Das Geräusch des ins Schloss fallenden Tores hallte unerwartet lange nach. Rabbe fuhr sich durchs Haar und schüttelte einige Schneeflocken heraus. Energisch trat sie sich etwas Schnee vom Stiefel und machte sich auf den Weg nach oben, zum Büro des Ausbildungsleiters.
Sie konnte jeden Schritt leise knirschen hören, ansonsten war nur Stille, wo eigentlich das Gewimmel von unnützen Rekruten zu hören sein sollte.
'Eifrig', korrigierte sich die Wächterin in Gedanken selbst. Nur weil sie noch keinerlei Dinge geleistet hatten, musste sie die Rekruten nicht sofort vollkommen verachten. Dazu hatte sie noch genug Gelegenheit nachdem sie Mist gebaut hatten.
Ein kalter Luftstrom ließ Rabbe frösteln. Die Temperatur war fast so niedrig wie draußen, offensichtlich war in den letzten Tagen nicht geheizt worden...
"Guten Morgen, Mä'äm!"
Die Wächterin zuckte zusammen und fuhr herum in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Dort stand eine Rekrutin - Rabbe hatte keine Ahnung, wer das war - lässig gegen die Wand gelehnt und lächelte die Ermittlerin an. Es war Hass auf den ersten Blick, genau so wie die großen Dichter es immer beschrieben.
"Guten Morgen, Rekrutin", grüßte Rabbe zurück und musterte sie misstrauisch. "Was genau machst du da?"
"Nichts", erwiderte die Rekrutin mit den goldigen Locken und kicherte albern.
"Dann hast du doch mit Sicherheit Besseres zu tun", stellte Rabbe fest.
"Hm, nicht dass ich wüsste..."
"Du bist Rekrutin und im Wachhaus. Wenn du gerade keine Lehreinheit hast, dann solltest du dich entweder in die Mannschaftsräume begeben oder nach Hause gehen. Fürs Herumlungern bekommst du höchstens eine Soldkürzung."
Der Rekrutin klappte der Mund auf und zu, als sie nach passenden Worten der Erwiderung suchte. Schließlich schüttelte sie den Kopf und streckte der Ermittlerin die Hand entgegen. "Es tut mir leid, ich wollte keinen schlechten ersten Eindruck machen. Ich bin Enzy."
Rabbe starrte einen Moment lang auf die dargebotene Hand, als wäre sie eines von T.m.s.i.d.R.-Schnappers Würstchen im Brötchen und bewegte dann langsam den Kopf hin und her. "
Nein, danke."
Und damit ging sie auch schon an der komischen Rekrutin vorbei weiter zum Büro des Ausbildungsleiters.
Die kalten Scharniere knarzten ein wenig, als die Ermittlerin die Bürotür öffnete. Im Raum herrschte mildes Chaos, wie in jedem Wächterbüro, aber es fehlte die Wärme und behaglicher Kaffeeduft. Stattdessen lag auf allem eine feine dünne Staubschicht, als wäre seit Tagen niemand mehr hier drin gewesen.
Suchend schaute sich Rabbe um und entdeckte schließlich, nach was sie gesucht hatte: Den Ausbildungsplan.
Rasch flogen ihre Augen über den Stundenplan hinweg bis sie den heutigen Tag gefunden hatte. Dann seufzte sie resigniert. Ausgerechnet diese Ausbildungseinheit! Aber es half nichts, Tschob war Tschob.
Fröstelnd wickelte Rabbe ihren Mantel ein wenig fester um ihre Schultern und machte sich dann wieder auf den Weg aus dem Büro heraus.
Im Flur hörte sie ein leises Wimmern und als sie die Treppe nach unten gegangen war, sah sie wieder die eigentlich viel zu gut aussehende Rekrutin, die auf dem Boden saß und ihr Knie umschlungen hielt. "Ich bin gestürzt!", jammerte sie jämmerlich und schaute Rabbe aus großen Hundeaugen an: "Sieh nur, ich bin verletzt!" Sie deutete auf eine winzige Schramme auf ihrem Knie.
Rabbe wollte ihr schon die Hand reichen, um ihr aufzuhelfen, entschied sich dann im letzten Moment aber doch anders. Sie verschränkte vehement die Arme und schüttelte den Kopf: "Wenn du schon wegen einer solchen
Lappalie zu heulen beginnst, dann bist du nicht aus dem richtigen Holz geschnitzt, Rekrutin. Du solltest deine Berufswahl eher noch mal überdenken!"
Sie ignorierte den wütenden Protest der jungen Frau und machte sich auf den Weg durch die weiteren Räume des Wachhauses. Sie fand niemanden in der Kantine, niemanden im Pausenraum und auch alle anderen Gruppenräume erfreuten sich gähnender Leere. Ihr kam der Gedanke, es einmal bei der TKAnlage zu versuchen, also stieg sie wieder die Treppe hinauf und auf die kleine Dachterrasse mit den kleinen Taubenschlägen. Auch hier war niemand zu sehen. Die Taubenkäfige waren voll von... Guano, und die Tauben gurrten hungrig, als sie Rabbe sahen. Mit einem leicht angewiderten Gesichtsausdruck warf die Wächterin ein paar Handvoll Körner aus dem großen Futtersack in den Käfig. Diese Grippewelle hatte das Wachhaus tatsächlich vollkommen lahmgelegt.
Rabbe zuckte nur mit den Schultern. Nun, dieser Tschob war wohl doch nicht so unerfreulich, wenn keiner da war, konnte sie auch keinen ausbilden. Trotzdem sollte sie noch einen letzten Versuch starrten, damit ihr auch wirklich niemand einen Vorwurf machen konnte.
Auf dem Weg in den Hof hinunter formte sie mit ihren Händen einen Trichter und rief: "Wenn sich hier irgendwelche diensthabenden Rekruten aufhalten sollten, dann finden sie sich gefälligst in den nächsten zehn Minuten draußen auf den Hof ein! Die Ausbildungseinheit '
Streitschlichtung und Diplomatie - Umgang mit wütenden Bürgern, ohne handgreiflich zu werden' findet heute mit mir statt!"
Damit sollten alle Rekruten, die sie nicht erwischt hatte, vorgewarnt sein.
Draußen lehnte sich die Wächterin an einen großen, mit einer frischen Schneeschicht bedeckten Schutthaufen und wartete ab. Als die zehn veranschlagten Minuten vorbei waren, stellte sie laut fest: "Da keine Rekruten anwesend sind, beende ich die heutige Ausbildungsstunde für beendet!"
Plötzlich setzte sich der Haufen in Bewegung und ein Teil des herunterrutschenden Schnees verteilte sich auf Rabbe.
"Ich kein Rekrut?", fragte der Haufen verwirrt und entpuppte sich als Troll. Dieser reckte und streckte sich ein wenig und richtete sich zu seiner vollen Größe auf und entpuppte sich damit als verdammt großer Troll. Rabbe reichte ihm nicht mal bis zum Bauchnabel.
Die Wächterin wischte energisch den Schnee von sich herunter und schaute den Troll erst einmal nicht an, um ihre Mimik unter Kontrolle zu bringen. So was blödes, fast wäre sie um diese unliebsame Aufgabe herumgekommen und hätte einen Tag blau machen können. Jetzt musste sie wegen einem einzelnen Rekruten doch noch arbeiten.
Mit einem hoffentlich neutralen Gesichtsausdruck schaute sie auf und erwiderte: "Es tut mir leid, Rekrut, ich habe dich irgendwie übersehen."
Der Troll zuckte nur mit den Schultern: "Öfter passiert." Er lächelte und fügte hinzu: "Nicht unangenehm auffallen, ich bemühe mich."
"Wie ist dein Name?", fragte Rabbe, damit sie ihn nicht ständig nur mit Rekrut anreden musste.
"Thymian."
"Thymian?"
"Arbeitsname sein - Name für Beruf. Schon lange so genannt werde", erwiderte der Troll und zuckte mit den Schultern.
"Na dann, Rekrut Thymian, wir haben heute die Ausbildungseinheit, in der wir den richtigen Umgang mit Bürgern trainieren, mit Augenmerk darauf, nicht handgreiflich zu werden."
Sie ignorierte die feine innere Stimme, die sie darauf aufmerksam machte, dass 'handgreiflich werden' ja der richtige Umgang mit den meisten Bürgern war.
"Als ich diese Ausbildungseinheit hatte, machten wir damals einen Ausflug in eine der geselligeren Hafenkneipen, in denen ist eigentlich immer irgendein Aufruhr im Gange. Da ich allerdings bezweifle, dass du durch die Tür passen wirst, kommt Plan B zum Einsatz: Wir gehen auf den Schweinachtsmarkt."
