Unidentifiziert

Bisher haben 3 bewertet.Du hast schon bewertet!

von Agent Sebulon, Sohn des Samax (IA)
Online seit 04. 09. 2013
PDF-Version

 Außerdem kommt vor: Braggasch Goldwart

Ein Gnom trifft seine Jugendfreundin wieder - und damit beginnen die Probleme.
(Die Ereignisse spielen sich vorwiegend drei Wochen nach der Geschichte 'Im Dunkeln ist gut Munkeln' ab - man braucht sie zum Verständnis jedoch nicht gelesen zu haben.)

Dafür vergebene Note: 10

Das Leben eines Einzelnen hat für einen Wächter keinen Wert. Es hat eine Würde.
Als Anthus Mathus vor Jahren in den Zellen der Stadtwache gelandet war, hatte er keiner dieser beiden Aussagen zugestimmt. Der Wert des Lebens eines Einzelnen ließ sich seiner Ansicht nach recht päzise berechnen, in Abhängigkeit von der Lebensdauer und den ökonomischen Umständen. Die Preisliste der Assassinen war ein adäquates Beispiel. Und Würde ... nun, man bewahrte sich nur einen Teil seiner durchaus zerkleinerbaren Würde, wenn man gezwungen war, in der gleichen Zelle zu essen und seine Notdurft zu verrichten, während verschiedene Zellennachbarn ihre vermeintlich geistreichen Kommentare über die jeweilige Situation zum Besten gaben.
Doch Herr Mathus und seine Mithäftlinge spielen in dieser Geschichte lediglich eine untergeordnete Rolle. Diese Geschichte handelt vor allem von Karlissa zu Hohenufflen und ihrem Jugendfreund Bruce. Ein ungleiches Paar, vom Schicksal bereits vor Jahren getrennt, doch vor einem Jahr durch einen glücklichen Zufall wieder zueinandergetrieben. Sie handelt weiterhin von einem diensteifrigen Kutscher, einem störrischen Schmied, besagtem Mathematiker, mindestens einem Ehepaar, einer Priesterin der Geschwinde und einem weiteren unglücklichen Zufall.
Alles begann an einem lauen Spätsommerabend im Jahr der Knolle ...

Beulen-Bruce rang nach Atem. War sie es wirklich? Wie lange hatten sie sich nicht gesehen ... zwanzig Jahre? Dreißig? Doch gerade war sie mit einer Freundin an ihm vorbei gelaufen. Sie hatte ihn kurz angesehen und gelächelt. Hatte sie ihn erkannt?
Sein Herz klopfte noch immer laut, während er wieder ganz seiner Sinne Herr wurde. Er steckte seinen Kopf durch die Tür der Gnomenkneipe und rief seinen Kollegen Stumpig herbei, denn dies war ein Notfall erster Klasse, fand Bruce.

Seine Lederschuhe machten leise Geräusche, als er in Windeseile durch die Gassen sauste.
Was, fragte er sich, tat eine Frau von hoher Herkunft in den Schatten Ankh-Morporks, wo man schneller sein gesamtes Erspartes loswerden konnte, als auf dem Hiergibtsalles-Platz? Er bog hoffnungsvoll in eine weitere Seitengasse. Sie konnte noch nicht weit gekommen sein. Hier war alles ...
"Na, was haben wir denn da?", fragte ein dicker Mensch mit einer großen Keule.
Dies war einer der Gelegenheiten, die Bruce daran erinnerten, dass er zu den Im-Körperwuchs-Beeinträchtigten der Stadt gehörte. Grimmig sah er zu dem Räuber und seinen vier menschlichen Kumpanen hinauf.
Er hatte keine Zeit für so etwas.
"Hey, ich will keinen Ärger ..."
"Aber wir", lachte eine Menschenfrau, die offensichtlich zum Kreis der engeren Bekannten des Keulenschwingers gehörte. Sie zog ein Messer und fuhr dann fort: "Es sei denn, du bezahlst uns für deinen Frieden anständig."
Hinter sich hörte er ebenfalls Stiefel auf dem Kpfsteinpflaster scharren. Fünf. Vier konnte ein Gnom mit Geschwindigkeit und Glück besiegen - aber fünf?
Bruce hob seine schwieligen Hände, um zu zeigen, dass er kein Geld und keine Waffe bei sich hatte, während sein Blick methodisch die ihn umgebenden Wände und Beine auf mögliche sich bietende Vorteile im bevorstehenden Handgemenge absuchte. Außerdem war es stets eine gute Idee, sich vor einem Kampf ein wenig zu dehnen.
"Warum lassen wir ihn nicht einfach gehen, Ruppert?", fragte der Mensch hinter Bruce, der entweder sehr mitfühlend oder überdurchschnittlich schwer von Begriff war.
Der Gnom sah in die Gesichter seiner Opponenten. Offener Hohn gleißte ihm entgegen. 'Weil sie Spaß hieran haben', dachte er grimmig. Doch wenn sich in diesem Anflug von der sprichwörtlichen Menschlicheit ein Schlupfloch für ihn eröffnen könnte; wenn er noch rechtzeitig weiterstreifen und sie würde suchen können ... er gab seinen Knien etwas Spiel, um auch die Beine anzuwärmen.
"Weil wir sein Geld wollen, du Depp", lachte die Frau und schüttelte ihr braues Haar zurück.
Beulen-Bruce mochte sie nicht. Sie stank nach Flieder.
Zwei Geräusche ließen ihn unwillkürlich zusammenzucken: Ein leises Pfeifen kündigte zunächst ein Wurfgeschoss an, das den Mann hinter ihm mit unangenehmer Wucht traf. Benommen torkelte der Mensch vorwärts.
Beulen-Bruce war ein Gnom für's Grobe - sein Beiname rührte von den Prellungen und Schwellungen her, die er im Laufe der Jahre vielen uneinsichtigen Gästen des Fuchsbaus beschert hatte - doch er war auch vernünftig. Er nutzte das entstehende Aufmerksamkeitsloch, um den Kreis der Räuber mit flinken Füßen hinter sich zu lassen.
Staub wirbelte auf, wo seine Schuhe den Boden berührten. Bruce beschleunigte in wenigen Sekunden auf eine Geschwindigkeit, mit der auch ein rennender Mensch nur mühsam hätte mithalten können. Hinter ihm hörte er Stimmen reden und fluchen, doch kein Kampfgemenge. Sein Verstand hatte jedoch nur halb begriffen, was vor sich gegangen war. Die andere Hälfte seines Kopfes ärgerte sich massiv darüber, sie verloren zu haben. Und man sah sich schließlich nur zweimal im Leben, hieß es.
Als der Gnom zum stehen kam, war er bereits am Rande der Schatten angelangt. Schwer atmend blickte er in den sich träge vorwärts bewegenden Pulk von Menschen und Tieren, die sich gegenseitig zum Stadttor hin schoben.
Er hatte sie verloren. Und er sah keine Chance, sie wiederzufinden.
Seine rauhen Hände suchten an der Häuserwand nach Halt. Dann straffte er seinen Rücken und sah in Richtung der Götterinsel. Zum zweiten Mal an diesem Tag war er außer Atem. Er würde Hilfe brauchen.
Entschlossen machte er sich auf den Weg.

