Kinderszenen

Bisher haben 3 bewertet.Du hast schon bewertet!

von Feldwebel Ophelia Ziegenberger (RUM)
Online seit 28. 05. 2013
Zeitmönche haben die Geschichte auf den 28. 09. 2012 datiert
PDF-Version

 Außerdem kommen vor: MaganeEttark Bergig

Der erste Schwarze Mann war vermutlich die anthropomorphe Personifizierung der Angst, der Dunkelheit der Höhlen und des Schreckens der Nacht, die später zur eigentlichen Zahnfee wurde. Dieser lebte in einer eigenen Welt, die abseits der Scheibenwelt liegt.

Zahnfeen sind anthropomorphe Personifizierungen, die nächtens die ausgefallenen Zähne der Kinder der Scheibenwelt holen, die diese unter ihr Kopfkissen gelegt haben. Sie hinterlassen dafür etwas Geld. In Ankh-Morpork handelt es sich hierbei um eine 50 Ankh-Morpork Pence-Münze und im Achatenen Reich ist es ein Rhinu.

Diese Geschichte nimmt als mein erster Beitrag an der Schreib³Aktion teil.




Dafür vergebene Note: 12

Das Wesen schloss verärgert die Aufzeichnungen vor sich.
Sie sind alle nur unfähig! Damals habe ich den Dschob noch ganz alleine gemacht und bin auch gut zurechtgekommen. Jetzt haben sie einander, sind organisiert, arbeiten mit den neuesten Gerätschaften und in Schichten, um sich zwischendurch auch mal ausruhen zu können und kommen mir dann trotzdem mit solch haarsträubenden Behauptungen: Die Kinder sind zu alt, die Kinder sind zu frech, die Kinder sind zu jung, die Kinder sind zu brutal! Unfug! Wenn ich noch an ihrer Stelle unterwegs und am Sammeln wäre, dann...
Die uralte anthropomorphe Personifizierung von Angst und Schrecken hielt bei dem Gedanken inne.
Was hält mich davon ab? Es ist lange her, dass ich selber durch die Nacht reiste, gewiss. Aber so etwas verlernt man ja nicht.
Sie erhob sich zögerlich, streckte ihre feingliedrige Hand von sich und betrachtete die Finger in dem zarten, hellen Fleisch - oder dem, was man dafür halten mochte. Ein fast wölfisches Grinsen huschte über ihre sonst so freundlichen Züge und dann rann ein Schimmern, gleich fließendem Wasser vom Kopf her an ihrem Körper hinab. Ihr Aussehen wechselte in der gleißenden Bewegung, so dass es wirkte, als wenn die schlanke, strahlende Figur der Zahnfee mit dem schwarz der galaktischen Finsterniss übergossen würde. Das Alter Ego des Wesens streckte seine breiten Schultern und hob das plötzlich maskuline Haupt mit den glimmenden Augen.
Wer sagt's denn! Nichts habe ich verlernt. Ich könnte in dieser, wie in jener Form reisen. Ganz wie es mir beliebt.
Der Schwarze Mann legte den Kopf zufrieden in den Nacken und schloss die Augen.
Doch hier, an diesem Ort, gab es keinerlei Furcht zu wittern. Die Wände des weißen Palastes schluckten samtig und matt jedwedes Geräusch, die unzähligen Zahnfeen, die auf den diversen Etagen ein und aus gingen, waren lediglich in ihr Tagewerk vertieft.
Seine dunkle Haut schauderte in dem kalten weiß. Er seufzte leise, konzentrierte sich und schnippte dann mit den Fingern.
Die weite Tunika aus Schatten und Schatten in den Schatten löste sich auf, fiel schrumpfend in sich zusammen und die Gestalt der jungen Frau kam darunter zum Vorschein, welche mit schiefem Grinsen mit den schmächtigen Schultern zuckte.
Dann eben in dieser Form. Hauptsache ich komme nach so langer Zeit mal wieder raus und kann den Jungspunden zeigen, was es bedeutet, ein Meister seines Fachs zu sein.
Die blondgelockte Dame warf sich einen hellblauen Umhang über ihr langes, weißes Kleid und ging mit weit ausgreifenden Schritten zum Hangar mit den magischen Fluggeräten. Sie genoss den Blick ihrer Angestellten hinter dem hohen Tresen der Vorhalle, als sie sich dabei im Vorübergehen eine der Auftragskladden für diese Nacht nahm.
"Ich bin heute Nacht selber unterwegs. Es könnte früh werden."
Der Blick des brünetten Mäuschens folgte ihr und sie konnte förmlich vor sich sehen, wie deren Mund dabei noch immer leicht offen stand.
Die Zahnfee kicherte leise und spürte ungeahnte Euphorie in sich aufsteigen. Sie hob im Gehen die Liste vor ihre Augen und studierte die dort vermerkten vier Namen.

- Enaga Mim Drachenzüchtertochter
- Esther Margret Frana Elena Flanellfuß
- Ettark von Bergigen
- Ophelia Ziegenberger


Das Wesen faltete den Zettel zufrieden zusammen und steckte ihn in die Umhängetasche.
Ein Junge, drei kleine Mädchen. Das ist nicht allzuviel für die erste Nacht nach so langer Zeit. Ein schöner Einstieg in die glorreichen alten Zeiten.

