Es war kalt. Damian wurde nur selten kalt, denn er stammte aus Ecalpon
[1], aber hier wäre jedem kalt geworden.
Der Schnee fiel ununterbrochen und verwandelte alles in mehr als fünf Metern Entfernung in ein undurchsichtiges weißes Nichts. Der kalte Wind blies die Schneeflocken so gnadenlos wie ein Serienmörder in Damians Gesicht, sodass sie sich anfühlten wie Rasierklingen.
Und als ob das noch nicht Tortur genug wäre, hatte es auch der Boden auf Damian abgesehen. Er offenbarte unter seiner etwa einen Meter hohen Schneedecke immer wieder kleine oder auch größere Felsen, die Damian in regelmäßigen Abständen zu Fall brachten. Wenn es nicht so kalt wäre, wäre er von Kopf bis Fuß durchnässt. Aber der Schnee machte keine Anstalten zu schmelzen.
Vielleicht zwanzig Tage war Damian jetzt, ohne einen Sonnenstrahl zu sehen, unterwegs. Dass es Sommer war, hatte er schon vergessen. Es war schon schwierig genug, in diesem endlosen Weiß die Tage zu zählen.
Und als wären Kälte und nicht vorhandene Aussicht nicht schon genug, gingen ihm langsam auch noch die Vorräte aus. Er hatte seit zwei Tagen nichts mehr gegessen. Nach dem ersten Tag war das nicht so schlimm gewesen, denn irgendwann hörte das Magenknurren einfach auf. Aber am zweiten Tag kam es wieder und brachte seinen großen Bruder - Magenkrämpfe - zur Unterstützung mit.
Mit dem Schlaf war das ähnlich. Irgendwann vergaß man, dass man müde war, und man war erfüllt mit neuer Energie. Aber diese Energie forderte ihren Tribut einige Zeit später, wenn man so müde wurde, dass man im Stehen einschlafen könnte. Damian war das noch nicht passiert, denn im Schnee einzuschlafen wäre der sichere Kältetod. Er hatte sich immer noch zum Entzünden eines Feuers in eine Höhle verkriechen können.
Das war's immer noch nicht. Zu diesen physikalischen Problemen kamen noch längerfristige. Damian war ein junger Mann von 17 Jahren. Er konnte diesen körperlichen Belastungen schlussendlich doch trotzen. Aber gegen die Tatsache, dass er nicht wusste, wo er war, konnte er nichts unternehmen. Die genaueste Angabe, die er machen konnte, war, dass er sich in irgendeinem Tal im Mittgebirge befand. Er war sich nicht mal sicher, ob er nicht die ganze Zeit im Kreis lief.
Seine letzte Hoffnung war, eines jener Klöster zu finden, von denen es hier im Erleuchtungsland nur so wimmeln sollte. Das war das einzige - dieser kleine Hoffnungsschimmer - der ihn noch weiterziehen ließ.
Insgesamt sah es also ziemlich schlecht aus
[2].
Damian stieß sich den Kopf. Er war in eine Felswand gelaufen, die genauso weiß war wie der Rest der Umgebung. Das gab ihm Zuversicht, denn diese Felswand bedeutete zumindest, dass er nicht im Kreis lief. Eine Felswand hatte ihm schon länger nicht mehr im Weg gestanden.
Er tastete die Wand ab. Mit seinen Armen konnte er nicht bis ans obere Ende der Felswand reichen, aber er fand Vorsprünge, die zum Klettern zu gebrauchen waren.
Er setzte einen Fuß an die Wand. Es ging alles gut. Er hatte Halt. Er stemmte sich hoch und bekam weiteren Halt für seine Hände. Langsam zog sich Damian die Felswand hinauf.
Nach etwa fünf Metern spürte er an seinen Fingern eine Felskante. Sie war noch zu weit weg, um sich an ihr hochzuziehen, aber die Tatsache, dass er sie mit voll ausgestrecktem Arm schon erreichen konnte, erweckte Zuversicht in ihm.
Damian löste seinen rechten Fuß von dem Vorsprung, auf dem er stand und hob ihn zum nächsten. Gleichzeitig suchte er mit der Hand, mit der er das Ende der Kletterpartie erfühlt hatte, nach einem Halt. Das war natürlich ein Fehler.
Damians rechter Fuß fand eine Stelle, um sich niederzulassen. Der Vorsprung fühlte sich allerdings verdächtig eben an. Verzweifelt schnappte Damian mit seiner linken Hand nach einem Halt, als sich sein Fuß verabschiedete und mit einigem Schwung sein Bein und seine Hüfte hinter sich her zog. Es bot sich kein Halt, und so folgte die Hand und schließlich auch der Rest von Damian diesen Körperteilen Richtung Boden.
Die Welt wurde leicht. In einem kurzen Moment war alles weg, nur weißer Schneenebel, kein oben oder unten, Schwerelosigkeit.
Aber dann erreichte er den Boden und mit einem dumpfen
Pfmp! landete er auf seinem Rucksack im Schnee.
Dann sah Damian einen kleinen Gegenstand. Er sah aus wie ein Goldbarren, mit zwei kleinen Unterschieden. Erstens war er eher messingfarben als golden. Und zweitens fielen Goldbarren normalerweise nicht vom Himmel direkt auf Damians Gesicht zu.
Er versuchte zu reagieren, sich wegzudrehen. Doch die Erschöpfung des Kletterns und der Schmerz in seinem Rücken, verursacht durch die Kartoffeln, die ihm ins Rückgrat drückten, ließen ihn unbeweglich werden.
Und das Messinggewicht landete auf Damians Stirn.
Bevor es dunkel wurde, sah Damian ein sehr bekanntes Gesicht. "Hanna", murmelte er.
Dann verlor er das Bewusstsein.
-Jeder Weg stellt einem nur eine Frage: "Wo bin ich eigentlich?"-Bruder Jonathan beobachtete Damian. Der balancierte gerade über die Seile, die hier im Garten gespannt waren. Jonathan saß auf einer Bank.
Vor fast zwei Jahren hatte er den jungen Mann in den Bergen gefunden. Damian war damals auf einem Messinggewicht ausgerutscht, dass Bruder Jonathan dort platziert hatte. Der Balancierende Mönch hatte die Verschiebung des Gleichgewichts gespürt und war losgeeilt, um das kleine Gewicht wieder an die richtige Stelle zu bringen. Dabei hatte er Damian gefunden und ihn ins Kloster gebracht.
Igor, einer von Jonathans Mitbrüdern, hatte ihn medizinisch versorgt, und so überlebte der junge Mann nicht nur den Sturz, sondern auch die Kälte, der er ausgesetzt war.
Ein halbes Jahr war Damian nicht zu sich gekommen. Bruder Jonathan hatte immer wieder Zweifel, ob er überhaupt noch wieder aufwachen würde, aber Igor garantierte ihm, dass es nur noch eine Frage der Zeit war. Igors waren von Natur aus gut darin, festzustellen, ob ein Mensch tatsächlich tot war. Dann war Damian aufgewacht und wollte sofort wieder los. Aber zum Glück hinderte er sich selbst daran, weil seine Muskeln schlicht aus der Übung waren und nicht reagierten. Und so blieb Damian im Kloster der Balancierenden Mönche.
Das Kloster, das offiziell Juushin hieß - das bedeutet Schwerpunkt - befand sich ziemlich hoch in den Bergen. Nur wenige junge Leute fanden den Weg zum Kloster, das von einer kilometertiefen Felsspalte umgeben war. Es war nur über Seile zu erreichen. Die Absicht dahinter war, dass nur junge Leute mit Balancierfähigkeiten das Kloster erreichen könnten, aber neuerdings machten sich die Novizen die Mühe nicht mehr, nachdem sie Schnee, Kälte und Yetis bereits überwunden hatten. Sie hangelten sich dann einfach hinüber, und die Statuten sahen vor, dass auch sie in die Gemeinschaft aufgenommen wurden. Und so musste der alte Bruder Matthias, der schon seit mehr als 70 Jahren die Novizen unterwies, sein Ausbildungsprogramm stark zurückschrauben, was ihm doch erstaunlich schwer fiel. Das erlaubte Damian allerdings, auch mit seinen temporären Einschränkungen, am sehr disziplinierten Training teilzunehmen. Diees Training beinhaltete jeden Morgen und Nachmittag vor Bruder Matthias zu meditieren, Dinge auf Finger oder selber auf Seilen balancieren zu müssen, oder - für die Fortgeschrittenen - auch andere Tätigkeiten von einem Seil aus durchzuführen.
Damian war jetzt ein Jahr hier und nahm die Seile im Garten wie andere die wunderschön gepflasterten Pfade. Er schien sich wirklich auf den Seilen wohler zu fühlen als auf dem Boden. Nachdem er einen Monat von Igor in einem Rollstuhl durch die Gegend geschoben worden war, fing er bereits an, auf Krücken zu laufen. Und nach einem weiteren Monat konnte er schon wieder ganz normal laufen und noch besser balancieren. Er hatte das Laufen auf Seilen neu gelernt. Überhaupt war er der beste Schüler, den Jonathan je gesehen hatte. Er nahm jeden Tag an Matthias' Unterricht teil, meditierte zwischendurch mehr als jeder andere Mönch, und fand trotzdem noch Zeit, Igor beim Anrühren von Medizin und Verarzten von Balancierverletzungen zu helfen. Er schien weniger zu schlafen als jeder andere Bewohner des Klosters.
