ließ fast den Kerzenlöscher fallen, setzte ihn dann aber mit Nachdruck erneut auf die Flamme und hielt ihn dort. Sie musste einfach aus sein.
Als der Feldwebel den Löscher wieder anhob, schloss sie kurz die Augen. Als sie sie öffnete, bestätigte sich ihre Angst: Eine Flamme zitterte aller Logik zum Trotz auf der Kerze, wechselte von einem dunkleren zum helleren Licht. Ophelia fühlte sich plötzlich schwach.
„Senray, bitte verzeih mir, aber mir ist nicht besonders gut. Könnten wir unseren Plausch doch auf ein ander‘ Mal verschieben?“
„Aber natürlich, Mäm, ich meinte ja, nur wenn Ihr gerade Zeit habt und es euch nichts ausmacht. Wenn es passen würde, könnte ich am Mittwoch nach, also, meinem Termin mit Mimosa kommen?“
„Aber sicher, das hört sich gut an. Einen guten Tag noch, Gefreite und verzeih bitte meine Unpässlichkeit.“
Senray zögerte kurz, lächelte schwach und bedankte sich noch einmal für den Tee. Dann verließ sie mit der Hand zum Gruß erhoben ihr Büro, jedoch nicht ohne sich in der Tür nocheinmal unsicher umzusehen. Genau in dem Moment, in dem die Tür hinter der Gefreiten ins Schloss fiel, erlosch die Kerze.
Ophelia ließ sich auf ihren Stuhl sinken, ihre gesunde Hand fuhr zum Mund. ‚Nicht auch noch sie. Das kann nicht sein.’
Senray selbst musste an ihre Nachtkerze denken oder viel eher an deren sonderbares Verhalten. Soweit man einer Kerze Verhalten nachsagen konnte.
Während sie Mistvieh vor dem Wachhaus fütterte, fragte sie sich, was das wohl zu bedeuten hatte. Hingen die beiden Vorfälle miteinander zusammen? Konnte man überhaupt von Vorfällen sprechen?
'Die arme Ophelia, sie sah sowieso schon blass aus und dann noch so etwas. Der ganze Stress als Stellvertretende Abteilungsleitung kann einem sicher auf die Gesundheit schlagen …'
Senray warf Mistvieh noch einige Körner zu, dann kramte sie einen Zettel aus der Tasche. Etwas unleserlicher als sonst schrieb sie "Mache mich auf den Rückweg" und rollte das Papier zusammen. Es erschien ihr zwar überflüssig darauf hinzuweisen, dass sie sich auf dem Rückweg befand, wenn man doch bei ihrer Ankunft eh feststellen würde, dass sie wieder da war, allerdings sollte die Taube bei jeder möglichen Gelegenheit ein Zettelchen von ihr bekommen. Immerhin musste sie üben, wie sie ihre Botschaften schnell und unauffällig befestigte und Mistvieh musste sich überhaupt an sie gewöhnen.
Der Vogel gurrte etwas aufgebracht, flatterte kurz mit seinen Flügeln und fixierte Senray. Nun, zumindest versuchte sie es. Irgendwie endete es mit einem sonderbaren Schielen und schließlich damit, das Mistvieh los flog um die Nachricht zu überbringen.
Die Wächterin selbst machte sich zu Fuß auf den Weg zum Boucherie. Sie ging um einige Straßenabbiegungen, bis sie eine geeignete Wand fand, dann kletterte sie wieder in Richtung Dach. Eine ältere Frau, die gerade das Fenster aufmachte um sie anzumotzen, was sie an ihrer Hauswand trieb, verstummte, als sie Senrays Gewandes gewahr wurde und schloss das Fenster schnell. Die junge Frau nutze dafür den Fenstersims als kurze Verschnaufpause und zog sich dann weiter hoch. Auf dem Dach angekommen orientierte sie sich kurz und machte sich dann auf ihren eigentlichen Weg. Einzig an einer Leiter, keine zwei Häuser weiter, die vom Dach bis zum Boden reichte, hielt sie inne um ausgiebig zu fluchen.
Am Eingang des Boucherie wartete Glum bereits auf Senray. Einmal mehr hatte Lilli ihm aufgetragen, sich eine weiterführende Lektion für ihre Auszubildende auszudenken, damit sie die Stadt und ihre Gilden besser kennen lernte. Ihm war von vornherein klar gewesen, dass er viel geeigneter als Ausbilder für die Gefreite war, als die Baum. Und nun beanspruchte sie sogar seine Hilfe! Einen besseren Beweis konnte es also nicht geben.
Dennoch hatte er ihr erst einmal sein fast obligatorisches Kontra gegeben. Wenn auch nur, um abschließend darauf hinweisen zu können, dass er mit seinen vielen Erfahrungen, die man nur in seinem Alter erreichen konnte, Senray sowieso die besten Lektionen erteilen konnte.
Nun paffte er Pfeife und beobachtete die Gefreite, wie sie langsam über die Straße herkam, scheinbar in Gedanken versunken. Sie bemerkte ihn erst spät, an ihrer Aufmerksamkeit konnte man also noch feilen.
"Guten Tag, Gefreite, bist du bereit?"
"Guten Tag, Sör. Nun, selbstverständlich, Sör, wozu und soll ich mich umziehen?"
Der Zwerg nickte anerkennend. Immerhin verstand sie mittlerweile wie es hier lief. Dann betrachtete er ihre Kleidung, eine Assassinenschülertracht.
"Hmpf.", machte er mit der Pfeife noch Mund, dann nahm er das gute Stück heraus. "Und was würdest du stattdessen anziehen?"
Er beobachtete, wieder genüsslich an der Pfeife ziehend, wie seine Gefreite reagierte.
"Ich schätze...", Senray sah den Zwerg an und sich dann kurz um, ehe sie weitersprach, "Ja, Sör, ich schätze ich würde auf eher... unauffällige, alltagstaugliche Kleidung wechseln, Sör?"
Glum nickte anerkennend. "Sehr schön, Gefreite. Ich erwarte dich in, sagen wir, zehn Minuten zurück hier."
Dass das knapp berechnet war, wusste der Lance-Korporal selbstverständlich aber er musste seine Auszubildende ja schließlich auch fordern. Von der Baum konnte er zumindest nicht erwarten, dass sie das tat. Also blieb mal wieder alles an ihm hängen.
Senray gab sich alle Mühe, allerdings kam sie natürlich trotzdem verspätet wieder bei Glum an. Der betrachtete ihre neue Auswahl: Ihre abgewetzte, graue Jacke verdeckte halb das schlichte, schwarze Oberteil darunter und sie trug wie immer ein Halstuch locker um jenen gebunden. Zufrieden betrachtete er auch den langen, schlichten Rock der sogar fast die Stiefel darunter verdeckte. Nicht die beste Auswahl aber mit Sicherheit auch nicht die Schlechteste.
"Denkst du, dein Schuhwerk ist angemessen?" Er deutet mit seiner Pfeife in Richtung ihrer Füße.
Senray sah nicht einmal an sich herab. "Nun, Sör, für eine Verkleidung, also, nein. Aber da ich denke, dass wir, also, dass du mir die Gilden, nun, zeigst, erschienen sie mir am Besten. Zum Laufen, Sör."
Er nickte wieder, diesmal anerkennend. Und immerhin trug sie mittlerweile Röcke, das war wenigstens unauffälliger als die Hosen.
"Gut, dann lass uns mal los, Gefreite. Welche Gilde liegt am nächsten?"
Dieses Mal überlegte sie etwas länger, ehe sie antwortete. Und Glum korrigierte sie dennoch. Ja, doch, es machte ihm Spaß die Gefreite Rattenfaenger auf die Probe zu stellen. Die heutige Lektion konnte er also ruhig etwas länger ausfallen lassen.
Lilli hielt die Nachricht noch einige Augenblicke länger in ihren Händen. Warum sollte die Wacheleitung ein diesbezügliches Verbot aussprechen? Hatte sie so viel verpasst, während sie hier im Boucherie damit beschäftigt war, alles in ordentliche Bahnen zu lenken? Was war nur vorgefallen?
Und dann noch die zweite Nachricht, die für Senray. Sie war kurz nach der ersten von der Wacheleitung eingetroffen, deswegen hatte Bruder Laudes sie Lilli direkt mitgegeben. Der Feldwebel wollte ihre Auszubildende sehen, nur warum? Noch dazu ausgerechnet jetzt, wo eine Informationssperre über sie verhängt worden war.
Oberfeldwebel Baum legte die Nachricht vor sich auf den Schreibtisch. Sie musste dringend mit Senray über ihre Beziehung zu Ophelia Ziegenberger sprechen, bevor daraus ein Problem für sie entstehen konnte.
‚Glum müsste bald mit ihr zurück sein’, dachte die Abteilungsleiterin der DOG und stand in aller Ruhe auf. Bis dahin konnte sie auch noch genauso gut in den Fundus gehen und einige geeignete Kleidungsstücke für das Training heute Abend heraus suchen, wie sie fand. Seit sie hier bei DOG die Abteilungsleitung übernommen hatte, war der Fundus des Boucherie strukturierter und übersichtlicher geworden. Einige der alten Sachen waren ausgeflickt worden und seit kurzem hatte Lilli begonnen, mit Senray einige Kleider auf deren Größe anzupassen. Immerhin war die zur Tarnung gehörende Verkleidung wesentlich für eine verdeckte Ermittlung.
Zu ihrer Freude verstand Senray das vollkommen und versuchte, nach anfänglichem, misstrauischem Zögern, mittlerweile in Röcken, Unterröcken, Kleidern und hohen Schuhen zurecht zu kommen. Etwas, das sie wohl davor nie gemusst hatte, wie Lilli fest gestellt hatte. Dabei war es wesentlich unauffälliger und teilweise Pflicht, je nach dem in welche Rolle man schlüpfen wollte.
Der Oberfeldwebel betrachtete den dunklen Rock in ihren Händen, dessen abgewetzten Saum sie durch ihre Finger gleiten ließ. Überall im Boucherie gab es viel zu tun. Sie konnten die Verstärkung durch Senray wirklich dringend gebrauchen.
Nur was hatte die mit Lillis ehemaliger Ausbilderin zu tun?
Dem Oberfeldwebel gingen die beiden Nachrichten nicht mehr aus dem Kopf. Sie würde eine Thiem-Besprechung in ihrem Büro einberufen, um alle über die Informationssperre zu informieren. Das erschien ihr selbst zwar überflüssig, sicher war jedoch sicher. Vorher würde sie mit Senray sprechen müssen, Lilli wollte vermeiden, ihre Reaktion erst vor den anderen DOG´s zu sehen.
Mit einigen gezielten Nadelstichen verschloss die Wächterin ein kleines Loch im Stoff. Dies machte sie bei mehreren Stücken, während ihre Gedanken immer weiter um die neue Problematik kreisten. Erst als sie Schritte auf dem Gang hörte sah sie von ihrer Arbeit auf. Mit aller Ruhe machte sie sich daran, ihr Werk zu beenden und anschließend alles wieder auf seinen Platz zu räumen. Erst einmal würde sie die Gefreite ankommen lassen.
Ungefähr eine halbe Stunde später saß Lilli wieder in ihrem Büro, Senray Rattenfaenger stand unsicher wie immer vor ihrem Schreibtisch und sah sie fragend an. Nachdem der Oberfeldwebel ihr bedeutet hatte, sich zu setzen und die Gefreite dem nachgekommen war, reichte Lilli ihr den ersten Zettel. Die Nachricht des Kommandeurs, dass über Ophelia Ziegenberger bis auf weiteres eine Informationssperre verhängt worden war. Die Abteilungsleiterin der DOG beobachtete, wie ihr Schützling las und dabei langsam immer blasser wurde. Nach den letzten Worten richtete sich der Blick der grünen Augen unsicher auf Lilli.
"Mäm...", setzte die junge Frau an. Die Angesprochene winkte ab und reichte ihr stattdessen den zweiten Zettel, die Nachricht von Ophelia an Senray.
Während die Gefreite nach dem Papier griff, sahen sie und Lilli sich in die Augen. Der Blick der Älteren war streng, forsch fragend, was ihre Auszubildende tat. Diese senkte ihren Blick sofort und Lilli seufzte innerlich. Die junge Frau vor ihr wirkte so verletzlich. Konnte sie sie wirklich zu einer Verdeckten Ermittlerin ausbilden und den damit verbundenen Gefahren aussetzen?
Dann begann Senray zu lesen und abermals beobachtete ihre Ausbilderin sie dabei. Einen kurzen Moment konnte sie Überraschung im Gesicht der Gefreiten ausmachen, dann wirkte diese konzentriert und ihre Miene verschlossen.
Als sie das nächste Mal zum Sprechen ansetzte, ließ Lilli sie gewähren.
"Mäm, was hat das zu bedeuten? Warum darf man mit Ophelia -... Feldwebel Ziegenberger nicht mehr über Fälle sprechen? Was für ein Sicherheitsrisiko?"
Sie zuckte mit den Schultern und schrieb "Ich weiß bisher auch nur, was da steht" auf einen Zettel. Das stimmte zwar nicht ganz, zumal sie bereits eine weitere Nachricht über ein Treffen der Abteilungsleiter bekommen hatte, doch das musste Senray nicht wissen. Wichtiger war es dem Oberfeldwebel jetzt zu erfahren, was Senray bei Ophelia zu suchen hatte. Ebenso schrieb sie ihre Frage auf eine der bereit liegenden Karten und reichte sie der Rothaarigen.
"Nun, Mäm, also eigentlich... Ich habe ihr nichts erzählt, falls du das meinst, Mäm! Wobei ich es ja gar nicht wusste, also, nun, das mit der... dem, nun, der Informationssperre. Ähm, es ist einfach nur, Mäm, also, Ophelia hatte, nun, recht am Anfang meiner Zeit in Grund, also, diese Informationsveranstaltung gehalten, über, nun, den Dschob des Verdeckten Ermittlers. Und, also, nun, daher wusste ich, dass sie auch Verdeckte Ermittlerin ist und war neugierig, ob sie mir vielleicht Geschichten erzählen könnte, Mäm. Tja, und, nun, sie hat mich ja angesprochen, weil Mimosa nicht da war, Mäm, deswegen... Heute war ich noch mal bei ihr, Mäm, um mich, also, wegen der Tasse zu entschuldigen, nun, Mäm, ich habe versehentlich eine ihrer Teetassen fallen lassen, deswegen... Aber es ging ihr nicht besonders, also, nun, darum bin ich gleich wieder, also, gegangen. Mäm. Ich wollte wirklich nicht..."
An dieser Stelle unterbrach Lilli sie, in dem sie ihr eine Karte über den Tisch reichte. "Ist schon in Ordnung, Gefreite. Danke. Du kannst dann wegtreten."
Senray las und nickte ihr dann zu, die Unsicherheit stand ihr wieder ins Gesicht geschrieben. "Danke, Mäm. Ich, nun..."