"Karlissa!", jauchzte der junge Gnom.
Es war das Jahr der depressiven Kaulquappe und die jüngste Tochter derer zu Hohenufflen kam gerade in ihrer grünen Waldkleidung den Fluss entlanggelaufen. Begeistert winkte er seiner Freundin zu.
"Wo hast du dich denn versteckt, mein Lieblingsgnom?", lachte sie.
Eigentlich kümmerte es ihn nicht, dass sie Probleme hatte, ihn wahrzunehmen. Auch über eine mögliche gemeinsame Zukunft machte er sich keine Gedanken. Sie war seine beste Freundin und wenn sie miteinander Zeit verbrachten, dann war die Welt für ihn in Ordnung. Dann strahlte der Wald in allen Sommerfarben. Dann glitzerte der Fluss im Licht der braunen Augen Karlissas.
Er wusste nicht, dass dies die letzte Woche sein würde, in der sie beieinander sein konnten.


"Auf gar keinen Fall", sagte Abraham Klump. Seine muskulösen Arme hatte er verschränkt, seine bereits von grauen Haaren umsäumte Stirn war in Falten gelegt. Mit Missfallen betrachtete er den verschwitzen verzweifelten Gnom, der vor ihnen in der kleinen Behausung auf dem Tisch stand. "Wir leben seit drei Wochen im Untergrund dieser stinkenden Stadt. Ich habe kein Verlangen, aufzufallen und vielleicht auch noch zurück in dieses Loch von Wachekerker geworfen zu -"
Anthus hob eine Hand. Er war dünn und hatte strenge, kalte Augen. Seine Kleidung war ebenso schlicht wie die von Abraham, beide waren in Mönchskutten gehüllt. Der grobe Stoff konnte jedoch nicht verbergen, dass sie für den Notfall mit Knüppeln bewaffnet waren.
Der Atem von Beulen-Bruce pfiff dreißig Mal, vierzig Mal, bevor Anthus schlicht nickte und der Gnom merklich aufatmete. Sie würden ihm helfen. Dann war nichts mehr unmöglich. Sie waren lose befreundet gewesen, bevor die Wache Mathus und Klump erwischte. Von Zeit zu Zeit besuchte Bruce die beiden in den Abendstunden, spielte ihnen Neuigkeiten zu und besorgte ihnen Kleinigkeiten, die sich später beim Ausbruch als nützlich erweisen sollten.
Abraham sah seinen ehemaligen Zellengenossen an. "Warum? Das bringt uns beide in Gefahr, vielleicht auch unseren Gnom hier. Und falls wir sie finden sollten, dann auch seine Karlissa. Warum willst du das tun?"
Anthus Mathus legte seinen dünnen Arm um den bulligen Körper Klumps. In seiner Stimme schwang eine tiefe Traurigkeit mit, als er sagte: "Auch ich war einmal verliebt."
Der ehemalige Schmied runzelte die Stirn. "Dein Ernst?"

Eine Woche nach ihrer letzten Begegnung am Fluss saß Bruce auf einem großen Stein am Wasser und las ihren Brief immer und immer wieder. Ihre Eltern seien geadelt worden und müssten umziehen. Sie bedaure es sehr, dass ihre Mutter ihr den Kontakt zu Nichtadeligen verbiete. Sie habe ihm etwas zu Essen in der gemeinsamen Höhle hinterlassen. Sie würde ihn nie vergessen.
Eine jahrelange Freundschaft war an einem einzigen Tag zerbrochen.
Salzige Gnomentränen mischten sich mit dem Flusswasser.


Bruce sah den beiden Ex-Häftlingen dabei zu, wie sie eine an die Wand gehängte Stadtkarte Ankh-Morporks studierten. Der Raum hatte sonst auch wenig zu bieten, was man beobachten konnte: Das Fenster war verhängt, die Kerzen flackerten unstet, die morschen Türen zu Schlafraum und Küche waren geschlossen. Die Karte, der Tisch, zwei Stühle und die aus der Wohnung führende, mehrfach verstärkte Tür waren die einzig betrachtenswerten Dinge im Raum.
Hin und wieder deutete Anthus auf einen Ort auf der Karte und nickte seinem Gehilfen zu, der dann ein Fähnchen als Markierung in die Karte steckte. Der Gnom fragte sich, was das bringen sollte. Wie konnten diese kleinen Flaggen in einem halbdüsteren Raum helfen, seine Karlissa zu finden?
Nervös trabte er über die Tischplatte.
Dann ging Mathus auf ihn zu, setzte sich und begann zu schreiben.
Verwirrt kratzte sich Bruce am Kopf. Er warf Abraham einen fragenden Blick zu, den jener mit einem Schulterzucken beantwortete. Auch für ihn war wohl die Denkweise des Mathematikers nicht nachvollziehbar.