Kanndras Stube war von vielerlei Gerüchen erfüllt. Exotische Kräuter, der Duft leckerer Plätzchen, das rauchige Aroma ihres Kochfeuers und der warm-würzige Dunst von frisch gekochter Hühnersuppe. Kanndra saß am Bettchen ihres Sohnes und fütterte ihn liebevoll mit eben jener Suppe. Benjamin Julian ging es nicht gut, er schwitzte stark und hatte einen glasigen Blick. Sie stellte die leere Schüssel schließlich beiseite und nahm einen frischen Lappen , tauchte ihn in einen Bottich mit Wasser, wrang ihn aus und legte ihn auf seine Stirn. Dann streichelte sie ihm liebevoll über seine Wange und stand schließlich auf, um ihre Tür zu öffnen, wo nur Augenblicke zuvor jemand dagegen gepocht hatte.
"Hauptmann Pismire? Was machst du denn hier?"
Kanndra ließ ihren Kollegen in ihre Wohnung und bot ihm einem Stuhl an, denn es war auf den ersten Blick ersichtlich, dass er ebenso wie Benjamin ein Opfer der Grippe war.
"Ich brauche deine Hilfe", stellte Pismire fest. "Ansonsten wird bald jeder in der Stadt krank sein, ohne Aussicht auf Besserung."
"Das musst du mir genauer erklären", erwiderte Kanndra. Sie füllte eine neue Schüssel mit Hühnersuppe und reichte sie an ihn weiter: "Es geht zwar die Grippe um, aber das ist doch eigentlich jeden Winter so."
"Das ist keine gewöhnliche Grippe", stellte Pismire fest und hustete heftig. Als er sich wieder gefangen hatte, fügte er hinzu: "Die Rekruten sind schuld."
Rabbe ging voraus, der Troll stets hinter ihr. Es war merkwürdig, dass er trotz seines gewaltigen Gewichts nicht mehr Lärm machte, als Rabbes eigene Schritte. Das mochte daran liegen, dass er stark vorüber gebeugt ging und sich auch mit seinen Händen abstützte, einem Gorilla nicht unähnlich. Aber wahrscheinlich würde sie sich auch unwohl fühlen, wenn sie bei aufrechtem Gang immer eine vertikale Personenlänge zwischen sich und sämtlichen anderen Leuten hätte. Auf der anderen Seite - ihr würde ab und an ein bisschen Abstand zum Gesocks gefallen...
Der Schweinachtsmarkt war nicht so auf einen Fleck konzentriert wie die anderen Märkte der Stadt, was unter anderem daran lag, dass alle offiziellen Marktplätze von jenen bereits besetzt waren. Deswegen schmiegte er sich an die Züge der größeren Straßen und Alleen und bildete gewissermaßen eine temporäre dritte Häuserfront zwischen den anderen. Nur in den Schatten befand sich traditionell keiner, da diese nur aus engen Gassen bestanden
[1]. Durch alle anderen Viertel der Stadt zog er sich hingegen und man konnte anhand der Lage voraussagen, was für Buden sich wohl dort befanden. So waren in den reicheren Vierteln viele Kunsthandwerker und Schmuckmacher zu finden, während es im Hafen hauptsächlich Fress- und Saufbuden gab und einen Stand für gebrauchtes Segeltuch. Der Teil mit den vielfältigsten und abwechslungsreichsten Angebot fand sich im Viertel der Handwerker. Dort konnte man Leute aus allen Einkommensschichten und Spezies finden und das war auch der Teil des Marktes, zu dem die Ersatz-Ausbilderin und ihr Schützling gingen.
Der erste Stand, an dem sie vorbeigingen war recht groß und verkaufte Kleidung, angeblich geschmiedet von den besten Stahldesignern der Stadt. Eine große Traube aus Zwergen hatte sich davor gebildet, und Rabbe sah mehr als ein paar Stahlkappenstiefel mit verdächtig hohen Absätzen.
Am nächsten Stand blieb die Wächterin stehen, denn es kam ihr etwas merkwürdig vor. Sie betrachtete die Menschen und Zwerge, die an umgedrehten Fässern standen und aus Bechern nippten und dann die Zwerge, die eifrig hinter ihrem Tresen wuselten. Gerade war kein Kunde am Tresen, also machte Rabbe einen Schritt nach vorne und erkundigte sich: "Was ist das denn für ein Stand?"
Sofort kam ein Zwerg in teuer aussehenden Pelzen, unter der aufwendig ziselierte Rüstung hervorblitzte, zu ihr gerauscht und erklärte freudig: "Die ist die erste Filiale unserer weltberühmten Kaffeekette 'Queequegs' hier in Ankh-Morpork! Wir haben die feinsten Kaffeespezialitäten der gesamten Scheibenwelt im Angebot!"
"Kaffee?", fragte Rabbe etwas ungläubig. Das war definitiv kein Getränk mit dem sie Zwerge assoziierte.
"Natürlich! Wollen sie vielleicht unsere Spezialität des Hau-"
Abrupt wandte er sich ab und einem Kunden zu, der neben Rabbe getreten war.
"Einmal das Übliche bitte."
"Kommt sofort!"
Der Zwerg klatschte in die Hände und einer seiner Kollegen sprintete zu einem Gerät, schnappte sich einen Becher und betätigte einen Hebel, wodurch ein langgezogenes Quietschen klang, und füllte den Becher mit irgendetwas, das Rabbe nicht sehen konnte. Dann flitzte er zu einer weiteren Station, wo er offensichtlich Kaffee aufgoss und dann zu einer dritten, wo merkwürdiger weißer Schaum hervor sprudelte. Der Zwerg reichte den Becher an seinen Vorgesetzten weiter, der einen metallenen Löffel hineinsteckte und dann an den Kunden weiterreichte, der ihm wiederum fünf Dollar zuschob.
"… des Hauses probieren?", fuhr er dann unvermittelt fort, sehr zur Verblüffung Rabbes. Der Zwerg war wirklich abgebrüht - irgendwie passend im Kaffeegewerbe.
Einen Moment schaute die Wächterin dem Kunden hinterher, der sich an eines der Fässer stellte und sein Getränk zu trinken begann.
"Ganz schön teuer, der Spaß", stellte Rabbe mit gerümpfter Augenbraue fest.
"Neinein, Sie irren sich! Vier Dollar vom Preis sind reines Becherpfand. Auf diese Weise haben unsere Kunden einen Anreiz, das Geschirr wieder zurück zu geben!" Er deutete auf eine Tafel auf der das groß und deutlich in vielen verschiedenen Sprachen notiert worden war.
"Was genau ist das eigentlich für ein Gebräu?" Sie deutete auf den Kunden von eben.
"Oh, das? Das ist unsere beliebteste Spezialität, ein
Ratte Macchiato."
"Ein was?"
"Ratte Macchiato! Sehen Sie nur!"
Er ging zur ersten Station und öffnete eine Klappe. Dahinter war eine Glasscheibe zu sehen und dahinter eine braune Ratte, die verwirrt blinzelte. Ihre Füßchen waren weiß, was irgendwie niedlich aussah.
"Das ist unsere Pressstation! Wenn man den Hebel an der Seite betätigt, wird via einer komplexen Apparatur "Rattenessenz" produziert, die dann hier aus diesen Hahn kommt. Darauf gießen wir dann den besten nicht-klatschianischen Kaffee und darauf kommt wiederum frisch geschäumte Milch! Sie glauben nicht, wie lange es gedauert hat, bis wir einen Gerätedämon gefunden haben, der die Blasen richtig hinkriegt!"
Vor Rabbes Augen entstand ein Bild von einem kleinen blauen Kerl, der - nur mit einem Strohhalm bewaffnet - stundenlang in Milch Bläschen blubberte. Wenn sie es sich genau bedachte war das
"Irgendwie unhygienisch, oder?"
"Mitnichten, Mä'äm, sehen sie nur!"
Der Zwerg begab sich zur dritten Station und öffnete auch hier eine Klappe, und Rabbe sah einen Dämon mit einem winzigen Haarnetz auf dem Kopf, der an einer Kurbel saß, die mit Hilfe eines Schwungrads mit asymmetrisch verteilten Gewichten eine Art Schneebesen zum Vibrieren brachte.
"Ist was, Boss? Meine Schicht ist erst in 3708 Umdrehungen vorbei..."
"Nein alles in Ordnung!", erwiderte der Zwerg, schloss die Klappe und wandte sich wieder Rabbe zu: "Sehen Sie, höchste hygienische Standards! Unser System tauscht sogar die Ratte nach jedem Pressvorgang aus!"
Eine weitere Bestellung kam ein und einer der Zwerge im Hintergrund stellte einen weiteren Ratte Macchiato zusammen. Aus der ersten Station drang wieder dieses grausige Quietschen, doch etwas machte Rabbe höchst stutzig.
"Würden Sie vielleicht die Rattenklappe noch einmal öffnen?"
Der Zwerg hüstelte: "Wieso denn Mä'äm, sie haben doch alles genau beobachten können?"
"Bitte öffnen Sie die Klappe!", befahl Rabe in einem harscheren Tonfall.