"Halte dich von jetzt an von ihr fern und erzähle ihr NICHTS" lautete die Botschaft des nächsten Zettels, den Lilli ihr reichte. Dann bedeute sie ihr erneut, zu gehen.
Nachdem Senray ihr Büro verlassen hatte, seufzte Lilli doch. In was war Ophelia da nur hineingeraten?
Das fragte sich Senray auch. Warum sollte es eine Informationssperre geben, ausgerechnet für Ophelia?
Die junge Wächterin ging unruhig in ihrem Büro auf und ab, der Gedanke lies ihr keine Ruhe mehr. Was war nur vorgefallen? Hatte sie deswegen heute nicht mit ihr reden können? Immerhin wollte Ophelia sie jetzt wiedersehen und es schien dringend zu sein. Was war nur los?
Während sie vor dem nicht zu kleinen Bett auf und ab ging, lies Senray ihren Blick ziellos schweifen. Als er die Kerze auf dem Schreibtisch fand hielt sie mitten in der Bewegung inne. Die Flamme brannte ruhig und normal, wie man es von einer gewöhnlichen Kerze erwarten würde. Dennoch...
Die Wächterin lies die Ereignisse der vergangenen Tage Revue passieren und tatsächlich, wenn sie sich nicht täuschte, dann hatte jedes Mal wenn sie Ophelia getroffen hatte etwas mit den Kerzen nicht gestimmt. Dann war da auch noch die Sache mit ihrer Nachttischkerze... innerhalb der Lampe hätte es unmöglich sein müssen, dass das Wachs so übertrat und sie so ungleichmäßig abrannte. Es war jedoch geschehen.
Senray zögerte. 'Aber was hatte das alles zu bedeuten? Und wie konnte das überhaupt sein?' Der Gedanke bereitete ihr Kopfschmerzen. Natürlich wusste sie, dass Zauberer zum Beispiel Feuerbälle werfen konnten, dass sie dieses Element also beeinflussen konnten. Ebenso wusste sie um und von Hexen, immerhin kam Senray selbst aus den Spitzhornbergen. Es gab wohl kaum einen magischeren Ort auf der Scheibe. Nur wo lagen die Zusammenhänge? Hatte Ophelia eine magische Begabung, die sie nicht kontrollieren konnte? Nur warum dann die Sache mit
ihrer Nachttischkerze, wenn es doch nur Ophelia war? Es sei denn...
Senray schluckte schwer. Es sei denn, es hing mit ihr selbst zusammen. Aber wie wäre das möglich?
Die Wächterin starrte einige Minuten in die Flammen, unfähig, strukturiert nachzudenken aber auch nicht gewillt, diese Idee los zu lassen. Als sie sich soweit wieder gefangen hatte, dass sie einen klaren Gedanken fassen konnte, atmete sie tief durch und ging dann ohne weiter zu zögern aus ihrem Büro. Auf dem Flur beschleunigte Senray ihre Schritte ungewollt etwas, das Klopfen an Lillis Tür hörte sich selbst in ihren Ohren hektisch an. 'Hoffentlich ist sie noch da. Sie muss noch da sein!' Der in ihr aufkeimenden Verzweiflung hätte sie fast Luft gemacht, in dem sie noch einmal angeklopft hätte. Stattdessen öffnete sich die Tür vor ihr.
Lillis Blick sprach Bände. Erst waren da in baumscher Ruhe gehaltenes Unverständnis über diese Hektik und das harsche Benehmen, dann Überraschung, dass ihr Gegenüber Senray war.
"Mäm...", fing diese an, ehe ihr Zweifel kommen konnten, "ich glaube, Mäm, ich weiß warum Ophelia mich sehen will. Es... Mäm, ich denke, es ist wichtig, dass ich mich mit ihr treffe."
Senray schluckte. Nachdem ihre Ausbilderin ihr davor eine klare Anweisung erteilt hatte, die schon an ein Verbot grenzte, erschien ihr dies mehr als ungehörig. Sie war sich jedoch sicher. Lilli sah sie mit gerunzelter Stirn an und sie bedeutete ihr, ins Büro zu kommen. Dies würde kein leichtes Gespräch werden, da war sich Senray sicher.
Ophelia tigerte in ihrem neuen Büro auf und ab. Irgendwie fand sie keinen richtigen Platz für die Sachen aus dem alten Büro und die, die Mina ihr gebracht hatte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ihre Gedanken noch unruhiger kreisten als sie es derzeit selbst tat. Es war so viel geschehen in den letzten Tagen, sie war sich nicht sicher ob sie bereits das volle Ausmaß von allem realisiert hatte. Wahrscheinlich nicht. Nein, sie war sich sogar sicher das nicht.
Gerade begann der Feldwebel, wieder an Rach zu denken und sich zu fragen, wie sie ihn wiedersehen sollte, da klopfte es an der Tür. Dieses unsichere Klopfen, das konnte nur...
“Herein. Komm nur rein, Senray.”
Die Gefreite blieb in der Tür stehen und sah sich unsicher um, ehe sie endlich das Büro betrat und die Tür hinter sich schloss.
”Guten Tag, Mäm, entschuldige die Störung.”
”Nein, nein, die störst nicht, Senray! Ich hatte dich ja hierher gebeten! Bitte entschuldige die Unordnung, ich bin noch dabei meine Sachen aufzuräumen.”
Die Gefreite schüttelte leicht den Kopf. “Das macht, nun, nichts, Mäm. Warum, also, warum bist du umgezogen, Mäm?”
Ophelia hatte diese Frage etwas gefürchtet. Aber eigentlich hing alles zusammen und sie musste sowieso mit der Gefreiten sprechen.
“Ich... ich muss vorerst im Wachhaus bleiben, Senray. Um es etwas wohnlicher zu haben, habe ich dieses Büro bekommen. Es gab einige... Vorfälle.”
Die Angesprochene sah sie mit gerunzelter Stirn an. “Vorfälle, Mäm?”
Der Feldwebel seufzte leicht. Wie sollte sie das am besten erklären? “Nun, setzten wir uns erst einmal.”
Die beiden Frauen gingen neben den runden kleinen Tisch und setzten sich, so dass sie einander fast gegenüber ansehen konnten.
Ophelia betrachtete die Gefreite, dann atmete sie tief durch und begann schließlich erneut.
"Nun, es wird sich ohnehin schnell herumsprechen. Und Du musst wissen, was hier geschieht, um die Dringlichkeit meiner Bitte zu verstehen, die ich an Dich richten muss.” Sie zögerte kurz, dann fuhr sie fort. “Du hast das Rundmemo des Kommandeurs mit dem Hinweis erhalten, dass mir verschiedene Arten von Informationen nicht mehr zukommen dürfen?"
Senray nickte.
"Gut... Ich kann nicht behaupten, dass ich mit seiner Entscheidung glücklich bin, aber er trägt eine schwere Verantwortung für die Wache und er hat sich für diesen Weg entschieden, um... alle zu schützen."
Die Stirn ihrer Zuhörerin legte sich in Falten und Ophelia konnte Senrays Frage geradezu spüren, dennoch fuhr sie unbeirrt fort. Sie wollte das so schnell und gut es ging hinter sich bringen.
"Ich stehe vorerst unter Hausarrest und darf das Wachhaus nicht verlassen. Die Informationssperre ist also nur die Spitze des Eisberges, wenn Du so willst. Das alles... ich... der Kommandeur hat mich, nach eingehender Beratung mit meinem Abteilungsleiter und mir, als Sicherheitsrisiko eingestuft."
"Was, Mäm?! Aber... also, das... warum, Mäm?", platzte es aus Senray heraus.
Der Feldwebel seufzte. "Ich beuge mich dieser Entscheidung, denn es ist tatsächlich so, dass die Situation schwer einzuschätzen ist. Es ist so... ich... teile mich auf geistiger Ebene unbewusst anderen Personen mit. Und ich kann das nicht verhindern."
“Aber...”
"Wie Du dir sicherlich denken kannst, mache ich das auf keinen Fall absichtlich." Ophelia hatte den Satz hastig hinterher geschoben, woraufhin Senray nur schwach nickte. Fast hätte die Ältere wieder geseufzt.
"Aber das ändert nichts daran, dass ich so, als Stellvertretende Abteilungsleiterin der RUM, Ermittlungsergebnisse, Standorte Untoter Briefkästen, Einsatzpläne der Kollegen... sogar deren Verdeckte Einsätze an Unbefugte verraten könnte. Das muss verhindert werden! Koste es, was es wolle."
Erneut nickte die Gefreite bestätigend. Ophelia wurde erst jetzt bewusst, dass sie die ganze Zeit mit der gesunden Hand ihren Rock festgehalten hatte. Sie ließ ihn los und streifte die Stelle vorsichtig glatt, während sie wieder weiter sprach.
"Also werde ich mich zurücknehmen und mich den Anweisungen fügen. Dazu gehört unter anderem auch, dass ich in hohem Grade rechenschaftspflichtig dem Kommandeur gegenüber bin in allem was ich tue. Mein mentales Problem hat verschiedenerlei Auswirkungen, wie es sich gezeigt hat. Kollegen, die auf etwas an mir reagieren, tun dies ganz unterschiedlich. Und da kommst Du ins Spiel, Senray!"
Die Augen der Angesprochenen weiteten sich erschrocken, dennoch nickte sie. “Ich... ich schätze jetzt weiß ich, also, worauf du, nun, hinaus willst, Mäm. Die Kerzen, nicht wahr? Ist das, also... quasi meine Reaktion auf, nun, dein... mentales Problem, Mäm?”
Ophelia nickte, erleichtert das die Gefreite es selbst bemerkt hatte. Es war eine Sache zu offenbaren das man selbst ein Problem hatte aber eine ganz andere jemanden darauf hinzuweisen, dass er auch betroffen war.
“Es scheint so, Senray.”
”Aber wie...?” Der fragende Blick der jungen Frau lies Ophelia fast wieder seufzen.
”Ich weiß es leider nicht. Es ist allerdings wichtig, dass wir der Wacheleitung Bescheid geben. Besonders da...”, sie zögerte erneut kurz, “da die Flammen sich in unserer beider Gegenwart nicht ohne weiteres löschen lassen. Das könnte zu einer Bedrohung für die Wache werden, verstehst Du?”
Erneut nickte die Gefreite. “Ja, Mäm. Ich... etwas Ähnliches hat Lilli auch gesagt. Ich hoffe es, also, ist ok für dich, nun, dass ich mit ihr, also, über unser... Problem gesprochen habe? Ich wusste natürlich nicht, also, nun, um dein, naja, mentales Problem, aber ich habe ihr das geschildert was bei unseren Zusammentreffen passiert ist, Mäm.”
Ophelia sah sie überrascht an. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Senray ebenfalls zu dem Schluss kommen würde, dass es wichtig war, mit ihren Vorgesetzten zu reden. Vielleicht hatte sie die junge Frau unterschätzt?
”Das ist sehr gut, Senray! Dann gehe ich jetzt und erzähle Romulus davon, dann ist das auch gleich erledigt und er weiß Bescheid.” ‘Und niemand kann uns einen Vorwurf machen’, setzte sie in Gedanken hinterher.
Nun sah die Gefreite sie jedoch selbst verwirrt an. “Jetzt, Mäm?”
”Ja, natürlich, je eher desto besser. Findest Du nicht auch, Senray? Warte einfach kurz hier, ich komme gleich zurück!”
Also stand Ophelia auf, lächelte der vor ihr Sitzenden zu und verließ den Raum. Wenn sie nur schnell Romulus holen konnte.
‘Und weg von dieser Kerze...’ Ein Teil von Ophelia hatte während dem ganzen Gespräch immer wieder die nicht gerade hell aber wenigstens ruhig brennenden Kerzen auf ihrem Schreibtisch und auf dem kleinen Tischchen vor sich beobachtet. Erst am Ende wurden die Flammen unruhig. ‘Genau wie Senray’, dachte dieser Teil der Wächterin.
Senray war überfordert, daran bestand kein Zweifel. Sie wusste kaum mehr, was sie denken sollte, sie verstand nicht was vor sich ging und konnte Ophelias Gedankengang nur bedingt in dem Tempo folgen. Diese war zudem aus dem Raum geeilt und hatte sie hier sitzen lassen, in dem Büro, das die andere noch nicht ganz eingeräumt hatte, zwischen allem und ohne alles. Die Kerze, die vor ihr unruhig flackerte, machte es in diesem Fall auch nicht besser.
Die Gefreite musste ehrlich sein: Sie hatte Angst vor dem, was hier geschah. Dafür verstand sie zu wenig. Einige Augenblicke spielte sie mit dem Gedanken, einfach abzuhauen. Wenn sie das Wachhaus in Ruhe verließ würde es niemandem weiter auffallen, draußen konnte sie über einige Dächer gehen und dann die Stadt verlassen. Nur weg von hier, von diesem… -
„Senray…“
Sie unterbrach sich selbst in ihren Gedanken und drehte den Kopf nach dem Sprecher. Da war jemand, aber sie konnte ihn nicht sehen. Senray sprang auf und drehte sich um, jeder Gedanken ans Weglaufen war vergessen. Wer hatte sie gerade gerufen?
Im Raum war niemand. Nachdem sie von dem kleinen runden Tisch aufgestanden war hatte die Wächterin auch das Gefühl einer Präsenz verloren. Was war hier nur los?
‚Jetzt drehe ich endgültig durch. Erst die Kerzen und jetzt das.’ Niedergeschlagen von diesem Gedanken ging sie den Schritt zurück zum Stuhl und lies sich fallen. Dabei bemerkte Senray einen leichten Schmerz in ihrer linken Hand.
Gerade als sie die rußgeschwärzten Finger betrachtete, wurde die Bürotür unsanft aufgerissen. Hereingestürmt kam Romulus von Grauhaar, hinter ihm lief Ophelia. Senray stand unsicher auf, doch ehe sie irgendwie reagieren konnte, sprach bereits der Abteilungsleiter von RUM.
„Du bist Senray, nicht wahr? Ophelia hat... es... mir erzählt. Du gehst jetzt augenblicklich zum Kommandeur und erzählst ihm von... eurem Problem. Ophelia und ich unterhalten uns weiter in meinem Büro.“
Senray stand da und sah hilflos von dem Mann zu Ophelia und zurück. Sie musste schwer schlucken und konnte ihre Angst nicht mehr verbergen. Zum Kommandeur? Allein der Gedanke lies ihr Herz schneller schlagen. Das war schlimmer als ein IA-Verhör.
[2]Ophelia sah sie hilflos an, das war sicher nicht ihre Absicht gewesen, als sie los gegangen war um mit Romulus zu sprechen. Aber sie konnte Senray nicht helfen, sie stand selbst mit hängenden Schultern da und schien mit sich zu kämpfen. Der Gefreiten tat es mit einem Mal viel mehr Leid, dass Ophelia ihretwegen Probleme zu bekommen schien und das sie nichts tun konnte. Also musste sie wenigstens dieser Anweisung Folge leisten und so unnötigen Ärger von ihr ableiten.
