Ein Vorhaben, die Stadt zu einem schöneren Ort zu machen. Ein Friedhofswärter, der tot aufgefunden wird. Und Kohl.
Dafür vergebene Note: 11
Samuel Kurz hatte seinen Laden in einer kleinen Seitengasse der Kaufmannstraße, in die sich niemand zufällig hinein verirrte. Sein Geschäft lief ausgesprochen gut, doch er hatte sich seinen bestehenden Kundenkreis mühsam und über Jahre hinweg aufbauen müssen. Er wurde als exquisiter Geheimtipp gehandelt, den man nur engen Freunden verriet. Sei es ein extravagantes Geschenk, eine außergewöhnliche Ausstattung, eine besonders komplizierte Reparatur - Samuel Kurz und sein Laden wurden in gewissen Kreisen in Ankh-Morpork hoch geschätzt. Kein Tag verging, an dem er nicht parfümierte Briefe mit Dankesbekundungen oder erlesene Schokolade aus Klatsch zugestellt bekam. Er schätzte zwar die freundliche Intention solcher Gesten, war ihrer jedoch schnell überdrüssig geworden. Er wollte sein Augenlicht nicht mit dem Lesen von immer gleichen Briefen verschwenden und wenn er zu viel Schokolade aß, wurden seine Hände fahrig, worunter dann die Arbeit litt. Samuel Kurz seufzte tief und schalt sich selbst einen der größten Dummköpfe dieser Scheibe. Er verdiente gutes Geld, war durchaus angesehen und vor allem konnte er sich den ganzen Tag mit dem beschäftigen, was er am allermeisten liebte. Und dennoch war ihm die Arbeit an manchen Tagen eine Last. Er scheute Menschen und manche seiner Kunden hatten absolut widerwärtige Vorstellungen von Ästhetik und Wünsche, deren Ausführung ihm fast schon körperliche Schmerzen bereiteten, da sie jeder grundlegenden Konzeption von Schönheit und Perfektion widersprachen. Und er trug mit seinen Händen dazu bei, ein solches Übel in der Welt zu verbreiten! Wenn er sich ein paar Minuten der Muße gestattete, sehnte er sich zurück in die Zeit der Anfangsjahre. Er hatte praktisch in seinem Laden gewohnt, da er sich nicht einmal ein Zimmer hatte leisten können. Aber er hatte für sich gearbeitet, er hatte gewusst, was gut und richtig und schön war und alles, was er schuf war ein Meisterwerk an atemberaubender Vollkommenheit gewesen. Und heute verdingte er sich für die ekelerregenden Vorstellungen anderer Leute. Wie war es überhaupt dazu gekommen? Samuel Kurz seufzte erneut tief auf. Als wenn das alles nicht schon genug gewesen wäre, war am Montag auch noch dieser Brief eingetroffen. Noch bevor er hatte fragen können, wer ihm denn diesen Auftrag erteilt hatte, war der kleine, rotznasige Bengel, der ihm das Papierstück in die Hand gedrückt hatte, schon wieder verschwunden. Samuel Kurz' Blick fiel auf seinen eigenen, in vertrauter, schnörkeliger Schrift geschriebenen Namen und er konnte nur mühsam den Wunsch unterdrücken, sämtliche Kunden sofort aus seinem Geschäft zu entfernen, um sich mit den Brief in sein kleines Hinterzimmer zurückzuziehen, die Öllampe aufzudrehen und den Brief zu entfalten. Der Inhalt des Schriftstücks fiel so aus, wie er es erwartet hatte. Der Absender verstand die Bedenken von Samuel Kurz nicht. Er bedrängte ihn, flehte ihn an, bat und bettelte, drohte ihm. Er schrieb sich in Rage, entschuldigte sich wieder, bat ihn um Verzeihung und schloss schließlich sachlich und nüchtern. Samuel Kurz blieb bei seinem Standpunkt. Er hatte eine kurze Notiz verfasst und auf dem Nachhauseweg einem der Straßenjungen in die Hand gedrückt. Er würde seine Meinung nicht ändern. Mochte er die dahinterstehenden Ideale und Bestrebungen auch mehr als nur verstehen, mochte auch ein gewisser Reiz dabei sein…. alleine die Vorstellung. Wenn er daran dachte lief ihm ein Schauer über den Rücken. Es war so schon riskant genug. Es wäre so einfach für einen der Jungen, die ihre Nachrichten überbrachten, einen kurzen Blick in einen der Briefe zu wagen. Oder sie - noch schlimmer - irgendwo zu verlieren. Aber so wie er den Empfänger seiner Briefe einschätzte, hatte er den Kindern gedroht, ihnen die Nase abzuschneiden und sie zwingen, sie aufzuessen, sollte er je einen Brief nicht umgehend erhalten oder sollte ihm daran etwas Verdächtiges auffallen.