Wenn Balancierende Mönche vom Gleichgewicht sprachen, meinten sie meistens das der Scheibe. Denn selbst der Schöpfer hatte einst Fehler gemacht. Die Balancierenden Mönche hatten sich dem Ausgleich dieser Fehler angenommen, und um die Scheibe daran zu hindern, vom Rücken der großen Schildkröte zu rutschen, verteilten sie überall in der Welt Messinggewichte mit einem Höchstgewicht von sechseinhalb Kilo. Mehr konnte man auch nicht einen ganzen Berg hinauftragen.
Es gab aber noch mehr Gleichgewichte in der Welt, so sagten die Mönche, zum Beispiel das von Gut und Böse. Oder Frohsinn und Trauer. Und dieses Gleichgewicht hatte Damian anscheinend schon vor seiner Ankunft in Juushin gemeistert. Stimmungsschwankungen waren für ihn ein Fremdwort. Er war die Neutralität in Person. Nie schien er fröhlich oder traurig zu sein. Unter normalen Umständen wäre das für einen jungen Mann wie ihn wohl als besorgniserregend eingestuft worden. Aber umso mehr war es wünschenswert bei einem Balancierenden Mönch.
Nur ein einziges Mal hatten sich ganz offensichtlich Gefühle aus Damian nach draußen gewagt. Das war ein paar Monate nach seiner Ankunft im Kloster und dem Beginn seines Gleichgewichtstrainings gewesen. Das Training hatte einen Zweck: Dass sich die angehenden Mönche ihres Gleichgewichtssinnes bewusst wurden. Jeder Mensch hatte diesen Sinn, denn selbst wenn man mit verbundenen Augen über dem Boden hing
[3],weiß man noch, wo sich Oben und Unten befanden. Die Balancierenden Novizen lernten, mehr Nuancen als nur Oben und Unten zu unterscheiden. Und irgendwann machte es in jedem
Klick, und er begann, den Gravitationssinn anders wahrzunehmen als zuvor. Die Meisten - auch Bruder Jonathan - hörten Schieflagen wie ein fernes Meeresrauschen im Ohr
[4]. Bei Damian war das anders passiert. Er hatte vorher schon berichtet, dass er sein ganzes Leben lang noch nie etwas gerochen hätte. Die Schönheit des Pfirsichblütenduftes, der jeden Tag durch den Innenhof des Klosters wehte, blieb ihm verborgen. Und als ihm das Gleichgewicht plötzlich als Duft in die bisher ungenutzte Nase stieg, geriet er in Panik und rannte zu seiner Zelle. Zehn Minuten später kam er, wieder ganz der Alte, zurück und erklärte, was passiert war.
[5]Obwohl er noch Novize war - und auch das nur, weil die Regeln ein fünfjähriges Noviziat vorschrieben - ging er bereits auf Ausgleichsmissionen, bei denen die Mönche, nur mit kleinen Messinggewichten bewaffnet, auf lange und beschwerliche Reisen in die Berge zogen, um ein Ungleichgewicht auszubalancieren. Von Angst vor den Bergen, aus denen Bruder Jonathan ihn erst vor zwei Jahren gerettet hatte, war bei Damian keine Spur zu sehen. Er balancierte über die Seile, die das Kloster umgaben, so wie es vorgesehen war, erfüllte die Mission und kehrte zurück, meist ohne irgendein Wort zu verlieren.
Und so war es nur logisch, dass der Abt ihn auswählte, als das Lazarett in Ankh-Morpork um Verstärkung bat. Bruder Jonathan würde als Philosoph
[6] in die Zwillingsstadt reisen und Damian als medizinisch Erfahrener. Außerdem hatte der Abt Jonathan ins Vertrauen gezogen, dass er noch mehr Absichten gehabt hatte. Bruder Jonathan war schon vierzig. Seine Sturm-und-Drang-Jahre waren seit seinem Eintritt ins Kloster vorbei gewesen - er war Tanzlehrer in Ohulan Cutash gewesen -, aber Damian hatte sein Leben noch vor sich. Und vielleicht würde die Metropole ihm die Möglichkeit geben, dieses voll auszuleben.
Die Reise verlief sehr ruhig.
Zuerst verlief sie ruhig, weil es trotz allen Trainings eine beschwerliche Reise aus dem Mittgebirge heraus war und alle Kräfte, die die beiden Mönche hatten, auf das Stapfen durch den Schnee und das Wärmen der Nasenspitze verwendet werden musste. Und so redeten sie kaum miteinander.
Dann blieb die Reise weiter ruhig, als sich der Schnee auf einen Schlag in Regen verwandelte, als sie nach zwei Wochen Eis und Schnee die Grenze von Llamedos passierten.
Damian war die Ruhe ganz recht. Er dachte sowieso lieber alleine. Und nachdem er sich vom weit gewanderten Jonathan die Grundlagen des Druidismus hatte erklären lassen, beobachtete er die vielen Steinkreise, die sie passierten, ganz genau.
Auch als sie Mieder-h'Öschen, die größte Stadt von Llamedos, erreichten, sah Damian sich weiterhin alles intensiv an. Es war seit zwei Jahren die erste Stadt, die Damian betreten hatte.
Und schließlich blieb die Reise weiter ruhig, als sie im Fliegenden Llamedônen saßen, der Personen- und Postkutsche in Richtung Ohulan Cutash. Dort würde Jonathan seine Familie besuchen. Dann würden sie weiter Nonstop nach Ankh-Morpork. Aber man weiß ja, wie das mit Plänen so ist.
Und so wurde die Reise ganz plötzlich sehr unruhig, als die Kutsche mit einem Knacken leicht zur Seite kippte und die Pferde laut wiehernd stehen blieben.
Roj saß im Busch und wartete. Natürlich hatte die Kutsche wieder Verspätung. Langsam begann er zu denken, dass sie vielleicht gar nicht mehr kommen würde.
Er zog einen kleinen Stoffbeutel aus seiner Hosentasche. Er öffnete das Band, mit dem der Beutel zugeschnürt war, drehte ihn um und ließ zwei weiße Gegenstände in seine Handflächen fallen. Es waren Schildkröteneierschalen, die an entscheidender Stelle ein Loch hatten, und darum herum waren sie strahlend blau. Roj hatte blaue Augen, aber er würde sich diese Schalen in die Augen klemmen, um jeden Verdacht von sich abzulenken. Denn selbst wenn jemand bemerken würde, dass er diese Schildkröteneier in den Augen trug, würde er doch davon ausgehen, dass Rojs echte Augen nicht blau wären. Für den Rest des Gesichtes verwendete er einen schwarzen Strumpf, den er sich über den Kopf zog.
Normalerweise war dies natürlich für einen einfachen Postraub ein viel zu großer Aufwand, aber die Beute war es wert. Es handelte sich um den Roten Johann, einen Rubin, den der Hohepriester des Gottes Drafi aus Ohulan Cutash zum Schleifen nach Llamedos geschickt hatte. Der Rote Johann war zwar nicht mehr wert als ein normaler Rubin. Er war auch alles andere als groß, um ehrlich zu sein. Er war etwa so groß wie eine Erdnuss, das entspricht etwa 15 Karat und einem Wert von circa fünftausend Kronen
[7]. Nein, um den Wert ging es nicht. Es ging um seinen Namen: Der Rote Johann. Anders als bei seinem eigenen Namen würde niemand Johann mit Ypsilon schreiben. Und dies sollte sein erster großer Coup werden, der Raub des Roten Johann, der ihn über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt machen würde. Daher der Aufwand.
Sein Kontakt in Llamedos hatte ihm gesagt, dass ein Zwerg den Edelstein hatte, und zwar in einem Paket. Die Leute immer. Es war doch möglich, dass mehrere Zwerge in dieser Kutsche saßen. Woran sollte er dann den richtigen erkennen? Der Zwerg wird ja wohl kaum so blöd sein, das Paket auf dem Schoß zu transportieren.
Und dann hörte er das Klappern von Hufen. Er zog sich den Strumpf über den Kopf und beobachtete durch das Gebüsch, hinter dem er saß, den Stein, den er strategisch platziert hatte. Wie erwartet fuhr die Kutsche genau darüber und das linke Vorderrad brach. Die Kutsche neigte sich zur Seite und der Kutscher stieg fluchend von seinem Kutschbock. Auf seinen Zehenspitzen näherte sich Roj dem Kutscher von hinten und zog ihm eins mit dem Gummiknüppel über den Hinterkopf. Er fiel bewusstlos zu Boden.
Roj steckte den Knüppel weg und holte ein Messer hervor. Der Knüppel war natürlich viel effektiver als ein Messer, wenn man jemanden außer Gefecht setzen wollte. Ein Messer mochte jemanden für sehr lange Zeit außer Gefecht setzen, aber schreien würde er trotzdem. Der Knüppel verhinderte das Schreien. Aber ein Messer war dafür viel besser geeignet, jemanden zu bedrohen, besonders wenn man dem Opfer vorspielte, dass man eigentlich gar nicht wusste, wie man damit unzugehen hatte und dass eine falsche Bewegung entweder zum Tod oder zu lebenslangen Schmerzen führen konnte, je nachdem, welcher Gott gerade auf ihn hinuntersah.