Mit unsicheren Schritten verließ sie also Ophelias neues Büro und ging zum Kommandeursbüro, vor dem die Gefreite stehen blieb. Senray schloss ihre Augen, atmete tief ein und klopfte unsicher an. Einen kurzen Moment herrschte Stille und die Gefreite hielt die Luft an, ungewollt hoffend, der Kommandeur wäre nicht da. Dann erklang von Innen ein geknurrtes "Herein" und all ihre Hoffnung verflog schneller als sie gekommen war.
Senray zwang sich selbst zu Ruhe und dazu, tief durchzuatmen. Es würde nicht besser werden wenn sie keinen Satz herausbrachte, da war sich die Gefreite sicher. Dann öffnete sie die Tür und trat in das Kommandeursbüro. Nachdem sie die Tür wieder geschlossen hatte salutierte sie ungeschickt und sah ängstlich zu dem Einäugigen vor ihr.
Dieser erwiderte ihren Blick mit grimmiger Bestimmtheit und wartete mit einer dazu passenden Miene darauf, dass die Gefreite etwas sagte.
Die kleine Rothaarige rang mit sich selbst und ihrer wachsenden Angst. Das einzige was ihr jetzt noch fehlte war, dass von irgendwoher eine Ratte auftauchte.
"Ähm, Sör, a-also es... es gibt da ein, nun, wie soll ich... also, da..."
Der Mann vor ihr wurde offensichtlich ungeduldig. Er schien davor bereits nicht gerade in der besten Stimmung gewesen zu sein, jetzt wirkte er auf Senray noch abweisender.
"Ja, Gefreite? Lass mich raten: Es gibt ein Problem."
Die Angesprochene sah ihn groß an, dann nickte sie. "J-ja Sör. Es ist... also, Ophelia und i-"
Weiter kam sie nicht. Nachdem sie "Ophelia" gesagt hatte war der Kommandeur hochgefahren und sah sie mit einem wütend funkelnden Auge an. "So? Feldwebel Ziegenberger hat also
ein Problem?!"
Senray schrak zurück, automatisch machte sie einige Schritte rückwärts Richtung Tür und suchte das Büro nach weiteren Fluchtwegen ab. Fenster erschienen ihr sehr verlockend dieser Tage. Aber sie blieb und wenn es nur Ophelias wegen war. 'Immerhin muss ich das jetzt wieder gerade rücken', dachte Senray, irgendwo zwischen Panik und Pflichtbewusstsein. Dennoch endeten ihre nächsten versuche, irgendetwas zu sagen in unverständlichem Gestotter, das von Mal zu Mal schlimmer wurde.
Nach einigen Minuten, in denen er sie schweigend beobachtet hatte, strich sich der Kommandeur mit der Rechten durchs Gesicht. Er wirkte mit einem Mal wesentlich müder auf Senray, nur um seine Augen glaubte sie immer noch die Ungeduld und den Zorn von eben zu sehen. Seine ruhige Stimme ließ sie allerdings selbst daran zweifeln.
"Beruhige dich erst einmal, Gefreite. Rattenfaenger, richtig?"
Sie zuckte kurz bei dem Namen zusammen, dann nickte sie. Und hoffte inständig, das er das Zucken nicht gesehen hatte. Zumindest ging Araghast Breguyar fürs Erste nicht darauf ein.
"Gut, dann atme jetzt erst einmal tief durch und versuch bitte in ganzen Sätzen zu antworten. Also, Gefreite Rattenfaenger, wo liegt das Problem? Und warum genau stehst du hier, wenn es Ophelia betrifft?"
Im letzten Satz lag wieder eine gewisse Schärfe, die die Rothaarige schlucken lies. "Ähm, Sör, es ist... also, weil es auch, nun, mich betrifft, Sör, also, glauben wir, nun..."
"Um was geht es denn eigentlich?"
"Die Kerzen, Sör, daran ist es uns, nun, also, aufgefallen, Sör. Sie... spielen verrückt, Sör, wenn... also wenn Ophelia und ich im, naja, selben... ähm Raum sind, Sör."
"Die Kerzen?" Die Stirn des Kommandeurs legte sich in Falten. "Was meinst du damit, Gefreite Rattenfaenger?"
Senray versuchte, wie beim Mal davor als ihr Nachname genannt wurde, eben jenen zu ignorieren. Stattdessen konzentrierte sie sich lieber darauf, weiter zu atmen und halbwegs sinnvolle Sätze zu formulieren. Das war allerdings weit schwerer als man meinen mochte, vor allem da die junge Frau selbst nicht wirklich verstand, was hier vor sich ging und was sie sagen sollte.
"Eigentlich, Sör... nun, also eigentlich sind es natürlich die Flammen, Sör, die sich, nun... wie soll ich sagen? Sör, es... sie verhalten sich, naja, sonderbar, also Sör."
"In wie weit verhalten sich die Flammen sonderbar?" Irgendetwas an seiner Stimme gab Senray das Gefühl, dass sie jetzt besser ohne weiteres Zögern fortfahren sollte. Der Gedanke, was wohl wäre, wenn er noch einmal nachhakte beunruhigte sie noch mehr.
"Sör es ist... sie scheinen, also, auf... auf meine Gefühle zu reagieren, Sör. Ich weiß wie albern sich das anhört, Sör! Aber wir haben es wirklich, also, beobachtet! Die Flammen verändern ihre Helligkeit und, nun... sie flackern oder brennen ruhig und... Sör..." Die junge Frau atmete schnell noch einmal durch, ehe sie weiter sprach. Dieses Mal ließ der Kommandeur ihr die Pause, ohne sie mit einer Frage tiefer zu löchern.
"Nun, Sör... die Kerzen, also sie fangen von alleine an zu brennen, wenn Ophelia und ich in, also einem Raum sind, Sör. Und sie... sie lassen sich nicht mehr löschen, Sör. Nicht bis ich, also bis ich gehe."
Bei den letzten Worten war die Stimme der Gefreiten immer leiser geworden. Irgendwie fühlte es sich für Senray an, als hätte sie etwas falsch gemacht.
Einige Sekunden sah der Kommandeur sie ungläubig an, dann platzte es aus ihm heraus.
"Was hast du - du sagst also, Gefreite Rattenfaenger, dass sich die Flammen nicht mehr löschen lassen, wenn du und Feldwebel Ziegenberger an demselben Ort sind? Nur Kerzen oder auch größere Flammen?"
"J-ja, Sör. Die Kerzen, also sie, nun, sie ließen sich nicht mehr, also löschen, Sör. A-aber i-ich weiß es nicht, Sör. Wir... ich...." Erschrocken sah sie denn Mann vor sich an. Dabei fiel ihr Blick auf die Kerze auf seinem Schreibtisch, die beruhigenderweise aus war. Immerhin war es noch mitten am Tag. Der Kommandeur jedoch schwieg. Es war ein angespanntes, wütendes Schweigen. Senray wagte es nicht mehr, etwas weiteres zu sagen, aus Angst, was dann passieren würde, wie er dann reagieren würde. Aus derselben Angst heraus traute sie sich jedoch auch nicht, sich zu rühren um aus dem Büro zu flüchten.
Nach einigen wenigen Sekunden, die sich jedoch für die Gefreite wie Minuten und Stunden anfühlten, waren Schritte auf dem Gang zu hören. Dann ertönte ein leises, irgendwie höfliches und verlegenes Klopfen. Die junge Frau sah zum Kommandeur, der angespannt zur Tür sah. In dem Moment in dem von außen ein dumpfes "Sör" erklang, donnerte er ein "Nein" zur Tür. Danach sagte er noch einiges, Senray nahm jedoch nicht mehr wahr, was genau oder welche Worte fielen. Die Kerze, die doch davor aus war, brannte nun. Dunkel, lodernd, kein Musterbeispiel für eine brennende Kerze aber sie brannte doch. Nun stieg die Panik vom Anfang des Gesprächs wieder in ihr auf.
"Ähm... Sör..." Ihre Stimme war zu hoch und schwach, kaum mehr als ein lautes Wispern, doch der Mann reagierte sofort auf sie.
"Was, Gefreite Rattenfaenger?! Möchtest du noch etwas sagen?!"
Dieses Mal brach ihre Stimme endgültig. Mit flehendem Blick und zitternder Hand zeigte sie auf die Kerze. Die Flamme schien lodernd zu wachsen, jedoch ohne Licht zu spenden. Das eine Auge des Mannes weitete sich kurz, dann sah er zu der Wächterin vor sich. Und dann... zwei Mal versuchte der Mann vergeblich die Flamme zu löschen. Anschließend hatte Senray das Gefühl, er explodierte schier vor ihr. Die Gefreite duckte sich unter den Worten weg. Es waren einige vortreffliche Flüche dabei. Nun, eigentlich muss man wohl sagen das zwischen den Flüchen vielleicht auch einige andere Wörter waren die höchstwahrscheinlich nicht zu einem Fluch gehörten oder bereits selbst einen darstellten. Dieses Mal dauerte es einige Augenblicke länger, bis Araghast Breguyar sich wieder gefangen zu haben schien. Senray war mittlerweile fast unter dem Schreibtisch, soweit hatte sie versucht sich weg zu ducken.
"Du bist bei DOG, nicht wahr, Gefreite Rattenfaenger?" Von seiner Stimme war nur noch ein Knurren übrig.
"J-ja, Sör. I-ich mache da m-meine Aus... Ausbildung, Sör."
"Sehr schön. Das macht es leichter. Du wirst bis auf weiteres im Boucherie bleiben."
Senrays Augen weiteten sich und ihr entsetzter Blick sprach Bände. "S-sör..."
Der winkte ab. "Du hast natürlich kein Hausarrest wie...
andere. Allerdings wirst du dich von Ophelia Ziegenberger fern halten. Das heißt, dass du bis auf weiteres auch nichts hier im Wachhaus zu suchen hast, Gefreite. Verstanden?!"
"J-ja, Sör. Aber mein Training mit..."
"Training?! Wie lange geht das mit euch beiden schon?!" Der Zorn stand ihm jetzt ins Gesicht geschrieben und Senray sackte wieder in sich zusammen.
"I-ich weiß nicht, Sör... seit, also, meiner Beförderung zu-zur Gefreiten, Sör? Es, also, es ist ja A-auflage für, also, für meine Ausbildung, Sör..."
Das schien den Angesprochenen kurz zu verwirren. Er schien im Kopf die letzten Sätze noch einmal durchzugehen, ehe er sprach. "Du redest nicht von Ophelia Ziegenberger, Gefreite Rattenfaenger?"
"N-nein Sör."
"Sondern von deinem Training mit...?"
"Mi-mimosa, Sör. Das Ra-ra-rattentraining, Sör."
Nun war der Groschen endgültig gefallen und der Kommandeur winkte ab. "Bis auf weiteres findet das im Boucherie statt oder wird ausgesetzt. Das ist Oberfeldwebel Baums Entscheidung. Du kannst jetzt wegtreten, Gefreite Rattenfaenger."
"J-ja, Sör, danke, Sör." Nach diesen Worten sprang sie geradezu vom Schreibtisch weg, besann sich dann, salutierte noch einmal und verließ das Büro eilig. Senray gab sich alle Mühe in normaler Geschwindigkeit durch das Wachhaus zu gehen, als sie jedoch im ersten Stock angekommen war hielt sie es nicht mehr aus und rannte los.
Die Kerze im Büro des Kommandeurs erlosch, als er ihre Schritte nicht mehr hören konnte.
Lilli saß hinter dem Schreibtisch, halb verborgen zwischen den Papierbergen. In ihren Händen hielt sie eine Nachricht des Kommandeurs. Schon wieder. Und schon wieder ging es, dieses Mal sogar direkt, um Senrays Beziehung zu Ophelia. ‘So viel also zu deren “klärenden Gespräch”’, dachte sich die Abteilungsleiterin der DOG.
Nun hatte der Kommandeur selbst die Situation geklärt, Senray sollte sich vom Pseudopolisplatz fernhalten und durfte unter keinen Umständen in die Nähe von Ophelia Ziegenberger. Dass Feuer, das herum spinnt und sich nicht löschen lässt, keine gute Sache ist, musste man Lilli nicht zweimal sagen. Ganze Felder und sogar einige kleine Wälder waren in extrem heißen Sommern schon Bränden zum Opfer gefallen, so viele Bäume... Wie jedoch ihre Auszubildende mit ihrer ehemaligen Ausbilderin zusammenhing und was die beiden da warum auslösten, das war ihr schleierhaft. Nun, sie würde es schon noch herausfinden. Ihre Neugier war viel zu stark, als das sie diese Situation, diese Konstellation unbeobachtet lassen konnte.
Es klopfte, leise, unsicher, aus dem Takt. Ohne Frage handelte es sich um Senray, auch wenn diese normalerweise nicht so unregelmäßig schlug. Nun, wahrscheinlich war gerade eben keine Normalsituation. Da Günther nicht da war – wo steckte er eigentlich schon wieder? – stand Lilli auf und öffnete die Tür. Vor ihr stand tatsächlich die Gefreite und sie wirkte erschöpft, verunsichert und verschwitzt. War sie durch die Stadt gerannt? So zumindest sah sie aus.
Mit einer einfachen Handbewegung deutete der Oberfeldwebel Senray einzutreten. Während diese sich, nach Begrüßung, Entschuldigung und einer entsprechenden Frage, auf den Stuhl setzte, schloss Lili in aller Ruhe die Tür und ging hinter den Schreibtisch um sich ihrerseits zu setzten.
“Du hast ahlso mit dem Kohmandör geschprochen?”, schrieb sie mit einigen Mühen auf eine bereit liegende Karte. Eigentlich war es keine Frage, immerhin wusste Lilli die Antwort bereits.
Ihre Auszubildende sah sie groß an. “Ja, Mäm, woher... also, woher weißt du das, Mäm? Eigentlich... ich, also, eigentlich wollte ich ja nur, nun, mit, also Ophelia über unser... nun, unser, also Problem, ähm, reden, Mäm...”
Lilli nickte. Und ignorierte die Frage der Gefreiten. “Was hat ehr gesagt?”
”Nun, Mäm, also... ich, ich soll mich von Ophelia fernhalten, Mäm, und auch vom, nun, Hauptwachhaus. Ähm, und Mäm, also, wegen dem Training mit...”
”Sie kohmt hirher.”
Lilli konnte richtig gehend beobachten wie Senrays Niedergeschlagenheit sich einen kurzen Moment in Hoffnung wandelte, die sofort von einer gewollt und wohl beherrscht neutralen Miene abgelöst wurde. ‘Interessant. Endlich achtet sie darauf. Zwar noch nicht genug, aber es ist ein Anfang.’
Also schrieb die Abteilungsleiterin der DOG weiter: “Wahs auch gud so ihst. Wir wohlen doch deine Ausbildung foran bringen, nicht war?”
Nun nickte Senray wieder mit einer gewissen Begeisterung, auch wenn ein Teil der Ausbildung der verhasste Unterricht mit Mimosa und Schleicher war.