Das Oktarinkind


Es war selten, dass der Ruf von den weiten Ebenen des omnianischen Flachlandes her an ihr zog. Die Menschen dort waren eigen, was ihre Überzeugungen anbetraf. Und sie legten viel Wert darauf, sich diese Eigenheit zu bewahren. Fremde wurden als potentielle Feinde gesehen und selbst den Kindern brachte man schon bei, dass es keine Erscheinung neben Om geben durfte, so sie in dem Ruf stehen wollten, sich einen gesunden Geist zu bewahren.
Dementsprechend vorsichtig näherte die Zahnfee sich dem ersten Haus dieser denkwürdigen Nacht.
Was mag das nur für ein Kind sein, das in einer solch streng gehüteten Umgebung willens ist, sich eigene Überzeugungen zu bewahren?
Wäre da nicht der Sog gewesen, der eindeutig an ihre Pflicht als Zahnfee gebunden war, hätte sie eher dem dunklen Drang ihrer zweiten Natur nachgegeben und wäre als Schwarzer Mann der Angstspur gefolgt - die zum gleichen Kind führte!
Das Haus lag im Dunkeln, doch das war sie von früheren Einsätzen gewohnt. Sie vergewisserte sich, aus welchem Zimmer ihr das Gefühl entgegenschlug und setzte mit dem Einbruchswerkzeug leise am Fensterrahmen an.
Der Riegel schnappte im gleichen Moment wie von Geisterhand geführt auf und sie sprang mit einem stummen Aufkeuchen zurück.
War ich das? Ist der Riegel nur so leichtgängig, dass ich gar nicht gemerkt habe, wie viel Druck ich ausübte?
Sie wartete unter größter Anspannung einige Sekunden ab, doch die Nacht in ihrer unmittelbaren Nähe blieb ruhig und auch der Riegel regte sich nicht mehr ungebührlich. Sie runzelte die Stirn, trat dann wieder heran, öffnete entschlossen das Fenster und schob die Gardine beiseite.
Ein oktarines Glühen erfüllte den Raum und im Zentrum des dunklen Lichtes befand sich eine Jugendliche, die ihr geduldig von der Bettkante aus entgegen sah.
Die Zahnfee fröstelte unwillkürlich, so unheimlich wirkte das blasse Mädchengesicht inmitten des magischen Leuchtens. Sie war schlank und schlacksig, wie es die Jugend in diesem gewissen Alter so an sich hat. Das Nachthemd lag dicht an ihrem Körper an und verriet damit unweigerlich, dass sie an der Schwelle zur Frau stand. Ihre großen blauen Augen wirkten wie unnatürliche Seen, klar und doch unergründlich, umrahmt von tiefschwarzem, langem Haar.
Sie sahen einander an und sie hatte es nur ihrer Jahrhunderte währenden Erfahrung zu verdanken, dass sie als erste das Wort ergriff.
"Du hast mich gerufen, Enaga? Ich bin hier, weil Du mir einen Zahn geben und dafür ein kleines Geschenk von mir haben möchtest?"
Denn anders konnte es nicht sein. Das Mädchen hatte auf sie gewartet gehabt.
Verdammt, irgendwas stimmt hier nicht. Sie ist viel zu alt für einen Milchzahn-Deal. Ganz abgesehen von diesen gruseligen Umständen! Ein solches Talent gehört ausgerechnet hier auf gar keinen Fall hin. In den Spitzhornbergen hätte ich eher damit gerechnet. Aber in einer omnianischen Gemeinde? So liberal sie auch geworden sind, 'Unfälle' gibt es immer wieder. Wie hat sie bis jetzt überlebt?
Das Mädchen senkte zustimmend den Kopf... und schüttelte ihn dann kurz. Ihre Stimme klang entschieden, ganz anders, als von ihrem puppenhaften Äußeren her zu erwarten gewesen wäre.
"Du bist die Zahnfee?"
Nun war es an ihr, kurz zu nicken.
"Das ist richtig."
Die Hand des Kindes, die bisher schwer auf deren Kopfkissen gelegen hatte, glitt nun in einer so langsamen Bewegung unter dieses, dass man hätte meinen können, es erwarte, dort im Verborgenen von einer Schlange gebissen zu werden. Enaga zog ihre Hand wieder hervor, dieses Mal jedoch zur Faust geballt. Sie blickte ernsthaft auf.
"Ich möchte, dass du das hier mitnimmst. Ich will auch kein Geschenk dafür. Immerhin ist es nicht mal mein eigener Zahn und ich weiß, dass du nicht dazu gezwungen bist, auf diesen Handel einzugehen. Aber bitte mach es trotzdem, ja? Die Anderen hier würden... mir auf keinen Fall glauben. Ich will keine Probleme bekommen. Aber ich weiß genau, wenn er im Haus bliebe, würde es ein Unglück geben. Und ich kann ihn weder vergraben, noch einfach fortwerfen oder verstecken. Er kommt immer wieder zu mir zurück! Ich habe Angst, dass etwas passiert. Entweder er reagiert auf die ganzen heiligen Schriften in Tantes Lesezimmer oder... oder es passiert eben irgendwann ganz von alleine irgendwas."
Das blasse Puppenmädchen sah sie bittend mit ernsthaftem Blick der strahlend blauen Augen an.
Der Moment zog sie so in seinen Bann, dass sie sich selbst fast gewaltsam von dem Blick lösen musste, um den Gegenstand auf der hingestreckten Handfläche zu betrachten.
"Ein Drachenzahn!", rief sie leise aus.
Das Mädchen musste schwer schlucken und die elementare Kraft frischer Angst trieb in unsichtbaren Schwaden durch die karg eingerichtete Kinderzimmernische.
Die Zahnfee zögerte und sah das verängstigte Mädchen misstrauisch an.
"Wie bist du an ihn herangekommen, Enaga?"
Die Jugendliche errötete leicht und wich dem Blick aus.
"Das ist egal", murmelte sie undeutlich.
Die Zahnfee musste leise lachen.
"Du hast ihn geklaut?"
Enaga biss sich leicht auf die Unterlippe und schüttelte vehement den Kopf.
"Nein, sowas würde ich niemals machen. Om straft Diebe mit der Inbrunst seiner Wahrhaftigkeit."
Sie griff nach dem Corpus Delicti und wog es nun auf ihrer eigenen Handfläche.
"Wenn Du den Drachenzahn nicht gestohlen hast, wie ist er dann in deinen Besitz gelangt, hm? Normalerweise geben sie ihre Zähne nicht freiwillig her und es ist eher unwahrscheinlich, dass irgendjemand in deinem Dorf ein magisches Artefakt besessen hat."
Sie beobachtete amüsiert, wie das Mädchen sich innerlich wand, ehe sie sich zu einer Antwort durchrang.
"Von einem Zauberer. Er kam durch unser Dorf. Aber er hatte es dann sehr eilig, weiterzuziehen. Die Wenigsten bleiben lange genug, bis der Teer heiß ist. Jedenfalls hat er ihn auf der Flucht am Waldrand verloren. Ich hab ihn nur gefunden. Was auf dem Boden liegt, darf man behalten."
Sie konnte das warme Pulsieren von Magie in dem winzigen Gegenstand quasi durch ihre Haut hindurch spüren. Sie dachte nur kurz nach, bevor sie den Drachenzahn kurzerhand einsteckte.
"Du weißt schon, Enaga, dass der Zahn noch dein kleinstes Problem ist?", womit sie in einer umfassenden Geste das okatrine Glühen umschrieb.
Die Miene des Mädchens verhärtete sich, was ihr fast etwas Herrisches verlieh.
Meine Güte! Das Gör wird ein richtig ansehnliches Weibsbild werden. Die Kleine hat Potential, nicht nur in einer Hinsicht. Die wird den Männern noch den Kopf verdrehen und mehr als nur einen bei der Hand haben.
Enaga verschränkte ihre Arme vor der Brust.
"Ich kann nichts dafür! Om ist gnädig, Om ist langmütig, Om ist mit den Demütigen. Wenn ich mir Mühe gebe, nicht der Schwäche nachzugeben, wird er mir verzeihen. Es muss nur der Zahn weg, dann kann ich wieder wie vorher sein und keiner braucht sich Gedanken darüber zu machen. Ich bekomm das schon hin."
"Bist du dir sicher?", antwortete sie mit einem durchtriebenen Grinsen. Die Verlockung war einfach zu groß, noch einmal die Angst zu schüren, die in dem Kind lauerte. Gepaart mit der Ungewissheit ihre Zukunft betreffend, ergab sich ein unwiderstehlicher Geruchscocktail, selbst wenn sie diesen in ihrer aktuellen Form nur ungenügend würdigen konnte.
Vielleicht sollte ich für den nächsten Auftrag die Gestalt wechseln?
Das oktarine Leuchten begann unstet zu flackern.
"Ich schaff das schon. Ich brauch nicht erst dich, um mir zu sagen, dass es schwierig ist. Aber ich... ich bekomme das schon hin. Zur Not hilft mir meine Oma. Du musst nur den Zahn mitnehmen, dann wird alles wieder gut werden."
Die Zahnfee nickte.
"In Ordnung. Du brauchst keine Hilfe. Um so besser. Denn ich hätte dir auch keine angeboten. Dann setze ich meinen Weg fort und lasse dich hier in diesem hinterwäldlerischen Kaff mit seinen irren Gläubigen versumpfen. Viel Glück mit Om - du wirst es brauchen!"
Sie verließ den Raum so, wie sie ihn betreten hatte. Sie zog die dünnen Damenhandschuhe gegen die Reisekälte über und nahm in ihrem Gefährt Platz.
Die jugendliche Hexe gab ihr zu denken. Eigentlich benötigte solch ein Kind Anleitung, um den Umgang mit seinen Fähigkeiten zu erlernen. Andererseits...
Was soll's! Das ist nicht mein Problem. Sie blickte mit verschlagenem Lächeln auf in die glitzernden Sterne des Nachthimmels. Für mich zählen heute Nacht nur die Kinder, die da noch kommen mögen. Und nach dieser Strapaze dürstet es mich nach Emotionen!
Kurz darauf existierte ihre vormalige Lichtgestalt nicht mehr und stattdessen huschte tintenschwarze Dunkelheit wie dichter Nebel zur nächsten Adresse, in bösartiger Vorfreude grollend wie ein herannahendes Sommergewitter.