Familie zu Hohenufflen verließ damals die Mühle in einer Kutsche. Der Auszug erfolgte beinahe Hals-über-Kopf, nachdem Karl Theodor, geborener Müller, das Landgut zu Hohenufflen und den Titel als Dank für Verdienste im Krieg verliehen bekommen hatte. Seine beiden Töchter und seine Frau verbrachten den größten Teil der Fahrt schweigend. Niemand von ihnen wollte die Mühle gern verlassen, in denen bereits die Ur-Urgroßeltern ihren Lebensunterhalt mit dem Mahlen von Korn erwirtschaftet hatten - außer Karl Theodor zu Hohenufflen.
Karl Theodor war ein Mann von einfachen Prinzipien. Adel war in seiner Welt nicht nur ein Titel, sondern eine Verhaltensweise. Sein stolzgeschwellter Brustkorb hatte die komplette Fahrt lang einen größeren Umfang als seine Frau. Und erst, nachdem seine Familie am Abend die Kutsche bereits verlassen hatte, gönnte er sich ein Stöhnen über seine schmerzende Gesäßmuskulatur.
Er sorgte später dafür, dass seine Töchter Karlissa und Theodora den bestmöglichen damenhaften Unterricht erhielten, um sie später in eine angemesse Ehe geben zu können. Beide Töchter dankten es ihm mit einem großen Schokoladenkuchen, den sie ihm hinterließen, als sie vor ihrer äußerst damenhaften Zukunft in die Nacht flohen.


Der Mathematiker tippte mit seinem Stift auf die letzte Zeile der Rechnung, was Bruce aufhorchen ließ. Er hatte die letzte halbe Stunde vor sich hingedöst, Abraham Klump war sogar auf einem Stuhl eingeschlafen und schnarchte wie eine knarrende Tür.
"Hast du ...?", fragte der Gnom und rieb sich die Augen.
Geistesabwesend murmelte Anthus: "Das Geheimnis der korrekten Berechnung bewegter Dinge liegt in der Vollständigkeit der Informationsmenge."
"Aber ich habe doch bisher fast nichts über Karlissa erzählt, außer woher ich sie kenne und wo ich sie wiedergesehen habe. Wie ...?"
Die Antwort kam knapp und in einem Tonfall, der andeutete, dass damit alles erklärt wäre: "Flüssigkeitsmechanik."
Bruce wartete eine angemessene Zeit. Als keine weitere Erklärung folgte, räusperte er sich. "Was sollen wir also tun?"
"Nun, das hängt sehr davon ab, was das Fräulein antreibt und wie viel Hilfe sie hat. In neun von zehn Fällen jedoch -"
Es klopfte an der Tür.
"- sollte sie findig genug sein, dich zu finden."
Mit großen Augen sah Bruce zu, wie Mathus aufstand, zur Tür ging und zwei in schwarz gekleideten Frauen öffnete. Er starrte ungläubig in die braunen Augen seiner Karlissa, die ihn breit angrinste. Und dann beobachtete er sich selbst dabei, wie er aufsprang, vom Tisch hechtete und in ihren großen Armen landete.

Man hatte sich viel zu erzählen.
Abraham Klump stellte Tee bereit und tauschte ab und an Höflichkeiten mit Theodora zu Hohenufflen aus, die im Gegenzug seine Muskeln bewunderte und den schwer aufzufindenden Unterschlupf der beiden würdigte, was dem Schmied die Röte in die Ohren trieb.
Anthus Mathus hingegen stand an der Wand und lächelte schief. Er hatte lange nicht gelächelt. Tief in seiner Erinnerung verborgen lief er an der Seite seines eigenen Geliebten.

Die große Stadt hatte den Gnom angezogen, wie vergorener Saft die Fruchtfliegen. Er hatte geahnt, dass es ganz anders sein würde, als im Wald zu hausen - doch seine Eltern hatte er nie gekannt. Das einzige, was er wirklich zurückließ, war seine Erinnerung an Karlissa, die ihm sprechen, lachen und singen beigebracht hatte. Sie war ihm alles gewesen, nichts also hielt ihn mehr in seiner Höhle am Fluss bei der alten Mühle.
Es hatte nicht lange gedauert, bis er seine Bestimmung gefunden hatte. Die Gnomenkneipe
'Fuchsbau' suchte einen rauhbeinigen Rausschmeißer. Man ließ ihn probewerfen und war mit der Rauhheit seiner Beine zufrieden, gewährte ihm Kost und Logie. Und Bruce war's zufrieden. Sein Leben hatte wieder einen Alltag und eine Bestimmung.
Nach zwei Jahren begann man, ihn Beulen-Bruce zu nennen. Und es vergingen viele, viele zwielichtige Nächte, bis seine Karlissa überraschend erneut sein Leben kreuzte.


"... und dann warst du so schnell verschwunden, dass ich dich nicht wiedergefunden hätte. Ich habe mit der Bande einen ordentlichen Preis ausgehandelt, sie sahen wirklich hungrig aus, die Armen, und dann sind Theo und ich deiner Spur gefolgt."
"Wir haben drei Bettler ausgefragt", warf Theodora lachend ein, "und zwei davon waren absolut unverständlich! Aber sie waren alle so dankbar für etwas zu essen, dass sie uns mit Händen und Füßen an ihre Kollegin verwiesen haben, die noch alle Zähne im Mund hatte."
Bruce saß mittlerweile auf dem Tischrand und lauschte staunend der Erzählung der beiden Frauen. "Das heißt, du hast mich gerettet?"
Schelmisch grinste Karlissa. "Das kann man so sagen, mein kleiner Lieblingsgnom. Hättest du mich nicht in den Gassen abgehängt, dann hätte ich dich schon viel früher umarmen können. Denn als ich begriffen hatte, dass es dein Gesicht war, das sich hinter diesem grimmigen Rausschmeißerausdruck versteckte, war bereits ein anderer Gnom vor dem Fuchsbau und hatte keine Ahnung, wo du hingelaufen bist. Übrigens: Beulen-Bruce?" Sie lachte ein Wassertropfenlachen. "So zerschunden siehst du gar nicht aus."
Nun war es an ihm zu grinsen. "Ich habe durchaus einiges abbekommen - aber du solltest die anderen mal sehen ..."