Als die Gefreite das Büro verlassen hatte, mit neuen Aufgaben ausgerüstet und weit weniger zerschlagen wirkend als beim Betreten des Büros, atmete Lilli auf. Ihre Neugier war zwar stark, wichtiger war jedoch dem Befehl des Kommandeurs zu gehorchen. Und vor allen Dingen Senray eine gute Ausbildung zu geben. Die junge Frau hatte sich für einen gefährlichen Beruf entschieden, da durften sie nicht wegen irgendeiner ... einer sonderbaren Gegebenheit den Fokus verlieren und so wichtige Lektionen verpassen. ‘Ich werde schon dafür sorgen, dass das nicht geschieht’, dachte Lilli und lehnte sich wieder in ihrem Stuhl zurück.
Bo sah von seiner Arbeit auf, als die Glocke über der Tür einen Kunden verkündete. Nachdem er ein "Bin sofort da!" in Richtung Verkaufsraum gerufen hatte, legte er die Werkzeuge ab. So hatte das keinen Sinn, er musste bald irgendjemanden kommen lassen um das zu reparieren. Dieser Gedanke stimmte den Zwerg freilich nicht gerade munter, während er, seine Hände an der Schürze abwischend, in das vordere Zimmer ging. Der Anblick der jungen Frau dafür ließ ihn nicht nur schmunzeln, sondern vor allem auch sein Herz höher schlagen.
Er fragte sich immer noch, wie ihm das hatte passieren können. Bo hatte noch nie davon gehört das ein Zwerg mit einer Menschenfrau -... nun, das sie derart füreinander empfunden hatten wie er es für die junge Wächterin tat. Oh, und jung war sie! Nach zwergischem Maßstab gerade mal ein Kind, sicher nicht mehr! Natürlich war er selbst nach dem Maßstab der Zwerge auch noch jung, aber immerhin hatte er schon - einen kurzen Augenblick musste er geistig nachzählen - 72 Jahre auf der Scheibe verbracht.
"Hallo, Senray, was kann ich für dich tun?", fragte er freundlich, während ein Teil von ihm über den Altersunterschied nachdachte. Nun 48 Jahre waren so gut wie nichts für einen Zwerg. Bei Menschen sah das schon anders aus. Allerdings war sich Bo sicher, dass es schon menschliche Hochzeiten trotz eines höheren Altersunterschieds gegeben hatte. Nur nie mit einem Zwerg...
Sie lächelte ihn an. So, wie sie es eigentlich immer tat. "Hallo Bo! Wie läuft das Geschäft heute?"
"Es... geht. Es gab leider einige kleinere Probleme, nicht der Rede wert, aber..."
"Probleme? Was ist denn los?"
"Oh", sofort hatte der Zwerg bereut es auch nur angedeutet zu haben. Immerhin war ihm die Antwort fast peinlich. "Wie gesagt, es ist nichts."
Sie sah ihn mit diesem Blick an, Zweifel und eine stumm formulierte Frage ließen ihre Stirn ganz leicht in Falten liegen und ihre Augenbrauen einen schönen Bogen formen.
"Bo...?"
"Es geht nur um meinen Räucherofen. Der hat im Moment einige Macken aber er ist ja auch schon älter..."
Senray wartete nicht einmal ab bis er fertig war; noch während der Zwerg sprach ging sie zur Tür, welche in den hinteren Raum führte und öffnete sie. Bo eilte ihr hinterher und lief fast gegen sie, als sie in der geöffneten Tür stehen blieb.
"Was?" Sie hustete. "Bei allen Göttern, Bo, wie lange ist das schon so?"
Ihr schockierter Blick und ihre ausgestreckte Hand zeigten in Richtung Räucherofen, bei dem der Rauch nicht durch den dafür vorgesehenen Schacht zog. Stattdessen quoll er schwer unten aus dem Ofen und bildete so auf Bodenhöhe eine Art schweren Nebel. Auch der Zwerg musste wieder husten.
"Seit einigen Tagen", gestand er ihr schließlich. Ihre Reaktion war für ihn abzusehen gewesen.
"Und das sagst du mir nicht?"
Er seufzte leise in seinen Bart. "Du warst die ganze Zeit beschäftigt mit deiner Arbeit, Rosmalia kam zu mir und hat mir erzählt, dass du teilweise nicht einmal in deinem Zimmer schläfst. Da komme ich doch nicht wegen so was zu dir..."
Während er sprach hatte der Zwerg die junge Frau wieder aus dem Raum geführt und die Tür sorgfältig geschlossen. Sie schüttelte leicht den Kopf.
"Ich... also ich habe wirklich viel gearbeitet, in letzter Zeit, nicht wahr?"
Bo nickte und betrachtete Senray, die nun wesentlich verletzlicher wirkte. Oder war es einfach nur die Müdigkeit, die plötzlich Raum gefunden hatte?
"Wie läuft denn deine Ausbildung?"
"Es... wir machen Fortschritte. Also, denke ich wenigstens. Naja, immerhin kenne ich mich mittlerweile ganz gut aus in der Stadt."
"Also kannst du dir mittlerweile auch die Straßennamen merken?"
"Ähm...", machte sie und sah verlegen zur Seite.
Der Zwerg hatte die Antwort allerdings vorher bereits gekannt und grinste unter seinem Bart.
"Eigentlich ein Wunder das deine Ausbilder das noch nicht gemerkt haben."
"Nun, also... noch mal zu deinem Ofen, so kann doch dein Geschäft nicht, nun weitergehen."
'Netter Versuch', dachte Bo. Aber wenn sie nicht darüber reden wollte dann würde er es dabei belassen. Also nickte er einfach und schwieg.
"Wann hast du den Schornstein das letzte Mal reinigen lassen?"
Sein überraschter Gesichtsausdruck lies Senray nicht auf die Antwort warten. "Du hast ihn doch schon mal reinigen lassen, oder nicht?"
Langsam schüttelte der Zwerg den Kopf und sie sah ihn ungläubig an. Einige Momente schien sie zu überlegen, dann stand sie auf.
"Ich muss wieder los zur Arbeit, Bo, aber heute Abend habe ich frei. Wenn es noch hell genug ist, komme ich mit meiner Ausrüstung und kümmere mich darum. Ansonsten morgen früh, in Ordnung?"
Er nickte, erstaunt über ihre Entschlossenheit und etwas enttäuscht, dass sie nun ging.
"Du hast noch nicht einmal etwas gegessen, Senray!"
"Ja ich... nicht so wichtig, wichtiger ist, dass du den Ofen nicht weiter anschürst. Er muss aus gehen und bleiben, ja Bo? Und schließ den Laden bis dahin, geh raus an die frische Luft. Bis heute Abend!"
Damit verschwand sie aus dem Ladenraum hinaus auf die Straße. Nach wenigen Minuten konnte der Zwerg sie nicht mehr entdecken und er ließ sich seufzend auf einen Stuhl fallen. Er fragte sich immer noch, warum sie damals in diesem Dorf keine Ausbildung begonnen hatte. Immerhin schien sie sich wirklich für Ofen zu interessieren und Kaminkehren wichtig zu nehmen. Sie hätte, anstatt nur die Grundlagen von den Schülern zu lernen, bei einem der Meister in die Lehre gehen können.
Stattdessen war sie weitergereist und wurde jetzt hier, in Ankh Morpork, eine Wächterin.
Andererseits erinnerte er sich auch an die Zeit davor. Der Zwerg erinnerte sich an die Zeit, in der das Mädchen alleine in den Spitzhornbergen nach dem Mörder ihres Vaters suchte. Er erinnerte sich auch an ihn und wie oft er mit seiner kleinen Tochter zusammen bei den Zwergen war. Bos eigener Vater, Golm Hammerschlag, arbeitete viel mit ihm zusammen. Der Schmied und der Schuster schafften die wohl besten Stiefel, die man in und um die Spitzhornberge erwerben konnte. Wenn sie die Schuhe verkauften dann waren die beiden Männer immer mindestens zu zweit unterwegs, Bo erinnerte sich jedoch auch an eine Eskorte von zwei weiteren Zwergen, die sie oft begleitete. Die Zwerge der Spitzhornberge liebten natürlich auch ihre Stollen, Mienen, ihre Bergwerke und in den Stein gegrabenen Systeme. Doch vor allem liebten sie Gold und es gab damals keinen leichteren Weg an eben jenes zu kommen, als dem sowieso nur oberirdisch lebendem Hammerschlag zu folgen.
Zumindest bis zu dem Tag, als Senrays Vater starb. Danach veränderte sich alles, auch Bos eigener Vater. Er selbst ging oft hinaus in die Umgebung des Dorfes und nicht selten war er es, der das junge Mädchen fand und entweder zum Haus der Mutter oder zu ihnen selbst brachte. Dann, nach einigen Jahren, sahen sie das Feuer.
Bo erinnerte sich noch genau, damals war er mit im Stollen, sie hatten ein Eisenflöz gefunden oder das wenigstens geglaubt. Er half also bei den Arbeiten, als sein Vater hereinkam, ihn und zwei weitere Zwerge anwies, ihm zu folgen. Nur Bo folgte seinem Vater, Golm hatte bereits zu viel Ansehen eingebüßt, als dass ihm noch ein anderer Zwerg der ehrliche Arbeit verrichtete gefolgt wäre. Sie waren es, die die halbtote Senray fanden und wieder mit zu den Zwergen nahmen. Sie waren es auch, die sich um sie kümmerten.
Kurz bevor die junge Frau sie verließ, kam sein Vater zu ihm. "Bo", sagte er, "Mein Sohn, du musst dich um sie kümmern. Wir haben ihr gegenüber eine Schuld, die ich nicht tilgen kann. Beschütze sie!"
Damals verstand der Zwerg nicht. Was er allerdings verstand war, dass sein Vater wohl seine Hilfe brauchte, also stimmte er zu. Am darauffolgenden Morgen war Golm nicht mehr da. Er war in die Berge gegangen und kehrte nie mehr zurück. Die anderen Zwerge sprachen davon, dass ihm die Sonne zu Kopf gestiegen sein musste. Bo selbst wusste nicht was los war, nur, dass sein Vater weg war und er ihm eine Aufgabe übertragen hatte.
Zu dem Zeitpunkt, als er aufhörte, nach seinem eigenen Vater zu suchen, war Senray allerdings bereits abgereist. Seine Chancen, sie wieder zu sehen, standen schlecht. Vielleicht, bestenfalls, eins zu einer Million. Dennoch machte er sich auf den Weg nach Ankh Morpork, denn bekanntlich führten alle Straßen von dort hinaus, also gab es auch genügend, welche die junge Frau dort hinein bringen konnten.
Als Rosmalia sie dann schließlich mit in seinen Laden brachte und ihm vorstellte, fiel der Zwerg aus allen Wolken. Sie erkannte ihn nicht, aber das war auch besser so, wie Bo fand. Nun konnte er sein Versprechen seinem Vater gegenüber halten und ein Auge auf sie werfen.
Endlich, nach Wochen der teilweise nicht nur gefühlten Isolation von Informationen und dem mangelnden Kontakt zu vielen Mitwächtern, hatte sie wieder einen Fortbildungsvortrag halten dürfen. Da es keinen aktuellen Fall betraf, schien es unbedenklich oder doch wenigstens tolerierbar. Das Ergebnis war jedoch katastrophal gewesen, wie Ophelia sich eingestehen musste.
Sie saß in ihrem Büro und starrte seit einiger Zeit mit leerem Blick aus dem Fenster. Das Rach dann noch gekommen war, hatte ihr gut getan, allerdings... Allerdings hätte er sie nicht so sehen müssen. Diese emotionale Kopplung mit Mina, die plötzlich so falsche Wirkung der doch eigentlich erprobten Teemischung. Dann war das Ganze auch noch vor Ettarks Augen geschehen! Ausgerechnet er. Ophelia fürchtete immer noch seine Reaktion. Was er wohl getan hatte, nachdem er aus dem Raum gestürmt war?
In ihrer Verzweiflung griff sie fast automatisch nach der Teetasse vor sich. In der Bewegung zum Mund hielt die Wächterin inne. Der Tee war eiskalt und ein Streichholz schwamm darin, es war die Tasse vom Vorabend, die sie in dem allgemeinem Trubel und den Sorgen wohl vergessen hatte. Wie nachlässig von mir, dachte sie, während sie das verkohlte Hölzchen betrachtete.
Ja... Senray war auch da gewesen. Wie sie Lilli wohl hatte davon überzeugen können, das Besuchsverbot für den Nachmittag auszusetzten? Sie hatte doch nicht gegen den Willen ihrer Abteilungsleiterin und des Kommandeurs gehandelt? Nein, das konnte Ophelia sich nicht vorstellen. Wahrscheinlich war es ihr erlaubt worden, weil der Vortrag ihre zukünftige Spezialisierung betraf und schon lange nichts mehr vorgefallen war. Letzteres hoffte der Feldwebel jedoch nur.
Ein bestimmtes Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. "Ich bin es. Störe ich?" Maganes Kopf sah durch die Tür herein, gefolgt von ihrem Körper.
"Nein, nein... Das weißt Du doch. Ich bin froh, dass Du es weiter probieren willst."
Die Hexe und Wächterin vor ihr nickte und schloss die Tür hinter sich. "Ich habe wieder eine neue Mischung dabei. Allerdings möchte ich erst mit dir über das reden, was da gestern geschehen ist.
Ophelia nickte schwach. Es war klar gewesen, auch Mina würde noch genauer mit ihr reden wollen. Immerhin gaben sie alle nicht auf.
Als ihr Maggies Blick auf die Tassen in ihren Händen bewusst wurde, stellte Ophelia diese wieder auf den Tisch. "Der Tee von gestern. Ich habe gestern Abend ganz vergessen sie auszuleeren und zu waschen. Wenn Du die neue Mischung gleich testen willst mache ich es jetzt schnell."
Damit stand der Feldwebel auf und griff mit der gesunden Hand wieder nach der Tasse.
"Ach, lass nur", Magane nahm sie ihr ab und holte eine frische Tasse, während Ophelia sich unentschlossen wieder hinsetzte, "Du hast ja nicht nur die eine. Diese hier werde ich dann gleich spülen."
Auf ihrem Weg warf sie einen flüchtigen Blick in die Tasse und schien dann gedanklich innezuhalten. Ophelia hörte, wie sie etwas murmelte, dann drehte sich Maggie wieder zu ihr um.
"Sag mal... Senrays Reaktion und deine Anspielungen ihr gegenüber... was genau ist da? Reagiert sie auch auf dich?"
Ophelia senkte den Blick und seufzte leise, ehe sie die Wächterin vor sich wieder ansah.
"Bevor Du fragst: Der Kommandeur weiß davon. In meiner Gegenwart scheinen... Flammen auf sie zu reagieren, ich denke auf ihre Emotionen, aber ich weiß es nicht. Wir können es auch nicht nachprüfen, da ihr verboten wurde, mich zu sehen. Was auch seinen Grund hat, bedenkt man, dass sich Feuer in unser beider Gegenwart fast nicht löschen lässt."