Der Zwerg ging sofort hinüber und machte die Klappe wieder auf. Wieder schaute eine Ratte sie an und Rabbe stemmte sich einen Arm in die Seite: "Wie viele Ratten mit weißen Pfötchen haben sie eigentlich?"
Der Zwerg machte eine beschwichtigende Handbewegung und kam sofort hinter den Tresen hervor und winkte Rabbe zu sich in eine etwas ruhigere Ecke: "Bitte Sie müssen verstehen, das ist nur ein kleiner Marketinggag! Im Ratte Macchiato ist eigentlich gar keine Ratte, da vorne kommt nur heiße Milch heraus. Aber die Leute wollen ja unbedingt etwas exotisches, wenn sie von ihrem Besuch in unserer Filiale erzählen. Wir tun doch niemanden weh, und der Kaffee schmeckt ohne Ratte ohnehin viel, viel besser."
Rabbe musterte den Zwerg skeptisch.
"Wie wäre es, wenn Sie sich selbst von unserem Getränk überzeugen? Ich spendiere ihnen einen Becher
aufs Haus..." Den letzten beiden Worten schwang ein schmerzlicher Unterton mit.
Die Wächterin überlegte einige Momente und entschied sich dann, dem Angebot nachzukommen. Der Zwerg hatte nichts wirklich Illegales gemacht, und wenn T.s.i.d.R.-Schnapper "Würstchen im Brötchen" verkaufen durfte, dann war gegen Ratte Macchiato nichts einzuwenden.
Sie kehrten wieder zur Vorderseite des Standes zurück, wo ein Angestellter schon einen frischen Becher hingestellt hatte. Rabbe wollte schon danach greifen, doch der Zwerg blockte sie ab.
"Ähm... Entschuldigung, auch wenn das Getränk gratis ist, muss ich doch auf die vier Dollar Becherpfand bestehen."
"Klingt fair", murmelte die Wächterin und schob ihm einige Münzen zu.
Dann trat sie vom unmittelbaren Servicebereich weg und begann erst einmal das Getränk zu inspizieren. Es roch sehr lecker, und der Schaum schwamm obenauf wie ein fluffiges Wölkchen. Dafür war bestimmt der Löffel gedacht, damit man ihn wegnaschen konnte. Neugierig löffelte sie etwas Schaum heraus und nippte am Milchkaffee. Gar nicht mal übel.
Sie spürte einen Blick auf sich liegen. Thymian schaute auf sie herab. Fast zögerlich deutete er auf ihren Kaffee und fragte: "Ich... Löffel vielleicht?"
Die Ermittlerin löffelte etwas Schaum und Kaffee heraus und reichte dem Troll das Besteck, dass er unglaublich vorsichtig entgegen nahm. Sie wusste keinen Grund, ihn nicht probieren zu lassen, ohne wie ein Egoist zu wirken.
Thymian schüttelte die Flüssigkeit mit einer kurzen Handbewegung vom Löffel, steckte sich dann diesen in den Mund und begann dann, den knirschenden Geräuschen nach zu schließen, ihn zu essen. "Guter Löffel."
"Was machst du da? Du kannst doch nicht einfach den Löffel fressen!", fauchte ihn Rabbe an, und stemmte die Arme in die Seiten und verschüttete dabei unabsichtlich einen Teil ihres Kaffees.
"Aber... aber...", entgegnete Thymian, woraufhin die provisorische Ausbilderin nur den Kopf schüttelte.
'Mit Trollen hat man einfach nur Probleme...', dachte sie sich mürrisch und begab sich dann wieder zum Tresen und stellte dann den Becher darauf ab. "Ich und mein Kollege müssen weiter, kann ich mein Pfand wieder haben?"
"Wo ist der Löffel hin?", fragte der Zwerg.
Rabbe ignorierte das genüssliche Schmatzen im Hintergrund: "Ich dachte es ist ein
Becherpfand. Es war niemals die Rede von Löffeln gewesen."
"Ich... ähm... ich...." Er räusperte sich, und wie aus dem Nichts tauchte um sie herum ein halbes Dutzend schwer bewaffneter Zwerge auf.
Der Bärtigste von ihnen schwang bedrohlich seine Axt hin und her und fauchte: "Du willst uns wohl betrügen, was! Dir geb ich dein Pfand, aber in Naturalien!!"
Die Wächterin erstarrte.
Dann pflückte eine gewaltige steinerne Hand dem Zwerg die Axt aus der Hand. Thymian hatte sie zu seiner vollen Größe von mehr als vier Metern aufgerichtet, und biss ein Stück des Metalls aus der Waffe und kaute nachdenklich darauf herum. "Hm... zu viel Bismut in Legierung...
Dollarmünzen mehr lecker."
Voller Entsetzen deutete der Inhaberzwerg auf den riesigen Rekruten: "Wo kommt der denn her?!"
"Ernsthaft?!", blaffte Rabbe und drehte sich zu ihm um: "Wie kann man einen gewaltigen Troll übersehen? Er war die ganze Zeit hier!"
Entnervt verschränkte der Zwerg die Arme: "Du hast keine Ahnung vom Stadtleben, wenn du nicht einmal in der Lage bist, einen Troll zu ignorieren! So etwas nennt sich
gewinnorientierter Kundenblick! Nur indem ich alles ignoriere, was kein potentieller Käufer ist, kann ich die Gewinne maximieren!"
"Das stimmt, mich hat er schon mal acht Wochen ignoriert", meinte einer der Angestelltenzwerge im Hintergrund: "Dabei hat er sogar unseren Hochzeitstag vergessen."
Der Hauptzwerg warf Rabbe nur einige Münzen zu: "Hier, nimm dein Pfand und geh!" Dann wandte er sich dem bärtigsten seiner Wachzwerge zu, der in ein herzerweichendes Schluchzen ausgebrochen war, und legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.
"Das war ein Erbstück!", jammerte jener vor sich hin.
Thymian bekam ein schlechtes Gewissen und legte die Axt vor dem Zwerg ab. Dann griff er in seinen Mund und zog mit einem Ruck und einem schmerzverzogenen Gesicht sich einen seiner Zähne aus den Mund. Behutsam legte er ihn neben die Axt ab. "Hoffe ausreichen...."
Die Ermittlerin schüttelte nur den Kopf über so ein merkwürdiges Verhalten und stapfte los, auf das ihr der Rekrut folgen würde. Hinter ihnen begann der schluchzende Zwerg zu jubeln und zu prahlen, was für eine wunderschöne brandneue Erbaxt er sich nun leisten konnte.
"War das nicht irgendwie übertrieben?", zischelte Rabbe Thymian zu, doch der schüttelte nur den Kopf.
"Muss nett sein zu Zwergen, heutzutage."
"Aber deswegen reißt man sich doch nicht gleich selbst einen Zahn aus!"
"Nicht schlimm... Wachsen nach, etwa 10 Jahre braucht."
Kanndra durchsuchte ihr Zutatenregal, zog ein Glas heraus und präsentierte es Pismire: "Würden es auch getrocknete Limettenschalen tun?"
Pismire nickte und zog schnell ein Taschentuch heraus um lautstark hinein zu niesen. Vorsichtig putzte er sich die Nase und steckte es dann wieder ein. "Ja, das müsste die gleiche Wirkung wie Zitronenabrieb haben."
Die Hexe nickte ihm zu, schüttelte einige Schalenstücke aus dem Glas heraus in den Kessel und rührte kräftig um. "Wenn das nicht helfen sollte, dann riecht es zumindest gut", stellte sie mehr im Plauderton fest. Sie warf einen Blick zu Pismire hinüber, dem es sichtlich immer schlechter zu gehen schien. Sie hatte versucht, ihn nach Hause zu schicken, damit er sich ordentlich ausschlafen konnte, aber er hatte darauf bestanden, dass die einzige Methode, wieder gesund zu werden, in der Herstellung einer Tinktur lag.
Also hatte sie sich entschieden eine zu brauen, schließlich war der Hauptmann ein erfahrener Schamane. Sollte das Gebräu nicht wirken, dann hatte sie ein sehr gutes Argument in der Hand, den Hauptmann nach Hause in sein Bett zu befördern. Und wenn es doch wirkte, dann war das um so besser. Sie schaute wieder auf das Rezept, das er ihr niedergeschrieben hatte. Die nächsten Zutaten befanden sich zum Glück alle in ihrem Vorrat.
Rabbe malte sich aus, was sie mit all dem Geld machen könnte, wenn sie so lange wie ein Troll leben würde und sich alle paar Jahre einen Diamanten ausrupfen könnte, ohne sich jemals Sorgen um Nachschub machen zu müssen. Allerdings war es schon merkwürdig, dass das nicht jeder Stadttroll machte, denn so würden sie garantiert aus ihren Bretterbuden bessere Unterkünfte machen können. Auf der anderen Seite waren die Steinkerle oft so dämlich, dass man sie wahrscheinlich ständig über das Ohr haute.