Derweilen war Karl Theodor zu Hohenufflen mehr als aufgebracht. "Und du bist dir sicher, dass sie nach Ankh-Morpork geflohen sind?", rief er das dreißigste Mal innerhalb von zwei Tagen seinem Kutscher Fridolin zum Kutschbock hinauf, während der Wind an seinem aus dem Fenster gesteckten Kopf zerrte.
Der nickte stoisch. "Ja, Herr zu Hohenufflen." Sein Herr liebte diese Anrede. Sie strahle verdienten Edelmut aus, dozierte dieser häufig. Fridolin fand, dass es arrogant klang, doch er hütete sich, seiner Meinung Ausdruck zu verleihen. Ein wenig war er auch froh, dass sein Arbeitgeber keinen Baronentitel oder schlimmeres abbekommen hatte.
"Sobald wir in der Stadt sind", brüllte Karl Theodor gegen den Fahrtwind an, "sprichst du mit den Wächtern am Tor! Wenn es sein muss, bestich die Diebe und das Gesindel in der Stadt! Hörst du? Ohne meine Töchter habe ich keine Erben, dann wäre der Name zu Hohenufflen für immer verloren!"
'Lange hast du ihn ohnehin nicht gehabt', dachte der Kutscher. Laut antwortete er in stetem Gleichmut: "Ja, Herr zu Hohenufflen."
"Mein Gemahl", sagte seine Frau Gutemiene und legte ihm die kalten Hände auf seine geballten Fäuste, als Karl Theodor wieder mit ganzem Körper in die Kutsche zurückkehrte. Mehr sagte sie nicht. Er war ohnehin derzeit nicht zur Raison zu bringen, das wusste sie aus jahrelanger Eheerfahrung.
Flüchtig gab er ihr einen Kuss auf die Wange. Dann atmete er ein, bereitete sich auf einen Satz vor, stockte dann jedoch. Sein Hintern meldete sich mit Nachdruck. Alle intendierte Romantik wurde zugunsten der Aufrechterhaltung seines Anstands hinuntergeschluckt.
Sobald seine Töchter wieder vernünftig wären, würde er der Kutsche weichere Sitzpolster verschaffen, das schwor er sich.

"... einen ganzen Monat?", fragte Theodora ungläubig und Karlissa lachte ihr Wassertropfenlachen.
Bruce war mittlerweile wieder auf dem Tisch abgesetzt worden und erzählte mit Inbrunst gestikulierend eine namenstiftende Anekdote nach der anderen. "Ja, angeblich konnte er vor Schmerzen vier Wochen lang keine Nacht durchschlafen."
Abraham Klump lächelte still. Er hatte die Geschichte auch gehört - da waren es jedoch nur vier Tage gewesen. Doch er gönnte dem kleinen Kerl diesen Triumph.
"Du hast dir deinen Namen mehr als verdient, Beulen-Bruce", kicherte Karlissa. Dann wurde sie still. Schließlich sagte sie: "Ich finde es schön, dass wir uns noch einmal getroffen haben, mein Lieblingsgnom. Ich hätte es nicht zu hoffen gewagt. Allerdings werden Theo und ich fliehen müssen."
"Fliehen?" Für Bruce fiel eine noch eben strahlende Welt in viel Geröll auseinander. "Warum? Wovor? Wann? Wohin? Wie?"
Zärtlich streichelte Karlissa dem Gnom mit ihrem Zeigefinger den Kopf. "Unser Vater möchte uns verheiraten, an adelige Schnösel. Er will Enkel, in denen möglichst blaues Blut fließt. Cyan-Blut, wenn es nach ihm geht. Also sind wir geflohen."
"Das ist interessant", ließ Anthus sich vernehmen und griff nach einem neuen Blatt Papier.
"Nicht wundern", meinte Abraham, "er macht das häufiger."
Bruce starrte fassungslos auf seine wiedergefundene Jugendfreundin. "Verheiraten?"
Theodoras Augen funkelten trotzig. "Das werden wir zu verhindern wissen. Und wenn dafür jemand verletzt werden muss." Für einen kurzen Moment lugte ein Dolch unter ihrem Umhang hervor.
Nun war es an dem Gnom, zutiefst beeindruckt zu sein.

Klump wechselte die Kerzen, Mathus schrieb mittlerweile auf dem Boden sitzend. Den beiden Frauen waren die Stühle überlassen worden. Sie hielten schon seit Stunden mit dem Gnom Kriegsrat.
"Ich hätt noch eine Idee", sagte Theodora.
Karlissa seufzte. "Noch eine? Hoffentlich ist sie besser als die, in der wir Schauspieler anheuern, die statt unserer heiraten, während wir das Land verlassen."
"Nun, besser ist Ansichtssache. Was hältst du davon, wenn wir sagen, dass wir bereits verlobt sind und daher nicht heiraten können?"
Der Gnom schüttelte den Kopf. "Und wer sollte das glauben, ohne Ringe und ohne eure Verlobten?"
Theodora grinste über beide Ohren. "Herr Klump? Du bist doch Schmied, nicht wahr?"
Verwundert sah Abraham auf. "Ja, weshalb?"
"Dann kannst du auch Ringe schmieden, nicht wahr?"
"Nun, prinzipiell schon. An eine Schmiede könnte man schon herankommen und das Material ließe sich beschaffen. Ich wüsste zwar nicht, wozu ..."
"Würdest du auch, sagen wir, einen Ring in Gnomengröße schmieden können?"
Eine unangezündete Kerze fiel zu Boden.
Karlissa und Bruce wechselten intensive Blicke. Und bekamen einen Wimpernschlag später hochrote Köpfe.