Magane nickte nachdenklich und betrachtete das verkohlte Stück Holz. Nach einigen Augenblicken, die die beiden Frauen schweigend verbracht hatten, stellte die SUSI den alten Tee abseits ab.
"Vielleicht sollte ich mal mit Senray reden...", murmelte sie, dann wandte sie sich wieder Ophelia zu, "Jetzt mache ich uns erst einmal einen neuen Tee."
Senray lag auf ihrem Bett und kraulte Miezie, die es sich auf ihrem Bauch bequem gemacht hatte. Bo hatte Recht gehabt, sie hatte in letzter Zeit oft im Boucherie geschlafen. Es war gut, dass sie heute Abend hierher gekommen war. Rosmalia und sie hatten gegessen und ihre Freundin hatte sie sogar mit den sonst üblichen Erklärungen, wie schändlich und schrecklich der Wächterjob doch war, verschont.
Sie sah es wohl langsam ein, dass es Senray ernst war. So hatten sie einfach gemeinsam gegessen, etwas Wein getrunken, geredet und viel gelacht. Zugegeben empfand Senray Rosmalias neueste Idee, sie müsse sich bald einen Mann suchen, allein damit der dafür sorgte, dass sie nicht in irgendwelchen Wachhäusern nächtigte, wie unangenehm und irgendwie peinlich. Da Rosmalia selbst jedoch auch niemanden hatte, fanden die beiden Frauen so schließlich etwas, über das sie reden konnten. Es war auch sinnvoller, über Männer zu reden, als mit Senray über Mode zu fachsimpeln, wie wohl jede Frau die auch nur ein bisschen von letzterem verstand, sofort erkannt hätte. Das dem, dank ihrer fortschreitenden Ausbildung zur Verdeckten Ermittlerin, nicht mehr ohne weiteres so war, wusste Rosmalia ja nicht. Für sie gab es kaum Unterschied von Wächter zu Wächter.
Senray gähnte. Sie war erschöpft, der Tag war lang und vielleicht waren es auch ein oder zwei Gläser Wein zu viel gewesen. Zum Glück hatte sie die Kerzen bereits alle gelöscht, alle außer die in ihrer Laterne neben dem Bett, die sie bei Nacht immer brennen lies. Müde kontrollierte sie das Türchen und betrachtete dabei erneut das Wachs, das auf den Boden der alten, angerosteten Laterne gelaufen war. Es hätte nicht passieren dürfen. 'Zumal Ophelia mit Sicherheit nie hier war, erst Recht nicht, während ich geschlafen habe', dachte die Wächterin irgendwo hinter Müdigkeit und dem sanften alkoholischen Nebel in ihrem Kopf.
Dadurch musste sie auch wieder an den Vortrag einige Tage zuvor denken. Das war... nicht gut gewesen. Sie hätte doch nicht gehen sollen, Lilli hatte sie vorgewarnt. Ihre Ausbilderin war nicht begeistert gewesen, auch wenn sie es selbst erlaubt hatte. Ohne diese Erlaubnis wäre Senray auch niemals ins Hauptwachhaus gegangen, nicht nach dem Gespräch mit dem Kommandeur. Die Husky in Ausbildung hatte kaum etwas mehr gefürchtet, als diesem am Pseudopolisplatz zu begegnen oder das er, nachdem das erneute Treffen mit Ophelia abermals so außer Kontrolle geraten war, sie erneut zu sich zitieren würde. Zum Glück war das bisher nicht geschehen.
'Ein Grund mehr wieder öfters hier zu schlafen' Müde kraulte sie die Katze auf ihrem Bauch, die zufrieden schnurrte und ihre, in krallenbewährten Pfoten endenden Beine ausstreckte. Senray gähnte erneut, drehte sich leicht und bekam als Strafe sofort einige Kratzer. Nachdem Mizie beleidigt ans Fußende des kleinen, einfachen Bettes abgezogen war, rollte sich die Wächterin unter der Decke zusammen und schloss die Augen. Durch die Lider konnte sie schwach das beruhigende Licht der Kerze wahrnehmen, das sie in den Schlaf führte.
Er hatte nur noch unruhig geschlafen, seit sein Schützling dieser Wächterin begegnet war. Dass sie sie seitdem immer wieder heimsuchte, machte es nicht besser. Jedes Mal stieß sie ihn mit einer Art mentalen Energie oder Zügellosigkeit aus dem Schlaf. Allein die Erinnerungen seines Schützlings an sie brachten ihn mittlerweile aus der Ruhe. Was hatte diese Frau nur an sich, was war das für eine Energie? War es überhaupt Energie? Dessen war er sich nicht so sicher, andererseits wusste er auch nicht, was es sonst sein konnte. So etwas war in seinem langen Leben noch nie passiert. Natürlich, er hatte fast nie ausschlafen können. Sein Schützling stellte in dieser Beziehung bisher den idealen Wirt dar. Bis vor kurzem, also bis zu der ersten Begegnung mit dieser Frau, Ophelia hieß sie wohl, hatte er, dank ihr, immerhin ausruhen und schließlich schlafen können. Doch jetzt war sein Schlaf wieder gestört, er war unruhig und schlummerte nur noch. Ihre Vereinbarung band ihn daran, solange zu schweigen, bis sein Schützling den Kontakt suchte.
Auch an diesem Morgen musste sie wieder feststellen, dass Wachs übergetreten war. Jedoch weit weniger als beim ersten Mal, als sie es bemerkt hatte und auch weniger, als in den letzten Tagen. Senray betrachtete die Kerze lang, ehe sie sie ausblies und aus der Halterung löste. Sie musste unbedingt herausfinden, was das zu bedeuten hatte, ja, was hier überhaupt vor sich ging. Wie jedoch sollte sie das anstellen? Die Wächterin hätte zu gern Ophelia gefragt, ob diese eine Idee hatte, wusste allerdings, dass genau das nicht möglich war. Natürlich gab es auch noch Okkultismusexperten in der Wache, sie konnte diesen eine Anfrage schicken. Allerdings würden die nachfragen und Senray war sich nicht sicher, ob sie sich noch jemandem erklären wollte. Und was überhaupt wie erklären? Sie wusste ja selbst nicht was vor sich ging, nein, sie wusste ja noch nicht mal ob es irgendetwas mit Magie oder dergleichen zu tun hatte. Andererseits: Mit was sonst?
Die junge Frau seufzte. Nun musste sie erst einmal etwas zum frühstücken finden und ins Boucherie gehen. Ihre Ausbildung wartete und bezüglich allem anderen hatte sie derzeit keine Idee, wie sie etwas verändern sollte.
Während sie zum Wachhaus lief, stellte Senray fest, dass sie letzteres doch hatte. Sie würde das Training mit Mistvieh heute nutzen, um zu testen ob es funktionierte. Falls ja, konnte sie immerhin mehr Informationen erhalten. Das erschien ihr ein erster Weg in die richtige Richtung.
Aufgeregt und erfreut ging die Wächterin ihrem Ziel entgegen. Es würde sicher nicht leicht werden, das durchzuziehen. Noch dazu sollte es niemand merken, falls es nicht klappte. Oder eben doch klappte. Die ersten Zweifel kamen Senray, doch sie beschloss, sie zu ignorieren. Wenn sie nur irgendwie diese Situation verstehen konnte...
Schließlich in ihrem Büro angekommen, machte sie sich daran, eine geeignete Nachricht zu verfassen. Jetzt musste sie nur noch herausfinden, wie sie sie am besten übermitteln konnte.
Ein leichter Nebel hing über der Stadt, als Senray einmal mehr auf die Dächer kletterte um mit Mistvieh zu trainieren. Mittlerweile kam sie wesentlich besser mit dem Vogel klar und dieser wirkte nicht mehr ganz so verstört wenn er bei ihr war. Zumindest glaubte die Gefreite das. Irgendwie war es ihr dabei nicht ganz geheuer, mit welcher Zielsicherheit Mistvieh sie jedes Mal wieder fand. Auch wenn natürlich genau das der Sinn der Taube war und überhaupt der Grund für dieses ganze Training.
‚Hoffentlich hat sie auch diesmal verstanden was ich von ihr wollte’, dachte die Gefreite während ihr Blick unruhig den Himmel absuchte. Immerhin lies sie Mistvieh sonst nur sie finden und von Senray aus zum Boucherie fliegen. Und umgekehrt. Aber für diese spezielle Nachricht saß der Empfänger nicht im Wachhaus der DOG. Die Unsicherheit, was der Vogel tat, lies sie sich immer wieder nervös umsehen.
Senrays Blick glitt dabei über die umliegenden Dächer. Nur wenige Häuser weiter war letzte Woche die Alchimistengilde umgezogen, nachdem es davor einen Unfall gegeben hatte. Man sollte nicht in einem Labor, in dem mit Brandbeschleuniger geforscht wurde, an einem leicht explosiven Stoff arbeiten. Zumindest war derartiges dem kleinen Artikel aus der Times und einigen Unterhaltungen der Alchimisten beim Umzug zu entnehmen gewesen. In Ankh Morpork musste man sich nicht einmal besonders verkleiden oder gar anstrengen um bei einem derartigen Spektakel als zufälliger Schaulustiger vor Ort zu sein und so einige Informationen aufzuschnappen. Glum war bei ihr gewesen und hatte der jungen Gefreiten einiges über die Straßen, in denen sie waren erzählt. Außerdem einige Informationen über die Gebäude in der Umgebung, nicht zuletzt das neue der Alchimistengilde. Mehr als einmal erklärte ihr der Zwerg, was für eine Schande es war, ausgerechnet der Gilde, die regelmäßig Häuser zerstörte, immer wieder schöne alte Gebäude zu überlassen. Natürlich kein teures, gut renoviertes, aber die Gilde hatte in den Jahren ihres Bestehens einige durchaus prachtvolle Häuser gesehen. In manchen hatten ihre Mitglieder sogar länger als einen Monat gewohnt, allerdings nicht in vielen.
Senray suchte das neue Gebäude, ihr Blick blieb an einer Gestalt einige Dächer weiter hängen. Wer war das? Definitiv kein Assassine, der Kleidung nach. Die Gefreite war neugierig und betrachtete den Mann. 'War das ein Eimer? Aber ja! Und ein... ', sie unterbrach sich selbst in ihren Gedanken, so überrascht und zugleich schockiert war sie.
'Er hat doch wohl nicht wirklich vor...', noch ehe sie ihren Gedanken zu Ende gedacht hatte, war Senray auf das andere Dach gewechselt.
"Guten Morgen, Herr", versuchte sie so ruhig und normal wie möglich zu sagen.
Ihr Gegenüber sprang dafür fast vom Dach. "Was...? Wer? Also wirklich, dass Sie mich so erschrecken! Noch nie bin ich jemandem auf einem der Dächer begegnet, abgesehen von Willi natürlich, aber da weiß ich‘s ja, und ab und an war da auch der ein oder andere aus der Assassinengilde, aber die würden sich nie dazu herablassen mit mir zu reden, nicht das ich besonders erpicht darauf wäre mit einem von denen zu verkehren, wenn‘s ums Geld geht meucheln die ja sogar ihre eigene Mutter, habe ich gehört. Aber wirklich, dass ich hier oben einfach so angesprochen werde, noch dazu von einer jungen Frau wie Ihnen, ja, wie kommen Sie den darauf hier hoch zu klettern, noch dazu zu so einer Zeit?" Einmal angefangen war der Mann fast nicht mehr zu bändigen und Senray lauschte dem Wortschwall in wachsender Verwunderung.
Eine Erklärung hatte sie nicht, dafür aber umso mehr Fragen. "Nun, wissen Sie, also, das wollte ich Sie gerade, nun, fragen. Ist das ein...", die Gefreite zögerte vor dem nächsten Wort und versuchte jede Art von Missbilligung aus ihrer Stimme herauszuhalten, "ein Stoßbesen, so nennt man die doch, nicht wahr?"
Es gelang ihr recht gut, unschuldige Unwissenheit zu mimen. Der Mann sah sie mit nun mehr freudiger Überraschung an und betrachtete dann kurz sein Werkzeug.
"Ja, ganz genau junge Dame, woher wissen Sie das? Nun, dann scheinen diese heutigen Schulen ja doch etwas zu bringen, wenn man euch so praktisches Wissen beibringt. Meiner Tochter, Amelie, aber sie will neuerdings das man sie Ämi nennt, wirklich schrecklich wie ich finde, da haben wir ihr so einen schönen Namen gegeben, jedenfalls Amelie, müssen Sie wissen, hat man so was nicht erklärt. Überhaupt nichts Sinnvolles hat sie in der Schule gelernt, aber ich musste regelmäßig über die Hälfte meines Lohnes abdrücken dafür. Zwei Drittel, hat sie mir mal vorgerechnet, nur was das bringen soll, konnte sie mir auch nicht sagen. Als ob es weniger werden würde, wenn man den genauen Anteil kennt. Ehrlich. Diese jungen Leute... aber Sie scheinen ja was Anständiges gelernt zu haben, sagen Sie, welchen Beruf verüben Sie denn, wenn ich fragen darf, junge Dame?"
Dieses Mal war Senray immerhin auf den Wortschwall eingestellt, auch wenn die Frage sie dennoch überraschte.
"Ich bin Wächter", fing sie deswegen an, ehe ihr bewusst wurde, dass sie, egal wem, diese Information nach Möglichkeit nicht geben sollte "- äh, in... in einem Geschäft, wissen Sie, nun ich mache für eine Freundin einfache, also, Dschobs und einer davon ist, regelmäßig zu kontrollieren, ob irgendjemand versucht über die Dächer oder hinten rum in ihr, also, Lager zu kommen. Soll es ja alles schon, nun, gegeben haben, nicht wahr?"
Der Unbekannte vor ihr nickte verstehend und Senray atmete auf. Zugleich fragte sie sich, ob es nicht egal gewesen wäre. 'Auf ihn käme es sicher nicht an, ob er jetzt weiß, dass ich bei der Stadtwache bin oder nicht.' Während sie ihn beobachtete und auf den fast obligatorischen Wortschwall wartete, schalt sie sich jedoch selbst: 'Trotzdem musst du aufpassen, und wenn du es nicht ernst nimmst, verquasselst du dich später in ganz anderen Situationen. Lilli wäre sicher auch der Meinung.'
Fast hätte sie geseufzt während ihr Gegenüber, der sich mittlerweile als Hans vorgestellt und wegen seiner Unhöflichkeit entschuldigt hatte, ihr erklärte, das es nicht sein konnte das junge Frauen heutzutage Wachjobs oder gar Wächterjobs übernahmen. Dieses Risiko für Leib und Leben war viel zu hoch und das zarte Geschlecht dafür eindeutig viel zu zart. So seine Meinung und selbstverständlich wollte er damit niemandem zu nahe treten.
Am Ende seufzte Senray doch, was er als Bestätigung sah und noch weiterredete. Was Hans auch bis zu dem Moment, in dem Mistvieh auftauchte und Senrays Aufmerksamkeit forderte, weiter tat, scheinbar ohne eine Pause zum atmen zu benötigen.