Roj schnitt mit dem Messer die Pferde los. Die waren immer ein Risiko, denn sie konnten die Kutsche immer noch mit einem Ruck nach vorne ziehen, und das war besonders gefährlich für denjenigen, der in der Kutsche keinen Sitzplatz hatte und ein Messer in der Hand hielt, also ihn selber. Die Pferde stoben davon und die Kutsche stand still.
Jetzt ging er zur Tür. Die Passagiere schienen schon unruhig hin- und herzulaufen. Gerade als er die Tür öffnen wollte, schwang sie vor ihm auf und ein Mann starrte ihn an. Vielmehr schielte er auf das Messer direkt unter seiner Nasenspitze. Dann sah er den bewusstlosen Kutscher und fiel stöhnend in Ohnmacht.
Roj machte einen großen Schritt über ihn hinweg und sah sich in der Kutsche um. Alle sahen ihn und sein Messer mit großem Respekt an, während sie versuchten, ohne sich zu bewegen, möglichst weit von ihm wegzurutschen.
Roj sah nur einen Zwerg, der in seinem Kettenhemd sichtlich schwitzte. Er trat auf ihn zu. "Wo ist das Paket?", rief er durch den Strumpf mit leicht verstellter Stimme.
Ein paar Schweißperlen kamen unter dem Helm des Zwergs zum Vorschein, als er sagte: "W- welches Paket?"
"Verkauf mich nicht für dumm!", rief Roj und unterstrich seine Drohung mit absichtlich ungelenkem Messerfuchteln.
Auch der Zwerg schien der Ohnmacht nahe zu sein und gab nur noch unzusammenhängendes Gestotter von sich. Also sah er sich ein weiteres mal um.
Jeder einzelne der Passagiere zitterte und schwitzte vor Angst. Bis auf einen.
Ein Mönch in orangefarbener Robe saß völlig ruhig da und beobachtete ihn. Roj sah ihm direkt in die Augen. Er sah zurück, ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken.
Roj sah an ihm herab. Er stand mit seinen Fersen auf dem Saum seines Gewandes, dass dadurch stark gespannt war.
"Aufstehen!", rief er ihm zu. "Raus aus der Kutsche!"
Der Mönch stand ruhig auf, bedacht, nicht über seine Robe zu stolpern, und verließ die Kutsche. Sein Mitmönch war bisher auch vergleichsweise ruhig gewesen, stand aber jetzt auf und rief: "Was haben Sie vor?"
"Nichts besonderes!", rief Roj, griff unter den Sitz des ersten Mönches und zog das Paket hervor. Sein llamedônischer Kontakt konnte sich auf was gefasst machen. Der Mönch war zwar nicht besonders groß, aber definitiv kein Zwerg. Andere Leute, immer unzuverlässig. Es war sehr unglücklich, dass er sie für seine Aktionen benötigte.
Roj las die Aufschrift auf dem Paket. Sie war korrekt. Er schüttelte es und hörte das Klappern von zwei Steinen. Auch das war richtig, denn der Rote Johann reiste nicht allein. Den anderen Edelstein würde er wohl veräußern. Zufrieden stieg er die Stufen am Ausgang der Kutsche hinab.
Da griff ihm jemand das Paket aus der Hand. Es war schneller weg, als er es sehen konnte. Ganz kurz nur starrte Roj auf seine Handschuhe, die bis auf das Messer leer waren. Dann wirbelte er herum und sah gerade noch, wie sich ihm die Stirn des Mönches näherte. Roj duckte sich unter dem Mönch hindurch und stieß das Messer auf ihn zu. Mehr als ein Kratzer im Gesicht gelang ihm nicht, aber der Mönch müsste nach diesem Angriff wohl erstmal wieder sicheren Stand finden.
Aber da irrte er sich. Denn er fühlte plötzlich ein Stechen in der Hand, und das durch seine Handschuhe hindurch. Der Mönch hatte seine Hand bereits gegriffen, und zog ihm langsam das Messer aus dem Griff. Und bevor Roj selber sicheren Stand gewinnen konnte, um etwas dagegen zu unternehmen, war der Mönch bereits im Besitz des Messers.
Roj orientierte sich neu. Er sah, dass er den Mönch tatsächlich im Gesicht erwischt hatte, aber mehr als ein langer Kratzer, der leicht blutete, war es nicht. Der Mönch hatte offensichtlich keine Ahnung, wie man ein Messer im Kampf verwendete, denn die Art, wie er es hielt, war ehrlich falsch. Er zog seinen Gummiknüppel aus dem Gürtel und warf ihn auf den Kopf des Mönches. Der schaffte es irgendwie, ihn mit dem Messer abzublocken, dass dabei aus seiner Hand fiel. Roj stürzte sich nach vorne, um sich das Messer zu schnappen, während der Mönch einen Schritt zurückmachte, weil er dachte, dass sich Roj auf ihn stürzen würde. Roj griff das Messer und stach nach dem Bein seines Gegners. Der hob es rechtzeitig an, was Roj die Möglichkeit gab, mit seinem Bein nach dem verbleibenden Stand des Mönchs zu treten.
Und auch diesmal war Roj sehr überrascht, dass der Mönch nicht umfiel. Er hob auch das Bein aus dem Weg, weil er bereits neuen Stand für sein anderes Bein gefunden hatte.
Roj kalkulierte die Chance auf ein Wiedererlangen des Pakets gegen das Risiko, gefasst zu werden. Es war ein eindeutiges Ergebnis. Er lang auf dem Boden und sein Gegner war nicht zu Boden zu bringen. Die einzig logische Konsequenz war jetzt ein Rückzug. Und so krabbelte er in Sicherheit und machte sich vom Acker.
Zum Glück hatte er noch einen Plan B. Er brauchte dafür nur noch ein Opfer, und der Mönch schien perfekt dafür zu sein.
-Damian betrat einen der Tempel von Ohulan Cutash. Sofort fiel ihm auf, was der Priester nach drei Stunden an Morgengottesdiensten nicht bemerkt hatte. Die Manschettenknöpfe fehlten.
Der Raum war höher als lang. Die bunten Glasfenster malten interessante Muster auf die Bänke und den Boden zwischen den Säulen, die das Dach stützten. Ein Altar stand am kurzen Ende des Raumes gegenüber des Eingangs. Dahinter stand eine große Statue an der Wand. Sie zeigte einen Mann mit leicht rundlichem Gesicht, in einem Jackett und mit einem Schal. Das Jackett war aus Eisen gefertigt, der Schal aus Marmor und der Kopf aus Stein, ebenso wie die Hände, die eine Art Zepter hielten. Es war eine Eisenstange mit einem Marmorknubbel.
Auf den ersten Blick war der Raum menschenleer, doch wenige Sekunden, nachdem Damian den Raum betreten hatte, tauchte hinter einer Säule ein Priester auf. Er eilte mit missionarischem Eifer auf Damian zu.
"Ein neuesch Gesischt. Wie schön!" Er breitete die Arme einladend aus. "Wie kann isch Ihnen auf Ihrer schpirituellen Suche helfen?" Der Priester hatte einen sehr starken ohulanischen Akzent.
Damian machte vorsichtshalber einen Schritt zurück. Er deutete auf die Statue.
"Ist das ein schiefer Gott?", sagte er.
"Schiefer?" Der Priester dachte über diese theologische Frage nach. "Nun, dasch ischt Drafi, Gott von Marmor, Schtein und Eisen. Man könnte sagen, dasch auch Schiefer tschu seinen Aufgaben tschählt." Er zögerte kurz. Seine missionarische Ausbildung hatte ihm beigebracht, möglichst keine Konjunktive zu benutzen. Also entschied er sich schnell, aus der Heiligen Schrift zu zitieren: "'Marmor, Schtein und Eisen brischt, wenn Drafi in der Nähe ischt.'" Der Akzent des Priesters war so stark, dass es sich tatsächlich reimte.
"'Brechen'", sagte Damian.
"Bitte?", fragte der Priester.
"'Marmor, Stein und Eisen brechen.'"
"Na meinetwegen." Der Priester hatte das vage Gefühl, dass seine Bemühungen an Damian abprallten. "Wasch hat esch denn jetscht mit dem Schiefer auf sisch?"
"Ach so. Ich meinte nicht Schiefer. Ich meinte, dass die Statue schief steht."
Der Priester lachte aus Erleichterung kurz auf. "Nein, dasch kann nischt. Die Schtatue ischt perfekt auschbalanciert. Sie wiegt links genauschoviel wie rechts."
"Ich glaube ja, dass die Manschettenknöpfe fehlen. Da sind Löcher, aber die sind leer. Und weil er den einen Arm ausgestreckt hat, steht sie jetzt schief."
Der Priester folgte Damians Zeigefinger, der auf die rechte Hand des Gottes wies. Und damit begann die Gefühlsachterbahn des Priesters direkt mit einem dieser Stürze in die Tiefe.
"Bei Drafi! Der Rote Johann!" Er rannte zur Statue und spähte ihr in den Ärmel. Vielleicht war der Rubin dort hineingerutscht. Dann sah er, dass auch der Smaragd der anderen Hand fehlte "Der Grüne Larkin!", rief er.
"Beruhigen Sie sich doch!", rief Damian.