Das Goldkind


Die Entscheidung war gut getroffen gewesen. Dem lockenden Ziehen eines wartenden Milchzahns gesellte sich eine vage, schwach flackernde Spur schläfrigen Unbehagens hinzu, wie die Zahnfee - nun in der witternden Form ihres anderen Persönlichkeitsanteils manifestiert - beim Annähern an das alte Anwesen registrierte. Sie, beziehungsweise er, sog den Duft tief in seine Lungen. Furcht vor dem Unbekannten, Ahnungen, Ungewissheiten, die Ansätze zu brutalen Träumen, die das zwischenzeitliche Aufschrecken und Dahindämmern des Kindes zu diffusen Wachträumen formten und das Gemach immer wieder mit köstlichsten Aromen pulsierender Angst fluteten.
Der Schwarze Mann ließ sich der verträumten Angst entgegenfallen, ebenso, wie ein feines Fräulein der Ohnmacht in die Arme sinken und ihren Körper dabei vergessen mochte.
Einen Lidschlag später verdichtete er sich wieder, dieses Mal keine zehn Zentimeter von dem Mädchen entfernt unter dem Bett, in welchem sie lag. Im Gegensatz zu anderen Kinderzimmern konnte er hier alles klar und deutlich erkennen, denn offenbar brannte in einer Ecke des Raumes warm und stetig der Schein einer Petroleumlampe als Nachtlicht. Er sah sich aus diesem extrem niedrigen Blickwinkel heraus flüchtig um und erkannte einen hochflorigen Teppich, dunkelpolierte Dielen und wuchtige Schränke. Ein besonders breiter Wandschrank stand offen, doch das Zimmer an sich war frei von herumliegendem Gerümpel.
Wie ich es mir dachte: Geld und gute Manieren. Ordnung in den persönlichen Dingen gehört da eben auch dazu.
Das Kind über ihm schreckte auf.
Er ließ seinen Kopf auf den Boden sinken, schloss die Augen und lag reglos dort.
Es raschelte unbehaglich in den Laken über ihm. Das Mädchen erstarrte regelrecht, als sie seine Gegenwart erahnte, ohne sich das entsprechende Gefühl logisch erklären zu können.
Kann es sein, dass ich der Erste meiner Art bin, der dieses Haus aufsucht? Sie scheint zwar eine deutliche Wahrnehmung für mich zu haben, sich aber überhaupt nicht darüber im Klaren zu sein, wer ich bin.
Seine Nackenmuskeln entspannten sich augenblicklich und er öffnete den Mund, um noch mehr von der Würze der jungen Angst inhalieren und seine Kräfte erfrischen zu können.
Ein Glückstreffer!
"Rach?"
Die leise Stimme auf der Matratze über ihm zitterte leicht und der Schwarze Mann horchte alarmiert auf.
Ist noch jemand mit im Raum? Tut sie nur so? Oder hofft sie darauf, dass ich jemand Anderer wäre, der sie erschrecken will?
"Rach..."
Kurz ging ihm der Gedanke durch den Sinn, dass das Kind vielleicht sogar mit einem Geist sprechen mochte, doch der stark ansteigende Angstpegel im Zimmer fegte jegliche Vorsicht beiseite. Er atmete genüsslich ein und strich berauscht mit den scharfen Krallen an der Unterseite des Bettrahmens entlang, so dass sie das hohe Schaben unweigerlich an der Hörschwelle erahnen musste, ohne sich dessen aber sicher sein zu können.
Das Aroma knospender Panik sprang ihn regelrecht an und er konnte sich ein euphorisches Kichern nicht verkneifen.
Eine leise Jungenstimme wisperte durch den Raum, kaum zu lokalisieren.
"Esther... pferchen!"
Das Wesen blinzelte und hielt inne.
In der selben Sekunde sprang das Mädchen vom Bett. Und seine Position veränderte sich schlagartig, als die Welt zur Seite rutschte und sich um ihn herumwickelte. Die Stimmen der beiden Kinder warfen sich gegenseitig knappe Kommandos zu, während er instinktiv immer wieder zu der Angst der Jüngeren zu teleportieren versuchte.
"Das ist nur deine Schuld, Rach! Wenn Papa das mitbekommt, dann gibt es wieder Ärger. Aber diesmal sage ich ihm, dass das deine Idee war!"
"Von wegen, Du hast genauso mitgemacht, Esther. Wehe du petzt!"
"Ieh, was ist das? So sieht die Zahnfee aber nicht aus..."
"Ich glaube ein Schwarzer Mann. Ich habe mal etwas über sie gelesen. Sie spüren, wenn man Angst hat. Sagt dir das was, Schwesterlein?"
"Ich habe keine Angst. Ich habe nie Angst!"
"Beweise es! Pack den anderen Teppichzipfel! Fester! Und zusammen!"
Seine Wahrnehmung rutschte immer wieder weg oder wirbelte um sich selber, während die beiden Kinder sich darum bemühten, ihn in dem Teppich gefangenzunehmen und dabei in einem merkwürdigen Muster um ihn herumhüpften, die nahen Möbel als Trittleitern und Absprungplattformen in ihren unvorhersehbaren Parcour integrierend. Endlich wurden sie dabei langsamer. Schon schöpfte er Hoffnung, sich zu den Ängsten der Kleinen hin und damit aus dem Teppich fort springen zu können, als er mit Entsetzen bemerkte, dass ihre Aussage der Wahrheit entsprach. Ihre Angst war verflogen und der Neugier gewichen. Er sah, im kostbaren Teppich eingewickelt, zu den Kindern auf. Und damit direkt auf die ungeschützte Spitze einer Degenklinge, deren Griff in der Hand des Knaben ruhte. Noch immer sprachen die Kinder miteinander, offenbar zufrieden damit, sich die Ereignisse selbständig zu erklären und ihn, als ihren Gefangenen, außen vor zu lassen.
"Er sieht gar nicht so aus, wie ich mir so einen vorstellen würde."
"Das kommt wegen des Lichtes, Esther. Normalerweise siehst Du sie ja nur schemenhaft im Dunkeln."
Beide neigten sie einen Moment lang die Köpfe beiseite, um ihn anzustarren. Dann lösten sie ihre Blicke ebenso unisono und ignorierten ihn wieder. Der Junge wandte sich dem Mädchen zu.
"Das macht dann fünfzig Pence."
Das Mädchen schrie empört auf.
"Was? Du hast sie wohl nicht mehr alle? Du hattest gesagt, dass die Zahnfee käme, nicht, dass ein Schwarzer Mann auftaucht. Und Geld habe ich für den Zahn auch keines bekommen! Also werde ich dir ganz sicher keins geben! Fünfzig Pence von Nichts sind Nichts."
Der Junge runzelte unwillig die Stirn.
"Das ist nicht richtig, Esther. Wer wettet muss auch zu seinem Wort stehen! Du hast noch genug Erspartes zur Seite gelegt, das weiß ich genau. Wettschulden sind Ehrenschulden!"
"Kannst du total vergessen! Und wenn du mich damit nervst, sage ich das Emma!"
Die grünen Augen des kleinen Mädchens sprühten regelrecht mutwillige Funken, als sie sich bei diesen Worten provokativ die Ärmchen in die Hüften stemmte.
Der Junge seufzte leise und schüttelte missbilligend den Kopf.
Der Schwarze Mann räusperte sich.
"Ähm..."
Die Degenspitze richtete sich wieder akkurat auf seine Kehle aus, nachdem sie bei der Diskussion der Geschwister einige Millimeter abgedriftet war.
"Du bist in unser Haus eingebrochen. Was hast Du zu deiner Verteidigung zu sagen?"
Das Wesen ließ seinen Kopf mit einem genervten Stöhnen auf den Boden sinken.
"Was ist das heute nur für eine Nacht?" Er blickte den arroganten Sprössling der Familie provokativ an. "Ihr habt mich eingeladen."
Der Junge betrachtete ihn.
"Womit haben wir das angeblich getan?"
Der Schwarze Mann verzog höhnisch den Mund.
"Mit dem Milchzahn unter dem Kopfkissen der jungen Dame."
Die Kinder sahen erst ihn, dann einander an. Der Junge begann mit glitzernden Augen in stillem Triumph zu seiner Schwester zu gucken. Diese rollte mit den Augen. Jener hingegen zog eine Braue in die Höhe und sagte in besonders freundlichem Tonfall zu ihr:
"Siehst du? Habe ich es nicht gesagt? Du solltest es dir endlich angewöhnen, deinem großen Bruder zu vertrauen!"
Das kleine Mädchen stapfte wütend mit dem Fuß auf.
"Das ändert nichts daran, dass ich kein Geld zu sehen bekommen habe. Und du deswegen auch keines bekommst. Ha!"
Langsam neigte sich seine Geduld dem Ende entgegen. Grummelnd versuchte er sich aus der Teppichrolle herauszuschieben, steckte aber unrettbar fest.
"Auf die Art und Weise habt ihr es euch sowieso verscherzt. Ihr bekommt von mir kein Geld zu sehen. Soweit kommt es noch, dass ich mir solch eine Behandlung gefallen lassen müsste und dann noch draufzahlen darf!"
"Du bist also wirklich die Zahnfee?"
Das Mädchen beugte sich neugierig näher, woraufhin ihr Bruder sofort dazwischen sprang und sie beschützend hinter sich drängte.
"Esther, nicht!"
Der kurze Anflug von Sorge war zwar keinesfalls auch nur annähernd mit der Angst seiner Schwester vor wenigen Minuten zu vergleichen gewesen, er genügte aber als beruhigende Brise für die Nerven, um sich kurzfristig zu entspannen. Er lächelte dem Gernegroß spöttisch entgegen.
"Ja, bin ich. Unter anderem. Und jetzt lasst mich gefälligst frei. Ich habe keine Lust mehr darauf, bei diesem merkwürdigen Spiel mitzuspielen."
Dem Mädchen fiel erst jetzt der Degen auf und sie quietschte erschrocken, um sich sofort darauf beide Hände vor den Mund zu halten.
"Rach! Das ist Vaters Degen. Du weißt genau, dass du den nicht nehmen darfst. Er hat gesagt, dass die Klinge vergiftet ist. Und überhaupt!"
Der Schwarze Mann schielte die feine Klinge hinauf und begann sich zu fragen, in was für eine Familie er hier geraten war.
Der ältere Bruder schien ihn einen Moment lang so nachdenklich zu mustern, dass es ihm merkwürdigerweise heiß und kalt den Rücken hinauflief - trotz des kuschligen Teppichs um ihn herum.
"Ich denke, der Herr schuldet dir noch eine Entschuldigung, Esther, ehe wir ihn wieder gehen lassen. Dafür, dass er dich so erschreckt hat."
Der Schwarze Mann starrte ihn ungläubig an.
"Wie bitte?"
Ich habe Generationen vor mir zittern lassen! Was bildet der Knirps sich eigentlich ein?
Doch die Stimme des Kindes blieb gleichbleibend gelassen und bestimmt.
"Es ist keine feine Art, eine Dame zu ängstigen. Ganz zu schweigen davon, sie unangekündigt in ihrem Privatgemach aufzusuchen. Ich muss auf einer förmlichen Entschuldigung meiner Schwester gegenüber bestehen und zudem um deine feste Zusage bitten, dass sich solch ein Vorfall keinesfalls wiederholen wird, Herr... Schwarzer Mann. Oder Zahnfee. Vorher kann ich dich nicht befreien."
Zorn begann in dem Wesen hochzukochen.
"Und was, wenn ich mich weigere? Was willst du dann machen, du Dreikäsehoch, hm?"
Der Junge überlegte eine Weile, ehe er antwortete:
"Ich könnte meinen Vater informieren, der wiederum unsere Familienanwälte ins Spiel bringen könnte. Ich habe mir sagen lassen, sie seien seit Längerem nicht mehr gefordert worden und würden auf eine Gelegenheit brennen, sich zu beweisen."
Der Gefangene im Teppich hatte unweigerlich eine Horde unterernährter, scharfer Wachhunde vor Augen. Es gab Schlimmeres. Oder? Er stöhnte genervt.
Heute ist nicht meine Nacht...
"Na gut. Verehrtes Fräulein... ich bitte um Verzeihung für meinen gesellschaftlichen Ausrutscher. Es wird nicht wieder vorkommen. Gut so?"
Das verwöhnte Gör mit dem offenen braunen Haar und den funkelnden grünen Augen strahlte ihn regelrecht an und nickte eifrig. Ihr Bruder begann an einem der Teppichenden zu ziehen und gemeinsam wickelten sie ihn aus.
Er kam taumelnd auf die Beine und brummte missvergnügt. Der Junge geleitete ihn schweigend durch das große Haus, entriegelte die schweren Schlösser der Eingangstür und öffnete ihm diese mit ruhigem Blick.
"Nur, dass wir uns richtig verstehen, Herr... Schwarzer Mann... solltest Du jemals wieder den Weg in das Schlafgemach meiner kleinen Schwester finden, werde ich im Gegenzug einen sehr schmerzhaften Weg finden, Dir dies zu vergelten."
Er ist nur ein Kind... nur ein Kind... dieses Gefühl von Gefahr ist... irrational...
Das Wesen wandte sich mit abfälligem Blick um.
"Als wenn ihr zwei Gören etwas so Besonderes wäret, dass es mich nochmals hierher ziehen würde. Pah!"

Das wispernde Geräusch der sich leise hinter ihm schließenden Tür kratzte noch eine ganze Weile an seinen Nerven, selbst dann, als er bereits den Zettel mit den beiden verbleibenden Namen hervorholte, um zu entscheiden, ob er in dieser Nacht wirklich noch sein ganzes Soll abarbeiten wollte.
Zwei Kinder. Es kann eigentlich nur besser werden. Oder?
Er hatte das spöttische Lachen der Zahnfeen in der Zentrale im Ohr und konnte sich vorstellen, was für ein gefundenes Fressen es für sie wäre, wenn er nach der halben Zeit schon unverrichteter Dinge zurückkäme.
Nein! Ich muss diese beiden aufsuchen. Vielleicht sind sie ja auch ganz zutraulich...
Merkwürdigerweise konnte er selber nicht so recht daran glauben und eine ungute Ahnung kroch ihm bereits den Nacken hinauf.
Nun gut... dann eben als nächstes zu diesem Ettark. Immerhin, er ist jünger. Da wird er doch wohl noch etwas umgänglicher sein. Am Besten erscheine ich ihm als Zahnfee. Jungs und hübsche Frauen... das sollte besänftigen.
Ein lautloses Flackern in der Nacht und kurz darauf beschien der Mond die strahlend schöne Erscheinung der Fee.
Welche sich martialisch ausschreitend und einigermaßen missgelaunt auf den Weg machte.