"Herr zu Hohenufflen", begann der Kutscher, doch er wurde unterbrochen.
"Du bringst Neuigkeiten?"
Als wenn er ohne Neuigkeiten zurückkehren würde! Fridolin verkniff sich ein verächtliches Schnauben. "Ja, Herr zu Hohenufflen. Die beiden Fräuleins sind scheinbar in der Stadt eingetroffen. Ich habe zwei patrouillierende Zwergenwächter befragt; der weniger Unnütze von beiden konnte mir den Weg weisen, den sie gegangen sind." Sein Gesicht verzog er trotzdem, als er sich daran erinnerte, wie der bärtige Zwerg orientierungslos vor sich hin gestarrt hat, während der blonde Zwerg seine Sätze mit so vielen 'äh's anfüllte, dass es eine gefühlte Ewigkeit brauchte, um eine klare Antwort und eine verwendbare Richtungsangabe zu bekommen.
"Und das hat so lange gedauert, Mann?", raunzte Karl Theodor.
Fridolin gestattete sich ein Seufzen, bevor er seelenruhig erklärte: "Nein, Herr zu Hohenufflen, so lange gedauert hat es nicht, die beiden Wächter zu befragen. Tatsächlich hat mich das keine zehn Minuten gekostet, da eure Töchter ja zu Fuß, in schwarzer Kleidung und mit leichtem Gepäck unterwegs sind, Herr zu Hohenufflen - und das sind in dieser Stadt beinahe nur Assassinen, was wiederum nur Männer sind. Aufwändiger war es, die Obdachlosen und Händler zu befragen, was mich, nebenbei gesagt, einen halben Monatslohn gekostet hat, Herr zu Hohenufflen." Das Zwischenspiel mit einer kleinen Räuberbande, die beide Frauen gesehen hatten und aus Dankbarkeit ihnen gegenüber dem Kutscher freies Geleit gewährten, verschwieg er, da er die Laune seines Herren nicht auf die Probe stellen wollte.
"Und weißt du nun, wo sie sich aufhalten?"
"Ja, Herr zu Hohenufflen. Sobald die Kutsche zur Anfahrt bereit ist, kann ich vorfahren."
"Worauf wartest du dann noch!", brüllte Karl Theodor ungehalten.
Seine Frau, die in der Kutsche saß und alles gehört hatte, begann sich zum ersten Mal in ihrer Ehe zu fragen, ob ihr Mann nicht eine Spur zu herrisch geworden war, seit er Amt und Würden verliehen bekommen hatte. Als er wieder einstieg, grüßte sie ihn sanft mit den Worten "Mein Gemahl".

Abraham Klump versuchte seine Gedanken in geordnete Bahnen zu bekommen. Vor zehn Minuten hatte er noch nichtsahnend Kerzen angezündet, nun lief er durch die ins Abendlicht getauchte Stadt. Überdies hatte Theodora so lange auf ihn eingeredet, bis er sie als Versprochene annahm. Sie hatte ihm wiederum großherzig zugesichert, die Verlobung zu lösen, falls er eine andere Herzensdame finden sollte. Vorausgesetzt, die zu Hohenufflens hätten bis dahin die Stadt bereits verlassen.
Ausführlich hatte er Bruce davon abgeraten, doch dieser hatte kaum Aufmerksamkeit für die Realität übrig gehabt. Er lag selig in den Armen seiner menschlichen Jugendfreundin - nun war sie auch seine Verlobte.
Der Gedanke war verstörend, in vielerlei Hinsicht.
Von dem Mathematiker war auch keine Hilfe zu erwarten gewesen. So glücklich der Eine im Arm seiner Jugendliebe, so der Andere in den Gefilden seines Denkens.
Klump schüttelte seinen Kopf. Er musste jetzt Ringe beschaffen, im Idealfall selbst schmieden. Und er hoffte inständig, dass er den betrogenen Vater seiner nunmehr Holden niemals würde kennenlernen müssen.