"Beruhigen? Isch kann mich doch jetzt nicht beruhigen!" Der Priester war auf die Knie gefallen, um die Rückseite der Statue nach den Edelsteinen abzusuchen.
"Ich verstehe ja, dass Ihre Götterstatue geschändet ist und dass Sie in Ihren religiösen Gefühlen verl..."
Der Priester rutschte auf den Knien hinter der Statue hervor. Er sah Damian scharf an. "Die sind von unschätzbarem Wert! Mindestens tschehntausend Kronen! Geschtern Abend habe ich sie erst vom Schleifen wiederbekommen!"
Damian reichte ihm eine Hand, um ihm aufzuhelfen, nachdem er sich vergeblich auf den Bauch gelegt und unter die Beine seines Gottes geschaut hatte.
"Sie sollten die Wache verständigen", schlug Damian vor. In Ecalpon tat man das wie selbstverständlich bei jedem Verbrechen.
Der Priester klopfte sich Staub von der Robe. "Ha, Schie sind wohl aus Ankh-Morpork, ne? Bei uns fangen die Wächter nicht vor 10 Uhr an mit Arbeiten." Erst jetzt begann er wieder klar zu denken. "Wie haben Shie das scho schnell bemerkt, dasch die Knöpfe fehlen?"
"Nun, die Statue steht schief. Das war doch sicher nicht so beabsichtigt."
Der Priester begutachtete seine Statue. Er hatte vorhin noch den zweiten Morgengottesdienst vor ihr gehalten, aber es war ihm nicht aufgefallen, dass die Statue schief war. Bei Drafi, ihm war ja nicht mal aufgefallen, dass der Rote Johann und der Grüne Larkin fehlten. Aber jetzt sah er es. Wenn er den Kopf leicht nach links neigte, dann erschien die Statue gerader.
Er drehte sich wieder zu seinem Besucher, mit der Absicht zu fragen, wer er denn überhaupt sei. Er konnte gerade noch "Wer..." sagen, da bemerkte er, dass Damian gar nicht mehr neben ihm stand.
Damian hatte sich über etwas Dreck am Boden gebeugt. "Hier wird regelmäßig sauber gemacht?", fragte er.
"Ja, eine eifrige Gläubige. Geschtern Abend noch hat sie sauber gemacht. Obwohl, der Schtaub hinter der Schtatue..." Er warf einen Blick zu dem Ort, hinter den er gerade noch gekrochen war. Dann drehte er sich wieder zu Damian.
Der war weg. Der Priester sah sich den Dreck an, über den er sich gebeugt hatte. Es war getrockneter Schlamm, in dem ein seltsames Muster zu sehen war. Für den Priester bedeutete das bloß, ein Kehrblech zu holen und danach zum Glasbläser zu gehen und wieder mal zwei farbige Glassteine schleifen zu lassen.
Der Rabe saß auf dem Dach eines Lagerhauses am Hafen von Ohulan Cutash. Er wusste zwar nicht, dass es ein Lagerhaus war, aber was ein Hafen war, davon hatte er eine grobe Idee.
Es lagen drei Schiffe am Kai. Die Menschen benutzten sie, um sich auf dem Wasser fortzubewegen. Sie konnten ja mit ihren Flügelstümpfen nicht fliegen. Manchmal fuhr der Rabe auch mit, wenn er selber zu faul war zum Fliegen.
Vieles, was die Menschen so machten, schien ihm sehr seltsam. Kaum etwas davon schien der Fortpflanzung oder der Nahrungssuche zu dienen. Wenn sie denn aßen, hatten sie das Essen schon fertig dabei. Nur wo es herkam, hatte er noch nicht herausgefunden. Die Fortpflanzung schien auch nicht öffentlich stattzufinden.
Da, dieser orangene Mensch zum Beispiel. Er suchte im Schlamm herum. Dann zog er einen Streifen Schilf aus dem Matsch am Ufer und war zufrieden. Dann ließ er ihn so wieder in den Fluss fallen. Dabei hatte er keine Anstalten gemacht, ein Stückchen zu probieren, daran zu riechen oder sonst eine Analyse auf Essbarkeit durchzuführen.
Wozu war das also gut? Wenn er Brot- und Kindererwerb schon hinter sich gebracht hatte, konnte sich der Rabe schönere Freizeitaktivitäten vorstellen als das Wühlen im Schlamm. Für Menschen musste das noch mehr gelten, wo doch ihr buntes Gefieder immer so schön sauber war.
Jetzt begann er, sich die Kisten anzusehen, die hier an den Wänden standen. Hätte der Rabe nicht vor kurzer Zeit gesehen, wie ein anderer Mensch etwas in eine Kiste hineingetan hätte, hätte ihn auch das gewundert. Doch so schien es Teil der Nahrungssuche zu sein. Vor allem weil das, was der andere Mensch in die Kiste getan hatte, ausgesehen hatte wie eine Beere: rot, klein und rund. Der Rabe hätte sich die Beere selber geschnappt, aber leider waren seine Flügel nicht dazu in der Lage, Kistendeckel anzuheben. Da waren dann doch die Stümpfe der Menschen von Vorteil.
Der Mensch, der gerade die Beere suchte, hatte noch nicht die richtige Kiste gefunden, da kam der Mensch, der die Beere zuerst hatte. Der Rabe konnte nicht sicher sagen, ob es derselbe war. Für ihn sahen alle Menschen gleich aus, aber die Gefiederfarbe war dasselbe Schwarz an denselben Stellen. Er schlug dem anderen einen kleinen, seltsam elastischen Ast auf den Kopf.
Auch das wunderte den Raben nicht mehr. Das kannte man von Menschen. Sie waren sehr brutal. Das lag wohl in ihrer Natur. Sie pieksten sich mit Eisenspitzen, schlugen sich mit Ästen oder Stangen auf den Kopf, bewarfen sich mit schweren Kugeln oder dünnen, spitzen Stöcken. Umso besser für ihn und seine Mitraben. Es gab immer genug Augen auszupicken, ohne dass sich die Besitzer wehrten.
Natürlich musste er zugeben, dass das Konzept des Raubes nicht rein menschlich war. Auch die Rabenheit kannte es. Man ging als Rabe nur anders vor. Man lenkte den anderen Raben ab oder wartete, bis er kurz nicht achtgab, schnappte sich dann die Nuss oder den anderen Gegenstand des Begehrens und rannte, hüpfte oder flog so schnell es ging davon. Dreimal war er schon so Opfer eines anderen Raben geworden, und er musste zugeben, dass er selber es auch schon einmal getan hatte. Jeder machte so eine Phase mal durch.
Der Rabe wusste nicht, was Schwerkraft war, aber das Dinge, die sich nicht, wie Vögel zum Beispiel, aktiv dagegen wehrten, nach unten fielen, war ihm klar. Er war kurz hochgeflogen, weil der Mensch aufgeschrien hatte, als ihn der Ast traf. Jetzt setzte er sich wieder auf seinen alten Platz zurück und wunderte sich nicht schlecht, dass der Mensch noch immer stand. Er war etwas zusammengesackt, sein Kopf hing auf seiner Brust, aber er stand noch immer.
Auch den Schläger schien das zu verwundern. Er ging um sein Opfer herum und sah auf seine geschlossenen Augen. Dann stupste er ihn mit einem Finger ans Brustbein. Der Orangene fiel langsam nach hinten und landete dann der Länge nach im Matsch. Dann ging der schwarze Mensch zu seiner Kiste, holte seine rote Beere heraus und ging wieder zu dem anderen Menschen.
Er holte einen dieser kleinen Eisenpiekser heraus und piekste den Anderen ins Gesicht. Schließlich gab er ihm eine grüne Beere. Sehr seltsam. Dann verschwand er in die Richtung, aus der er kam.
Der Rabe flog zu dem im Schlamm liegenden Menschen, voller Vorfreude auf ein frisches Paar Augen. Doch als er neben seinem Kopf landete und den Atem des Orangenen in seinem Gefieder spürte, hielt er inne. Er war ein Rabe von guter Natur. Abgesehen von seiner rebellischen Phase vor zwei Jahren hatte er sich noch nie von einem lebendigen Wesen ernähren müssen. Und das tat er auch jetzt nicht.
Also flog er davon und widmete sich seinem Hobby, der Anthropologie, woanders. Er flog über die Getreidefelder außerhalb der Stadt hinweg und suchte weiter verzweifelt nach den Nahrungsquellen der Menschen.
Damian wachte auf. Er hatte Panik.
Das hasste er. Panik! Was bringt mir das? So kann ich keinen klaren ... Oh, bei den Göttern! Ach du Sch***! Oh, bei den Göttern! Aaah!
Langsam wurde die Panik geringer. Aber sie stellte ihm eine klare Frage: Warum tust du das? Warum begibst du dich absichtlich in Gefahr? Sie drohte damit, sollte sie keine Antwort bekommen, würde sie wieder ausbrechen.
Damian versuchte, es sich zu erklären: Wenn man nichts zu tun hatte, dann tat man so etwas. Er musste schließlich den Tag, den Bruder Jonathan mit seiner Schwester und seiner kranken Mutter verbrachte, rumkriegen. Dann erst würden sie weiter Richtung Ankh-Morpork reisen. Ohulan Cutash hatte touristisch nicht sehr viel zu bieten, und wenn man weder gläubig noch magisch war, gab es hier eigentlich nur noch eins, was man machen konnte: Wasserfeste Jacken kaufen. Und dazu fehlte Damian das Geld.