Das Blutkind


Das rustikale Herrenhaus lag etwas abseits des Dorfes auf einem Hügel. Das umliegende Gehöft umfasste Scheunen, Ställe, Vorratshäuser und Gesindebaracken. Vereinzelt brannten in den Fenstern bereits wieder Lichter, die der dunklen Nacht winzige Vorhöfe aus ihrem Territorium abtrotzten. Und an den größeren Gebäuden stieg sanft der Rauch wärmender Feuer aus den Schornsteinen in die Windstille empor.
Das friedliche Bild häuslichen Wohlstands konnte sie jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass an zwei exponierten Stellen des Hauptgebäudes, auf dem Dach, Wachen bereitstanden und lautlos ihre Blicke gen Himmel schweifen ließen. Oder aufmerksam die Schatten am Boden taxierten.
Die Zahnfee lächelte spöttisch, schloss kurz die Augen, ließ ihre Gestalt flüchtig werden und machte einen kleinen Dimensionssprung - der sie direkt in das Kinderzimmer des kleinen Erben brachte. Ihre Konsistenz verfestigte sich wieder, obgleich sie im Ganzen dabei etwas ins Taumeln geriet. Sie atmete mehrmals tief durch, um den Schwindel zu bekämpfen.
Ich sollte das nicht zu oft machen. Lieber doch wieder zu den Dietrichen greifen...
Sie zupfte sich das goldblonde Haar zurecht, dann ging sie auf das tiefe und ungewöhnlich breit gezimmerte Bett zu.
Ein rötlicher Haarschopf schaute oberhalb der zerwühlten Bettdecke heraus und blockierte das große Kissen. Die Arme des Knaben hielten es beidseitig fest umklammert, sein Atem ging tief und gleichmäßig, dem langsamen Heben und Senken des Deckenberges nach zu urteilen.
Die Zahnfee trat dicht neben ihn und suchte mit routiniertem Blick nach dem wahrscheinlichsten Ansatzpunkt, um das Kind bei ihrer Arbeit nicht aus dem Schlaf aufzuschrecken. Mit einem tonlosen Seufzer beugte sie sich über ihn und fuhr sacht mit der Hand vom Kopfende her unter das Kissen. Ihre Finger ertasteten einen Zahn und... noch einen Zahn?
Sie runzelte die Stirn und fuhr sacht mit den Fingerkuppen unter dem Leinen entlang, mit jeder Sekunde verwirrter.
...drei... vier... was geht hier vor?
Sie hielt kurz inne und betrachtete das wuschelige Haar.
Als sie ihr heimliches Tasten vorsichtig fortsetzte, stieß sie auf einen stabilen Faden - der die Zähne zu verbinden schien. Ein Bild erschien vor ihrem inneren Auge, als sie an dem nächsten Zahn eine Bohrung erspührte, dort wo der Faden auf diesen traf.
Eine Kette?
Ihre Finger griffen wie von selbst zu und begannen an den scharfkantigen Gliedern zu ziehen.
Das Band spannte sich und fast unmerklich zog sie das festgehakte Kissen ein Stück weit mit.
Der von ihr abgewandte Arm des Kindes zuckte und spannte sich ebenfalls an. Die Kette wurde plötzlich unnachgiebig zurückgehalten. Der Junge hob ruckartig den Kopf und sah sie gleichzeitig verschlafen und zornig an.
"Wer bist du?"
Sie stieß die angehaltene Luft aus.
Bleibt mir heute Irgendetwas erspart? Jetzt auch noch die Standarddiskussion, ob ich meinen Dschob machen darf, oder was?
Sie lächelte angestrengt.
"Fürchte dich nicht, kleiner Ettark, ich bin..."
"Ich bin nicht klein! Papa hat gesagt, dass ich schon fast erwachsen bin und er mir das richtige Schwert gibt!" Der Junge wickelte sich umständlich aus seiner Daunendecke und setzte sich inmitten des bauschigen Leinenberges auf. Er blickte sie herausfordernd unter dem zerzausten Schopf hervor an, obwohl er dabei gleichzeitig blinzelte und schlaftrunken schwankte. Er rollte einen Ärmel seiner Nachtkleidung hoch, um ihr stolz seine Muskeln zu demonstrieren. "Siehst du? Damit mach' ich die Zecken platt!"
Sie besah sich scheinbar tief beeindruckt seinen kaum zu erahnenden Bizeps und musste sich dabei das Lachen verkneifen.
Süßer Bengel! Ich hatte ganz vergessen, wie erheiternd kindlicher Enthusiasmus sein kann.
"Soso... na, dann müssen sich die Zecken wohl vor dir in Acht nehmen, was?"
Er nickte vehement, schien dann aber gedanklich über eine Sache zu stolpern, die ihn verunsicherte. Das keimende Misstrauen war so leicht von seinen Gesichtzügen abzulesen, dass sie fast damit gerechnet hätte, auch den Grund dafür jede Minute erahnen zu können. Seine Frage überraschte sie trotzdem.
"Bist du eine?"
"Eine was?"
Er rollte theatralisch mit den Augen, wie ein Großer, und erwiderte vorwurfsvoll ob solcher Begriffsstuzigkeit:
"Eine Zecke!"
Der Gedanke kam ihr, dass er eben davon gesprochen hatte, das Ungeziefer mit einem Schwert anzugehen. Und dass sie ihn vielleicht falsch verstanden haben könnte, von welcher Art lästiger Schmarotzer er reden mochte.
"Lass mich dir eine Gegenfrage stellen: Was genau meinst du damit? Vermutlich nicht die kleinen Tierchen, die aus dem Blattwerk kriechen?"
Der rothaarige Dreikäsehoch verschränkte seine Ärmchen und schnaufte.
"Das weiß doch jeder! So heißen die ekligen Vampire! Ist dir ein Hammer auf den Kopf gefallen? Weil, bei dem Jorgensen aus dem Stall war das so und dann konnte er auch nicht mehr richtig denken."
Unverschämtes Gör! Man wird ja wohl fragen dürfen...
Das Kind löste die - eindeutig von einem Erwachsenen abgeguckte - Armhaltung, beugte sich neugierig näher und stützte sich dabei weit auf beiden Armen vor.
"Vielleicht bist du doch eine?"
Sie hob arrogant eine Braue bei diesem lächerlichen Gedanken.
"Pah! Ich bin kein Vampir."
Der Junge sah sie auf einmal hochkonzentriert an und schien lauernd darauf zu warten, dass sie sich in eine Fledermaus verwandeln würde. Er ballte die kleinen Hände auf der Decke zu Fäustchen.
"Vielleicht lügst du nur. Mama sagt, dass sie immerzu lügen. Wenn du nur so tust, als ob, und das gar nicht wirklich so meinst, dann ist das lügen. Das ist verboten!"
Sie musste fast schmunzeln bei dem Gedanken, wie kurz das Dasein einer solchen Kreatur im Vergleich zu ihrem eigenen doch anmutete.
Er sprang entschlossen auf und stellte sich breitbeinig auf seinem Bett auf, die Arme in die Hüften gestemmt.
"Beweis mir, dass du keine eklige Blutsauger-Schmarotzer-Zecke bist."
Das ist ja wohl die Höhe!
"Ich denke im Traum nicht daran! Soweit kommt's noch! Weißt du was, Bürschchen? Ich hole mir jetzt einfach, weswegen ich hier bin und dann bin ich auch schon wieder weg und du kannst in Ruhe weiterschlafen."
Sie trat näher zum Bett, nahm mit einem zielgerichteten Griff das große Kissen beiseite und wollte die Kette, die darunter lag gerade an sich nehmen...
...als der kleine Junge sich mit wutentbranntem Angriffsschrei von der Seite her auf sie stürzte.
Sie hatte nicht einmal Zeit genug, sich darüber zu wundern, dass die Kette offenbar aus aufgefädelten Vampirfängen bestand, so überraschend heftig zog das Gewicht des Kinderkörpers an ihrem Hals. Er wollte sie wohl in eine Art Schwitzkasten nehmen und stellte sich dabei nicht einmal ungeschickt an, besonders in Anbetracht dessen, dass er den Schwung des Anlaufs dazu genutzt hatte, sie mit sich zu reißen und ihren Kopf gegen das robuste Holz des Bettes zu knallen. In der vergleichsweise schmalen Form ihres weiblichen Körpers bot sie kaum Trägheitsmasse, um dem Etwas entgegensetzen zu können, erst recht nicht, da sie sich soeben vorgebeugt hatte. Ihre Knie stießen schmerzhaft gegen den Bettrahmen, ihre ausgestreckte Hand fand nur kurz Halt, ehe sie seitlich wegknickte. Sie stolperte und fiel, die Beine am Boden, den Oberkörper halb auf der Schlafstatt, verzweifelt darum bemüht, sich wieder aufzurappeln und das würgende Bündel boshafter Energie an ihrem Hals abzuschütteln. Der hohe Schrei des Kindes hielt immer noch an und ließ ihre Ohren klingeln.
"Rrrrmmmmpfhh... lässt... du... wohl... argh... los, verflucht... hhhmpffff..."
Das Kind musste ein hölzernes Spielzeugschwert in Griffweite neben dem Bett liegen gehabt haben. Denn obwohl sie beschwören konnte, dass der Junge keine Sekunde von ihr abgelassen hatte, hieb er ihr das kleine Brett immer und immer wieder auf den Rücken.
"Hör endlich... aua!... auf damit, du Teppichratte! Oder ich nehm' dir dein dummes Spielzeug weg und... au! Au! Wirst du wohl..."
Endlich kam sie auf ihre Beine zurück und konnte den dünnen Arm weit genug von ihrem Hals wegbiegen, um sich aus der feindlichen Umklammerung zu befreien. Sie ging schnell auf Abstand zu dem kleinen Dämonenbraten.
Sie schnauften beide schwer von der Anstrengung und der mühseelig in Zaum gehaltenen Wut, während sie einander misstrauisch beäugten.
Das hektische Trampeln schwerer Stiefel hallte durchs Haus und näherte sich schnell.
Die Zahnfee rieb sich die pochende Schläfe und fasste dabei in warmes Nass. Als sie ihre Hand senkte, um einen kurzen Blick darauf zu werfen, stöhnte sie auf.
Ich fass es nicht! Blut! Was sind das nur für Kinder heutzutage?!
Sie sah zu dem geschnitzten Ornament der hölzernen Kopfstütze und konnte sich direkt bildlich vorstellen, wie sich dieses - gleich einem Stempelabdruck - in ihre Schläfe geprägt haben musste beim Aufschlag. Sie funkelte das Balg empört an.
"Geht man so mit Gästen um? Geht man so mit Frauen um? Was bringen dir deine Eltern eigentlich bei?"
Auch dem Jungen fiel das Blut auf. Es schien ihn etwas zu verunsichern. Aber nicht stark genug, um seine aufsässige Stimmung einknicken zu lassen. Der kurze Kampf hatte ihn aufgewühlt und ließ ihn angriffslustig die Fäuste ballen, während er sich mit widerspenstigen Gedanken abmühte.
"Du hast dich gar nicht vorgestellt. Und du willst mir meine Kette stehlen. Du bist kein richtiger Gast."
"Aber du hast die Kette doch selber unters Kopfkissen getan!", herrschte sie ihn ungehalten an. Inzwischen war sie von all dem nur noch genervt und frustriert.
Bringt den Kindern denn heute keiner mehr bei, was das bedeutet?
Der Junge runzelte die Stirn, beugte sich vorsichtshalber schnell hinab und drückte die Kette mit beiden Händen fest an seine Brust.
"Die kriegst du nicht! Niemals nie nicht! Das ist ganz allein meine!"
Die polternden Schritte waren fast an der Tür zum Kinderzimmer angelangt und inzwischen konnte sie sogar das metallene Schaben von gezogenen Schwertern ausmachen und das gedämpfte Rufen angedeuteter Kommandos.
Die Zahnfee rollte mit den Augen. Sie wollte das hier nur noch zu Ende bringen.
"Wenn du sie nicht weggeben willst, dann tu sie nicht für mich unters Kissen! Pack sie in deine Hosentaschen oder trag sie selber um den Hals oder was weiß ich aber: Ruf, verdammt nochmal, NICHT nach der Zahnfee!!!"
Der Junge sah sie verständnislos an.
"Zahnfee?"
Sie konzentrierte sich bewusst auf einen weiteren Dimensionssprung, um dieses Anwesen ohne die sich abzeichnenden Diskussionen schnellstmöglich verlassen zu können.
Der Sog löste sie in dem Moment auf und trug sie fort, als die Tür mit Schwung aufgestoßen wurde und gleich mehrere bewaffnete Männer hineinstürmten. Eine Armbrust richtete sich auf sie - der Bolzen zischte durch den Nebel ihrer verblassenden Erscheinung hindurch und bohrte sich mit dumpfem Aufschlag in die Wand hinter ihr. Ein Mann, bewaffnet mit einem martialischen Hammer und einem Holzpflock, der so frisch geschnitzt anmutete, dass sie die grob davon herabfallenden Splitter und Späne noch zu riechen meinte, rannte sofort zu dem Fenster des Kinderzimmers hinüber, um es zu sichern.
Inmitten der Männer kam eine Frau mit blank gezogenem Anderthalbhänder gerannt, deren Blick die Zahnfee aufgespießt hätte - wenn noch genug Substanz von ihr dazu im Raum verblieben wäre.
Die Stimme der Frau klang besorgt in ihren Ohren nach, als sie sich keuchend an der Außenmauer des Hauptgebäudes abstützte und im wahrsten Sinne des Wortes darum kämpfte, zu ihrer früheren Form zurückzufinden.
"Ettark, mein Schätzelchen! Ist alles in Ordnung mit dir?..."
Schätzelchen? Sie nennt diesen kniehohen Kampfköter in Kindergestalt ernsthaft 'Schätzelchen'!? Die hat sie ja nicht mehr alle!