Fünf Stunden später kehrte Klump vom Tag aufgeregt zur Unterkunft zurück. Abraham versuchte sich zu entspannen, so gut es ging. Er betrachtete das Haus, auf das sie zusteuerten. Es war wirklich eine schäbige Barracke, in der Mathus und er untergekommen waren. Nur eine Wohnung von vielen in einem mittelgroßen Haus, noch aus der Zeit als enthusiastisch mit Holz gebaut wurde. Der Hausbesitzer war bereits vor drei Jahren verschollen, doch die Mietparteien hatten sich geeinigt, das Haus weiterhin zu nutzen und leer stehende Wohnungen Bedürftigen zur Verfügung zu stellen. So auch die Zimmer, die sie bezogen hatten, und deren abgedunkelte Fenster das in ihnen flackernde Kerzenlicht kaum nach außen dringen ließ, wo neugierige Blicke vielleicht noch immer nach den ausgebrochenen Häftlingen suchten.
Nun waren sie vier Flüchtige, stellte Klump fest. Der Gnom ging als einziger einem legalen Beruf in der Stadt nach und hatte eine offizielle Bleibe.
Mürrisch betrat er das Haus. Er drehte sich im Gang nach rechts und gab das verabredete Klopfzeichen an der Tür. Kurz darauf wurde aufgeschlossen und Abraham betrat mit Schwung den Raum, während er sagte: "War nicht leicht aber -"
Hinter ihm schloss sich die Tür wieder und kalter Stahl schmiegte sich an seinen Hals. Die Stimme des ihm unbekannten Fridolins hauchte ihm ins Ohr: "Es tut mir schrecklich leid, dir solche Unannehmlichkeiten bereiten zu müssen, Herr - Klump nehme ich an. Es würde mir jedoch noch deutlich mehr leid tun, wenn ich dir Schmerzen zufügen müsste, weil du meinem Herren Schwierigkeiten bereitest. Der nur mit euch reden will, wie ich hinzufügen möchte. Wenn diese Angelegenheit ausgeräumt ist, können wir alle nach Hause gehen. Also lass bitte alle Waffen auf den Boden fallen, die du bei dir tragen solltest und setz dich dann zu deinen Freunden dort in die Ecke."
Zu ihm blickten die Augen der Hohenufflen-Schwestern und des Gnoms, die gefesselt auf dem Boden saßen. Anthus Mathus waren ebenfalls sprichwörtlich die Hände gebunden, zusätzlich hatte man ihn jedoch geknebelt. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er seinen Intellekt zu nutzen versucht, als sie bereits gefesselt waren.
Weiterhin starrte ihn auch noch ein etwas dicklicher und äußerst angespannt anmutender Mann an, der am Arm einen improvisierten Verband trug. Neben ihm stand leicht geduckt eine Frau in einem beeindruckenden Brokatkleid, deren Gesicht eine gewisse Ähnlichkeit mit seiner jüngst Verlobten und ihrer Schwester aufwies.
Dies alles nahm er eher beiläufig zur Kenntnis. Seine Aufmerksamkeit galt vor allem dem kalten Stahl auf seinem Hals und dem Mann, der jene Waffe hielt.
Abraham hatte einen dieser besonderen Momente, in denen man genau wusste, dass man angesichts der drohenden Konsequenzen nichts Falsches tun sollte - und in denen einem nichts anderes übrig blieb, als etwas Riskantes zu wagen, weil das aufwallende Adrenalin im eigenen Körper keine schlauen Alternativen kennt. Er holte tief Luft und sagte: "Wie bitte?"
Als der Kutscher die Augen verdrehte und erneut zu sprechen ansetzte, landete bereits der muskulöse Arm des Schmiedes mit dem Ellenbogen voran in Fridolins Magengrube. Fausthiebe hagelte auf ihn nieder, die jede Erklärung im Keim erstickten und ihn keuchend am Boden zurückließen.
Abraham richtete sich erneut auf und sah dem augenscheinlichen Auftraggeber in die Augen, der gerade erst im Begriff war zu verstehen, dass sich das Machtverhältnis im Raum in kürzester Zeit massiv gewandelt hatte. "Du lässt jetzt meine Freunde frei, sonst setzt's was", knurrte der Schmied. Der tiefe Klang seiner Stimme ließ die Dielenbretter sanft vibrieren. "Und meine Verlobte", fügte er leise an.
"Ich soll diese Geiselnehmer ... deine - WAS?", kreischte Karl Theodor zu Hohenufflen. "Meine Töchter sind nicht verlobt, du Grobian! Davon wüsste ich! Sie sind noch niemandem in die Ehe gegeben, sie tragen keine Ringe, ..."
"Die Ringe sind hier", stellte Abraham fest und zog eine kleine, metallen klimpernde Papiertüte aus der Tasche. "Wenn ich richtig gemessen habe, passen sie auch." Zu Bruce gewandt fügte er hinzu: "Die Gnomengröße war zwar kompliziert, aber ich denke, es ist mir ganz gut gelungen ..." Als er sah, wie angestrengt der Blick des Gnoms wirkte, wandte er sich wieder dem Neuadeligen zu, der bereits einen neuen Wutausbruch durchlebte.
"WAAAAS?!", fauchte Karl Theodor und begann weit zu gestikulieren, "Gnomengröße? Das ist unmöglich! Dieser ... Kobold wird niemals eine meiner Töchter heiraten! Meine Enkel sollen die adelige Herkunft erben, sie werden blaues Blut haben, tiefblaues - aber kein koboldblaues Blut!" Wut und Verzweiflung brachen sich Bahn, als der ehemalige Müller auf Abraham zuschritt. "Das ist eine große Scharade! Ich schwöre, sie endet hier und jetzt! Niemals wird meine Tochter ..."
Abraham duckte sich leicht. Ein Kampf würde unvermeidlich sein. Und wenn er Bruce richtig einschätzte, war er gerade dabei, seine eigenen Fesseln zu lösen - ein Gnom mit vielen Talenten. "Beide Töchter", sagte er so ruhig wie möglich. "Theodora ist mir versprochen und ungeachtet dessen, was man sich über mich erzählt, bin ich doch ein ehrbarer Mann, der seine Versprechen zu halten gedenkt."
Dankbar lächelte ihm die jüngere der Schwestern zu.
Der Schmied erwartete einen weiteren Wutausbruch auf Seiten seines zukünftigen Schwiegervaters, doch dessen Frau legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: "Lass gut sein, mein Gemahl" - und zum allgemeinen Erstaunen beruhigte er sich tatsächlich.
"Du bist mit einer meiner Töchter verlobt?", fragte Karl Theodor, "Und dieser Gnom ebenfalls?"
"Er heißt Bruce, Vati", sagte Karlissa. "Seine Kollegen nennen ihn Beulen-Bruce. Er arbeitet im Fuchsbau. Wir kennen uns schon seit der Kinderzeit."
Einander widersprechende Gefühle kämpften in dem Vater. Seine Fäuste ballten und lösten sich wieder und wieder. Schließlich riss er sich zusammen und straffte seinen Körper. "Nun denn, mir scheint, ich habe überreagiert." Das Stöhnen des Kutschers ignorierte er. "Karlissa, liebst du den Gnom?"
"Bruce", stellte sie fest. "Und ja, ich liebe ihn weitaus mehr als alle Männer, die du mir im vergangenen Jahr vorgestellt hast."
"Und du, ... Bruce?", fragte Herr zu Hohenufflen, doch der Nachsatz, "Liebst du sie?", ging ins Leere. Der vormals geknebelte Gnom saß nicht mehr auf dem Boden. "Was zur ...?"
"Ich habe sie stets geliebt", raunte ihm Bruce ins linke Ohr. "Mehr als alles auf der Welt." Kurz darauf war der Gnom bereits zum anderen Ohr geklettert. "Wer seine Töchter fesselt, bevor er fragt, wie es ihnen geht, scheint mir ein zweifelhafter Vater zu sein."
Gutemiene sah besorgt drein. "Mein Gemahl? Fehlt dir etwas? Du bist so bleich."
"Ich will dich nicht bedrohen", flüsterte es von irgendwo hinter Karl Theodors Kopf weiter. "Gibst du mir dein Wort, dass uns nichts geschieht?" Stumm nickte Karl Theodor. "Dann schlage ich vor, du befreist jetzt deine Töchter und dann reden wir zivilisiert miteinander." Niemand außer ihm hatte diese Worte gehört.
Auch nicht der Kutscher Fridolin, der nun "Ha, ich sehe ihn" brüllte, an dem verdutzten Schmied vorbeisprang und seinen Herren am Nacken griff. Der Gnom war schneller, wechselte auf den Arm des Kutschers und kletterte behände bis zu dessen Hals.
"Halt!", rief Herr zu Hohenufflen, doch er wurde vom Schrei seiner Frau übertönt, denn Gnom und Kutscher hatten im ungleichen miteinander ringen zwei Kerzen erwischt. Unter einer hatte Papier Feuer gefasst. In wenigen Sekunden stand der morsche alte hölzerne Raum in Flammen. "Theodora! Karlissa!"
"Anthus!", brüllte Abraham Klump und hechtete zu seinem Freund, der noch immer geknebelt war und einen vorwurfsvollen Gesichtsausdruck zeigte. Ohne lange zu fragen, warf er sich den Mathematiker über die Schulter und stürmte zur Ausgangstür.
Währenddessen hatte der überaus diensteifrige Fridolin seinen Bruce-Schlage-Verrenk-Tanz noch nicht beendet. Erst jetzt wurde er gewahr, dass man die Luft der Rauchschwaden wegen schwerer atmen konnte. Seinen Moment der Verwunderung und des Keuchens nutzte der Gnom, um dem Kutscher mit Elan ins Ohr zu beißen. Über diesen Schrei verpasste Fridolin ein zweites Mal die deutliche Bitte des Herren zu Hohenufflen um Unterlassung des in Anbetracht der Situation unsinnig scheinenden Kampfes.
Das Ehepaar zu Hohenufflen, deutlich dessen gewahr, dass sie ihre Töchter nicht ohne weiteres dem Schmied gleich würden heben können, begannen deren Stricke zu lösen.
In diesem Moment - die beiden Flüchtlinge waren gerade einen Schritt aus dem brennenden Raum geflohen, die Eltern und Töchter in wiedergefundener Fürsorge mit der höchstnötigen Befreiung beschäftigt, Gnom und Kutscher durch ein Katz-und-Maus-Spiel okkupiert - in diesem Moment also begannen die Balken des Hauses nachzugeben.