"Ich wusste bisher gar nicht, dass Trollzähne nachwachsen", begann sie schließlich eine kleine Plauderei mit Thymian. Nicht, dass es sie
wirklich interessierte, aber ein kleines bisschen war sie eben doch neugierig. Außerdem wärmte das Reden ein wenig ihr Gesicht - sie hatten ihren Spaziergang über den Markt fortgesetzt, und die Wächterin hatte den Eindruck, dass es in den letzten Minuten noch ein paar Grad kälter geworden war.
"Sie tun. Aber langsam", erwiderte der Rekrut.
"Sicher, dass langsam das richtige Wort ist? Für so einen wie dich, sind doch 10 Jahre doch nur ganz kurz."
"Nein, lange Zeit zehn Jahre sind."
Rabbe hob skeptisch eine Augenbraue. Das klang doch völlig widersprüchlich zu dem, was sie über Trolle wusste.
"Aber ihr lebt doch deutlich länger als Menschen oder auch Zwerge. Wie kann das dann eine lange Zeit für dich sein?"
"Weil ist!" Er machte einige vage Gesten, die es aber nicht wirklich klarer in Rabbes Augen machten.
"Aber bitte, niemand würde ein Jahrzehnt als wirklich lange Zeitspanne bezeichnen, wenn er schon ein paar hundert Jahre auf dem Buckel hat. Für einen Menschen ist es eine lange Zeitspanne, weil sie ein Siebtel seiner Lebenspanne beträgt, wenn er Glück hat."
"Nein, Menschen" - Thymian zählte an seinen Fingern - "Menschen nur vier, fünf Jahre alt werden."
"Was ist denn das für ein Unsinn?", entrüstete sich Rabbe. Sie wusste das Trolle nicht die Hellsten Köpfe waren, aber das hier schoss doch eindeutig den Vogel ab.
Jemand anderes mischte sich ein: "Wir rechnen unsere Jahre anders, Mä'äm."
Es war ein anderer Troll von einer sandig-braunen Farbe, der an einen Stand mit vielen Halbedelsteinen stand, an dem ein Schild stand mit der Aufschrift: 'Sandsteins Süßkiesel - Schmuck- und Essteine seit 1903.'
Der Troll nickte Thymian zu: "Hallo, Erz! Schön, dich zu sehen. Du bist tatsächlich Wächter geworden? Ich hatte Gerüchte gehört, aber nie geglaubt, dass das wirklich stimmt."
Der Rekrut zuckte mit den Schultern. "Ich hatte das Gefühl, dass ich meinen Leben eine neue Wendung geben muss. Ich habe es einfach nicht mehr in der Küche ausgehalten."
"Rekrut!", fauchte Rabbe ungehalten. "Wieso sprichst du auf einmal korrektes Ankh-Morporkianisch?"
"Oh... ähm..."
Sandstein kicherte. "Hast du etwa nur auf reduzierte Eloquenz zurückgegriffen, um die zerebralen Windungen deiner Gefährtin durch die eigentlich der thermischen Umgebung adäquaten mineralischen Denkleistung nicht zu verwirren?"
"Nein, eigentlich war es meine Absicht, durch den Usus der offensichtlich Erwarteten Sprachmethodik ein Gefühl von Vertrauenswürdigkeit zu generieren, der den gemeinschaftlichen Sinn stärkt. Ich denke nicht, dass die humanoide Gesellschaftsschicht Komplexe aufgrund ihrer offensichtlich verminderten Denkkapazität hat, sondern sich vielmehr auf die Tatsache besinnt, dass sie weitgehend unabhängig vom herrschenden Temperaturstatus einer ihrem Denkmeridians identischen Leistung hat. Multipliziert man die Denkleistung mit der Zeitspanne in der sie erreicht werden kann, dann sind die biologischen Lebensformen den mineralbiologischen eindeutig überlegen. Allerdings klappt das nur, wenn man die Denkleistung als einen linearen Zustand in einem Vektorraum darstellt, statt einem Polynom, dass eine bijektive Abbildung erzeugt, wie es sich eigentlich richtig gehört. Aber solche Fehler passieren."
Er wandte sich der total verdutzt dreinblickenden Wächterin zu. "Schade, dass du nicht dein Gesicht sehen kannst. Sandstein und ich wollten dich nur ein wenig an der Nase herumführen. Aber im Ernst, die Kälte tut unseren Köpfen gut. Gedanken fließen besser, wenn es kalt ist. Deswegen mögen wir den Winter so gerne. Aber viele reagieren komisch, wenn ein Troll nicht so spricht, wie sie denken, dass ein Troll sprechen soll. Deshalb drücke ich mich im Umgang mit Menschen meistens weiter etwas einfacher aus."
Rabbe stöhnte nur entnervt. Sich bewusst dumm zu stellen, zeugte aus ihrer Sicht nicht wirklich von Intelligenz - genau so wenig wie sich klüger zu stellen, als man tatsächlich war.
Thymian begann, einige Münzen aus seinem Lendenschurz hervorzukramen und abzuzählen. "Kann ich Tigerauge für 1 Dollar und siebzig Cent haben?"
Sandstein begann das gewünschte heraus zu suchen, doch Rabbe räusperte sich: "Wir sind nicht hier um Schweinachtseinkäufe zu erledigen, Rekrut!"
Bevor Thymian reagieren konnte, sprach schon Sandstein wieder: "Wie gesagt, wir rechnen unsere Jahre anders. Diese Einteilung nach dem Sonnenlauf ist nicht ideal für uns Trolle."
Rabbe runzelte die Stirn: "Wieso das denn? Der Sonnenlauf bestimmt die Jahreszeiten und es gibt wohl kaum etwas anderes, dass sich regelmäßig wiederholt und unser Leben so nachhaltig beeinflusst."
"Aber die Zeitspanne ist einfach zu kurz, als dass wir damit gut arbeiten können", entgegnete Sandstein. Er häufte eine kleine Menge Tigeraugen auf eine Waage auf und setzte einige Gewichte auf die andere Seite. "Es wäre so, als würdet ihr als längste Zeiteinheit Monate oder nur Wochen benutzen. Außerdem wirken auf uns auch noch andere Dinge als die aktuelle Jahreszeit."
"Er meint die metamagischen Schwankungen", fügte Thymian erklärend hinzu: "Die sind relativ langsam, aber die verändern die magischen Felder auf der ganzen Scheibenwelt. Ihr Menschen werdet von so etwas kaum beeinflusst, aber wir Trolle können das durchaus spüren."
Sandstein tütete die abgewogenen Steine in einen kleinen Beutel ein und schnürte ihn zu: "Wir benutzen als Basis für unsere Zeitrechnung einen Kristall namens Igingnit. Der hat die Eigenschaft, dass er fast unzerstörbar ist und zugleich sehr langsam aber gleichmäßig wächst. Er ist sehr klein, aber wenn man weiß, wonach man suchen muss, kann man ihn so ziemlich überall finden. Was ihn jedoch für uns am interessantesten ist, dass in regelmäßigen Abständen zum gleichen Zeitpunkt jeder einzelne Igingnit-Kristall zerspringt und zu einem feinen Pulver zerfällt. Das Zerspringen dieses Kristalls markiert das Ende eines unserer Jahre."
"Viele Trolle lassen sich verwirren, wenn sie hier nach Ankh-Morpork ziehen und zählen ihr eigentliches Alter einfach mit dem Sonnenlaufwechsel hoch, statt weiter nach dem Kristall. Deshalb gibt es Trolle, die behaupten, dass sie 35 sind, obwohl sie erst vor kurzem 27 wurden. Nur wenige wissen ihr korrektes Alter in euren Jahren, aber das macht nichts, wenn man so alt wird wie wir, macht es wenig aus, wenn man ein, zwei Jahrzehnte daneben liegt", erklärte der Wachetroll.
"Wenn ihr Menschen von unserer Jahresrechnung redet, dann benutzen die meisten den Ausdruck 'Kristalljahr'", fügte Sandstein ergänzend hinzu und reichte Thymian das Säckchen, der wiederum einige Münzen auf dessen Handfläche legte.
Er ließ dann das Säckchen schnell verschwinden, ehe seine Ersatz-Ausbilderin Einspruch erheben konnte. Rabbe schüttelte nur den Kopf. "Wir sollten endlich weitergehen, wir sind nicht nur zum Spaß hier. Und auch nicht für Nachhilfeunterricht in Trollkultur."
"Natürlich", erwiderte Thymian. "Mach's gut, Sandstein, man sieht sich."
Der andere Troll griff noch nach einen Turmalin in der Auslage und warf ihn dem Wächter zu: "Hier, kleines Geschenk des Hauses, für deine Kleine."
"Danke."
Damit wandten sich die beiden Wächter zum gehen.
"Nein!", keuchte Pismire. "Nicht... nicht der Staubsauger!"