Das Nachtkind


Inzwischen war sie an einem Punkt angelangt, der nichts mehr mit Idealismus zu tun hatte. Es ging ums nackte Überleben... gewissermaßen.
Sie hatte sich nach alter ankh-morporker Tradition auf kürzestem Wege in die nächstbeste Kneipe geschleppt. Wobei man einräumen musste, dass sie dafür erst in die Stadt wechselte. Und sie nahm nicht wortwörtlich die erste Spelunke... oder die beste. Es ging eben um's Prinzip!
Die anderen Gäste bedachten sie nur so lange mit neugierigen Blicken, bis sie ihnen mit flammender Intensität konterte, den Seidenhandschuh auszog, um mit dem Finger an ihre Kopfwunde zu rühren und dann das Blut demonstrativ von ihrer Hand leckte.
Der Wirt hatte langsam beide Brauen in die Höhe gezogen und dann, kaum dass sie am Tresen Platz genommen und ihr Handtäschchen darauf geworfen hatte, nur das Nötigste verlautbaren lassen.
"Knieweich?"
Sie hatte grimmig genickt, die fällige Münze auf das Holz geknallt und seitdem keinen weiteren Blick oder Gedanken an ihre Umgebung verschwendet.
Nur noch das eine Gör. Vorher geh' ich nicht zurück. Ich würde mich für die nächsten fünfhundert Jahre zum Gespött machen. Nein, da muss ich jetzt durch.
Der kleine Becher mit dem Halo der scharf ätzenden Dunstwolke trat seine Reise in die Höhe an, wurde zum Nippen an ihre Lippen angesetzt und mit leisem Keuchen auf der Theke abgesetzt.
"Drecksbälger!"
Der Wirt nickte verständnisvoll.
Früher war es nicht so schlimm gewesen. Da bin ich mir ziemlich sicher!
Sie schloss die Augen und massierte sich mit einer Hand leicht den Nacken.
Bei den Kerkerdimensionen! Ich geb's nicht gerne zu aber ich glaub', ich habe Schiss vor dem letzten der Kinder. Ob Albernheit oder böses Omen... aber die Gören sind mit jedem Mal schlimmer geworden. Was, wenn das letzte auf der Liste die ultimative Prüfung wird? Wenn das gar kein normales Kind ist, sondern... keine Ahnung, ein... Monster?
Die Zahnfee konnte sich viele schlimme Dinge vorstellen und je länger sie vor dem kleinen Becher an dem Tresen in der verkommensten Stadt der Scheibe saß, desto lebhafter wurden ihre Befürchtungen.
Sie schnappte sich den Becher und kippte den kleinen Restschluck daraus mit einer Bewegung ihre Kehle hinunter, um sich bestmöglich zu wappnen.
Hustend und röchelnd verließ sie kurz darauf die Kneipe und steuerte in Richtung des Bezirks der Geringen Götter.
"Na gut! Familie Ziegenberger also? Dann soll es so sein!"
Die Zahnfee spiegelte sich blass in einer der pockigen Scheiben und hielt inne. Ein finsteres Lächeln kroch auf ihre Lippen.
"Nein! Nicht so! Wenn schon, denn schon... dann will ich auch endlich etwas davon haben! Und diesmal nehme ich keine Rücksicht, sondern ernte, was mir gebührt!"
Wie von einem Eimer Teer übergossen wandelte sich das Äußere des Wesens. Der Schwarze Mann reckte seine Schultern.
"Besser! Viel besser!"