Ophelia konnte es kaum glauben. Sie war gerade dabei gewesen, einen neuen Tee aufzusetzen, als es an ihrem Fenster gepocht hatte. An ihrem Fenster!
Erschrocken war sie herumgefahren und hatte die irgendwie schmuddelig wirkende Taube gesehen, die sie fast auffordernd ansah. War das möglich?
Einen Augenblick zögerte sie noch, ehe sie umständlich die Teetasse abstellte und zum Fenster ging um es zu öffnen. Der Vogel nahm das als Einladung und flog herein, gurrte vorwurfsvoll und landete auf ihrem Schreibtisch.
Erst jetzt bemerkte die Wächterin das Nachrichtenröhrchen an seinem Bein.
„Für mich?“, fragte sie und griff vorsichtig danach.
Immer noch unschlüssig nahm sie das kleine Papier und überflog die Nachricht. Ophelias Blick wirkte leicht eingetrübt, während sie die Taube wieder ansah um anschließend die Nachricht erneut zu lesen. Erst nach dem dritten Mal begriff sie wirklich was da stand und das die Nachricht tatsächlich an sie adressiert war. Jedoch nicht von Rach, wie sie im ersten Augenblick fast automatisch angenommen hatte.
Ihr Blick fiel erneut auf die Taube, die sie immer noch auffordernd anstarrte. Was wollte sie? Fressen? Oder eine Antwort?
‚Eine Antwort!’, schoss es ihr durch den Sinn. Wenn schon der Vogel sicher keine wollte, der Absender hatte ausdrücklich darum gebeten. Also nahm sie einen kleinen Zettel und schrieb etwas passendes. Während sie nach den geeigneten Worten suchte, beobachtete die Taube sie die ganze Zeit und Ophelia merkte, das sie der Blick nervös werden lies.
Erst als die Wächterin die Nachricht wieder ordentlich befestigt hatte wandte sich der Vogel von ihr ab und sprang ohne weitere Aufforderung vom Schreibtisch, um auf direktem Weg hinaus zu fliegen. Der Feldwebel beobachtete sie und schloss schnell ihr Fenster, als vom Hof Flüche laut wurden. Offensichtlich war die Taube zielsicher.
Später am Tag, nachdem sie mit Glum einmal mehr alte Fälle und Akten durchgegangen war und nachdem Mimosa zum ersten Mal für ihr gemeinsames Training im Boucherie gewesen war, lies sich Senray in ihrem Büro auf ihr Bett fallen. Unter leisem Fluchen sprang sie sofort wieder auf, da sie das große Himmelbett immer noch als Ablage für alles Mögliche verwendete und dementsprechend Akten, Papier, Stifte, Kleidung und einige Nähnadeln darauf verstreut lagen. Ihre Aktion hatte das allgemeine Durcheinander nur noch verschlimmert, so dass die Wächterin müde seufzte und sich daran machte, wieder Ordnung zu schaffen.
Nach einer Weile wurde ihr bewusst, dass sie sich beobachtet fühlte. Senrays verwirrter Blick glitt durch den Raum, bis sie am Fenster einen sich bewegenden Schatten ausmachte. Sofort sprang sie auf, angespannt und alarmbereit. Erst dann realisierte sie wer oder was sich da vor dem Glas befand: Ihre Taube Mistvieh. Erleichtert und über sich selbst den Kopf schüttelnd ging die Wächterin vor und öffnete das Fenster, so dass der Vogel herein konnte.
Mistvieh gurrte zwar, sah sie aber gleichzeitig anklagend an. Oder zumindest versuchte die Taube es, das Schielen ruinierte jedoch den Effekt ein wenig. Vorsichtig streichelte Senray ihr über den Kopf und zog die Nachricht von ihrem Bein.
"Du hast also eine etwas für mich?", murmelte sie, während sie das Papier entrollte.
Erneut gurrte die Taube, wie zur Antwort. Abwartend sah sie die Wächterin an, immer noch etwas Aufforderndes in ihrem schiefen Blick. Nach einigen Augenblicken verstand Senray endlich.
"Augenblick, ich hole dir schnell etwas zu fressen!" Damit verschwand sie aus dem Raum und lies die Nachricht noch ungelesen auf dem Schreibtisch liegen.
Als sie zurückkam, hatte es sich Mistvieh auf einem Pfosten an ihrem Bett gemütlich gemacht. Die Gefreite streute etwas von dem Taubenfutter auf den Boden und sofort stürzte sich der Vogel darauf. Nachdem das Tier sie jetzt nicht mehr anklagend ansah, griff Senray erneut nach der Nachricht und nahm sich auch gleich Papier und einen Stift für die Antwort zur Hand.
Gespannt setzte sie sich hinter ihrem Bett auf den Boden und begann zu lesen.
Liebe Senray, ist es wirklich möglich, dass Du mir schreibst? Ich hoffe Du hast dies mit deiner Ausbilderin und dem Kommandeur abgesprochen? Wenn nicht musst Du dies unbedingt tun! Die Wächterin seufzte nach den ersten zwei Zeilen. Natürlich hatte sie das nicht. Vielleicht, ja vielleicht hätte Lilli es ihr sogar erlaubt, sie glaubte jedoch nicht daran, nachdem schon der Weiterbildungsvortrag so schief gelaufen war. Und zum Kommandeur konnte sie unmöglich noch einmal. Allerdings musste sie dringend Informationen bekommen und sie würde niemanden durch das gefährden, was sie schrieb. Allerdings konnte sie das der Älteren unmöglich sagen. Senray war sich sicher, dass wenn sie das täte, Ophelia ihr nicht mehr antworten und zu ihrem Abteilungsleiter oder sogar zum Kommandeur gehen würde. Aber konnte sie sie anlügen?
Senray seufzte. Das hätte sie vorhersehen müssen, es widerstrebte ihr jedoch absolut Ophelia anzulügen. Die Wahrheit kam jedoch auch nicht in Frage. Also drehte sie im Kopf einige Formulierungen.
"'Liebe Ophelia, keine Sorge, sie wissen Bescheid. Sie sind allerdings nicht begeistert, Lilli meinte aber ich muss mehr über "mein Problem" herausfinden, deswegen ist das ok.' Hmmm... aber wie erkläre ich ihr dann, dass das Ganze nicht über die normale TK-Anlage läuft sondern über dich, Mistvieh?"
Der Vogel schenkte ihr einen kurzen Moment seiner Aufmerksamkeit, da er seinen Namen gehört hatte, dann widmete er sich wieder dem Fressen am Boden.
"Oh, genau!", sagte Senray und machte sich daran, ihre ersten Ergebnisse auf dem bereit liegenden Zettel aufzuschreiben. "'... und weil er nicht begeistert ist, soll ich, hm, meine Taube nehmen, um nicht den normalen Nachrichtenverkehr aufzuhalten.'" Einen Moment hielt sie inne und las die Sätze noch einmal, dann nickte sie "Ja, das hört sich gut an." 'Und es könnte sogar fast wahr sein', setzte sie gedanklich hinzu.
Dann las sie Ophelias Botschaft weiter:
Natürlich helfe ich Dir gerne, so gut ich kann. Nur leider weiß ich nicht wie. Gib mir einfach Bescheid! Ich freue mich, Dir helfen zu können. Fw Ophelia Ziegenberger.In Gedanken nickte Senray, dann seufzte sie erneut. Wenn sie doch nur selbst wenigstens eine grobe Ahnung hätte, was hier los war. So jedoch wusste sie eigentlich auch nicht, was sie Ophelia fragen sollte. Auf der Suche nach einer Antwort sah sie sich im Raum um und betrachtete den Vogel.
Mistvieh hatte aufgehört zu fressen und putze ihr Gefieder. Als sie jedoch merkte, dass Senray sie ansah, schielte sie zurück und legte den Kopf leicht schräg.
"Bald habe ich wieder eine Nachricht für dich", murmelte sie gedankenverloren und sah noch einmal auf die beiden Blätter vor sich. Schließlich entschied sie sich, Ophelia ihr Problem zu schildern. Also schrieb sie, das sie selbst nicht wisse wie die andere ihr helfen könne und fragte, ob Ophelia irgendeine Idee habe, was diese Reaktion auf sie bei Senray bedeuten könnte. Wo das herkommen könnte.
"'Vielen Dank und alles Gute, G Senray.' So, jetzt rolle ich das nur noch zusammen... genau, Mistvieh, komm her. Na komm schon, braver Vogel."
Nachdem sie die Nachricht zusammengrollt und in einem Röhrchen verpackt am Bein des Vogels befestigt hatte, trug sie Mistvieh zum Fenster.
"Ok, du hörst mir jetzt gut zu, ja, Mistvieh? Du bringst diese Nachricht zu Ophelia Ziegenberger, Wachhaus am Pseudopolisplatz Zimmer Nummer Zwei-Eins-Vier. Ja?" Die Taube gurrte und legte den Kopf schief. Senray hoffte, dass dies eine Bestätigung war, dann lies sie den Vogel los. Sofort breitete sie die Schwingen aus und flog aus dem Raum.
"Aber gib die Nachricht nur ihr, ja, Mistvieh? Und jetzt los, flieg!" Letzteres war absolut überflüssig zu sagen, da die Taube schon längst auf ihrem Weg war, die Wächterin fühlte sich dadurch jedoch ein wenig besser.
Kaum drehte sie sich vom Fenster weg klopfte es hart an ihrer Tür und schon stand Glum in eben jener.
"Mit wem redest du, Gefreite? Und weißt du eigentlich, wie spät es ist?"
Einen Augenblick stockte der Angesprochenen der Atem, dann erholte sie sich jedoch von dem ersten Schreck. "Mit einer, also, Taube, Sör, sie saß, nun ja, auf meinem Fensterbrett und ich wollte, nun ja, also, das sie, naja, weg fliegt, Sör. Und ähm, also Sör..."
Der Zwerg sah sie mit gerunzelten Augenbrauen an. Einen Augenblick lies er sie weiterstottern, dann winkte er ab. "Nun gut, dann komm mit. Ich habe noch etwas Interessantes für dich gefunden."
Rosmalia war gerade damit beschäftigt, einige Rechnungen abzugleichen und die Bestellungen durchzugehen, als sie den Krach hörte. Es kam eindeutig von oben und es war nicht nur das übliche Poltern, wenn die entsetzliche Katze mal wieder etwas umgeworfen hatte. Dazu kam ein Kreischen und ein kurzer Schrei. Einen Moment saß sie schockiert da, dann sprang sie auf und verließ ihre Wohnung.
'Senray wird doch nichts passiert sein? Wenn diese elende Katze ihr...', doch schon stand die Frau vor der Tür zum Dachgeschoß.
"Senray? Senray, bist du da? Ist alles in Ordnung?"
Erneutes Poltern, eine Art hektisches Rauschen und dieses Kreischen waren die erste Antwort. Dann wurde der Lärmpegel leiser und Rosmalia, die fieberhaft überlegte, was sie tun sollte und nach Atem rang, konnte Schritte hören.
"Senray? Mach endlich deine Tür auf, hörst du?!"
"Ähm... gleich!", kam es von innen. Die Verkäuferin atmete auf.
Wenige Augenblicke später wurde auch schon die Tür geöffnet. Ungeduldig trat die Frau ein und blieb erschrocken wieder stehen, also sie ihre Freundin sah.
"Du blutest ja! Was ist denn passiert? Waren Einbrecher hier? Soll ich die Wache rufen? Oder einen Arzt?" Ihr Redefluss wollte kein Ende finden und zudem war Rosmalias Stimme lauter und schriller als gewöhnlich.
"Ähm, nein, es ist, also, nichts. Ein Kratzer. Ähm, möchtest... könntest du die Tür bitte, also, schließen? Danke."
Ihre Freundin stand vor Rosmalia und sah sich hilflos um, einige Sachen waren umgestoßen worden und es roch sonderbar nach Taubendreck. Rosmalia selbst betrachtete Senrays Hand, an dem einige Kratzer waren. Genauso wie an ihrem Arm. Sie atmete durch und während sie die Tür schloss verfluchte sie die Katze. Wenn sie sie in die Finger bekommen würde, die Frau hätte sicher irgendwas interessantes mit dem Tier anstellen können. Allerdings wusste sie auch, das Senray aus irgendwelchen Gründen an dem Flohfänger hing.
"Also, was war hier los, Senray?", fragte sie und sah der anderen in die Augen. Die wich ihrem Blick jedoch schnell aus.
"Ähm, nun, ich... bin gestolpert und ja, also..."
"Senray."
Die Angesprochene seufzte. Einen Moment lang lies sie ihren Blick gleiten, wobei er auf ihrer eigenen, blutigen Hand landete, dann sah sie der Freundin direkt in die Augen. "Meine Diensttaube kam hierher geflogen und ich habe nicht an Miezie gedacht und das Fenster geöffnet. Den Rest kannst du dir sicher denken."
Rosmalia war einige Sekunden sprachlos. "Du hast...", begann sie entgeistert, "du hast eine TAUBE in mein Haus gelassen?! Eine verdammte Taube?! Als ob diese Katze nicht schon schlimm genug wäre..."
Während sie dies sagte war sie erst lauter, dann wieder leiser geworden und begann nun sich umzusehen. Ohja, sie hatte am Anfang als sie die Tür geöffnet hatte gleich gerochen, das hier eine Taube ihre Notdurft verrichtet hatte. Eine Taube! Jetzt sah sie auch eindeutig, wo der Vogel sich entleichtert hatte. Und da war auch diese Katze.
"Deine... deine Katze
wälzt sich gerade in den... den
Hinterlassenschaften deines
Vogels...", knurrte sie fast und betonte dabei jedes Wort mit absoluter Missbilligung.
Während die Wächterin sich erschrocken umdrehte, sich entschuldigte und versuchte mit Mizie zu verhandeln, schüttelte die Verkäuferin den Kopf. Sie beobachtete das Spektakel eine Weile, dann drehte sie sich halb um.
"Senray, in einer Stunde gibt es Essen, bis dahin sollte hier alles wieder aufgeräumt sein. Und ich möchte nie wieder wegen einem Vogel hier hoch kommen müssen. Verstanden?"
"Ja, Mäm! Äh..."
"Senray!", fuchste Rosmalia, drehte sich um und ging. Ehrlich, erst brachte die Freundin ihr Ungeziefer ins Haus und dann nannte sie sie "Mäm". Als wäre sie eine alte Frau. Sie schnaubte. Darüber musste sie dringend nacher mit der Wächterin reden. So ging das vielleicht auf deren Arbeit, aber sicher nicht hier!
Einen kurzen Moment dachte sie daran, dass sich dadurch nichts ändern würde. Aber eigentlich wollte Rosmalia das auch nicht, wenn sie ehrlich war. Sie war nur froh, Senray hier bei sich im Haus zu haben. Wer wusste schon, wo die Freundin sich sonst herumtreiben würde?
'Und wo sie überall war, in den letzten Jahren...'