Beunruhigt beugte sich Kanndra über ihren Kollegen und erneuerte den kalten Wickel. Sein Zustand hatte sich zunehmend immer mehr verschlechtert, bis er ins Delirium gefallen war und merkwürdiges Zeug zu murmeln begonnen hatte. Er hatte gespürt, das ihm das Fieber den Verstand rauben würde und Kanndra um ihren Teppichklopfer gebeten, den er jetzt unbewusst mit seinen Fingern so fest umklammerte, dass seine Knöchel weiß wurden, fast als wäre es sein einziger Rettungsanker.
Kanndra warf noch einen Blick auf das Feuerchen das unter ihrem Kessel brodelte und schlang dann einen Umhang um sich. "Ich bin in spätestens in einer halben Stunde wieder da. Wenn etwas sein sollte, dann klingelt mit den Glocken, mein Nachbar weiß Bescheid."
Ihr Sohn nickte ihr zu und nibbelte an dem Lutscher, den sie ihm als kleinen Trost gegeben hatte.
Damit verließ die Hexe die Wohnung um die letzte fehlende Zutat zu besorgen.
Rabbe betrachtete den Stand vor sich mit großem Argwohn; etwas derartiges hatte sie bisher noch nicht gesehen.
"Kommen Sie herein und betrachten Sie die wundervolle Welt unter den Hügeln! Einzigartig auf der Scheibenwelt und völlig authentisch in der Darstellung gnomischen Lebens! Verpassen Sie nicht diesen drolligen Höhepunkt niedlicher Folkloristik!" Mit diesen Worten pries ein Schausteller das Innere eines etwa vier Meter langen und außen mit bunten Bildern bemalten Bretterverschlages an und tippte immer wieder mit seinem Zeigestock auf ein Werbeposter auf dem unter dem Schriftzug 'Die Welt unter den Hügeln' eine schnulzig-süße Abbildung von mit Häschen kuschelnden Gnomen zu sehen war.
Die Wächterin hüstelte: "Das ähm... sollte ich mir mal genauer ansehen."
"Ich warte hier", entgegnete Thymian ohne sich vom Fleck zu bewegen.
Rabbe huschte zu dem Ansager, zahlte zehn Cent für den Eintritt und betrat dann den Verschlag durch den Vorhang.
Innen drin waren die Wände in einem altrosa Farbton gehalten und in ihnen an der Seite offene Kästen eingesetzt, die jeweils 'authentische' Szenen aus dem Leben eines Landgnoms zeigten.
Im ersten Kasten ging ein Schauspieler-Gnom der äußerst pittoresken Tätigkeit des Karnickelfütterns nach, wobei die Fülle des Langohrs Rabbe verriet, dass dieses nur noch ein halbes Dutzend Möhren von seinem Auftritt als fetter Festtagsbraten entfernt war. Im zweiten führten einige Gnomen Ringelreihen auf, und im dritten...
Rabbe stutzte. Der eine Gnom in der winzigen Backstube, der unverhohlen mit seiner Schauspielpartnerin schäkerte, kam ihr merkwürdig bekannt vor.
Diesem schien es nicht anders zu gehen, denn als er Rabbes Beobachtung gewahr wurde, erstarrte er für einen Augenblick. Dann machte er jedoch einige eindeutige Gesten, damit sie einen Schritt zur Seite machte. Er selbst verließ den Kasten durch eine Tür an der Seite und trat auf einen kleinen, dort angebrachten Balkon.
"Was soll das?", fragte er leise, aber mit Nachdruck. "Ich habe extra ein Memo rumgehen lassen
[2], dass hier auf keinen Fall ein Wächter auftauchen soll!"
"Oberstabsspieß Harry?" Die Ermittlerin war vollkommen verdattert.
"Willst du, dass meine Ermittlungen auffliegen? Ich kann hier mit viel Glück vielleicht lebenswichtige Informationen sammeln, aber das wird nur funktionieren, wenn mich keiner von euch hier enttarnt!", zischte der Gnom ihr zu und setzte einen wirklich ernsthaften Gesichtsausdruck auf, der nicht so recht zu seinem Bäckerkostümchen und überhaupt nicht zu seiner Herzchen-gemusterten Schürze passen mochte.
"Hasi, kommst du wieder? Ich brauche deine starken Arme beim Plätzchenausstechen!", trällerte die adrette Bäckerin.
"Ich komme schon, mein Mäuschen!", flötete Harry zurück und warf dann Rabbe einen du-stehst-unter-Beobachtung-Blick zu.
Die Wächterin verließ die Ausstellung wieder, aber nicht ohne noch einen winzigen Blick zurück zu riskieren. Harry bestäubte die quietschvergnügt kichernde Gnomin gearade spielerisch mit Puderzucker. Anscheinend eine wirklich höchst angenehme verdeckte Ermittlung...
Draußen bemühte sich Rabbe darum, nicht zu sehr zu grinsen und wandte sich an Thymian. "Alles in Ordnung da drin, offensichtlich hat da schon einer der Terrier von DOG seine Augen drauf. Wir sollten weitergehen, schließlich sollst du heute noch etwas lernen."
"Einverstanden", erwiderte Thymian und trottete Rabbe hinterher.
Sie kamen an einigen weiteren, aber nicht sonderlich auffälligen Buden vorbei. Im der ersten gab es live gestrickte Wollsocken, wo einige ältere Damen interessiert zuschauten. An der nächsten Bude gab es Würstchen im Brötchen, die genau so aussahen, wie Schnapper behauptete, dass es seine sind. Am folgenden Stand bot ein Vampir echtes Überwaldisches Glühblut an.
Danach kam eine Kreuzung und Rabbe schaute sich um, in welche Richtung sie ihren Weg am besten besten fortsetzen sollten. Sie entschloss sich, dass sie drehwärts einbiegen sollten, wo einige Buden standen, die weniger auf Verkauf und mehr auf Vergnügen ausgerichtet waren.
Sie wollte schon losmarschieren, doch dann merkte sie, dass der Troll ihr nicht folgte.
Thymian war an der Straßenecke in die Knie gesunken und starrte auf ein Stückchen Mauer, auf dem nur ein unförmiger Fleck und einige verwischte Kreidespuren davon zeugten, dass hier etwas vorgefallen war. Die Ermittlerin kannte den Blick in seinen Augen: Es war eindeutig Trauer.
Sie klopfte dem Troll aufmunternd auf eines seiner Knie, wartete eine Weile und fragte dann: "Möchtest du über etwas reden?"
Der Troll regierte nicht auf sie. Eine Träne kullerte seine Wange herab, er holte ein kleines Stückchen Kreidefelsen hervor und drückte es an sich.
Zunächst wusste die Ermittlerin nicht genau, was sie machen sollte, sie war nicht unbedingt der Typ, der Übung darin hatte, andere zu trösten. Dann fiel ihr jedoch etwas ein was Sandstein vorhin erwähnt hatte.
"Du hast also ein Kind", stellte sie fest: "Wie ist es denn so? Ich habe hier in Ankh-Morpork noch nie ein Trollkind gesehen."
Thymian erwachte wie aus einer Trance: "Ist noch kleines Kieselchen." Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und fügte hinzu: "Meine Kleine ist mein ein und alles."
"Wo bleibt sie denn immer? Du kannst ja im Dienst nicht auf sie aufpassen." Wie nebenbei setzte sich Rabbe in Bewegung - genau in die Richtung, für die sie sich entschieden hatte.
Thymian folgte, ohne groß nachzudenken. "In einem Kieselgarten, betrieben von Menschen in orangen Kutten. Wirklich nette Leute dort."
"Kieselgarten? So etwas gibt es hier? Habe ich nie von gehört."
"Nun, es hat irgendwas mit Zen zu tun, wenn ich das richtig verstanden habe. Aber im Austausch für ein ausgiebiges Gespräch jede Woche passen sie nebenbei auf mein Kind auf. Ich habe echt Glück mit diesen Arrangement, in der Stadt gibt es nicht mal viele, die sich mit den Bedürfnissen von Kleinfelsen auskennen."
"Für ein Gespräch?"
"Nun, ich bin der älteste Troll der Stadt und habe schon eine Menge erlebt. Sie interessieren sich sehr für meine Erfahrungen."
Rabbe seufzte. "Von mir würde sich niemand mit nur einem Gespräch bezahlen lassen."
"Du hast vielleicht nur noch nicht die richtigen Zuhörer gefunden."
"Und über was redest du so?"
"Über alles mögliche. Letzte Woche unterhielten wir uns ausgiebig über Glastrolle."
"Trolle aus Glas? Ich habe mal gehört, das welche aus Diamant bestehen, aber aus Glas..."
"Neinnein, ein Glastroll ist nicht
aus Glas, sondern
wie Glas."
"Was kann ich mir den darunter vorstellen?"
