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Das Kalendertürchen Nummer 9
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Das Wachhaus am Pseudopolisplatz, 8. Dezember, 23:34
Mit einem dumpfen Knall fiel die Eingangstür ins Schloss und schnitt somit das laute Heulen des Windes ab. Der Wachetresen lag dämmrig im Licht einer einzelnen Kerze, das das feuchte Holz auf dem Boden des Eingangsbereiches glitzern ließ. Der abgetretene Schnee vieler Stiefel war im Laufe des Tages teilweise geschmolzen und gab dem Raum eine eher ungemütliche Atmosphäre. Der diensthabende Wächter, Gefreiter Boris Machtnichts, riss die Augen auf, um sich selbst klarzumachen, dass er wach war.
Eingetreten waren Fähnrich Rea Dubiata, Abteilungsleiterin der SEALS, und die Gefreite Nyria Maior. Sie kehrten gerade von ihrer Streife zurück und traten sich den Schnee von der Fußbekleidung.
"Guten Abend, Gefreiter", grüßte Rea und salutierte, was Boris mit so viel Enthusiasmus, wie er zu diesem Zeitpunkt aufbringen konnte, erwiderte. "Irgendwelche Vorkommnisse?"
"Nein, Mä'm."
Sie nickte und sah zu Nyria, die ihre Hände aneinander rieb, um sie warmzubekommen.
"Holen wir uns einen Kakao, Gefreite."
"Gern!"
Die beiden SEALS schritten an Boris vorbei in die Kantine und ließen ihn, müde wie er war, am Tresen sitzen.
Er seufzte.
Seine Tresenschicht hatte vor einer Stunde begonnen und er musste schon um seine Wachheit kämpfen - keine guten Voraussetzungen für die Nachtschicht.
Boris gähnte und überflog eine Notiz, die jemand an das schwarze Brett gepinnt hatte. Fröhliches Plätzchenbacken im Wachhaus! Melde dich bei Menélaos Schmelz von den SEALS!
Er seufzte und wünschte sich, er könnte daran teilnehmen. Das war immerhin besser als Tresendienst.
Währenddessen in der Küche - der Geruch von Teig, Zimt, Nelken und Orangen waberte in der Luft, Stimmengewirr mischte sich mit dem Klappern von Schüsseln, Besteck und metallenen Stiefelspitzen auf alten Fließen.
"Wie war das mit den Vanillehörnchen?"
Der lockige Haarschopf von Menélaos tauchte hinter Glum auf. "Du wolltest die machen, richtig?"
Der Kuchenliebhaber nickte. "Ganz genau, mein Guter..." Der Zwerg warf einen kritischen Blick auf das Rezept. "Ich nehme an, persönliche Modifikationen sind erlaubt? Mir schwebt nämlich etwas mit mehr Sahne vor-"
"Oh- tu, was dir gefällt, Glum." Der Kondichemiker wandte sich einem anderen Teilnehmer des Backabends zu. "Bist du mit deinen Plätzchen zufrieden, Jargon?"
Der Angesprochene, ein Plätzchen teils in der Hand und teils im Mund, kaute mit einem Gesichtsausdruck unentschlossener Verwirrtheit.
"Naja- sie sind- also- sie schmecken gut, aber-" Er schluckte und suchte nach Worten. "Sie sind so weich."
Menélaos hob eine Braue und kostete probehalber auch eines der Plätzchen. Seiner Meinung nach hatten sie genau die richtige Konsistenz, doch bevor er etwas dazu sagen konnte, tippte ihm Braggasch auf die Schulter und er wandte sich um.
"Äh... ich habe den Teig angerührt, aber- äh, ich... ich schaffe es nicht, sie so zu formen, wie ich es möchte." Die blauen Augen des Zwergs glitzerten in verzweifelter Hilflosigkeit.
"Zeig mal her", brummte Schmelz wohlwollend und folgte ihm zu einer der Arbeitsflächen. Er sah sofort, woran das Backwerk scheiterte.
"Siehst du? Wenn ich versuche, mit dem, äh, Meißel-"
"Braggasch, das ist kein Zwergenbrötchen- es-" Er demonstrierte mit der Hand. "Ist sehr leicht verformbar, verstehst du? Du brauchst keinen Meißel."
"Oh." Zaghaft befingerte der blonde Zwerg die appetitlich-goldene Masse. "Das ist, äh... sehr ungewohnt."
"Du schaffst das schon."
Einen Moment lang hielt Menélaos inne und dachte nach, während er die Versuche des Zwergs beobachtete, kleine Schraubenschlüssel zu formen.
Um ihn herum herrschte ein Treiben, das er zuletzt während seiner Lehrzeit in dieser Form wahrgenommen hatte- alle Arten von verschiedenen Personen, damit beschäftigt Dinge herzustellen, die am Ende im Mund von anderen Leuten verschwinden würden.
Und jeder machte es auf seine Art.
Da war Mina, die die Hildabrötchen, die sie in der letzten Stunde geformt hatte, auf dem Backblech arrangierte. Lilli, die einen sehr baumstammartigen Schneevaterstollen mit grünem Marzipan verzierte. Dagomar Ignatius Volkwin von Omnien, eine Kochschürze tragend und mit riesigen Backhandschuhen, wie er sich am Ofen zu schaffen machte, ein Blech mit Spekulatius in Form von stilvollen Möbeln auf dem Herd platzierend.