Im Gegensatz zu den letzten Kindern lebte dieses in bescheideneren Verhältnissen. Trotzdem war die Gegend nicht schlecht. Das mehrstöckige Haus inmitten der Straße lag eingequetscht zwischen zwei sehr ähnlich aussehenden, doch seine Fassade war frisch getüncht, die Türen schlossen mit stabilen Riegeln und in den Kästen vor den unteren Fenstern trotzte üppiges Grünzeug dem Wind. Die Straße lag erstaunlich einsam da und selbst der niemals ruhende Verkehrsfluss schien hier von weiter her an sein Ohr zu dringen.
Der Schwarze Mann sah an dem Haus empor.
Der Milchzahn lockt, schön und gut. Aber jetzt bin ich schon mal in dieser Gestalt hier, da werde ich deren Vorteile auch nutzen.
Er schloss die Augen, ließ sich dem sanften Zug, dieser hauchfeinen Duftspur aus vagen Ängsten, entgegenfallen...
...und kam mit einem heftigen Ruck hinter einer Papierwand wieder zu sich, wie sie die Damen in besseren Kreisen als Sichtschutz beim Umkleiden nutzten.
Eine Tür wäre zwar traditioneller gewesen aber immerhin... besser, als eine Landung im Kleiderschrank.
Er atmete tief durch und ließ die Fingerknöchel knacken.
Die Stille in dem angenehm temperierten Raum war mit einem Mal fast greifbar. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie das kleine Kind im Bett die Augen aufgeschlagen und erschrocken die Luft angehalten hatte.
Sollte es möglich sein? Könnte ich vielleicht doch endlich etwas Glück haben und auf ein normales Kind treffen?
Jemand tat einen tiefen Atemzug und drehte sich mit lautem Gewurschtel im Bett herum. Die Person kicherte im Schlaf und begann kurz darauf, leise zu schnorcheln.
Die furchtsame Erwartung hingegen, hing noch immer lauernd in der Luft.
Der Schwarze Mann runzelte die Stirn. Vorsichtig spähte er an der feinen Papierwand vorbei und hielt nach dem Grund für diese widersprüchlichen Informationen Ausschau.
Ah! In Ordnung... es sind zwei Kinder.
Für einen kurzen Moment musste er an das vorangegangene Geschwisterpaar denken, doch bei diesem hier lagen die Voraussetzungen wohl anders.
Die Furcht in dem dunklen Raum verdichtete sich zusehends und sein Blick wurde beinahe magisch von der Quelle der Emotion angezogen; dem unscheinbaren Bett in der Ecke, in dem sich absolut überhaupt gar nichts regte. Der dunkelhaarige Schopf verschwand fast, so hoch hatte das Kind die Decke um sich herum festgezogen. Er meinte jedoch, kurz das sacht reflektierende Schimmern ihrer Augen gesehen zu haben.
Oho! Vielleicht hat sie meinen Schatten ebenfalls schon gesehen? Ah, ich liebe dieses Spiel!
Wer zu lange angestrengt ins Dunkel starrte, dem spielten die Augen bald schon einen Streich. Ob auch das Kind schon verstanden hatte, dass es an seinem Verstand zu zweifeln hatte und seiner Wahrnehmung nicht uneingeschränkt glauben durfte? Wenn ja, dann war das exzellent, denn diese Verunsicherung machte seine Arbeit erst zu einem echten Vergnügen.
Er trat ein winziges Stück aus dem Schatten hervor, so dass sie einen Teil seiner Kontur erahnen können würde - und sich fragen würde, ob die Trennwand dort, in finsterer Nacht, schon immer so breiten Schultern geähnelt hatte.
Das kleine Mädchen zog die Decke noch enger an sich heran. Das Rascheln ihres Bettzeuges dabei war so leise, dass es in den schweren Atemgeräuschen ihrer Schwester fast unterging. Aber für ihn war es die schönste nur denkbare Nachtmusik.
Da geht noch was, da ist noch Spielraum...
Er versuchte sich daran zu erinnern, wie das Mädchen hieß. Als es ihm wieder einfiel, holte er sacht Luft und wisperte ihren Namen fast lautlos in das Zimmer.
"Opheeeeeliiiiiaaaaaaa..."
Der Deckenberg zuckte zusammen und nun konnte er ihren verunsichert suchenden Blick ganz deutlich spüren. Dementsprechend heftig schlug ihre Angst aus und er hatte kurzzeitig genug damit zu tun, diese reine Emotion in sich aufzusaugen und sich, nach all den Strapazen der Nacht, an den konzentrierten Gefühlen zu laben und zu stärken.
Ob sich der Effekt wiederholen ließe?
Er spitzte die Lippen und säuselte, undefinierbar wie der Wind:
"Opheeeeeliiiiiaaaaaaa..."
Die Decke zuckte über den Kopf empor und das Kind war nicht mehr zu sehen. Zumindest nicht mit den Augen. Seine anderen Sinne hingegen wurden regelrecht von den heftigen Gefühlswellen, die von der winzigen Sonne dort ausgingen, überrollt und der Versuch, so viel davon wie möglich in sich aufzunehmen, um die angeschlagenen Kräfte zu betanken, verschlug ihm fast den Atem.
Meine Güte! Wie kann ein Kind von gerademal fünf Jahren, so viel Energie abstrahlen? Das ist unglaublich!
Er wurde übermütig, doch gefangen in diesem Rausch, tat er den Gedanken als gleichgültig ab und huschte an ihr Bett. Er kniete sich dicht neben sie.
Mehr! Ich will mehr davon!
Seine Stimme würde auch gehaucht kein Problem damit haben, die Decke zu durchdringen.
"Ophelia..."
Ein ersticktes Keuchen, die Decke vor ihm begann sacht zu zittern und er brauchte nur noch den Kopf neigen und sich der fließenden Energie zu öffnen. Er fühlte sich schon beinahe trunken, als das Kind plötzlich mit herzerweichendem Beben in der Stimme, durch die Zudecke hindurch rief.
"Dschosie!"
Der Schwarze Mann blickte sich erschrocken zu dem zweiten Bett um.
Auf Probleme kann ich heute Nacht endgültig verzichten... ich verstecke mich besser. Danach sehen wir weiter.
Der kindliche Ruf erklang wieder und noch während er sich schnell unter ihr Bett flüchtete, rührte sich im anderen etwas.
Ein schmaler Schatten mit langem, dunklem Haar richtete sich mühsam auf, schob sein Bettzeug beiseite und kam schlaftrunken herüber. Das ältere Mädchen ließ sich auf die Bettkante fallen. Er konnte ihre nackten Füße direkt vor seinen Augen betrachten.
"Was ist jetzt wieder los? He, rede mit mir! Du hast mich wach gemacht, also guck mich gefälligst an und gib mir eine gute Begründung dafür, warum ich nicht so richtig, richtig böse werden soll!"
Das laute Rascheln des Leinen kündete davon, dass die Bettdecke fortgezogen wurde.
"Also? Was ist? Hattest Du wieder einen Alptraum?"
"Nein, hatte ich nicht. Da ist ein Mann. Bei der Wand!"
"Ein Mann? In unserem Kinderzimmer? Mitten in der Nacht?"
Kurzes Schweigen.
"Wirklich! Ich hab ihn gesehen!"
"Natürlich. Und wie sah er aus?"
"Er ist ganz groß. Und schwarz. Und hat böse Augen. Er ruft nach mir."
"Groß und dunkel, mit bösen Augen. Und er versucht dich zu locken? Lass mich raten: Er hat auch spitze Zähne?"
"Weiß nicht…"
"Ophelia, ich habe dir gesagt, wenn du noch einmal in Papas Büchern wühlst, dann sage ich das Mama und dann sperrt sie die Tür zu seinem Arbeitszimmer ab."
"Aber das hat doch gar nichts damit zu tun!"
"Schluss jetzt! Soll ich dir mal was sagen? Du bist eine Landplage! Die Götter wollen mich für irgendwas damit bestrafen, dass du schon lesen kannst, wirklich! Als wenn es nicht reichen würde, dass du uns alle mit deiner überbordenden Fantasie verrückt machst oder uns so lange zuschwatzt, bis uns die Ohren glühen, nein, musst du obendrein auch noch ständig in den alten Schinken nach Horrorgeschichten schauen. Und dann verträgst du sie wieder nicht!"
"Aber..."
"Nichts aber! Ich möchte nur mal eine Nacht, eine einzige Nacht lang, durchschlafen können, ohne dass du von Kerkerdimensionsmonstern oder von verrückten Vampiren träumst! Andere Menschen brauchen ihren Schönheitsschlaf! Willst du, dass aus mir eine ganz schrumpelige Debütantin mit Augenringen bis zu den Kniekehlen wird? Reiß dich gefälligst zusammen, Ophelia!"
Der Schwarze Mann konnte nicht verhindern, dass er den Dialog amüsant fand.
Das Kind ist so klein und soll schon erwachsen sein? Geschwister... schrecklich! Ich würde ja eher sagen, dass mit der Älteren irgend etwas nicht stimmt.
Die Angst des Kindes ebbte allmählich ab, wie Wellen an einem Sandstrand, die versickerten. Ihrer Stimme haftete inzwischen ein trotziger Tonfall an.
"Ich hab' nicht geträumt!"
"Du weißt es natürlich wieder besser. Klar! Was wundere ich mich auch darüber? Da, hinter dem Aufsteller? Ich warne dich! Ich gucke nach und dann musst du zugeben, dass du wieder phantasiert hast..."
Eine verbale Antwort blieb zwar aus aber fast augenblicklich stand die ältere Schwester auf und ging entnervt auf die Teilungswand zu. Ihre nackten Füße verschwanden einen Moment lang dahinter, dann kamen sie wieder vor.