[7a]Etwas beeindruckt war Damian trotzdem. Schließlich war Ohulan Cutash die größte Stadt, die er je gesehen hatte. Vor allem aber war sie größer als Ecalpon. Die Straßen waren enger, die Häuser höher. Aber all das ließ sich nur von außen beschauen. Und nachdem Damian eine Zeit lang über den Markt geschlendert war, war er in einen Tempel hineingegangen, den einzige Ort, an dem sich der Bewohner freute, wenn jemand ungefragt hereinkam.
Es dauerte weitere fünf Minuten, bis die Panik abebbte. Damian konnte endlich wieder klar denken. Also begann er seine Situation zu analysieren.
Er lag auf dem Boden, im Matsch. Er sah auf seiner Brust einen grünen Edelstein liegen. Darüber hinaus befanden sich neben seinem Kopf Fußspuren derselben Größe wie der, die er im Tempel gesehen hatte.
Langsam begann er, sich wieder zu erinnern. Er war zum Hafen gekommen, hatte im Schlamm das Schilf gefunden, dass er auch im Tempel gefunden hatte. Dann hatte er vermutet, dass der Täter einen ausgeklügelten Plan gehabt haben müsste. Er hatte nämlich das Fenster, durch das er eingestiegen war, sorgfältig geöffnet und kaum Einbruchsspuren hinterlassen. Die Edelsteine waren auch sehr sorgfältig aus ihren Halterungen gelöst worden.
Die Wächter, die tatsächlich erst um zehn Uhr in der Wache eintrudelten, waren sofort bereit, die Reisenden an den Toren auf die Edelsteine zu untersuchen. Das war Zufall, denn sie suchten gerade selber nach einem Dieb, der gestern ihre Kaffeekasse geplündert hatte. Die ganze Nacht über hatten die Torwächter die Reisenden auf den schwarzen Knopf durchsucht, der sich mit dem Geld in der Kasse befunden hatte. Für Damian waren es eindeutig Kinder gewesen, die das Geld bestimmt schon längst in Süßigkeiten investiert hatten. Das Heu im Hinterhof machte das schon offensichtlich.
Der einzige Weg mit Edelsteinen aus der Stadt war also per Schiff, denn die Schiffe auf dem Fluss ließen sich nicht mehr überprüfen, sobald sie abgelegt hatten. Und so hatte Damian begonnen, die Kisten abzusuchen. Die Tatsache, dass er niedergestreckt worden war und dass sich sein bisschen Geld für Essen immer noch in seiner Tasche befand, zeigte schon, dass er so falsch nicht gelegen haben konnte
[9].
Und dann fiel ihm der Edelstein auf seiner Brust wieder ein. Er setzte sich auf und sah ihn sich näher an. Kein Zweifel, es war der Grüne Larkin, einer der gestohlenen Edelsteine. Das war ganz deutlich zu erkennen an der Form, die genau zu der Fassung an der Statue passte.
Und dann durchschoss Damian ein höllischer Schmerz. Er fasste sich an die linke Wange. Als es dadurch noch mehr schmerzte, ließ er sie schnell wieder los.
Seine Hand war voller Blut. Hatte er sich beim Fallen an einem Stein geschnitten? Es war zumindest keiner zu sehen.
Und dann fiel ihm etwas ein. Er erfühlte den Verlauf der Wunde.
Und tatsächlich. Er war genauso wie der, den er von dem Räuber in den Bergen bekommen hatte, nur eben auf der anderen Wange. Als er sich mit dem das Duell geleistet hatte, hatte dieser ihn an der Wange erwischt, und die Wunde hatte sehr stark geblutet. Es war allerdings keine Narbe geblieben, also war es entweder ein großer Zufall, oder es war derselbe Täter. Schließlich hatte er genauso lange wie Damian gebraucht, um von der Unfallstelle nach Ohulan Cutash zu kommen. Außerdem hatte der Zwerg ihm erzählt, dass sich in dem Paket, dass er gerettet hatte, Edelsteine befunden hätten. Vermutlich war das tatsächlich das Paket, das der Priester von Drafi gestern Abend entgegengenommen hatte.
Und dann fiel Damian noch etwas auf. Und zwar die Sonne, die sich dem Horizont näherte. Damian musste mindestens drei Stunden so dagelegen haben. Und bei Sonnenuntergang würde die Kutsche weiterfahren. Damian schnellte hoch und rannte Richtung Hauptstraße.
Er brauchte keine fünf Minuten, da hatte er den Kutschenstopp erreicht.
Bruder Jonathan stand schon dort. Er sah Damian kurz an und wendete sich dann der Richtung zu, aus der die Kutsche kommen müsste, ganz so, als ob er Damian nicht erkannt hatte. Eine Brieftaube flatterte über ihre Köpfe hinweg.
"Jonathan?", sagte Damian und tippte ihm auf die Schulter.
"Damian?", Jonathan drehte sich erschrocken wieder um. "Bist du das? Was ist denn mit dir passiert?" Dann lächelte er verschmitzt. "Du warst im Geigers Rätsel, nicht wahr?" Er zwinkerte ihm zu. "Einen über den Durst getrunken?" Er erinnerte sich an seine Jugend.
Ein Mann trat aus der Posthalterei hervor. In der Hand hielt er die Kapsel, die sich an dem Bein einer Brieftaube befunden hatte.
"Die Kutsche nach Ankh-Morpork hat heute etwa eine Stunde Verspätung." Es gelang ihm zu murmeln, während er diese Worte rief. Die Fahrgäste stöhnten alle simultan. "Grund ist ein Radschaden. Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten."
"Gut", sagte Bruder Jonathan daraufhin. "Dann machen wir dich erstmal schnell sauber und du erzählst mir, was du gemacht hast."
Untergefreiter Wellensittich von der Stadtwache Ohulan Cutash befand sich in einer sehr guten Lage, insgesamt betrachtet. Das redete er sich ein, während er an seinem eigentlich freien Tag am Randwärtigen Tor wie verzweifelt darauf wartete, dass etwas passierte. Er befand sich tatsächlich in einer guten Lage, denn was auch immer geschah, morgen würde er befördert werden.
Die ganze Wache war im Aufruhr, seit der Diebstahl bekannt geworden war. Es war ja - das fand sogar Untergefreiter Wellensittich - überaus dreist und pietätlos gewesen. An so einem heiligen Ort so eine dreiste Tat zu begehen, etwas zu stehlen was den Besitzern so wichtig war, dass alle zusammen das Geld dafür zusammengeschmissen hatten! Wer weiß, wozu so jemand noch fähig wäre!
Und deswegen stand er hier, mit dem Versprechen des Leutnants in der Tasche, anschließend zum Obergefreiten befördert zu werden, am Stadttor und durchsuchte alle Reisende auf den Knopf, der mit dem Rest der Kaffeekasse gestohlen worden war.
Entweder er würde den dreisten Dieb erwischen (oder vielleicht auch diesen dubiosen Edelsteindieb) und eine Extrabeförderung zum Hauptgefreiten abkassieren, oder aber er ließ den Dieb völlig unabsichtlich entkommen, was ja nie jemand ihm zuschreiben konnte, nicht mal er selber, und er würde sowieso zum Obergefreiten befördert. Also machte er sich keine Sorgen um seine Karriere und saß seinen Dienst gemütlich ab.
Und so war er schon hellauf begeistert, als er den Halbjackpot, also den Edelsteindieb, bei der ersten Kontrolle einer Kutsche entlarvte. Die Sache wirkte etwas zweifelhaft, weil sich der Mönch nicht wehrte, aber Mönche waren ja nun für ihre Gelassenheit auch bekannt. Die Beweislast sprach eindeutig gegen ihn. Schließlich hatte er den grünen Edelstein in der Tasche.
Zweifel regten sich allerdings gleich von Anfang an im Untergefreiten Wellensittich, denn als er den Mönch bat, herauszukommen, trat er freiwillig auf die Straße und zeigte den Stein vor.
"Der ist aus Glas", erklärte er. Der Wächter hatte ihn herausgebeten, weil er mit der langen Schnittwunde im Gesicht ein wenig verbrecherisch aussah. Außerdem war er eindeutig Ausländer. Er erklärte darüber hinaus, dass
er es war, der den Diebstahl der Wache überhaupt erst gemeldet hatte, dass er dann den Smaragd auf eigene Faust gefunden und zurückgebracht hatte und dass ihm dann ein Priester als Dank den Glasersatz, den er bereits hatte anfertigen lassen, geschenkt hatte. Zum Beweis ließ er den Stein auf den Boden fallen. Er zersprang aber nicht, sondern kullerte ein bisschen im Kreis herum und blieb dann unversehrt liegen
[10].
Und so fühlte sich der Untergefreite Wellensittich bestätigt und nahm ihn fest.
Der Kutscher, der sich schon genervt geäußert hatte, als er angehalten worden war, war mittlerweile mit den Worten "Ich verlier noch meinen Job!" ohne die beiden Mönche weitergefahren.