"Nun, Glastrolle sind ein wichtiger Teil unserer Gemeinschaft. Sie sind keine Anführer oder so, aber sie leiten uns." Thymian überlegte einen Moment lang. "Am ehesten würdet ihr sie wohl mit einem Priester vergleichen. Aber man wird nicht einfach so ausgesucht und ist dann ein Glastroll, nein das nicht."
Rabbe bedeutete mit einer Handbewegung, dass er weiter reden sollte.
"Eigentlich könnte jeder Troll ein Glastroll werden, aber nur ganz wenige schaffen es, den meisten wird schon bei den Gedanken schlecht, wenn sie daran denken, dass sie nur Glas essen."
"Glas? Besteht das nicht aus den gleichen Stoffen wie normaler Stein? Was ist so schlimm daran?"
Der Troll verzog das Gesicht: "Es gibt nichts, was widerlicher schmeckt als Glas. Außerdem hat es Folgen, wenn du als Troll eine gewisse Menge davon zu dir nimmst." Er hielt einen Augenblick inne und betrachtete nachdenklich die Schneeflocken, die von oben herab rieselten. "Die Augen verglasen; du erblindest. Man muss also ein großes Opfer bringen, aber nur wer mit ganzen Herzen dabei ist, schafft es auch auf die nächste Stufe. Denn ein echter Glastroll hört die Stimme eines Gottes, der ihn von da an führt und anleitet und an den Ort schickt, an den er gebraucht wird. Nur ganz wenige Trolle schaffen es so weit."
Rabbe erschauerte: "Ich weiß nicht, ob ich so etwas je auf mich nehmen würde... Klingt nicht so, als ob sich das wirklich lohnt."
Thymian nickte: "Ich glaube auch nicht, dass es sich für die Trolle wie Glas lohnt, denn sie sind viel empfindlicher und schwächer als alle anderen und kommen ohne ständige Unterstützung kaum zurecht. Aber für alle anderen lohnt es sich, denn die Glastrolle bewahren unsere Lieder und Geschichten, sie spenden Trost, wenn es dir schlecht geht und sie... ähm..."
Die Wächterin war sich nicht ganz sicher, ob sie sich das einbildete, aber irgendwie sah es so aus, als wäre der Troll leicht errötet.
"Ich kenne mich mit dieser Sache nicht so gut aus, aber wenn ein Trollmann und eine Trollfrau ein Trollkind haben wollen... Sagen wir es so; es ist kein Zufall, dass hier in der Stadt so gut wie keine Kleinfelsen sind, denn wir haben auch keinen Glastroll."
"Echt, in der ganzen Stadt keinen? Bei der Anzahl der Trolle hier hätte ich vermutet, dass sich hier ein halbes Dutzend herumtrollt."
Thymian ignorierte das Wortspiel und schüttelte den Kopf. "Nein, irgendwie schaffen sie es nicht, hier in Ankh-Morpork anzukommen. Es haben wohl schon einige Glastrolle versucht, hierher zu imigrieren, aber sie erreichen unsere Gemeinschaft einfach nicht. Kein Troll würde einen von ihnen je etwas antun, aber andere Spezies denken nicht so."
"Willst du andeuten, dass Zwerge..."
"Nein, nicht unbedingt, einem Glastroll kann viel zustoßen. Schlimm ist ja, dass sie den Weg alleine finden müssen, und das ist ganz schön schwer wenn man die Umgebung nur als Schemen wahrnimmt. Aber ein Glastroll kann nur in eine Gemeinde eintreten, wenn er es alleine schafft. Wenn er einige Wächter mit sich hätte, dann würde ja schon bereits einer anderen angehören."
"Wieso schickt ihr nicht einfach von hier aus ein paar von euch los, um den nächsten abzufangen, wenn er kommt?"
"Wir wüssten nicht, wohin wir müssten. Glastrolle werden von dem Gott, der sie als Priester will, gerufen, aber wir haben keinerlei Anhaltspunkt woher und wann sie kommen könnten. Das einzige, was wir hoffen können, ist das einer von uns den nächsten Glastroll findet, bevor es jemand anderes tut."
"Vielleicht sollten wir mal die Kollegen von der Wache informieren..."
"Nein, dann würde es nur viel zu viel Trubel gehen. Es handelt sich um eine Trollangelegenheit, die unter uns Trollen bleiben sollte. Will ein Glastroll Kontakt zu euch weichen Wesen, dann soll er dies selbst entscheiden und sich nicht irgendeinen Nichttroll aufdrängen lassen."
"Na, wenn du meinst... Was ich nicht ganz verstehe, wie kannst du ein Kind haben, wenn du doch einen Glastroll brauchst?"
"Oh, das simpel. Ravette sich eines Morgens von mir verabschiedet hat und ging dann weg. Etwa sechs Monate später war sie wieder da und hatte unser Kieselchen dabei."
Thymian seufzte: "Sie war der wundervollste Troll, den man sich vorstellen kann."
"Du vermisst sie sehr, oder?", erkundete sich Rabbe, die eins und eins zusammen gezählt hatte.
"Jeden Tag." Thymian hielt inne und fügte hinzu: "Danke übrigens. Für die Ablenkung und so."
"Keine Ursache." Rabbe begann schelmisch zu grinsen: "Dafür habe ich ein gratis Gespräch bekommen und musste nicht mal eine Minute Kieselsitten."
Der Troll lachte herzhaft auf.
Rabbe deutete auf einen Stand vor ihnen: "Bleib mal stehen, siehst du das?"
Vor ihnen, an einer Wurfbude, hatte sich ein Ring von Menschen gebildet. Innerhalb dieses stritten sich gerade zwei Männer, die wohl nicht mehr lange brauchen würden, bis sie sich mehr als nur Beleidigungen an den Kopf warfen.
"Rekrut, hiermit beginnen wir den lehrhaften Teil dieser Ausbildungseinheit!"
Pismire blinzelte einige Male und wischte sich dann mit dem Handrücken über seine Augen. Er richtete sich auf, stellte fest, dass der erwartete Schwindel ausblieb und begann dann unzeremoniös sein offenes Hemd zuzuknöpfen. Er schaute einen Moment lang Kanndra zu, die mit langsamen, kreisenden Bewegungen Salbe auf die Brust ihres Sohnes schmierte. Die Atmung von Benjamin Julian klang schon deutlich weniger schwer.
Kanndra deckte ihren Sohn wieder gut zu und wandte sich dann um.
"Oh. Du bist wieder bei Bewusstsein. Wie geht es dir nun?"
"Deutlich besser", Pismire griff nach einem Taschentuch und reinigte sich kurz die Nase: "Das Mittel war ein Erfolg, ich bin wieder völlig klar im Kopf."
Kanndra nickte ihm zu: "Ja, dein Rezept scheint wahre Wunder zu wirken. Wir sollten uns beeilen, es schnell an alle Betroffenen zu verteilen."
Pismire schüttelte den Kopf: "Nun, das wird nicht ausreichen, diese spezielle Grippewelle muss an der Wurzel angegangen werden. Dieses Medikament ist im Moment noch sehr wirksam, aber es wird seine Wirksamkeit bald einbüßen, wenn dieser Seuche nicht bald ein Ende gesetzt werden wird. Wenn wir es aber innerhalb des nächsten Tages an die als erstes Betroffenen verteilen, können wir sie aber mit Sicherheit beenden."
"Wirklich? Was lässt dich das glauben?"
"Das hat nichts mit Glauben zu tun, Kanndra, sondern mit Wissen. Du musst mir einfach vertrauen."
Suchend schaute sich der Schamane nach seiner Straßenkleidung um. Er schnappte sich seinen Umhang und legte dann noch seinen wollig weichen Schal um seinen Hals.
"Wo willst du hin?", fragte die Hexe.
"Ins Wachhaus. Dort habe ich eine Liste mit allen, denen wir das Heilmittel vorbei bringen müssen."
"Wie kommst du denn zu der?"
"Ganz einfach - sie stehen alle im Rekrutenverzeichnis."
"Was?"
"Nun, ich hatte es ja schon zu Anfang gesagt: Die Rekruten haben Mist gebaut. Aber nichts, was ein guter Ausbilder mit der richtigen Unterstützung nicht wieder hinkriegen würde."
Rabbe sprach mit gesenkter Stimme, aber dennoch in einem scharfen Tonfall.
"Rekrut, diese Lektion wird nicht unbedingt dem entsprechen, was man dir sonst so beibringt. Aber ich denke, es ist wichtig, dass du weißt, wie man mit Bürgern umgeht. Richtig, meine ich. Deine Ausbilder mögen zwar immer wieder darauf hinweisen, dass Gewalt keine Lösung ist, aber das stimmt eigentlich nur für eine Handvoll Situationen."
Die Ermittlerin deutete auf den Menschenring, der mittlerweile die beiden Kontrahenten mit Rufen auzustacheln versuchte. "Da vorne", erklärte sie nüchtern, "ist nicht etwa eine Ansammlung vernünftiger Personen, sondern ein hirnloser Mob."