Doch sie verdrängte diese Gedanken, schob sie zur Seite.
Wichtiger war jetzt, das ihr eine Taube ins Haus gebracht worden war, neben dem Flohfänger. Und die hatte auch noch die Dreistigkeit besessen, ihren Dachboden als... als Klo zu benutzen!
Mit grimmiger Entschlossenheit machte sie sich auf den Weg in ihre Küche. Das war einfach der beste Ort, wenn man sich auf- und gleichzeitig abregen wollte.
Lilli beobachtete vom Fenster aus, wie Senray im Nebel verschwand. Ophelias Vortrag lag bereits wieder einige Tage zurück und die damit verbundene kurze Unruhe bei ihrer Auszubildenden hatte sich wieder gelegt. Die Wächterin ging ihren Aufgaben nach und gab sich alle Mühe, nicht aufzufallen.
Dadurch fiel sie Lilli zwar schon wieder auf, allerdings fand diese es verständlich, dass Senray es versuchte. Immerhin hatte die junge Frau darum gebeten, zu dem Ausbildungsvortrag zu dürfen und es war für Lilli nicht leicht gewesen, den Kommandeur zu überzeugen. Dass es nun erneute Komplikationen gegeben hatte, machte die Sache nur komplizierter. Die Aufmerksamkeit der Abteilungsleiterin der DOG lag noch mehr als sonst auf ihrem Schützling. Sie musste Senray wieder ablenken und zu einem guten Ende ihrer Ausbildung bringen.
Außerdem musste sie herausfinden, was es mit dem Feuer auf sich hatte. Wenn es nur nicht unbedingt um Feuer gegangen wäre... Als Baum hatte sie eine natürliche Abneigung gegen Holz verspeisende Flammen.
Doch solange sie nicht in die Nähe von Ophelia kam, schien das kein Problem darzustellen. Solange sich Ophelia also ausschließlich im Wachhaus aufhalten durfte, musste sich Lilli keine Sorgen machen. Nur was hieß das jetzt? Immerhin konnte ihre ehemalige Ausbilderin nicht ewig am Pseudopolisplatz bleiben. Aber vielleicht, wenn das Problem des Feldwebels gelöst war, gab es auch keines mehr mit Senray.
'Hoffentlich.', dachte Lilli und wandte sich wieder ihrem Schreibtisch zu.
Sie hatte sich noch nicht lange mit ihren Akten beschäftigt, da klopfte es forsch an der Tür. Sie nickte Günther zu und der sagte, ziemlich gelangweilt: "Herein."
Keine Sekunde später hatte sich die Tür geöffnet und Glum stand vor ihr. Ihr Stellvertreter sah sie kritisch an, allerdings konnte dieser Eindruck auch täuschen. Bei Zwergen konnte man sich da nie so sicher sein.
"Wir müssen dringend über unsere Gefreite reden“, begann ihr Stellvertreter schon, noch ehe er die Tür wieder geschlossen hatte.
Lilli erwiderte, natürlich, nichts. Stattdessen betrachtete sie den Zwerg einige Augenblicke, ehe sie nach Günthers Kasten griff. „Ja?“, gab dieser dann weiter.
Glum hatte kaum darauf gewartet. „Du musst sie endlich auf die Straße lassen.“
„Wir absolvieren mehrmals wöchentlich Straßentrainings.“, verkündete Günther mit einer kurzen Verzögerung.
„Das meine ich nicht. Sie muss in einen Einsatz, Erfahrungen sammeln.“
„Sie ist noch nicht soweit.“
Der Zwerg brummte erst etwas in seinen Bart und schnaubte. „Und wann wird sie das jemals sein? Wie soll sie denn jemals soweit sein, ohne praktische Erfahrung? Ich kann dir sagen, ohne die Praxis ist die Theorie nichts und glaub mir, ich in meinem Alter habe genug Erfahrung um das zu beurteilen.“
Lilli seufzte stumm. Ehe sie Günther eine Antwort eingeben konnte, redete Glum weiter. Er hatte zumindest nicht ganz unrecht, wie sie zugeben musste. Allerdings war es ihre Entscheidung. Und ihre Verantwortung. Senray war ihre erste Auszubildende, sie konnte kein Risiko eingehen.
Mit der Geduld eines Baumes lies sie Glum reden und seine Stimme wurde wir das stetige Hintergrundrauschen in einem Wald, während sie darüber nachdachte, wie es weiterging.
Ophelia hatte bereits begonnen sich daran zu gewöhnen, dass Mistvieh in unregelmäßigen Abständen an ihr Fenster pochte und ihr eine Nachricht brachte. Es tat ihr gut, auf diesem Weg Kontakt zu haben. Auch wenn Ophelia selbst nicht wusste, wie sie der Gefreiten helfen sollte, war sie doch dankbar dafür, dass diese noch Vertrauen in sie hatte.
Deswegen war der Feldwebel jetzt auch in Recherchearbeiten zu Feuergeistern und –magie vertieft. Immer wieder nippte sie an dem Tee vor sich, nahm jedoch weder dessen sinkende Temperatur noch den Geschmack wirklich wahr. Vielleicht fand sich hier ja die Lösung oder wenigstens ein Ansatzpunkt. Ganz überzeugt war sie zwar selbst nicht, aber es war ein Anfang und besser als nichts.
Es dauerte eine Weile, bis Ophelia das Pochen hinter sich wahrnahm. Dann jedoch reagierte sie schnell und öffnete das Fenster für die Taube, die bereits wieder auffordernd schielte. Der Vogel sprang auf ihren Schreibtisch und die Wächterin löste, nicht ohne Schwierigkeiten, das Nachrichtenröllchen von seinem Bein.
Sie legte den kleinen Zettel ab und holte ein Säckchen aus ihrem Schreibtisch.
„Hier, schau mal was ich für dich habe …“, sagte sie, während sie der Taube einige Körner auf den Tisch streute. Sie hatte sie heute Morgen erst aus den Vorräten geholt. Da der Kommandeur ja von der Taubenkommunikation wusste, ging Ophelia davon aus, das es in Ordnung war, zumal sie nur sehr wenig genommen hatte.
Einen Augenblick beobachtete sie Mistvieh beim Fressen, dann nahm sie die Nachricht und entrollte sie. Insgeheim freute sie sich jedes Mal, wenn Senray ihr schrieb. Auch wenn es nur unbedeutende Dinge und vor allem Fragen waren, die von der Gefreiten kamen. ‚Nein’, verbesserte sich Ophelia in Gedanken, ‚gerade weil es so ist. Sie hält sich daran, dass sie mir keine Informationen zu irgendetwas geben darf und macht nicht einmal kleine Andeutungen. So fällt es mir auch viel leichter, nicht zu fragen.’
Sie seufzte leise. Die Wächterin hoffte inständig, dass sie bald eine funktionierende Lösung fanden. Die ganze Situation machte ihr zu schaffen und daran würde sich wohl auch so schnell nichts ändern.
Gerade als sie endlich Senrays schön geschriebenen Worte lesen wollte, klopfte es an der Tür. Mistvieh horchte bei dem Geräusch auf und schlug nervös mit den Flügeln. Ophelia hielt es für besser, den Vogel vorsichtig hinaus zu befördern, da sie bereits einige Male miterlebt hatte, wie Mistvieh ihre Nervosität abbaute. Glücklicherweise war die Taube freiwillig dazu bereit, aus dem Fenster zu fliegen, so dass Ophelia sie weder überreden noch umständlich packen musste. Vorsichtshalber schloss sie jedoch das Fenster hinter ihr. Dann wandte sie sich wieder der Tür zu.
Nach ihrem „Herein“ trat Magane ein und nickte ihr zu.
„Ich bringe nur wieder Nachschub von der neuen Mischung. Wie geht es dir?“
Ophelia lächelte die Mitwächterin an. „Danke! Bisher scheint es zu wirken, nicht wahr? Allerdings dachten wir das bei der davor auch.“
Magane nickte wieder und Ophelia war froh, dass die andere nicht zu tief nachhakte. „Das stimmt leider. Aber zumindest habe ich keine Kopfschmerzen.“
Nun war es wieder an Ophelia, erleichtert zu nicken. Sie trat vor die SUSI.
„Kann ich dir das abnehmen? Danke“, sagte sie, nahm Magane das leichte Bündel ab und trug es zu den anderen Tees. Beim Ablegen achtete sie sehr darauf, nichts zu vermischen und die neue Mischung zuvorderst zu legen.
Magane hatte indes einen Blick über die vielen Unterlagen auf Ophelias Schreibtisch geworfen.
„Feuermagie?“, fragte sie und hob die Augenbrauen.
„Das ist für Senray. Du weißt ja, sie ist … bei ihr ist das Problem diesbezüglich gelagert. Ich hatte gehofft, etwas herausfinden zu können, das ihr hilft.“
Die Hexe nickte wieder, diesmal jedoch zögernd. „Ja, stimmt. Senray ist ja auch betroffen.“
„Ja.“, Ophelia seufzte leise „Hast Du noch eine Idee, in welche Richtung ich recherchieren kann?“
Sie und Magane sahen sich eine Weile an, dann schüttelte die andere den Kopf. „Dafür weiß ich zu wenig. Aber ich schätze, ich sollte sowieso einmal mit Senray reden. Ich habe sie allerdings eine ganze Weile nicht mehr im Wachhaus gesehen. Der Vortrag war das erste Mal seit Wochen.“
„Ja, sie … darf nicht in meine Nähe kommen. Der Vortrag war die erste Ausnahme und ich fürchte bis auf weiteres die einzige. Wir können nur über ihre Taube miteinander kommunizieren.“
„Hm, dann schätze ich, ich werde ihr wohl einen Besuch im Boucherie abstatten müssen. Vielleicht fällt mir ja etwas ein.“
Ophelia nickte dankbar. Wenn ihr schon keine Lösung einfiel konnte sie vielleicht wenigstens jemanden schicken, der helfen konnte. Irgendwie hatte die Wächterin das Gefühl, zumindest dies Senray schuldig zu sein.
Für Senray ging ihr normaler Ausbildungsalltag weiter – soweit etwas in Ankh Morpork normal sein und man bei den ständig wechselnden, unplanbaren Lektionen von einem Alltag sprechen konnte. Wenigstens war es absehbar, dass man nicht absehen konnte wann was als nächstes kam.
Mimosa kam in unregelmäßigen Abständen zu Senray und, wohl durch einen sonderbaren, wiederkehrenden Zufall bedingt, hatten die anwesenden DOG zu solchen Zeiten besonders viel auf den Fluren zu tun. Je mehr Senray jedoch dahinter kam, wie sie ihre Reaktion kontrollieren konnte, desto weniger interessant wurden die Trainings und so nahm auch diese Aufregung ab.
Allgemein wurde es bei den Hunden schnell wieder ruhig und die Abteilungsmitglieder verschwanden mit ihrer Arbeit schneller als sie zuvor aufgetaucht waren. Lilli und Glum bildeten für Senray die einzigen wirklichen Konstanten, die sie auch finden konnte, wenn sie sie suchte.
Auch zu Bruder Laudes ging sie regelmäßig, weil sie ihn etwas wegen Mistvieh fragen musste oder damit er sie sich ansah. Nach der Begegnung mit Miezi hatte der Vogel einige Federn verloren und sich geweigert, in die Nähe von Rosmalias Haus zu fliegen. Burder Laudes hatte davon gesprochen, dass ihm absolut klar gewesen sei, dass eine Frau sich nicht ordentlich um den Vogel kümmern können würde. Alles Weitere hatte Senray nicht verstanden, irgendwelche K´s hatten offenbar eine Rolle gespielt. Da Mistvieh jedoch sofort wieder die Alte war, nachdem sie Fressen bekommen hatte, machte sich die junge Wächterin auch nicht zu viele Gedanken darüber.
Der Vogel erwies sich auch als zuverlässig, was die Nachrichten an und von Ophelia anging. Das erleichterte Senray, auch wenn sie immer noch nicht weiter war. Woher kam ihre Wechselwirkung mit Ophelias mentalem Problem? War es tatsächlich nur eine angeborene Fähigkeit für Magie, die sie bisher nicht wahrgenommen hatte? Irgendwie wollte die Gefreite nicht daran glauben, auch wenn ihre Herkunft aus den Spitzhornbergen dafür sprechen mochte.
Auch wenn sie diese Fragen immer im Hinterkopf behielt und versuchte, mit Ophelias Hilfe mehr herauszufinden, stand für die Wächterin ihre Ausbildung an erster Stelle. Senray arbeitete sich durch die Akten, die sie bekam, übte mit Lilli die Kunst der Verkleidung und lies sich von Glum so oft durch die Stadt führen, wie es nur möglich war. Insgesamt hoffte sie, bald auf ihren ersten wirklichen Einsatz zu dürfen.
Nur hatte sich Lilli ihr gegenüber da recht klar ausgedrückt. Der Zettel lag immer noch auf Senrays Schreibtisch, als eine Art Mahnung sich mehr anzustrengen.
„Duh bist noch nicht soh weiht.“ stand darauf. Horatius war ihr danach gefolgt und hatte ihr, in ihrer Tür stehend, gesagt, sie müsse mit einer geeigneten Idee, einem gut durchdachten Plan zu Lilli gehen. Dann war er verschwunden. Seitdem achtete Senray darauf, netter zu ihm zu sein und ihm hin und wieder das eine oder andere Getränk zu spendieren. Er war danach zwar wieder ganz der Alte gewesen, aber Senray war dankbar für den Tipp.
Während sie weiter ihre Lektionen lernte und die Ausbildungseinheiten absolvierte hielt sie nun die Augen offen und sammelte Ideen für einen möglichen Einsatz.
Willi war so mit seiner Arbeit beschäftigt und noch mehr damit, nicht von dem verdammten, mal wieder viel zu rutschigen Dach zu fallen, dass er die junge Frau neben sich erst bemerkte, als diese ihn ansprach. Dafür jagte sie ihm damit einen umso größeren Schrecken ein, dank dem er den verdammten Rußbesen, oder wie auch immer das Ding hieß, fallen ließ. Eine schwarze Wolke stieg als Strafe dafür aus dem Kamin auf, so dass er sich hustend umwandte.
"Was haste gesagt?", maulte er in die Richtung der Stimme, bevor er sich den Störenfried ansehen konnte. Als sein Blick auf eine junge Frau fiel, die ihn verschreckt ansah, bereute er es auch gleich wieder. Er brummelte etwas, das ein "Tut mir fast leid" hätte sein können, ging davon aus das die Frau es verstanden hatte wie sie es sollte und verbesserte sich dann noch lauter. "Ich hat´ dich nicht verstand´n, war auf die Arbeit konzentriert, also?"
"Verzeihung", sagte die Rothaarige vor ihm und Willi stellte fest, dass sogar ihre Stimme klein und zerbrechlich wirkte. 'Ach herrje, was hat die den auf nem Dach zu suchen?', fragte er sich. 'Noch dazu in dem Kleid. Na wenn sich da die Burschen unten nicht freu‘n wenn sie hier wieder runter klettern will weiß ich auch nicht.'