Eine Etage höher wohnte ein Herr Unterberg mit seinen drei Freunden, die erstaunlicherweise ebenfalls den selben Nachnamen trugen. Sie spielten gerade auf einem der vielen im Raum gelagerten Fässer Leg-Herrn-Zwiebel-Rein, als einer von ihnen meinte: "Jungs, hier riecht es komisch."
Ein anderer Herr Unterberg erwiderte: "Wer es hat zuerst gerochen, dem ist es aus dem ..."
Ein dritter schnupperte und diagnostizierte: "Irgendwie wie Brikett."
Dann erspähte der erste den aufsteigenden Qualm aus einem Loch im Boden zwischen den vielen Fässern.
"Scheiße", sagte der dritte.
"Feuer!", brüllte der vierte und stürzte zur Tür.
Der offizielle Papierkram für die Fässer mochte in mehrfacher Kopie vollständig vorhanden sein. Das änderte nichts daran, dass der Inhalt illegal, geschmuggelt und vor allem hochexplosiv war.

Ein brennender Balken landete vor der offenen Tür und veranlasste die beiden Kämpfenden, ihren Zwist sein zu lassen.
"Was tun wir jetzt?", fragte Gutemiene, ein Taschentuch vor dem Mund haltend.
"Das Fenster!", rief Theodora.
"Feuer!", hallte es durch das Treppenhaus. Viele Füße pochten durch den Gang.
Dumpfes Pochen zeugte davon, dass jemand versuchte, das brennende Hindernis vor der Tür von außen einzutreten.

Die Explosion erhellte die Nacht für einen kurzen Moment. Dann begannen die Sirenen der Unfreiwilligen Feuerwehr zu sirren.