"Fragen Sie doch den Priester!", sagte Bruder Jonathan genervt. Er saß mit Damian in einem Raum des Wachhauses am Markt. Damian war dagegen immer noch entspannt. Das beeindruckte Bruder Jonathan immer mehr. In den paar Monaten Novizentraining war er bereits ausgeglichener als manch einer seiner Lehrer, Jonathan eingeschlossen. Für die Wächter war das natürlich eine Art Geständnis.
"Der Priester, den er beschrieben hat, gibt es nicht", wiederholte der diensthabende Wächter, der sich ihnen als Leutnant Kobberwibbel vorgestellt hatte. "Der Hohepriester ist der einzige Geistliche dieser Gemeinde."
"Aber mit dem hat er doch auch gesprochen!", sagte Jonathan lauter als gewollt.
"Das ist ja wohl kaum ein entlastender Tatbestand, dass der Verdächtige zum Tatort zurückgekehrt ist."
Es war frustrierend, und so ließ sich Jonathan auf den ihm angebotenen Stuhl sinken und verschränkte wütend die Arme.
"Dann fragen Sie doch den Glasbläser, der diesen Stein angefertigt hat", sagte Damian. "Er wird Ihnen zumindest sagen können, dass der Stein nicht echt ist."
"Ich habe bereits einen Untergefreiten losgeschickt, aber wir haben noch andere Fälle", sagte der Leutnant.
"Jetzt hören Sie schon auf mit Ihrer Kaffeekasse!" Bruder Jonathan musste dringend in Ankh-Morpork ankommen, damit er sich wieder seinen Gleichgewichtsübungen widmen konnte. Solange würde er aufgekratzt bleiben.
"Es waren Kinder", sagte Damian schließlich. Er hatte sich vorgenommen, nichts zu sagen. Er wusste ganz genau, wie schnell Leute dazu neigten, ihn einen Angeber oder einen Besserwisser
[11] zu nennen.
"Kinder?", fragte der Leutnant. "Wie kommen Sie darauf?"
"Oder ein Gartenschmuck, so wie der, den wir in der Kutsche getroffen hatten", sagte Damian mit Blick zu Jonathan.
Es wurde leise im Raum, als der Leutnant verwunderte Blicke zu seinem Kollegen warf, der an der Tür stand. Speziesismus hatten sie nicht von dem Mönch erwartet.
Jonathan lachte peinlich berührt, als die Wächter Damian schief anschauten. "Ehehe, du meinst den
Zwerg?", sagte er mit Nachdruck. "Ich glaube, 'Gartenschmuck' ist speziesistisch."
"Was heißt speziesistisch?", fragte Damian. In Ecalpon lebten nur Menschen. Damian hatte sein ganzes Leben lang nur einen Zwerg gesehen, nämlich als Mitglied einer Händlercrew. Und als Damian den Händler fragte, warum der Matrose so klein war, hatte der ihn als den "Gartenschmuck" bezeichnet und dann dreckig gelacht.
"Weißt du, wie wir Igor nie dazuzählen, wenn wir 'Menschen' sagen?" Bruder Jonathan war dies reichlich unangenehm, vor allem weil sie sich in einem Verhörzimmer befanden und er in der verspiegelten Scheibe ganz genau sah, wie er rot wurde. "Das ist deswegen, weil er kein Mensch ist, sondern ein Igor. Und Zwerge sind auch keine Menschen."
"Alles klar. Das Wort ist eine Beleidigung", sagte Damian und für ihn war tatsächlich alles klar. Bruder Jonathan war die Situation trotzdem noch eine Zeit lang peinlich.
"Zurück zu unserer Kaffeekasse", sagte der Leutnant bestimmt.
"Oh ja, an den Heuhaufen im Hinterhof sieht man, dass..." Damian überlegte sich eine neue Formulierung. "...eine kleine Person unter dem Zaun hindurch das Gelände verlassen hat, es sei denn, es befinden sich des öfteren Tiere von der Größe und Statur eines Schweines in Ihrem Hinterhof, denn die Spur, die die Person im Heuhaufen hinterlassen hat, könnte auch davon stammen. Alle anderen Heuhaufen sind unberührt, nur der am Zaun sieht aus, als wäre dort jemand halb durchgekrochen."
Der Leutnant sah aus dem Fenster in den Hinterhof und fand nichts, was dem widersprach. "Aber man kommt nicht so einfach in das Wachhaus hinein!", sagte er dann erregt und schlug mit der Faust auf den Tisch. "Erst recht nicht irgendwelche Kinder."
Der zweite Wächter an der Tür, der den Balancierenden Mönchen als Korporal Bein vorgestellt worden war, meldete sich zu Wort. "Herr, Unterfeldwebel Starkimarm ist heute nicht zum Dienst erschienen. Seit dem Diebstahl hat ihn auch keiner mehr gesehen, Herr."
"Warum, bitteschön, Korporal, sollte ein Unterfeldwebel die Kaffeekasse seiner eigenen Wache stehlen. Du weißt vielleicht nicht, was er verdient, aber es ist deutlich mehr als du, Korporal."
"Ja, Herr. Ich meine nur, Herr, dass sich Unterfeldwebel Starkimarm nicht mal krank gemeldet hat. Darüber habt Ihr euch heute morgen noch aufgeregt, Herr, wo er sich doch sonst immer krankmeldet."
"Trotzdem!", brüllte der Leutnant und schlug erneut auf den Tisch
[12]. "Was für ein Motiv hätte er denn?"
"Fragen Sie ihn doch", schlug Damian vor.
Leutnant Kobberwibbel sah von Damian zu seinem Korporal. Dann bellte er: "Korporal Bein, geh zu Starkimarms Haus und frag ihn, warum er heute nicht zum Dienst erschienen ist."
"Jawohl, Herr", sagte der Korporal zackig und salutierte. Er war sehr erleichtert, dass die Verdächtigung eines Vorgesetzten eine Untersuchung zur Folge hatte und keine Degradierung.
"Und wenn du mir ohne Motiv wiederkommst, dann hast
du bald ein Motiv, die Kaffeekasse zu stehlen!"
Mit gesenktem Kopf verließ Korporal Bein den Raum.
"Sie bleiben noch hier!", sagte er zu Damian und verließ dann auch selber das Verhörzimmer.
Korporal Bein klopfte an die Tür. Er hörte Schritte und einen Wasserkocher.
Die Tür öffnete sich und gab den Blick frei auf Unterfeldwebel Starkimarm, der in keinster Hinsicht krank aussah.
"Hallo, Armin", begrüßte der den Korporal ungewohnt informell. "Komm herein."
Korporal Bein zögerte kurz, trat dann aber ein. Der Zwerg dirigierte ihn an einen Tisch, auf dem bereits Plätzchen standen.
Und während der Korporal noch nicht wusste, was gerade geschah, goss der Zwerg heißes Wasser in eine Teekanne. Dann setzte auch er sich an den Tisch.
Schließlich ergriff der Korporal das Wort. "Ähm, der Leutnant will wissen, warum du heute nicht zum Dienst erschienen bist, Herr."
Oh, nenn mich bitte nicht 'Herr'", sagte der Zwerg. "Ich bin ja nicht im Dienst. Kekse?" Er schob das Schälchen mit den Keksen an den Korporal heran.
Der wehrte ab. "Ich muss jetzt wissen, warum du nicht zum Dienst erschienen bist, H..." Er zögerte. "Hat es mit der Kaffeekassen-Sache zu tun?"
"Oh", sagte der Zwerg überrascht. "Ihr seid schlauer, als er dachte."
"Als wer dachte?" Korporal Bein sah sich um. "Von wem redest du?"
"Ja", sagte Starkimarm. "Ich habe die Kaffeekasse gestohlen."
"Warum?", fragte Korporal Bein, der sich jetzt große Hoffnungen auf eine Beförderung machte. Schließlich hatte er entgegen der Ansicht des Leutnants richtig vermutet.
"Das weißt du noch nicht? Es war eine Ablenkung. Der Rote Johann ist jetzt schon über alle Berge." Der Zwerg grinste unheimlich.
"Das ist der Edelstein, der gestohlen wurde, richtig?", fragte Bein nach.
"Ja, aber ich meine den Menschen, der ihn gestohlen hat." Das Grinsen des Zwergs wurde breiter und unheimlicher. "Er nennt sich jetzt so. Deswegen hat er den Stein gestohlen."
"Warum das? Ist er mit seinem eigenen Namen nicht zufrieden?"
"Ich kenne seinen Namen gar nicht", gab der Zwerg zu. "Alles was ich weiß, ist, dass er uns haushoch überlegen ist. Also ist es das beste, sich ihm anzuschließen."
"Einem Verbrecher anschließen? Warum das?"
"Nun, es ist ja nicht so, als ob du nicht davon profitieren würdest." Der Zwerg holte eine Schachtel unter dem Tisch hervor. Es war die Kaffeekasse des Wachhauses. Er schüttelte sie demonstrativ, sodass der Inhalt deutlich hörbar klapperte. "Mein Sold ist jetzt schon besser als bei der Wache. Ich wette, Armin, dass sich deiner auch aufbessern lässt."