"Heeeeda, Unhold! Achate! Schweinsbub!" Samuel Kurz wurde unsanft aus seinen Gedanken gerissen. Jemand hatte ihn angerempelt, aber noch bevor er die Gestalt genauer ausmachen konnte, war sie schon um die nächste Ecke verschwunden. Er war zwar nicht zu Fall gekommen, aber durch die Erschütterung hatte er das Gleichgewicht verloren und ein guter Teil seines Kaffees, den er wie jeden Morgen vor der Arbeit an einem der zahlreichen Imbissstände auf der Straße der Schlauen Kunsthandwerker gekauft hatte, war auf seine Hosenbeine geschwappt.
"Möge dich der Blitz erschlagen! Mögest du im nächsten Leben ein Gemälde sein, das von Stümpern restauriert wird!", rief Samuel Kurz entrüstet in die leere Gassen, ballte eine Hand zur Faust und schüttelte sie wütend. Notdürftig tupfte er sich mit einem Taschentuch den Kaffee von der Hose. Er hatte eine zweite Garnitur im Laden und würde sich dort umziehen können. Dennoch griff er sicherheitshalber in die Innentasche seines Mantels. Wo waren… ? Samuel Kurz lächelte erleichtert auf, als seine Finger die schlanken Stiele und feinen Borsten ertasteten. Immerhin war nur seine Hose ruiniert, es hätte schlimmer sein können. Nicht auszudenken, wenn seine Pinsel etwas von der heißen Flüssigkeit abbekommen hätten. Er hatte sie erst gestern Abend erstanden. Monatelang hatte er auf seine Bestellung warten müssen und als der Händler aus Borogravien dann endlich, endlich seine sorgsam in dickes Tuch eingeschlagenen Pinsel auf die Theke gelegt hatte, hätte Samuel Kurz sie am liebsten sofort an sich gerissen. Die Begierde in den Augen seines Gegenüber machte es dem Händler natürlich leicht, den Preis ordentlich in die Höhe zu treiben: "Feinstes Jungbaumholz aus den Spitzhornbergen! Und hier, das sind echte Kinderhaare aus dem Wiewunderland! Die Halterung da, die hat ein armer, alter, zweifingriger Mann aus Viericks geschmiedet, ich habs mit meinen eigenen Augen gesehen!" Samuel Kurz hatte den Händler einen Unhold, einen Achaten und einen Schweinsbuben genannt, wütend seine Faust geschüttelt und ihm - sollte er im nächsten Leben ein berühmtes Gemälde sein - den schlechtesten unter allen stümperhaften Restauratoren an den Hals gewünscht, sofern ihn denn vorher nicht noch der Blitz erschlagen sollte - aber dann doch den geforderten Preis bezahlt. Die Summe war selbst für ihn eine ordentliche Investition, aber angesichts seines Einkaufs eine, die sich lohnte. Diese Pinsel waren wie geschaffen für ihn, sie lagen geschmeidig in der Hand und konnten feinste Details zaubern, an denen er mit qualitativ minderwertigeren Pinseln versagte.
Beruhigt tätschelte er seinen Schatz ein letztes Mal, raffte seine Taschen zusammen und bog in die Straße ein, in der er seinen Laden hatte. Dort erwartete ihn die zweite böse Überraschung an diesem Morgen: Die Tür zu seinem Laden war aufgebrochen worden und hing traurig in ihren Angeln. Samuel Kurz ließ seinen Kaffee fallen und stürzte auf das kleine Geschäft zu. Ein Einbruch! Wie hatte das nur passieren können? Er bezahlte immerhin eine regelmäßige Schutzgebühr! Betroffen betrat er den kleinen Ausstellungs- und Verkaufsraum. Samuel Kurz' Puppenmanufaktur schien unversehrt. Von den Regalen aus starrten ihm Puppengesichter entgegen. Die Vitrinen mit besonders filigranen Schmuckstücken und aufwendig geschneiderten Kleidchen waren unberührt. Selbst die kostbarsten Puppen, deren Herstellung ihn Monate kostete, aus teurem achatenem Porzellan gefertigt, mit seidenen Echthaarperücken ausgestattet und in beste Stoffe gekleidet, saßen wohlbehalten in ihren Glasschränken. Samuel Kurz durchquerte den Raum rasch, fummelte in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel für die Kasse und schloss mit zitternden Fingern seine Geldschatulle auf, die gemeinsam mit seiner Kundenkartei, dem aktuellen Katalog, verschiedensten Stoff- und Haarproben, Ikonographien und Notizzetteln auf einer kleinen Theke gegenüber dem Eingang stand. Er zählte die Scheine und Münzen. Es war alles da. Er war verwirrt. Fahrig riss er die Tür zu seinem kleinen Hinterzimmer auf, in dem er sich Tee kochte, Zeitung las oder seine Mahlzeiten zu sich nahm. Nichts. Sollte er gestern Abend etwa vergessen haben, zuzusperren? Ausgeschlossen! Samuel Kurz hielt inne. Er verspürte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Eine furchtbare, dunkle Vorahnung machte sich in ihm breit, wie eine eiskalte Hand, die sich um seine Wirbelsäule schloss und Kälte in seinen Kopf jagte. Er stürmte hinaus in den Verkaufsraum und riss die Tür zu seiner Werkstatt auf. Er hätte es wissen müssen! Natürlich hatte ein Brief allein nicht gereicht! Fassungslos betrat Samuel Kurz das Chaos, das einst seine Werkstatt gewesen war. Er hatte alles fein säuberlich und ordnungsgemäß verwahrt. Materialien und Rohstoffe, Werkzeug, Nähutensilien, Stoffe und Haare, Farben in allen möglichen Schattierungen, Pinsel, Chemikalien - alles war von Wänden, aus Schubladen gerissen und auf dem Boden verstreut. Samuel Kurz wimmerte. Er gestattete es sich, für fünf Minuten die Fassung zu verlieren. Dann hängte er seinen Mantel auf den Garderobenständer, krempelte die Ärmel seines Hemdes nach oben und machte sich daran, die Scherben seiner Puppenmanufaktur zusammen zu kehren.