Am Tag nach der Explosion stand ein anderer Gnom in einem unangenehm düsteren Raum im Inneren des Fuchsbaus. Er war vor seinen Arbeitgeber zitiert worden, um Bericht über seinen Mitarbeiter zu erstatten.
"Boss", sagte Stumpig, "er ist nicht zurückgekehrt. Ich vermute, ihn hat's in den Schatten erwischt." Seine Beine zitterten. Man erzählte sich vieles über den Boss und kaum eine der Geschichten war für zartbesaitete Seelen geeignet. Jeder der Mitarbeiter konnte eine Narbe vorweisen, die von einer Maßregelung zeugte. Es hieß, man sollte nicht mit dem Boss sprechen, wenn man anschließend vorhatte, weiterhin ein Instrument spielen zu können - und Stumpig war mittlerweile recht gut auf der Piccoloflöte geworden. Er hatte ein Interesse daran, seine Hände noch eine Weile auch feinmotorisch zur Verfügung zu haben. Nervös schluckte. "Sei - sei bitte nicht böse, Boss. Ich kann wirklich nichts dafür, Boss."
"Tja, da kann man nichts machen", brummte Krimpik Knurblich, Besitzer des Fuchsbaus. "Wir werden einen Ersatz finden müssen. Lass mich wissen, falls du einen Vorschlag hast."
Dem Rausschmeißer lief der Schweiß über die Stirn. Es war noch nicht vorbei. "Und ... sollen wir den Bullen Bescheid geben, Boss?"
Krimpik lachte. "Wer, meinst du, sind wir? Die Wohlfahrt? Wenn die Autoritäten nicht schnallen, dass ein Bürger weniger auf den Straßen der Stadt unterwegs ist, dann sind sie selbst schuld." Dann wurde er wieder ernst und sein Blick fokussierte Stumpig. "Sollte Beulen-Bruce jedoch seine pockengesichtige Gnomenvisage noch einmal zeigen, bring ihn sofort zu mir. Lebendig oder tot. Ist das klar?"
"Klar wie Ankhschlamm, Boss!"

Ein ungleiches Paar Männer durchquerte unbemerkt das Stadttor, vorbei an zwei miteinander im Gespräch versunkenen Zwergenrekruten der Stadtwache, die sich darüber unterhielten, wie ihr Auftrag bei dieser Torwache konkret zu verstehen und zu erfüllen sei.
Viele kürzlich zugezogene Blessuren ließen die rauchgeschwärzten Körper der beiden sich so vorwärts Schleppenden übel zugerichtet erscheinen. Sie führten gemurmelte Selbstgespräche.
"Wir konnten nichts machen", meinte der eine. Seine Stimme klang traurig.
Er wurde von dem anderen gestützt, der sagte: "Ich wünschte, wir hätten es verhindern können."
"Immerhin leben wir. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Ich habe nachgerechnet."
"Ich wünschte, wir hätten es verhindern können ..."

Olga Maria Inös beugte sich über die verkohlten Überreste von sechs Leichen und machte Ikonographien. "Das sieht ziemlich übel aus", kommentierte sie.
Inspäctor Kolumbini nickte düster. "Die meisten haben es größtenteils unversehrt aus dem Haus geschafft, diese hier hatten nicht so viel Glück. Zu schade, dass das Haus so lange gebrannt hat, bevor die Unfreiwillige Feuerwehr den Brand unter Kontrolle bringen konnte. Das einzige, was wir vielleicht mit der Hoffnung auf Ergebnisse ins Labor geben können, sind die Gebisse - aber ob das ausreicht, um die Opfer zu identifizieren, wage ich zu bezweifeln."
Olga richtete sich auf und blickte ein letztes Mal über das Bild der Verwüstung. "Ich werde dem Pseudopolisplatz Bescheid geben, dass sie hier nicht viel finden werden. Erstaunlich, dass nach der Explosion so viel übrig geblieben ist."
"Tja, man wird wohl auf Vermisstenmeldungen warten müssen." Kolumbini starrte auf die Leichen, während Olga die Reste des ausgebrannten Hauses verließ. Dann kniete er sich hin und senkte seine Stimme. "Ich werde alles versuchen, um herauszufinden, wer ihr wart", flüsterte er den Leichen zu. "Ein Name ist das Mindeste, was man im Tod haben sollte. Ihr werdet in Würde bestattet, dafür sorge ich."



Für die Inhalte dieses Textes ist/sind alleine der/die Autor/en verantwortlich. Webmaster und Co-Webmaster behalten sich das Recht vor, inhaltlich fragwürdige Texte ersatzlos von der Homepage zu entfernen.

Feedback:

Von Braggasch Goldwart

13.9.2013

Ein schöner Blick auf die Alltäglichkeiten rund um die Wache. Auch wenn mir das Ende unangebracht brutal vorkam, ist es wahrscheinlich das, was man so gerne vergisst: Nicht nur 6 Leichen liegen zum Ende da, sondern Wesen, die einen Charakter, Gefühle und eine Vergangenheit haben. Und manchmal is da auch einfach gar kein Verbrechen. ^^

Von Ophelia Ziegenberger

20.9.2013

Der Ansatz der Geschichte, die Vorgeschichte zu einem Tatort zu schildern und dann an genau dem Moment auszublenden, wenn die Wache ins Spiel kommt, gefiel mir gut. Ebenso wie die eingestreuten Andeutungen, entfernt beteiligter Kollegen. Insgesamt konnte mich die Geschichte allerdings nicht so richtig packen. Ich weiß nicht genau, woran es gelegen haben mag aber ich habe sie wirklich sechs oder sieben Mal neu beginnen müssen, was mir sonst eigentlich nicht so geht. Witzig fand ich den running gag mit der... einsilbigen Ehefrau. Hätte nicht gedacht, dass so wenig Aussage so gut charakterisieren kann. ^^

Von Valdimier van Varwald

01.10.2013

An deinem Schreibstil gibt es wie immer nichts auszusetzen. Die Geschichte ist ansich nicht schlecht, die Entwicklung war sehr gut und auch die Charaktere waren sehr glaubhaft und unterhaltsam, doch für meinen Geschmack hat es der Story etwas an Pepp gefehlt. Außerdem fand ich hier die Rückblenden eher hinderlich, als fördernd.

Von Sebulon, Sohn des Samax

07.10.2013 09:43

Ich danke euch für die Rückmeldungen! :)

Die Stadtwache von Ankh-Morpork ist eine nicht-kommerzielle Fan-Aktivität. Technische Realisierung: Stadtwache.net 1999-2024 Impressum | Nutzungsbedingugnen | Datenschutzerklärung