Armin Bein war in der Tagwache von Sto Helit ausgebildet worden und dann nach Ohulan Cutash versetzt worden. Er war damals sehr überrascht gewesen, wie anders das Wächterleben hier auf dem Land war. Er hatte einst eine sehr gute Ausbildung von seinem Feldwebel bekommen, aber in Ohulan Cutash schien der Begriff "Ausbildung" gar nicht zu existieren. Schnell hatte er gelernt, seine gute Ausbildung so gut es geht zu verheimlichen, sich anzupassen und in entscheidenden Momenten von seiner Ausbildungserfahrung Gebrauch zu machen. Und so war es ihm gelungen, innerhalb von einem Jahr zum Korporal aufzusteigen, während zum Beispiel der Untergefreite Wellensittich auf diesem Rang schon seit vier Jahren festsaß. Mittlerweile war er bereits so gut darin, seine Talente zu verbergen, dass er selbst manchmal vergaß, dass er sie hatte. Jetzt erinnerte er sich zum Glück im genau richtigen Moment an einen ganz bestimmten Teil seiner Ausbildung, nämlich die verdeckte Ermittlung, und witterte eine gute Chance, seinem Gegenüber eins auszuwischen.
Er beugte sich verschwörerisch über den Tisch. "Was müsste ich denn tun?", sagte er, halb flüsternd.
Auch der Zwerg beugte sich über den Tisch.
[13] "Du musst einfach nur stillhalten. Die Wache braucht nichts davon zu erfahren, wer der Rote Johann ist, oder dass es ihn überhaupt gibt."
"Nun, der einzige andere Verdächtige, den wir haben, bist du."
Starkimarm lächelte verschmitzt. "Was ist denn mit dem Mönch, den ihr in Gewahrsam habt?"
"Er hatte keinen echten Stein bei sich, nur einen Glasstein, den er von dem Priester geschenkt bekommen hat, als er den echten zurückgebracht hatte."
"Du meinst den Priester, den keiner aufzufinden vermag? Der nie existiert hat?"
Ein verstehendes Grinsen machte sich auf dem Gesicht des Korporals breit. "Das ist auch einer von seinen Anhängern gewesen?"
Der Zwerg nickte. "In der Tat, und es gibt genug andere. Es wird genug Beweise gegen diesen Mönch geben, und das im Handumdrehen. Und schließlich ist ja erwiesen, dass er im Besitz eines der Edelsteine war, nicht wahr?" Der Zwerg schob erneut die Schüssel mit Keksen zum Korporal hinüber. "Na komm, nimm einen."
Armin pickte sich einen Keks mit Marmelade heraus und biss genüsslich davon ab. "Ich hoffe aber, dass es auf der Dunklen Seite mehr gibt als nur Kekse", sagte er dann und zwinkerte. "Wenn du verstehst."
"Ich gebe dir einen Teil der Kaffeekasse", sagte der Zwerg grinsend und griff in die Schachtel. Dann drücke er dem Korporal etwas Rundes in die Hand.
Als der die Hand öffnete, sah er einen Knopf.
"Das jubelst du dem Mönch unter und fertig." Der Zwerg lehnte sich zurück. "Was eine Bezahlung angeht, wird ein andermal entschieden."
"Nachmittags...", murmelte Damian mit zusammengekniffenen Zähnen. Er und Bruder Jonathan hatten nun schon fast eine halbe Stunde schweigend hier gesessen.
"Was sagst du?", fragte Jonathan. Normalerweise sagte Damian kein Wort, wenn es nicht für eine andere Person von Belang war, doch Damian antwortete ihm nicht. Er legte die Stirn in Falten und starrte geradeaus. Dann schlug er völlig unvermittelt mit der Faust auf den Tisch, genauso wie der Leutnant, nur nicht in die gleiche Vertiefung.
Bruder Jonathan zuckte zusammen. Damian sah wütend aus, und das war er überhaupt nicht von seinem Mitbruder gewohnt. Damian zog seine Augenbrauen zusammen, biss sich auf die Lippe und ballte seine Hände zu Fäusten. Er atmete schnaubend ein und aus und begann mit den Zähnen zu knirschen. Dann klatschte er mit seinen Händen ein paar Mal auf seine Oberschenkel. Und plötzlich ließ er ein weiteres Mal seine Faust auf den Tisch knallen. "Aber natürlich!", rief er.
"Denk an dein Gleichgew...", begann Bruder Jonathan, doch Damian stand auf und stürmte aus dem Raum.
"Halt!", rief der Wächter, der auf der anderen Tür Wache gestanden hatte. Er griff nach Damians Arm, aber der war nicht aufzuhalten. Bruder Jonathan eilte ihm hinterher. Dann folgte auch der Wächter.
Damian rannte nicht, er machte nur sehr energische Schritte. Trotzdem mussten sowohl Jonathan als auch der Wächter rennen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Damian eilte geradewegs auf den Leutnant zu, der am Ende des Ganges stand und sich mit einem anderen Wächter unterhielt. Der hörte den Tumult hinter sich und drehte sich um.
"Bei den Göttern, was ist denn hier los?", fragte er.
"Sie müssen auf der Stelle eine Brieftaube hinter der Kutsche herschicken!", sagte Damian fast im Befehlston. So fasste es auch der Leutnant auf.
"Jetzt hören Sie aber mal. Wenn hier einer Befehle gibt, dann ja wohl ich." Als Jonathan und der Wächter das Geschehen erreichten, fügte er, an den Wächter gewandt, hinzu: "Ich habe doch gesagt, er soll den Raum nicht verlassen, Untergefreiter Wellensittich."
"Herr, er ist einfach losgestürmt, Herr." Der Untergefreite musste nach Luft schnappen. So viel Action gab es nur selten im Wächterdienst von Ohulan Cutash.
"Nicht so schlimm", sagte der Leutnant. "Der Stein war tatsächlich aus Glas. Aber warum bitteschön soll ich eine Brieftaube verschicken?"
"Weil der Rote Johann in der Kutsche ist", sagte Damian. "'Nachmittags', das hätte mir auffallen müssen!" Er schlug mit geballter Faust auf einen imaginären Tisch.
"Ha, das kann doch schon gar nicht", sagte der Leutnant. "Die Tore werden doch alle überwacht. Alle Leute wurden durchsucht."
"Nach unserer Verhaftung ist unsere Kutsche einfach weitergefahren", bemerkte Bruder Jonathan.
Der Leutnant warf einen furchtbar bösen Blick auf den Untergefreiten, der ein paar Zentimeter zu schrumpfen begann. "Stimmt das, Untergefreiter Wellensittich?"
"Ich fürchte ja, Herr", gab er zu und verabschiedete sich von seiner sicher geglaubten Beförderung.
In der anderen Richtung des Ganges war erneut ein Tumult zu hören.
"Was ist denn hier heute los?", brüllte der Leutnant. "Sind wir hier im Irrenhaus?"
Es war Korporal Bein, der nur mit Mühe Unterfeldwebel Starkimarm mit sich führte. Der war ganz offensichtlich nicht mit seiner Verhaftung zufrieden und wehrte sich, so gut er konnte. Doch der Polizeigriff des Korporals erfüllte seinen Zweck. Schaum, ursprünglich vom Mund des Zwerges, flog herum.
Vor dem Leutnant blieb der Korporal stehen und hielt seinem Vorgesetzten eine Schulter hin. Unter der Schulter klemmte die Kaffeekasse. Der Leutnant zog sie hervor, und sofort setzte sich der Korporal wieder in Bewegung. Den Zwerg bei sich zu halten, war zu anstrengend, um auch nur eine kurze Erklärung zu liefern. Er führte ihn die Treppe hinunter zu den Zellen.
"Was war das denn?" Der Leutnant war zu verwirrt, um noch sauer zu sein.
"Der Zwerg hat die Kaffeekasse gestohlen, um vom eigentlichen Verbrechen abzulenken: Dem Edelsteindiebstahl." Damian sagte dies in gewohnter Monotonie. Sein Ärger schien ebenso plötzlich verflogen, wie er gekommen war.
"Warum das denn? Wir haben deswegen doch die ganze Stadt abgeriegelt." Der Leutnant kratzte sich am Kopf. "Warum nicht einfach abhauen?"
"Wohin denn?", fragte Damian rhetorisch. "In den Wald? In die Getreidefelder? Zu Fuß bis in den nächsten Ort? Man könnte ihn problemlos auf einem Pferd einholen. In der Kutsche ist er viel schneller weg. Er sorgt also dafür, dass die Stadt abgeriegelt wird, dass ich vor ihm kontrolliert werde und einen verdächtigen Gegenstand bei mir habe, und fährt dann mit der Kutsche weiter."
"Und der falsche Priester...?", begann der Leutnant.
"... war einer seiner Männer, Herr", berichtete Korporal Bein, der soeben die Stufen vom Zellentrakt heraufgekommen war. "Und Unterfeldwebel Starkimarm auch."
Er berichtete ausführlich vom Geschehen in der Wohnung des Zwergs.
"... und dann habe ich ihn verhaftet und hier hergebracht."
"Was hat er dir angeboten? Kekse?" Der Leutnant schaute ungläubig.
"Ja, Herr. Aber ich habe mich nicht bestechen lassen, Herr." Die Unterwürfigkeit half ihm, in seine Rolle zurückzufinden. Er zog den Knopf aus der Tasche. "Außerdem gab er mir den Knopf, den ich Ihnen unterschieben sollte", fügte er an Damian gewandt hinzu.
Damian nahm den Knopf und sah ihn sich genauer an.