Thymian legte den Kopf leicht schief und betrachtete das Ganze genauer.
"Das Problem mit dem Mob ist, dass er spontan dazu neigt zu wachsen. Und je größer er wird, desto gefährlicher ist er am Ende. Besonders, wenn einige von deiner Sorte mit drin stecken."
"Ich bin friedliebend!", protestierte der Troll.
"Ich meinte das eher körperlich. Also groß, stark, und Hände wie Vorschlaghammer."
"Ich finde innere Stärke viel wichtiger", murrte Thymian.
Rabbe ging auf den Kommentar nicht ein. "Also", fuhr sie fort, "ein Mob ist etwas schlechtes, wenn er so aufgewiegelt ist, weil er zu unberechenbarem Verhalten neigt."
"Man kann alles berechnen, wenn es nur kalt genug ist", warf der Troll ein.
Rabbe hob eine Augenbraue. "Wenn es kalt genug ist, zerstreut der Mob sich von selbst. Wie dem auch sei, als Wächter sollte man eingreifen, wenn man mitbekommt, dass sich ein aggressiver Mob bildet. Das gilt nicht nur für Wächter auf Streife, sondern eigentlich immer, außer wenn man inkognito unterwegs ist."
"Inkog- was?"
"Das ist latitianisch für 'mit einem falschen Schnurrbart'. In jedem anderen Fall solltest du so einen Auflauf zerstreuen, wenn du merkst, dass sich in ihm eine Gewaltbereitschaft aufbaut. Ein solcher Mob hat enorme Zerstörungskraft
[3], also liegt es in deinem eigenen Interesse, dass er nicht wütet. Nun aber zum eigentlichen Ausbildungsinhalt: Wie denkst du geht man am besten mit einer solchen Situation um? Wie kriegt man die Massen dazu, sich wieder zu zerstreuen?"
"Man geht hin und bittet alle höflich darum, nach Hause zu gehen?"
"Falsch. Denkst du, dass diese nach Blut lechzenden Irren dich auch nur eines müden Blickes würdigen würden?"
Thymian sah Rabbe verständnislos an und sagte schließlich: "Ich kann sehr präsent sein, wenn ich will."
"Ich bezog mich eigentlich mehr auf die Situation, dass man kein riesiger Troll ist, sondern ein gewöhnlicher Mensch oder auch ein Zwerg. Vielleicht sogar ein Gnom."
"Aber... ich
bin doch ein riesiger Troll."
"Keine Widerrede - wer ist hier der Ausbilder, und wer der Rekrut?"
"Nun, du bist-"
"Das war rhetorisch gemeint! Auf jeden Fall kann man nicht einfach hoffen, dass man vernünftig mit den Leuten reden kann. Niemand hier in der Stadt ist vernünftig. Einige mögen vielleicht so wirken, aber im Grunde sind hier alle irre."
Thymian dachte einen Moment lang nach. Irgendwie stimmte das schon. Seit ein paar hundert Jahren war die Atmosphäre hier in der Stadt recht angespannt. Als er hier angekommen war - damals, als Ankh-Morpork noch kaum mehr als eine Ansammlung von Hütten um einen großen Turm herum gewesen war - war das noch anders gewesen, aber vielleicht wuchs mit der Größe einer Stadt auch ihr Irrsinn? Das war einer der Gründe, wieso es ihm in der Wache besser gefiel als bei seinen letzten Arbeitgebern - hier wurde nicht ständig herumgebrüllt
[4].
"Es hat aber auch einen Vorteil, dass der Mob nicht vernünftig ist", fuhr Rabbe fort. "So kann man als Wächter subtil Einfluss auf ihn nehmen."
"Wie denn?"
"Indem wir ihnen etwas geben, das sie hassen können, wogegen sie sich aber nicht trauen, tatsächlich vorzugehen."
"Ah, ich verstehe. So wie früher der Unterschied, ob man von einem Zwerg oder einem
Grualagh beschimpft wurde."
"Grual... was?"
"So eine Art Obertroll. Oder Häuptling. Dem Zwerg reißt man den Kopf ab, aber bei dem Grualagh nimmt man es hin."
"Den Kopf ab?" Rabbe war aufrichtig schockiert.
"Das ist schon lange her. Damals war alles einfacher. Aber heute bin ich ein moderner Fels und passe sehr auf, nicht versehentlich Zwerge zu beschädigen."
"Aha", entgegnete Rabbe und war zum ersten Mal im Leben dankbar, doch kein Zwerg zu sein.
"Worauf ich hinaus will", fuhr sie fort: "Die Leute hier brauchen ein Ziel für ihre Aggressionen. Eines, das außer Reichweite ist, so dass ihr Zorn sich nicht entladen kann. Solange der Hass nur brodelt und kein Ventil bekommt, ist er harmlos." Sie ignorierte Thymians skeptischen Gesichtsausdruck. "Also, wen können die Leute verabscheuen, ohne etwas dagegen unternehmen zu können?"
"Treibe-mich-selbst-in-den-Ruin-Schnapper", erwiderte Thymian nach kurzem Nachdenken.
"Nein, an den dachte ich eigentlich nicht."
"Aber er verfügt über biochemische Waffen!"
"Ich hätte eher mit 'Vetinari' als Antwort gerechnet. Aber den meine ich auch nicht. Nein, die Lösung ist: Wächter. Bring die Leute dazu, dich zu hassen, statt irgendetwas anderes. An Wächter, besonders solche mit einer gewissen Ausstrahlung, trauen sich nur wenige Normalbürger heran. Erst recht nicht, wenn die Wächter in Teams unterwegs sind."
Der Troll schaute etwas betreten. "Aber es ist doch viel besser, wenn man als Wächter geschätzt wird. Sollte man nicht eher versuchen, den Bürgern durch gutes Verhalten ein Vorbild zu sein?"
Rabbe verzog das Gesicht. "Ja, das ist der Unsinn, den ihr in eurer Ausbildung lernt. Und den du auch 'offiziell' wiedergeben solltest. Aber ich erkläre dir gerade, wie es
richtig geht. Gehen wir doch mal dort rüber und finden erst mal heraus, wieso die beiden da vorne sich überhaupt die Köpfe einschlagen wollten."
Thymian nickte, wodurch einige Flocken von seinem Kopf herunter fielen, und stapfte dann zusammen mit Rabbe durch den Schnee hinüber zu dem Menschenring.
Die zwei Streithähne in der Mitte waren auf den ersten Blick völlig unterschiedlich, aber auf den zweiten überraschend ähnlich. Der erste war wohl ein junger Adeliger, trug feine Kleidung und etwa schulterlanges, nach aktueller Mode frisiertes Haar. Das Aussehen des anderen - viel festes Leder, die Haare sorgfältig gestutzt - ließ auf einen Schmiedelehrling schließen. Beide hatten ein gesundes Maß an Muskeln und dieses besondere Leuchten in ihren Augen, das zeigte, dass sie
mehr im Leben wollten. Hinter ihnen stach eine Person aus der Menge hervor. Statt wie der eigentliche Mob für den einen oder anderen Partei zu ergreifen, hatte er sich eine Zigarette angezündet und paffte seelenruhig vor sich hin, ganz so, als wäre er überhaupt nicht in diese Sache verwickelt. Seine Kleidung wies ihn als Schausteller aus, und die Wurfbude hinter ihm war wohl seine. Im Inneren konnte man zwei komplett abgeräumte Dosenstapel sehen. Neben der Wurfbude befand sich ein großer Schwenkgrill, von dem aus ein Igor gebrannte Mandeln und andere Organe verkaufte, und zwischen Grill und Wurfbude stand einer dieser kleinen modernen Sportkarren, den ein Schild als 'Hauptprais' bezeichnete.
"So", raunte Rabbe Thymian zu. "Lass uns erst mal diskret herausfinden, was hier überhaupt los ist, ja?"
Thymian nickte und machte einen Schritt nach vorne, was ihn mitten in das Meer aus Menschen führte, das sich vor ihm schnell genug teilte, um jeden omnianischen Propheten vor Neid erblassen zu lassen. Im Inneren des Rings angekommen räusperte er sich und fragte mit donnernder Stimme: "Was hier los sein?" Um die Menschen nicht unnötig zu irritieren, verfiel er wieder in die gewöhnliche Troll-Sprachweise.
Rabbe verdrehte die Augen. "Soviel zu diskret", murmelte sie.
Die beiden Streithähne deuteten aufeinander und verkündeten unisono: "Der da will mir meinen Karren streitig machen!"
"Ich habe die Pyramide vor dir umgeworfen!", rief der Lehrling zornig.
"Pah, wenige Augenblicke nur. Außerdem habe ich meine Bälle vor dir bekommen. Wenn du gewartet hättest, bis ich fertig bin, wie sich das gehört, dann wäre das Ergebnis ganz eindeutig gewesen. Aber das ist wohl zu viel verlangt von so einem ungehobelten Kerl."