Er war gespannt wie der Abend ausgehen würde.
"Feuer! Feuer!" Trampelnde Schritte kamen die Treppe hinab und bewegten sich zielgenau auf die Kantine zu, begleitet von ebendiesen Warnrufen.
"Feuer! Im ersten Stock, der Ostflügel!", brüllte eine Stimme.
Sofort warfen die in der Küche arbeitenden ihre Werkzeuge und Materialien beiseite, zur Tür drängend.
"Halt, nicht den Kopf verlieren!", rief Mina und sah zur Spüle, die über eine Wasserpumpe verfügte. "Schnappt euch alles an wasserdichten Gefäßen was ihr habt! Ich helfe solange die anderen zu warnen!"
Sie huschte zur Kantine raus. Wer zuvor vor dem Brand gewarnt hatte, war offenbar schon weitergerannt, denn es war niemand mehr in der Tür. Entschlossen eilte Mina den Gang entlang, Türen aufreißend und andere, noch anwesende Wächter warnend.
Währenddessen hatten die noch in der Küche befindlichen Wächter Eimer, Backschüsseln und Helme mit Wasser gefüllt und rannten Hals über Kopf zur Treppe. In Sekunden war Mamsell Piepenstengels Reich leer, bis auf unfertige Backwaren und Kochgeräte.
Schwarzer, dichter Rauch waberte im ersten Stock und jagte allen Wassertragenden einen gehörigen Schreck in die Knochen. Würde das bisschen Wasser, das sie hatten, ausreichen?
Entschlossen preschten sie, allen voran Menélaos und Lilli, zum Büro 103, durch dessen offene Tür der Rauch in den Flur drang. Mittlerweile war er so dicht, dass das Atmen schwer fiel und die Sicht stark eingeschränkt war.
Ein lautes Platschen ertönte, als Lilli einen Eimer Wasser auf dem Brandherd auskippte, den sie vor allem dadurch erkannte, dass er die Rauchquelle ausmachte. Es platschte noch einmal, als Menélaos die große Backschüssel hinterherkippte. Einen Moment lang hielten sie inne. Der Rauch lichtete sich plötzlich.
Es hat nichtmal gezischt, fuhr es Jargon durch den Kopf. Dann sahen sie, was der "Brand" gewesen war.
Boris saß mit einer sehr unschlüssigen Miene am Tresen, ernsthaft unsicher, ob er das eben vonstatten gegangene geträumt hatte oder ob es wahr gewesen war. Dann schnupperte er den Rauch.
Hastig sprang er auf und stürzte zur Tür, riss sie auf und trat in den Schnee. Nirgendwo war diese Gestalt zu sehen, die eben an ihm vorübergehuscht war, kichernd und von Glöckchenklingeln begleitet. Er bekam eine Gänsehaut, wandte sich um, eilte zum Tresen zurück, Schritte von der Treppe vernehmend. Als er in den Gang spähte, erkannte er die Kochmannschaft, die die Stufen herabkamen.
"Ist... ist alles in Ordnung?", fragte er unsicher, während von der linken Seite des Gangs einige andere Wächter angerannt kamen, allesamt mit besorgten Mienen und diversen Brandbekämpfungswerkzeugen in den Händen.
"Ja, was war denn nun los?", fragte Kannich, der unter eben jenen war. Mina stand, außer Atem und mit einem Eimer Wasser in der Hand, neben ihm.
"So wie es aussieht, hat sich jemand einen Streich erlaubt", brummte Glum zornig. "Und keinen besonders guten!"
Er hielt etwas hoch was aussah wie die Überreste einer Rauchbombe.
"Oh."
"Wer würde denn so etwas tun?", wunderte sich Boris und sah von einem Wächter zum anderen.
"Das kann ich euch erklären", kam vom Treppenabsatz eine Stimme. Rea stand da, die unter ihr versammelten Kollegen halb ernst, halb belustigt anblickend. "Was wisst ihr über den Weihnachtsras?"
In der Küche indes, war leider nicht mehr alles so, wie es von den enthusiastischen Bäckern zurückgelassen worden war - die Schneidbretter waren von rotem Saft durchtränkt, und ein saurer Geruch hing über den Backschüsseln. Der Backofen war vollgestopft mit allerlei Blechen, die Gebäckstücke darauf auf ganz... eigene Weise modifiziert. Der Christstollen hatte nun die Form einer Knolle, die Marmelade von Minas Plätzchen wirkte sonderbar dunkel, ebenso die Spekulatiuskekse. Es war für alle Backenden zuerst eine große Enttäuschung - aber Menélaos konnte so manches Werk noch im nachhinein retten.
"Es ist erstaunlich, was ein wenig Salz, Pfeffer und die richtige Beilage ausmachen", brummte Glum, als er auf einem von Jargons Keksen kaute und dazu einen Löffel Kartoffelbrei as.
Das zustimmende Gemurmel der anderen war zumindest ein kleiner Trost für das, was der alljährliche schweihnachtliche Fluch der Wächter wieder einmal verursacht hatte.
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