"Wie ich es gesagt habe. Du und deine Einbildungen! Behalt deine Stimmen für dich und lass die Leute um dich herum damit in Frieden. Interessiert doch keinen! Du musst dir das wirklich abgewöhnen." Das ältere Mädchen krabbelte wieder in ihr Bett und zog ihre Decke um sich zurecht. Allerdings schien sie mit der aufgebrachten Standpauke noch nicht fertig zu sein. In gleich bleibend strengem Tonfall dozierte sie: "Stell dir mal vor, du lernst deinen zukünftigen Mann kennen, ihr werdet einander vorgestellt, ihr kommt sogar ins Gespräch... alles ist gut. Und dann fängst du an, ihm von Männern in deinem Schlafgemach zu erzählen oder von Stimmen in deinem Kopf, die irgendwelche Geschichten erzählen! Nein, Ophelia, wirklich! Gib einfach Ruhe! Was soll denn aus dir werden?"
"Da war doch aber wirklich ein..."
"Ophelia!"
Der Protest verstummte.
Der Schwarze Mann lag still unter dem Bett und wartete - ebenso wie das kleine Mädchen eine Etage über ihm. Der Befehl der älteren Schwester hatte sie offenbar nicht von ihrer Meinung abbringen können, auch wenn sie diese nun für sich behielt. Ihm sollte es recht sein. Die schwelenden Emotionen glichen mildem Frühlingstau, welcher auf ihn hernieder rieselte.
Welch eine Wohltat! Ich könnte die ganze Nacht hier liegen...
Das schwere Atmen setzte wieder gleichmäßig und träge im anderen Bett ein.
Die zarte Stimme des kleinen Mädchens über ihm wisperte durch das dunkle Zimmer.
"Ich weiß, dass du noch da bist..."
Ein Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus. Und nach nur kurzem Zögern antwortete er, ebenso leise:
"Dann sind wir ja schon zu zweit, kleine Ophelia..."
Ihre Angst sprang wieder an, dieses Mal aber mühsam zurückgehalten.
"Geh weg! Ich mag dich nicht!"
Er schloss süffisant grinsend die Augen und antwortete:
"Ich mag aber dich sehr gerne."
Eine Zeit lang lag das Zimmer wieder in verhaltener Stille, dann...
"Warum?"
Er atmete tief ein und flüsterte zurück:
"Weil deine Angst so süß schmeckt wie Honigtau, so frisch, so lebendig!"
"Aber...", sie schien mühsam zu überlegen. "Du warst noch nie hier. Warum bist du dann jetzt da? Ich hatte doch vorher keine Angst?"
Der Schwarze Mann lachte leise.
"Du hast mich gerufen..."
Sie schlug die Decke mit einem Ruck fort. Das Rascheln stockte und er spürte, wie die süßlichen Gefühle versiegten. Ihre Stimme klang nun verwirrt - und widerwillig.
"Gar nicht!"
"Hast du den Zahn unter dein Kissen gelegt oder nicht?"
"Aber..."
"Siehst du! Du bist ganz allein selber Schuld daran, dass ich nun hier bin."
Er konnte sich richtiggehend vorstellen, wie das Kind mit gerunzelter Stirn an die schattige Zimmerdecke starrte. Sie flüsterte verunsichert:
"Bist du die Zahnfee?"
Er lächelte bösartig und säuselte zur Antwort:
"Hervorragend! Das hast du ganz wunderbar erkannt."
Wieder dauerte es einige Sekunden, ehe sie weiter sprach.
"Die Zahnfee ist eine wunderschöne Frau und sie ärgert niemanden. Sie ist nicht böse."
Sein Lächeln wurde wölfisch, als er die nächste Gelegenheit erkannte, ihre Emotionen wieder in die "richtige" Richtung zu lenken.
"Bin ich denn böse?"
"Ja."
Die Antwort hätte eigentlich einen emotionalen Widerhall erfahren und das Kind ihn mit herrlichsten Angstschauern übergießen müssen. Stattdessen wehte eine bittere, fast schon scharfe Gefühlsnote durch das kleine Zimmer: Wut!
Uuuuh! Das ist jetzt aber nicht so schön...
Der Schwarze Mann versuchte sich von den prickelnden Säurewellen abzuschirmen, während das Kind zu reden begann.
"Du darfst gar nicht hier sein. Das ist schon böse. Und wenn ich nicht möchte, dass du meine Angst wegtrinkst, dann darfst du das auch nicht. Die gehört ganz allein mir und dann darf man die nicht wegnehmen. Und Mama sagt, dass mir keiner was tun darf, egal ob er da ist oder nicht oder ob ich nur träume. Das ist ganz egal. Papa sagt auch, dass ich auf keinen Fall so wie Henrietta oder Violetta werden soll, wenn ich groß bin. Die haben sogar vor klitzekleinen Spinnen Angst, die viel mehr Angst vor uns haben, weil wir so groß sind. Papa sagt, man braucht vor gar nichts Angst haben, weil man dann nicht richtig denken kann. Das ist viel wichtiger! Dschosie sagt, dass Frauen sowieso viel stärker sind und keine Angst vor gar nichts haben brauchen, weil wir heiraten und dann unseren Mann vor den schrecklichen Lästerweibern beschützen müssen. Sie sagt, eigentlich sind es die Frauen, die kämpfen, damit ihre Männer stark aussehen und ganz reich und berühmt werden. Da darf man nicht vor jedem Pipifax Angst haben. Und Großtante Pätrischa schimpft immer mit mir, wenn sie hört, dass ich wieder einen Alptraum hatte. Eine Ziegenberger muss sich zusammenreißen, weil das sonst peinlich ist. Und sie sagt, dass wir uns überhaupt gar nichts gefallen lassen müssen. Und deswegen musst du weggehen! Ich lass mir das jetzt einfach nicht mehr gefallen, dass du böse zu mir sein willst. Dann hast du eben Pech, weil ich einfach keine Angst mehr vor dir haben werde, das hast du dann davon!"
Er verzog seinen Mundwinkel ironisch.
"Du willst einfach keine Angst mehr haben? Einfach so? Wie willst du das machen, hm?"
Die Emotionen über der Matratze wallten auf. Doch es handelte sich nicht mehr um ihre wohlschmeckenden Ängste und Unsicherheiten. Der brennend stechende Duft von Wut und kühler Abweisung fuhr ihm nachdrücklich wie Kopfschmerzen in die Stirn. Er zischte leise, als er erschrocken einatmete.
"Ich mach einfach, dass ich wütend bin. Dann hat man nicht mehr so dolle Angst. Und ich hab ganz viele Gründe dafür, wütend auf dich zu sein."
Er hob seine Hände schnell beidseitig an die Schläfen und biss sich fest auf die Zähne.
Irgendwas stimmt nicht mit ihr… das ist nicht normal!
Sie redete unaufhörlich weiter.
"Geh endlich weg! Ist mir ganz egal, ob du meinen Zahn mitnehmen willst. Kannst du machen, wenn du willst. Ich brauch auch kein Geld dafür. Kannst den Zahn einfach so geschenkt bekommen und weggehen."
Er ließ den Kopf mit einem entnervten Stöhnen auf die Seite rollen.
Das Bettgestell knarzte leise, als sie sich schnell bewegte und aus dem Bett sprang. Sie rannte lautlos tapsend zu dem schmalen Ofen neben der Zimmertür und wieder zurück. Aus seinem Versteck heraus konnte er beobachten, wie die schmalen Kinderfüße etwa zwei Meter entfernt stehen blieben und das Kind plötzlich auf die Knie fiel, das weiße Rüschennachthemdchen um sich gebauscht. Dann blickte sie mit schräg gelegtem Kopf unter ihr Bett - und ihn genau an. Sie wirkte zierlich, erst recht mit diesen erstaunt blickenden, großen, nebelgrauen Augen hinter den dichten, langen Wimpern. Sie war blass wie ein Vampir und zart gebaut, wie ein Vögelchen. In den kleinen Händen hielt sie einen Schürhaken.
Der Schwarze Mann stöhnte auf und schloss völlig genervt die Augen. Als er sie wieder öffnete, änderte das nur wenig an dem Anblick des Kindes. Nur, dass sie den Schürhaken inzwischen mit entschlossen vorgerecktem Kinn ausgestreckt vor sich hielt.
"Ich werd' dich nicht hier lassen. Ich hab' keine Angst mehr, siehst du? Dschosie muss schlafen, damit sie einen guten Ehemann findet. Sonst wird sie eine schrumpelige Debütantin und ganz furchtbar wütend. Und dann haben wir vielleicht irgendwann nichts mehr zu essen! Geh weg!" Sie schmiss ihm einen kleinen Milchzahn unter das Bett zu. "Da! Jetzt kannst du wieder weggehen. Ich hab dich nicht mehr eingeladen."
Er griff flach atmend nach dem weißen Zähnchen und versuchte, die beißenden Emotionsblitze hinter seiner Stirn zu ignorieren.
Meine Güte, was sind das für Schmerzen? Als wenn ihr Zorn sich direkt in mein Gehirn fräsen würde... Er betrachtete kurz das winzige Souvenir, bevor er es entschlossen einsteckte.
Sie belauerte ihn und wartete offenbar auf seine Entscheidung.
Müdigkeit senkte sich über ihn.
Sieh es ein! Du bist zu alt für diesen Dschob...
Er atmete geräuschvoll aus.
"Für heute lasse ich es gut sein. Vielleicht komme ich dich ein ander Mal wieder besuchen, Ophelia."
Sie schüttelte den Kopf, dass ihr offenes Haar flog.
"Brauchst du nicht. Ich hab einfach keine Angst mehr vor dir."
Er war nahe daran, ihr das sogar zu glauben. Trotzdem schlich sich Spott in seine Stimme.
"Es gibt genügend andere Dinge, vor denen du Angst haben solltest... oder irgendwann Angst erlernen wirst. Erwachsene haben manchmal mehr Angst, als Kinder. Wir sehen uns wieder - ganz bestimmt!"
Und wenn es nur aus dem Grund ist, dass ich eine Revanche wollen würde... aber für heute reicht es mir!
Der Schwarze Mann ließ sich in diejenigen kühlen Schwingungen des Raumzeitgefüges fallen, die ihn aus dem Haus herausführen würden. Es kostete ihn viel Kraft, seine Form zurückzuerlangen.
Was für eine Nacht! Nie wieder werde ich mich über meine Mitarbeiter lustig machen.