"Na, dazu auch irgendwelche Vermutungen, Herr Detektiv?", sagte der Leutnant sarkastisch.
Damian drehte ihn ein paar mal in seinen Fingern. "Nein", antwortete er dann schlicht.
Eine Stunde später saßen Damian und Jonathan bei dessen Mutter zuhause und tranken Tee. Sie hatten beschlossen, den Rest des Weges zu laufen, denn die nächste Kutsche würde erst in einem Monat in Ohulan Cutash Halt machen. Eine Brücke zwischen Lancre und Ohulan Cutash war eingestürzt und verhinderte so die Überquerung des Flusses Lancre. Kein Brückentroll war bereit, seine Brücke zur Verfügung zu stellen, und so kam der Verkehr zeitweilig zum Erliegen.
"Du warst sehr unausgeglichen vorhin", merkte Jonathan an.
"Ja?" Damian dachte daran zurück. "Das war also nicht nur in meiner Vorstellung?"
"Nein, aber seinen Zweck hat der Ausbruch nicht verfehlt." Direkt im Anschluss hatte der Leutnant nämlich eine Brieftaube nach Sto Helit geschickt, zum nächsten Halt der Kutsche. "Hoffentlich fassen sie da den Täter."
"Wohl kaum", murmelte Damian.
"Vor deinem Ausbruch hast du auch etwas gemurmelt", bemerkte Jonathan.
"Was denn?", fragte Damian.
"Ich glaube, du sagtest 'nachmittags...'. Was meintest du damit?"
Das hat der falsche Priester zu mir gesagt. Als ich ihn gefragt hatte, wo denn der echte Priester sei, sagte er, er sei die Nachmittags-Schicht. Der echte Priester hatte aber gestern nachmittag das Paket mit den Edelsteinen angenommen, das mit uns zusammen in der Kutsche gekommen war. Ich hätte be
merken müssen, dass da was nicht stimmte." Er schlug mit der Faust auf den Tisch.
"Beruhige dich", sagte Jonathan beschwichtigend.
Seine Schwester sah aus der Küche in das Zimmer. "Alles in Ordnung?", fragte sie.
Jonathan nickte. "Das Wandern wird dir gut tun", sagte er zu Damian.
Und mir auch, dachte er.
-Und das waren die Gründe, dachte Damian zu sich,
warum ich und Bruder Jonathan den Rest unserer Reise, einmal der Länge nach über die Kohlfelder der Sto-Ebene, zu Fuß gegangen sind."Rekrut!"
Vor Damians Augen materialisierten sich die Straßen von Ankh-Morpork. "Hm?", murmelte er.
"Rekrut, antworteft du mir noch?", fragte seine Ausbilderin.
"Was war die Frage, Ma'am?" Er trottete ihr auf dem Streifengang hinterher.
"Ob du fon mal längere Wege zu Fuß zurückgelegt haft?", fragte sie.
"Oh ja", sagte Damian. "Oh, ja."
ENDE?
Nein, ein bisschen was kommt noch.Die Kutsche wackelte in regelmäßigen Abständen. Roj saß trotzdem sehr bequem. In seiner Hosentasche spürte er den Stein, der ihn an seinen Erfolg erinnerte. Er lächelte.
Ihm gegenüber saß ein Mädchen, das vielleicht zwölf Jahre alt war. Es hielt einen Ikonographen in der Hand und knipste schon die ganze Fahrt über wie verrückt in der Gegend herum. Roj wunderte sich, dass dem Apparat die Farbe noch nicht ausgegangen war. Sie hatte schon ikonographiert, als die Mönche verhaftet wurden. Jetzt machte sie Aufnahmen von Kohlfeldern, die am Fenster vorbeizogen.
Roj wandte sich an den Mann, der neben ihr saß und wohl ihr Vater war. "Entschuldigung, es treibt mich gleich in den Wahnsinn. Ich glaube, ich kenne Sie von irgendwoher."
Der Mann sah ihn an. "Ich weiß nicht", sagte er. "Wie heißen Sie denn?"
"Roj Bentiron", sagte Roj.
"Das klingt überwaldisch", sagte der Mann.
"Tatsächlich stamme ich aus den Spitzhornbergen", sagte Roj.
Der Mann reichte ihm die Hand. "Werner Falken", stellte er sich vor.
Roj schüttelte wie enttäuscht den Kopf. Dann griff er die Hand des Mannes. "Nett, Sie kennen zu lernen. Wie heißt denn Ihre Tochter?"
"Irene." Der Mann sah seine Tochter an. "Sag 'Hallo', Irene."
Das Mädchen drehte sich zu Roj und zog den kleinen Hebel an der Seite ihres Ikonographen. Der Lichtblitz von dem kleinen Salamander, der auf dem Kasten saß, machte Roj für einen Moment fast blind.
"Irene Falken." Roj lächelte. Er merkte sich den Namen gut, denn schließlich hatte sie gerade ein Bild von ihm gemacht. Das konnte irgendwann noch Probleme geben.
Dann zählte er im Kopf von fünf runter.
Ein Knacken war zu hören. Die Kutsche neigte sich etwas nach rechts und verharrte, während die Pferde zu wiehern begannen. Ein paar Gepäckstücke rutschten durch die Kabine.
"Nicht schon wieder", stöhnte Werner.
"Kann ich aussteigen und ein paar Bilder machen?", fragte Irene aufgeregt.
"Warum nicht", sagte er und blickte wieder auf.
Der Platz ihm gegenüber war leer.
Roj rannte bereits über eines der Kohlfelder davon, an allen Wächtern, die Brieftauben bekamen, vorbei.
ENDE
[1] Ecalpon war eine kleine Stadt
[14] jenseits der Eiswüste, die sich drehwärts von Llamedos erstreckte. Dementsprechend waren dort die Winter hart, die Sommer mild und die Bewohner gegen jede Form von Kälte abgehärtet.
[2] Tatsächlich hatte Damian sogar Glück. Denn wie berichtet Erik Kreuzschlüssel zutreffend in seinem berühmten Buch "100 Spaziergänge in den Spitzhornbergen":
Der unvorbereitete Spatzyergänger hüte sych vor dem Myttgebyrge. Noch nye yst jemand in ihm verhungert oder verdurstet. Nymand yst erfroren oder vom Blytz erschlagen worden. Dye Yetis waren ymmer schneller.[3] Und auch noch am Leben war. Das musste hinzugefügt werden, denn normalerweise hing man nur mit verbundenen Augen irgendwo, wenn man an einem Seil unter einer Brücke hing, das Seil am Hals befestigt war und irgendwer besonders wütend auf einen war.
[4] Igor sagte, das läge daran, dass der Gleichgewichtssinn eine "Ffnecke im Ohr" sei. Bruder Jonathan hatte bis heute nicht verstanden, wofür diese Metapher stehen sollte.
[5] Auch dazu hatte Igor etwas zu sagen. Er verglich Damians Situation mit der eines Werwolfs: Wenn ein Werwolf in Wolfsform war, verlor er die Möglichkeit, Farben zu sehen. Gleichzeitig veränderte sich der Geruchssinn allerdings so grundlegend, dass sich das Gehirn eines Tricks bedienen musste, um das zu verarbeiten. Es stellte sich Gerüche als Farben vor. So berichteten es zumindest die meisten Werwölfe. Und Damians Hirn hätte dasselbe gemacht, indem es für den grundlegend veränderten Gleichgewichtssinn die Vakanz des Geruchssinnes übernommen hatte.
[6] Aus Mangel an einem Glauben an einen bestimmten Gott durfte er sich nicht "Theologe" nennen.
[7] ca. 22500 AM$. Na gut, das ist viel. Aber für einen Edelstein in einem Tempel war er erstaunlich klein.
[7a] Erik Kreuzschlüssel schwor auf die wasserfesten Jacken von Orak Oraksson. Seit er in seinem berühmten Reiseführer
100 Spaziergänge in den Spitzhornbergen beschrieben hatte, wie angenehm es war,
Ein' Orak zu tragen, war die Stadt am Rande der Sto-Ebene, direkt an der Grenze zu Lancre, dafür berühmt geworden. Und außer dem Wochenmarkt gab es auch nichts anderes in der Stadt, was erwähnenswert wäre.
[9] In Ankh-Morpork hätte das nicht gegolten, da wäre das Geld nach ca. 3 Sekunden aus den Taschen verschwunden, aber in der Kleinstadt lebte man noch gesitteter. Das einzige, wovor man sich als Bewusstloser auf den Straßen von Ohulan Cutash fürchten musste, waren böse Raben mit Augen-Heißhunger.
[10] Der sogenannte Vorführeffekt, auf der Scheibenwelt ein Naturgesetz
[11] Auch gerne mal das andere Wort mit dem Scharfen S.
[12] Leutnant Kobberwibbel war vermutlich Rekordhalter im Auf-den-Tisch-Hauen, denn an der Stelle, an der er auch dieses Mal den Tisch traf, war eine deutliche Vertiefung zu erkennen.
[13] Ihm fiel es aufgrund seiner vertikalen Einschränkung deutlich schwieriger, aber der narrative Kontext verlangte es auch von ihm, sich verschwörerisch über den Tisch zu beugen.
[14] Nach morporkischem Standard waren fast alle Städte klein. Nach ihren eigenen Maßstäben waren alle Städte groß.
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