Nach zehn Minuten, konnte er sagen, dass der Schaden bei weitem nicht so schlimm war, wie es anfangs den Anschein hatte. Nach weiteren zwanzig Minuten war er sich sicher, dass seine Sachen nicht nur zerstört worden waren, sondern auch ein guter Teil davon fehlte. Er machte sich daran, eine Liste zu erstellen. Fünfzehn Minuten später hatte er Gewissheit. Müde ließ er sich auf einen Hocker sinken und verbarg den Kopf in den Händen. Worauf hatte er sich da nur eingelassen. Wenn er ihm geholfen hätte, hätte er es wenigstens kontrollieren können. Es wäre richtig gemacht worden. Aber so… Er hatte immer den Löwenanteil geleistet, erst durch ihn war die Arbeit perfekt geworden. Der Andere war ein unerträglicher Stümper. Notwendig, das ja, aber primitiver als eine Kartoffel wenn es um die Anerkennung und Würdigung von Schönheit und Vollkommenheit ging. Und nun, da ihm Samuel Kurz nicht mehr zu helfen gewillt war, hatte er sich eben geholt was er brauchte. Der Puppenmacher schüttelte den Kopf. Allein diese Dreistigkeit! Wahrscheinlich war er es gewesen, der ihn umgerannt hatte. Dies war nicht nur ein Akt mutwilliger Zerstörung, sondern vor allem eine Nachricht an Samuel Kurz. Ich brauche dich nicht länger. Komm mir nicht in die Quere. Ich kann dich auslöschen. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gegeben, es wie einen richtigen Einbruch aussehen zu lassen, sonst hätte er auch den Ausstellungsraum verwüstet und vor allem Geld mitgenommen. Er hatte keine Bedenken vor möglichen Konsequenzen, darum war er immer wagemutiger geworden, hatte seine Briefe in Handschrift und per Botenjungen geschickt - und sie auch an seine tatsächliche Adresse empfangen! Nein, der andere hatte tatsächlich keine Angst. Er war sich seiner Sache sehr sicher. Es gab nichts, was Samuel Kurz hätte tun können, um ihm zu helfen. Dafür war er selbst viel zu sehr in das Ganze verwickelt. Aber der andere war dabei, eine Grenze zu überschreiten. Und er hatte gerade den ersten Schritt getan. Vielleicht war es besser, ganz aufzuhören. Er könnte die Stadt verlassen, er hatte genug Geld und Puppen wurden überall auf der Scheibe geliebt. Er könnte ganz neu anfangen, alles hinter sich lassen. Samuel Kurz seufzte tief. Er war kein Mann, der einfach das Handtuch warf. Ankh-Morpork war seine Heimat. Aber wenn er bleiben wollte, musste etwas geschehen.
Rund eine Stunde nachdem er das Chaos in seiner Werkstatt entdeckt hatte, dachte Samuel Kurz zum ersten Mal in seinem Leben daran, sich an die Stadtwache von Ankh-Morpork zu wenden. Allerdings verwarf er den Gedanken gleich darauf wieder.