"Ach, das Zuckerpüppchen denkt, dass sich die Welt nur um ihn dreht?"
"Typisch. Kaum gehen dir die Argumente aus, greifst du zu Beleidigungen, du Abschaum..."
"Hui, da hat es mir das Püppchen aber gegeben. Komm, lauf nach Hause zu Mami und deinem Spielzeug, und überlass den Karren dem Erwachsenen, ja?"
Die beiden Streithähne starrten sich wütend an. Thymian ließ sich einen Moment lang die Sache durch seinen Kopf gehen, um alle Möglichkeiten durchzurechnen. Die Gluthitze, die vom Schwenkgrill ausging, machte ihm das Denken etwas schwieriger.
Er hielt nichts von Rabbes Einstellung, also würde er sich bemühen, diese Sache auf vernünftige Art und Weise zu lösen - so wie dereinst der große Salomit, der weiseste aller Trolle.
"Ihr also beide Karren wollt?"
"Ja, aber er-"
"Dieser Karr-"
Beiden bleiben ihre Worte im Hals stecken, als sie sahen, wie der Troll den Karren mit einem kräftigen Handkantenschlag in zwei Teile zerbrach. Er sah sich das Ergebnis kurz an, brach dann einen Balken von dem einen Karrenrest ab und legte ihn auf den anderen. "So, nun zwei gleichgroße Teile. Gerecht geteilt!"
"Aber-aber-aber...", stotterte der Adelige.
"Das ist doch nur noch Haufen Müll!", rief der Schmiedelehrling entrüstet.
Thymian verschränkte die Arme. "Wenn einer von euch nicht will, kann ja geben seinen Teil dem anderen."
"Den Dreck kannst du gerne haben", knurrte der Lehrling dem Adeligen zu.
"Den Schrotthaufen?" Der Adelige rümpfte die Nase. "Danke, aber
ich habe gewisse Ansprüche. Aber du darfst ihn dir gerne in deine Wohnung stellen. Vielleicht wertet er sie ja noch auf."
"Ansprüche? Pah. Zuckerpüppchen wie dich kenne ich zu Genüge. Leute wie du können ja Bier nicht von Pferdepisse unterscheiden."
"Ach? Ich sag dir was." Der Adelige war einen wütenden Seitenblick auf Thymian. "Warum gehen wir nicht wo hin, wo keine bekloppten Karrenzertrümmerer herumstehen, und ich dir das Gegenteil beweisen kann, ja?"
Beide zogen grummelnd und schimpfend in Richtung der nächstgelegenen Kneipe ab, und augenblicklich begann sich die Menge aufzulösen.
Rabbe trat neben den Troll. "Gut gemacht, Rekrut." Thymian war sich da nicht so sicher. Der Trick von Salomit damals hatte irgendwie anders funktioniert...
Der Wurfbudenbesitzer indessen nahm einen Pinsel zur Hand und schrieb unter das Wort "Hauptprais" auf dem Schild schwungvoll "Jahresvorrat Feuerholz".
Knarrend schwang die Tür auf und Pismire betrat das Wachhaus. Es war kalt - anscheinend war seit Tagen kein Ofen mehr befeuert worden.
Der Schamane stieg zielstrebig die Treppe hinauf. "Hallo? Zeig dich!", rief er in die leeren Gänge hinein.
"Ist ja gut, brüll doch nicht so!", entgegnete eine weibliche Stimme hinter ihm.
Pismire drehte sich um und betrachtete die Gestalt abschätzend. "Influenza, nehme ich an."
"Die einzig wahre", entgegnete die vermeintliche Rekrutin schnippisch und verschränkte die Arme. "Was sind das nur für unfreundliche Gestalten, die hier herumlaufen? Die letzte wollte mir nicht mal die Hand geben!"
"Das muss daran liegen, dass ich in meiner Nachricht ans Wachhaus ausdrücklich nach einer bestimmten Wächterin als Ersatz-Ausbilderin gefragt habe, die nicht so auf Kuschelkurs ist", erklärte Pismire nüchtern.
"So was gemeines!" Influenza zog eine Schnute.
"Gemein? Wenn hier jemand gemein ist, dann bist das ja wohl du. Oder ist es die feine quirmianische Art, die halbe Stadtwache krank zu machen?"
"Hey, so eine Grippe ist doch etwas Wunderbares! Man kann so viele nervige Termine schwänzen und wird liebevoll umhegt!"
"Meinst du das ernst? Hast du vielleicht mal überlegt, dass man auch angenehme Termine verpasst - oder wie schlecht man sich dabei fühlt?"
"Na und? Hauptsache, man glaubt an mich!" Die Gestalt sah ihn triumphierend an. "Du kannst mir gar nichts tun, Sterblicher. Ich bin eine Göttin! Wenn ich wollte, könnte ich dich so krank machen, dass du den Tag verfluchst, an dem du mich geärgert hast."
"Nur zu", entgegnete der Schamane. "Versuch es ruhig."
Irritiert legte Influenza den Kopf schief. "Was soll das denn jetzt?"
"Du hast mich bereits krank gemacht. Aber wie du sehen kannst, geht es mir wieder ziemlich gut."
"Wie kann das denn sein?", keuchte die Grippegöttin.
"Nun, du weißt doch sicher, wieso du hier bist? Ein paar Rekruten wollten sich vor dem Fitness-Test drücken, und einer war überzeugt, dass er sich nur fest genug eine gelegen kommende Grippe wünschen musste, um auch eine zu bekommen. Dann hat er noch ein paar leichtgläubige Rekruten überzeugt - und so bist du hier aufgetaucht."
"Und ihr Glaube ist ungebrochen!", rief Influenza triumphierend. "Ich spüre jeden einzelnen!"
"Das mag sein, aber du bist nicht das Einzige, das seine Kraft aus Glauben bezieht." Pismire holte eine Dose der Erkältungssalbe heraus. "Hier drin sind nicht nur allerlei Hausmittel gegen Grippe - diese Salbe wurde auch von jemandem gebraut, der fest an die Wirkung geglaubt hat. Ich werde jetzt jeden einzelnen der kranken Rekruten aufsuchen und sie mit der Salbe versorgen, was deiner Macht sicher nicht zuträglich sein wird. Wenn ich wiederkomme, will ich von dir hier nichts mehr sehen, ist das klar?"
"Aber ich bin eine Göttin!", jammerte die Gestalt.
"Ja, das bist du. Und ich bin ein Wächter, der keine Skrupel davor hat, dich von Kopf bis Fuß mit der Salbe hier einzuschmieren."
"So gemein!", jammerte Influenza und löste sich in ein grünes Wölkchen auf, mit einem Geräusch, das sehr nach Lungenentzündung klang.
Und damit ging Pismire in sein Büro, um sich die Liste mit den Anschriften der erkrankten Rekruten zu holen.
"Ich hätte nicht gedacht, dass du durch die Tür passt", stellte Rabbe fest und nippte an ihrem Glühwein. "Aber hier im Eimer scheinen sie wirklich Wert auf ihre Wächterkundschaft zu legen."
Thymian nickte langsam. Die Wärme machte ihn träge. Im Schneckentempo knabberte er an einem Ziegel.
"Ich würde sagen, der Tag heute war ein Erfolg. Für einen Troll hast du dich gar nicht so dumm angestellt."
"Äh... danke?", antwortete Thymian mit leichter Verwirrung in der Stimme.
"Ich werde auf jeden Fall einen positiven Eintrag in deiner Akte machen. Vielleicht mache ich noch ein oder zwei Ausbildungseinheiten mit dir. Solange dein Ausbilder krank ist, muss ja jemand den Tschob machen." Rabbe lachte schelmisch. "Man könnte fast sagen, dass es gut gelegen käme, wenn Pismire noch ein wenig länger krank bleiben würde. Aber wir wollen lieber nichts heraufbeschwören."
"Besser nicht", stimmte Thymian zu.
[1] und da das erste und einzige Mal, als versucht wurde, dort einen Schweinachtsmarkt einzurichten, nur zehn Minuten nach der Eröffnung nicht nur sämtliche Ware, sondern auch die Stände und die Verkäufer selbst gestohlen worden waren
[2] Im wahrsten Sinne des Wortes, er hatte dem Rohrpostdämon Aaps eine Nachricht auf den Rücken geschnallt und ihm die Tracht Prügel seines Lebens angedroht, wenn er nicht jeden einzelnen Kollegen aufsuchte. Irrtümlicherweise hatte er angenommen, dass das zuverlässiger als der normale Weg sei
[3] In den Annalen der Stadt sind mehrere Ereignisse dieser Art verzeichnet, in deren Verlauf jeweils die halbe Stadt in Schutt und Asche gelegt wurde
[5][4] sondern nur oft
[5] abgesehen vom berühmten Zimmermann-Mob, der stattdessen innerhalb von Stunden ein neues Stadtviertel aus dem Boden stampfte
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