Er bedachte sie mit einem forschen Blick und wartete, dass sie endlich weitersprach. Oder hatte sie das schon, und er hatte wieder nicht zugehört? In dem Versuch, sich nichts anmerken zu lassen, deutete Willi auf den Kamin.
"Also, ich habe jedenfalls nicht den ganzen Tag Zeit, wenn sonst noch was ist..." Er ließ den Satz offen, in der Hoffnung jetzt Ihr Anliegen zu erfahren oder das Verschwinden der Fremden zu provozieren. Immerhin wurde er nicht fürs nichts tun bezahlt und sein Chef wusste aus irgendeinem Grund immer, wann er nichts tat.
"Nun, verzeihen Sie, aber sind Sie... Willi?"
Nun war der sonst so forsche Mann doch baff, zumindest für einige Sekunden. Dann ging ihm eine Sonne auf.
"Du kennst Hans, hab ich Recht? Der Typ redet zu viel. Was hat er erzählt?"
"Ja, Herr, aber, also, nicht viel, denke ich. Eigentlich nur Ihren Namen, Herr, und das ihr beiden Kollegen seid. Deswegen dachte ich auch, dass Sie Willi sein müssen. Sonst trifft man nicht wirklich viele Schornsteinfeger in Ankh Morpork, falls ich das so sagen darf."
Der Angesprochene schnaubte. "Aber natürlich Mädel, is eine freie Stadt. Allerdings weiß ich nicht ob‘s wir‘s verdient haben, als Schornsteinfecher bezeichnet zu werd‘n, da fehlt doch noch einiges zu."
Willi war sich sicher ein kurzes, grimmig-erleichtertes Nicken gesehen zu haben, konnte es sich aber bei dieser jungen Frau nicht vorstellen. Da sie auch ansonsten blankes Zögern und Unsicherheit zu sein schien, war es auch recht unwahrscheinlich.
"Ne ne, wir sind nur für Paul König unterwegs, ´n bisschen Ruß und Asche einsammeln, der schafft‘s selbst noch daraus Gold zu machen. Gibt aber nicht viele die uns rufen, schert sich keiner wirklich um seinen Kamin, heutzutage."
Dieses Mal nickte die Frau vor ihm wirklich und Willi beobachtete, wie sie unsicher lächelte und eine Strähne ihres dunkelbraunen, nein, rötlichen Haares nach hinten schob.
"Ja, ich habe gehört, nun, dass Herr König aus dem Ruß Mäk App produzieren lässt und das, also, Asche in manchen, nun ja, Cremes vorkommen soll, als Bestandteil."
Der Mann zuckte nur mit dem Schultern. "Damit kenn ich mich nicht aus, ich sammel den Kram hier nur ein. Muss mich jetzt auch wieder an die Arbeit machen, also wenn es das war...?"
Er bedachte sie mit einem forschenden Blick und erntete, wie erwartet, ein unsicheres Nicken. Sie wünschte ihm noch einen guten Tag und raffte auf die wohl umständlichste Art ihr Kleid, um zur anderen Seite des Daches zu gehen. Eigentlich hätte Willi gerne noch gesehen, wie sie es schaffen wollte, herunter zu kommen, aber die Arbeit rief. Außerdem musste er sein Besending aus dem Kamin retten, Paul König würde sicherlich kein Neues bezahlen.
Senray lächelte in sich hinein. Die Männer waren also für Paul König unterwegs. Ansonsten gab es keine Kaminkehrer in der Stadt, scheinbar hatte sich nicht ein einziger freier Vertreter dieser Zunft hier niedergelassen. Oder vielleicht doch ein einziger oder auch zwei, aber zumindest keine Gruppe als solche und nichts was bekannt war. Damit ließ sich doch arbeiten.
Die Husky in Ausbildung ging noch einmal ihre Überlegungen durch. Eigentlich war es schon fast ein Plan. Was fehlte noch, um es Lilli zu präsentieren? Ach ja, die Verkleidung!
'Die traditionelle Tracht oder lieber etwas weniger.... aufwendiges?' Senray betrachtete die Zettel vor sich. Was wollte sie erreichen? Wollte sie sich unauffällig hinein stehlen und einmal Informationen sammeln oder groß dort auftauchen und regelmäßig kommen, ja, eingeladen werden? Was war sinnvoller?
Und wohin wollte sie überhaupt? Senray lehnte sich auf dem Bett in ihrem Büro zurück. Willi hatte sie auf dem Dach der Händlergilde getroffen, die waren also bereits versorgt und brauchten niemanden mehr. Zu den Dieben oder den Assassinen würde Lilli sie sicher noch nicht lassen. Was war mit den Alchimisten? Die brauchten mit Sicherheit einen guten Schornsteinfeger und Senray war sich sicher, dass sie denen ihren Bedarf noch besser verkaufen konnte als jedem anderen. Immerhin mussten sie regelmäßig wegen Explosionen, Feuer und giftigen Dämpfen umziehen.
'Dann also zurück zu der Verkleidung. Eine Gilde wie die Alchimisten, kaufen die einem eher einen unauffälligen Auftritt oder die große Show ab?' Die Gefreite musste nicht wirklich lange überlegen um zu einer Entscheidung zu kommen. Auf einem fast leeren Notizzettel schrieb sie sich die benötigten Kleidungsstücke auf und skizzierte sogar etwas. Dabei musste sie mal wieder feststellen, dass ihre Talente eindeutig nicht im künstlerischen Bereich angesiedelt waren. Zum Glück wusste sie auch so was sie suchte, das Ganze sollte eher als Gedankenstütze und für eventuellen späteren Bedarf dienen.
'Die Frage ist jetzt: Haben wir das in unserem Fundus? Und wie verkaufe ich es Lilli, so dass sie nicht wieder ablehnt?'
Ophelia saß in ihrem Büro und blätterte in einem der Bücher über Naturgeister. Sie hatte gerade eine schön illustrierte Seite über Wassergeister betrachtet, da hörte sie ein leises Pochen an ihrem Fenster. Überrascht drehte sie sich um und stellte zu ihrer Freude fest, dass da eine Taube mit einem Briefröhrchen vor ihrer Scheibe saß. Etwas umständlich stand der Feldwebel auf und öffnete mit einer Hand das Fenster, woraufhin der Vogel sofort herein geflattert kam und sich auf die erstbeste Fläche niederließ: Ihren Schreibtisch. Dort gurrte das Tier auffordernd und schielte sie an. Ophelia lächelte. Sie kannte den Vogel mittlerweile und holte etwas Futter aus ihrem Schreibtisch.
Während Mistvieh fraß löste die Wächterin das Nachrichtenröllchen und steckte eine eigene, vorher vorbereitete Botschaft mit neuen Erkentnissen ans Bein der Taube. Dies war umständlich mit nur einem Arm zur Verfügung, aber der Vogel war beim Fressen duldsam, so dass es ihr dennoch gelang. Und Ophelia selbst war jedes Mal froh, wenn sie eine Nachricht bekam.
Vorsichtig entrollte sie den kleinen Zettel und betrachtete einen Augenblick verwirrt die Skizze auf der einen Seite. Dann drehte sie die Botschaft um und las die schön geschriebenen, leicht geschwungenen Worte.
”Hallo Ophelia, ich habe eine Frage an dich, ich hoffe das ist in Ordnung. Habt ihr in eurem Fundus, - du kennst ihn doch gut, oder nicht? – eine Bluse die so aussieht wie die Skizze? Das wäre wichtig für mich. Danke und bitte entschuldige! Schreibe bald wieder. Senray.” Einige Augenblicke betrachtete Ophelia die Worte, dann drehte sie das Blatt erneut um zu der Skizze, betrachtete diese noch länger und drehte wieder zurück. Das sollte eine Bluse sein? Nun, es gab einige Blusen im RUM-Fundus, allerdings sah keine aus wie diese. Insgesamt sah allerdings wohl kein Kleidungsstück das ihr bekannt war aus wie diese Skizze.
Ophelia seufzte leise. “Ach Senray, was soll denn das darstellen? Wenn Du mir nur sagen könntest, wofür Du sie brauchst...”
"Also, Sör, es geht um folgendes..."
"Aber Senray, du musst mich nicht Sör nennen. Jargon, einfach nur Jargon, ja?" Der Hauptgefreite sah sie sanft an und Senray wurde tatsächlich etwas rot.
"Ja, Sö- Verzeihung, Jargon."
Er seufzte. So ging das eigentlich bei jedem Zusammentreffen der beiden. Senray wirkte nur umso mehr verlegen, dann, nach einem kurzen Moment erwartungsvoller Stille erinnerte sich die junge Frau wieder, warum sie den Rechtsexperten um dieses Treffen gebeten hatte.
"Nun, also, S- Jargon, es geht darum, dass... also, ich habe einige Fragen wegen, nun, rechtlichen Dingen."
Der Wächter nickte erleichtert. Das war immerhin sein Spezialgebiet. "Um was geht es denn genau?"
"Also, es geht darum... Um das Gründen einer Organisation oder um das scheinbare Gründen einer Organisation oder, nun, wie soll ich das sagen? Um das so tun als ob man eine Organisation gegründet hätte oder als befände sie sich im Gründen. Weißt du, also, was ich meine?"
Senray sah ihn leicht zweifelnd an. Wenn sie ganz ehrlich war, wusste sie selbst nicht zu hundert Prozent was sie damit meinte und noch weniger, wie sie es besser ausdrücken konnte. Genau dieses war jedoch nötig, wenn sie Jargons Gesichtsausdruck richtig deutete. Nun seufzte sie.
"Du willst... was genau?"
"Es geht darum... es geht um eine Mission, Sör, äh, Jargon. Und dafür muss ich mich als Vertreter einer Organisation ausgeben, aber diese Organisation existiert nicht, oder noch nicht, und ich wollte wissen, nun, wie das rechtlich ist. Und was es für Folgen hat, wenn ich, sagen wir... Verträge im Namen dieser nicht existierenden Organisation aufsetzte?"
Nun wurden die Augen des Rechtsexperten groß. "Äh, Senray, lass uns mal kurz in mein Büro gehen, ich denke, das könnte doch länger dauern. Und da musst du vorsichtig sein, Verträge sind IMMER kritisch und gerade in so einem Fall... Also, nein. Ja, ich meine... komm erst einmal mit."
Senray nickte, doch überrascht über diese Reaktion, auch wenn sie damit gerechnet hatte, dass es nicht ganz so einfach werden würde. Die Dinge hatten immer einen Haken. Aber vielleicht konnte Jargon ihr helfen, den rechtlichen von Anfang an zu umgehen.
Oberfeldwebel Baum saß an ihrem Schreibtisch und studierte oberflächlich die Akten. Tatsächlich hing sie gedanklich noch einem Gespräch mit ihrem Stellvertreter hinterher, dass sie lautstark geführt hatten. Zumindest er war laut gewesen.
Manchmal fragte sich Lilli, ob Glum ihr allein aus Prinzip widersprach. Zumindest hätte es sie nicht gewundert. Seit Tagen diskutierten die beiden Leiter der DOG darüber, ob Senray bereits soweit fähig war, in einen echten Außeneinsatz zu gehen. Woran sollte man dies fest machen?
Die Geduld eines Baumes würde sie nie haben, auch nicht die Ruhe und Gelassenheit. Die Kleine war wandelbar, nicht fest. Aber immerhin war sie auch noch jung und frisch, strotzte nur so vor Energie.
Die Sache mit den Ratten war natürlich ein echtes Problem. Andererseits wusste sie von Mimosa, dass es besser wurde. Dafür sprachen auch die Ergebnisse der letzten Trainingseinheiten, bei denen Lilli selbst zugesehen hatte. Die Frage war nur, wie Senray außerhalb des Trainings auf eine Ratte reagieren würde.
Andererseits zeigte allein die Tatsache, dass Senray sich ständig diesen Treffen und damit mindestens einer Ratte aussetzte, ihre Bereitschaft und ihren Willen Husky zu werden. Das konnte man aber nur mit echter Erfahrung im Außeneinsatz, wie sich Lilli sicher war.
Wenn sie sie aber nun zu früh losschickte … Nein, das wäre nicht zu verantworten gewesen. Senray war eindeutig noch ein junger Sprössling, fast noch ein Keimling, die hatten bei den harten Witterungen draußen keine Chance. Oder doch?
Die Frage war auch: Wohin mit ihr? In welche Gilde oder Organisation konnte man die Gefreite lassen, auf dem Trainingsstand auf dem sie jetzt war? Wo konnte sie keinen Schaden anrichten und vor allem sich selbst nicht gefährden? Aber praktische Erfahrungen sammeln und am besten ihren Dschob erledigen und Informationen sammeln. Vielleicht bei den Bäckern? Oder -
Plötzlich klopfte es an, das aufgeregte Pochen schob Lillis Gedanken beiseite. Günther ließ sich eine gewisse Zeit, bevor er ihr "Herein" übermittelte, gerade so viel, dass der Wartende nicht auf die Idee kam, noch mal zu klopfen oder gar ohne Antwort einzutreten.
Langsam wurde die Tür geöffnet und Senrays Kopf schob sich vorsichtig durch den Spalt, ihrem Körper voraus.
"Mäm, ich... also, passt es gerade?"
Lilli nickte nur und bedeutete der Gefreiten mit der Hand, sich zu setzten. Diese trat daraufhin ganz ein, nickte dankend und salutierte andeutungsweise. Es war gut, dass die junge Frau sich das Salutieren so schnell wieder abgewöhnt hatte, immerhin konnte es verräterisch sein, in der falschen Situation. Andererseits hatte sie es sich nie ganz angewöhnt.
Etwas an Senrays Haltung und Mimik verriet dem Oberfeldwebel, dass es sich bei dem Kommenden nicht um eine der üblichen Fragen handeln würde. ‚Na hoffentlich hat Glum ihr keine Flausen in den Kopf gesetzt.’
Wie um ihre Befürchtung zu bestätigen sah Senray erst auf den Schreibtisch, atmete tief durch und sah sie schließlich direkt an.
"Mäm... ich, ich habe eine Idee! Nein, eigentlich, also, ich habe einen Plan. Einen Plan für meinen ersten Einsatz, Mäm!"
Lilli lies sich nichts anmerken, Horatius jedoch musste kurz grinsen, ehe er ein gelangweiltes "Und?" von sich gab und auf Lillis Anweisungen wartete. Dann übersetzte er:
„So? Na dann erzähl mir mal deinen Plan, Gefreite …“
[1] Oder ihre persönliche Dienerin, immerhin reden wir von einer Katze
[2] Zumindest in ihrer Vorstellung. Mit beidem hatte Senray bis dahin keine Erfahrungen gemacht, aber bei einem IA-Verhör dachte sie, würde sie wenigstens wissen um was es geht. Außerdem war Sebulon immer noch ein Zwerg und damit wäre das weit weniger schlimm.
Zählt als Ausbildungsmission zum/zur Husky.
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