Zwanzig Jahre später


Er wollte ihr den Vortritt überlassen und folgte daher erst mit leichter Verzögerung aus der Wachhauskantine hinaus, auf den Gang davor. Ophelia blieb direkt vor ihm stehen. Ihre angespannten Schultermuskeln sagten ihm mehr als tausend Worte und er konnte nicht verhindern, dass er sich noch in der selben Bewegung an ihr vorbei schob, um ihr unauffällig zur Seite zu stehen. Beinahe wäre auch er ins Stocken geraten. Der große Mann vor ihnen schien mit seiner körperlichen Präsenz den gesamten Gang auszufüllen. Der Blick des grimmigen Glatzkopfes überging Ophelia geflissentlich. Nicht so bei ihm.
Die beiden Männer taxierten einander mit prüfenden Blicken von Kopf bis Fuß.
Ophelia räusperte sich leise, ein Geräusch, auf das der Schlägertyp mit einem Verziehen der Mundwinkel reagierte. Eine so kleine und doch so aussagekräftige Geste, dass Rach ein ungutes Gefühl in sich aufwallen spürte. Es wies verdächtige Parallelen zu angriffslustigem Beschützerinstinkt auf.
Ophelia deutete mit verhaltener Stimme zwischen ihnen hin und her.
"Rach, darf ich dir meinen Kollegen Ettark Bergig vorstellen? Neuerdings ebenfalls bei RUM tätig. Ettark... mein Gast, Rach Flanellfuß."
Die fast eisige Reglosigkeit, mit der der Hüne auf ihn hinab sah, konnte ihn nicht beeindrucken. Allerdings gefiel ihm absolut nicht, welche Wirkung dieser 'Kollege' auf Ophelia hatte. Sie wirkte in einem Maße verunsichert, wie er das bisher nur ein einziges Mal an ihr beobachten hatte müssen - als sie ihm die Fremdeinflüsse in ihrem Leben angedeutet und ihre begrenzten Möglichkeiten der Einflussnahme dagegen eingestanden hatte, dabei ängstlich auf seine Reaktionen bedacht.
Er lächelte.
"Ettark... schön, dich nach so langer Zeit mal wieder zu sehen."
Der Wächter runzelte die Stirn und dieser Anblick hätte ihn beinahe offen zum Lachen gebracht.
Er ist in die Höhe geschossen. Und hat deutlich weniger Haare auf dem Kopf, als damals. Aber sonst... seine Mimik ist immer noch so unsagbar leicht zu deuten.
"Kennen wir uns?"
Er spürte von der Seite her Ophelias überraschten Blick.
Das hätte sie jetzt auch ebenso gut von ihrem Kollegen erfahren können. Noch verrate ich nicht zu viel.
"Ja, das will ich wohl meinen. Wir waren zur gleichen Zeit in der Gilde. Du einen Jahrgang unter mir, wenn ich mich richtig erinnere."
Die Lippen des Wächters kniffen sich schmal aufeinander, doch in seinen Augen stand kein Erkennen.
Ophelia atmete tief ein.
Oh, na gut... das war vielleicht trotzdem nicht eine meiner besten Ideen. Nun wird sie wieder neugierig sein und umso mehr auf bestimmte Dinge achten. Selbst wenn sie nicht direkt nachfragt.
Der Blick des Wächters wechselte nun doch, sehr misstrauisch, zu Ophelia.
"Weiß Bregs davon, dass er hier ist?"
Ophelia antwortete auf den knappen Kommandoton in einem derart erzwungen neutralen Tonfall, dass jegliche Zweifel dazu, wie es um die Zusammenarbeit der beiden stehen mochte, restlos ausgeräumt wurden.
"Ja, wir haben die Erlaubnis des Kommandeurs."
Sie blickte ihn entschuldigend an, wie wenn sie sich für die demütigenden Umstände ihres Beisammenseins entschuldigen wollte.
Rach lächelte ihr aufmunternd zu.
Der große Wächter vor ihnen war unzufrieden mit ihrer Antwort. Er runzelte die Stirn. Dann jedoch zuckte er leicht mit den Schultern, als wenn er beschlossen hätte, dass ihn die Sache nicht länger interessiere. Wieder ein Zögern, wieder änderte sich sein Gesichtsausdruck. Spott breitete sich auf seinen Zügen aus. Er blickte erst zu ihm, dann zu Ophelia und wieder zu ihm zurück.
"Du bist ihr Neuer? Mein Beileid! Hauptsache, du stehst nicht im Weg rum…"
Bei diesen Worten ging er mit der Absicht auf ihn zu, ihn zu umrunden und die Kantine aufzusuchen.
Rach hingegen war nicht willens, ihn ohne Weiteres passieren zu lassen. Er blieb an seinem Platz und der Wächter hielt dicht vor ihm inne, als er in besonders freundlichem Ton antwortete.
"Du hast noch immer nicht gelernt, gute Einflüsse in deiner Nähe zu erkennen und sie zu würdigen. Wenn ich euer beider Verhalten miteinander vergleiche, dann bringst du der Dame deutlich zu wenig Respekt entgegen. Immerhin behandelt sie dich sehr viel rücksichtsvoller, als du sie."
Die Augen des Wächters wurden schmaler.
"Wüsste nicht, was dich das angeht."
Ophelias schmale Hand stahl sich auf seinen Arm und sie bemühte sich, zu schlichten.
"Bitte, Rach, es ist…"
Doch das entscheidende Wort kam ihr nicht über die Lippen. Ihr Körper stand unter Anspannung, wie die straff gespannte Seite eines Musikinstrumentes.
Ihr Kollege hatte keine Schwierigkeiten damit, das kleine Wörtchen hervorzubringen. Er spukte es Rach richtiggehend vor die Füße.
"'Guter' Einfluss? 'Gute' Einflüsse binden nicht die halben Wacheressourcen an sich! 'Gute' Einflüsse bringen keine Kollegen in Lebensgefahr! Und Respekt muss man sich verdienen, den gibt es nicht einfach dafür geschenkt, einem Kerl hübsche Augen zu machen. Mag bei einem Zivilisten wie dir funktionieren… bei uns Wächtern läuft sowas anders. Kannst dich aber trotzdem liebendgern weiter nützlich machen, Kleiner. Halte sie beschäftigt, damit sie nicht zu viel denkt und wir andern richtig arbeiten können. Und jetzt mach Platz!"
Rachs Überlegungen schlenderten schneller durch seinen Sinn, als er sie aufhalten hätte können.
Größere Reichweite, Straßenkämpfer mit Erfahrung, also mit überraschenden Nahkampfaktionen rechnen, vermutlich gute Beinarbeit, leichte Diskrepanz in der Beweglichkeit des linken zum rechten Arm… in der Gilde damals hatte er Probleme damit, beim längeren Pferchen sein Temperament unter Kontrolle zu halten. Es fehlte ihm an Konzentration und an Ausdauer. Mal sehen, ob das immer noch der Fall ist…
Eine Person umrundete ihn und stand plötzlich zwischen ihnen.
Er hielt sich zurück und schuf Distanz.
Die Wächterin, die alle nur 'Magane' oder 'Maggie' nannten, wandte sich direkt an Ophelia, während sie die Spannungen in der Luft ignorierte.
"Es tut mir leid, Ophelia. Wenn du so lieb wärst, bitte? Ich weiß, solange er im Haus ist", und damit deutete Magane auf ihn, "solange wollte ich darauf verzichten. Aber jetzt... bitte!"
Sie reichte Ophelia eine Tasse, aus der sich heiß das herbe Kräuteraroma kräuselte.
Rach runzelte unwillig die Stirn und Magane warf auch ihm einen entschuldigenden Blick zu, während sie sich mit einer Hand die Schläfe massierte. Er hatte ihr im letzten Gespräch deutlich gemacht, was er davon hielt, dass sie dafür verantwortlich war, seine Freundin permanent unter Drogen zu setzen. Andererseits aber hatte Ophelia selber ihr Einverständnis zu den unzähligen Experimenten gegeben, mit denen alle hier versuchten, ihrem mentalen Problem zu Leibe zu rücken. Und die Unannehmlichkeiten im Wachhaus, denen Ophelia sich aussetzte, waren allesamt im Sinne des Kommandeurs. Es stand ihm also nicht zu, einzugreifen. Zumal die winzige Chance bestehen mochte, dass Irgendetwas davon Erfolg zeitigen könnte. Etwas, was Ophelia erlösen würde und ihr gut täte.
Die zierliche Wächterin an seiner Seite nahm den Becher wortlos entgegen und wich ihrer aller Blicke aus.
Um die Notwendigkeit der Experimente zu wissen, änderte nichts daran, dass die aktuellen Gegebenheiten für sie beschämend waren.
Er fing den genervten Blick Ettark Bergigs auf und hätte am liebsten etwas gegen diesen 'Kollegen' und dessen Arroganz unternommen.
Jeder Mensch mit Taktgefühl würde sehen, wie ihr all das zusetzt und sich selber zurücknehmen. Er nicht!
Sein eigener Drang, sich Ettark in den Weg zu stellen und gewaltsam für Ophelias Interessen einzutreten, kam ihm parallel dazu in den Sinn. Er blickte nachdenklich zu ihr hin und legte ihr seine Hand aufmunternd in den Rücken.
Sie hätte kein Verständnis dafür. Im Grunde ist es ihr Kampf. Wenn ich mich einmische, untergrabe ich damit nur ihre Autorität. Sie schafft das schon. Das einzige, was sie jetzt vermutlich möchte ist, diesen Kerl hinter sich zu lassen. Also mach es nicht schlimmer, indem du ihn aufhältst. Lass ihn ziehen!
Er konnte trotzdem nicht umhin, Ettark Bergig einen herausfordernden Blick zuzuwerfen. Den jener spöttisch schnaufend erwiderte.
Ophelia blickte verwirrt auf und versuchte einzuschätzen, welchen nonverbalen Teil des Gespräches sie verpasst haben mochte.
Die Wächterin aus der Pathologie blickte zwischen ihnen allen hin und her.
"Leute? Macht keinen Quatsch, ja? Ich hab keine Lust, Euch unten auf meinem Tisch wiederzusehen oder Zahnfee zu spielen."
Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen.
Jeder hing eigenen Gedanken nach. Dann wechselten unauffällige Blicke zwischen ihnen und der große Wächter brach den Bann, indem er sich vergnügt lachend an Rach vorbei quetschte.
"Das würde dir auch nicht bekommen!"
Es kostete ihn Überwindung, den kräftigen Schulterstoß nicht in irgendeiner Weise zu erwidern, sondern stattdessen lieber über Alternativen nachzudenken, wie er dem Kerl später das Leben erschweren könnte, ohne Ophelia davon wissen zu lassen. Dann jedoch sah er wieder zu ihr hinüber und es war nicht zu übersehen, dass sie sich ob des Weggangs des Hünen deutlich entspannte.
Sie ist so viel stärker, als sie aussieht. Äußerlich fast zerbrechlich. Und innerlich… Jules hatte Recht. Ich habe mein Herz rettungslos an sie verloren. Ich möchte ihr diese ganze Situation so erträglich wie nur irgend möglich machen.
Er hielt ihr die Hand hin.
"Möchtest du nach oben? Soll ich dir den Becher so lange abnehmen, damit du besser die Treppen hinauf kommst?"
Sie lächelte ihn dankbar an, reichte ihm das zierliche Tonbehältnis und raffte mit der dadurch freien, gesunden Hand leicht die Röcke.
"Danke, gerne!"
Der sanfte Blick aus diesen nebelgrauen Augen ließ Ettarks Bedeutung zu der eines lästigen Insekts schrumpfen. All die kleinen Ärgernisse, der Patrizier, die Scheibe… Hauptsache sie waren zusammen!
Ich bleibe einfach bei dir und beschütze dich. Ich werde nicht zulassen, dass dir irgendwer deine Optionen einschränkt. Du sollst immer die Wahl haben. Und glücklich werden.

Magane sah dem hübschen Paar neugierig nach.
Irgendetwas... ich weiß nicht was es ist. Es wird immer schwerer, Ursache und Wirkung zu trennen, so viel, wie wir inzwischen an ihr ausprobiert haben. Aber ich denke, ich muss morgen mal mit Mina darüber reden. Es fühlt sich an, als wenn sie Energien an sich binden würde. Als wenn bestimmte Kräfte um sie herum sich konzentrieren und die Luft schwerer machen würden. Ob noch jemand das so empfindet? Vielleicht sollte ich auch mit Laiza und Rea reden?
Der elegante junge Mann streckte Ophelia im Reflex seine Hand entgegen, als wolle er ihr behilflich sein. Sie lächelten einander so verliebt an, bevor sie Maganes Blickfeld endgültig verließen, dass ihr selber ganz warm ums Herz wurde.
Er tut ihr gut. Hoffentlich bleibt das so. Schon allein, weil alles was ihr gut tut, auch mir das Leben erleichtert.
Mit einem zufriedenen Seufzer nahm sie zur Kenntnis, dass die Kopfschmerzen allmählich nachließen.




Für die Inhalte dieses Textes ist/sind alleine der/die Autor/en verantwortlich. Webmaster und Co-Webmaster behalten sich das Recht vor, inhaltlich fragwürdige Texte ersatzlos von der Homepage zu entfernen.

Feedback:

Von Rabbe Schraubenndrehr

05.6.2013

Aaalso... nun haben wir also deine erste Single für die Schreib³aktion. Ich finde sie insgesamt sehr nett geschrieben, der Einblick in die Kindheit der Vier Personen war sehr interessant zu lesen, gerade den zu Ettark fand ich auch besonders lustig. Der letzte Abschnitt in der jetztzeit las sich auch sehr schön. Es macht etwas klarer wie Ophelias aktuelle Situation so ist und macht Rachs Sicht auf sie und sein persönliches Pflichtgefühl ihr gegenüber sehr deutlich. Schön :)

Von Magane

06.06.2013 19:45

Das Oktarin-Kind dankt. Hat großen Spaß gemacht, die Zahnfee konnte einem fast Leid tun.



Endlich mal jemand der einen dazu bringt über die Kindheit des eigenen Chars nachzudenken ;)

Von Ophelia Ziegenberger

06.06.2013 20:52

:D Dito! Gern geschehen! :-)

Die Stadtwache von Ankh-Morpork ist eine nicht-kommerzielle Fan-Aktivität. Technische Realisierung: Stadtwache.net 1999-2024 Impressum | Nutzungsbedingugnen | Datenschutzerklärung