*****
Würde ein Landschaftsmaler an diesem Nachmittag mit seiner Staffelei vor Herschnauf Butterreibes kleinem Gemüsehof in Sto Lat stehen, würde ihm angesichts des klaren, blauen Himmels, der Äcker mit ihren ordentlich gezogenen Reihen junger und schon erntereifer Kohlköpfe, der blitzenden Sauberkeit von Hof und Geräten sowie dem idyllischen Wäldchen, das an einen kleinen Bach geschmiegt unweit des Hofes Schatten spendete, ein entzückter Aufschrei entfahren. Seine Vorstellung von Motiven, die es wert waren, für die Ewigkeit oder zumindest für ein paar Tage festgehalten zu werden, würde es natürlich zu hinterfragen gelten. Auch würde ein kleiner, finsterer Fleck die Harmonie des Bildes stören. Der kleine, finstere Fleck war Pomelie Butterreibe, die am Rande des besagten idyllischen Wäldchens auf einem Baumstumpf saß und ihr Leben verfluchte. Pomelie Butterreibe war das einzige Kind von Herschnauf Butterreibe, dessen Frau im Kindbett verstorben war, und das bedeutete für ihr Leben, dass es von Kohl geprägt war. Und von ein bisschen Kohl. Und Kohl. Wenn es mal eine kurze Verschnaufpause gab, zog Pomelie Butterreibe sofort die Hände aus dem Fass mit Dünger oder ließ die Harke fallen oder die halb fertigen Kohlrouladen in der Küche stehen, schnappte sich ein Buch und zog sich zurück an ihren bevorzugten Aufenthaltsort, den Baumstamm am Bachufer zurück. Die Bäume spendeten ihr an heißen Tagen Schatten, sie konnte laut und lästerlich fluchen, ohne dass sie befürchten musste, dass ihr Vater sie hören könnte, sie konnte Steine ins Wasser pfeffern wenn sie wütend war, den Eichhörnchen an anstrengenden Tagen ihr Leid klagen und vor allem ungestört lesen. Letzteres war nach Ansicht ihres Vaters völlige Zeitverschwendung. Wenn es etwas gab, was Pomelie Butterreibe können musste, dann war es Kohl säen, Kohl ernten, Kohl verpacken und auf Karren schichten und kontrollieren, ob die Anzahl der dafür erhaltenen Münzen auch stimmte. Lesen war etwas für anstandslose, verwöhnte junge Damen mit hochgestecktem Haar, die erwarteten, dass ihnen der Kohl auch ohne ihr Zutun in die Münder fiel, und die schlecht manikürte Hände mehr fürchteten als eine schlechte Ernte oder ungemachte Betten. Pomelie Butterreibe betrachtete ihre Hände. Als gut manikürt würde man sie wohl auch mit den besten Absichten nicht bezeichnen können. Sie seufzte tief. In ihren Lieblingsromanen von Robert Milcher wurde nie über über das Leben einer jungen Kohlbäuerin in Sto Lat berichtet. Die Heldinnen waren schöne, junge Damen aus adeligen Familien, die in der aufregenden Stadt Ankh-Morpork ein noch viel aufregenderes Leben führten. Sie trugen Schmuck, ausgestellte Kleider aus Seide und Spitze, trafen sich regelmäßig um Tee zu trinken, Gedichte zu schreiben oder Wohltätigkeitsbälle zu organisieren und hatten vor allem alle einen heimlichen Geliebten, der ihnen selbst an Adel und Schönheit in nichts nachstand, und sie glühend verehrte. Natürlich war diese Liebe kompliziert und dramatisch, denn meist waren ihre Familien verfeindet und eine Vereinigung der Kinder würde die Väter wohl vor lauter Gram und Schmach ins Grab bringen. Glücklicherweise gab es jedoch stets ein gutes Ende und die Liebenden konnten zufrieden bis an ihr Lebensende zusammen bleiben. Pomelie Butterreibe besaß nur drei Werke von Robert Milcher, aber die hatte sie dafür so oft gelesen, dass das Papier an manchen Stellen schon fast durchsichtig war. Was hätte sie nur dafür gegeben, eine dieser feinen jungen Damen zu sein! Dann hätte sie jemanden, der ihr Haar frisieren würde, sie könnte Gebäck essen, den ganzen Tag nur angenehme Dinge tun! Sie hätte einen Verehrer, der sie glühend liebte und müsste nie wieder in ihrem ganzen Leben mit Kohl zu tun haben. Sie hätte schöne Kleider, nicht nur diese Lumpen für die Arbeit, ihren dicken Zopf könnte sie mit silbernem Geschmeide schmücken statt mit einer alten Holzspange, sie könnte mehr Schmuck tragen, als nur das kleine, goldene Kettchen mit dem kreuzförmigen Anhänger, das ihrer Mutter gehört hatte - ihr Leben wäre einfach besser
"Pomelieeeeeeee!", drang von fern die Stimme ihres Vaters an ihr Ohr, "Pomelieeeeeeee Hier sind noch zwei Reihen zu machen!"
Pomelie schnitt eine Grimasse. "Mach deine blöden Reihen doch selbst!" Schuldbewusst sah sie sich um. Zum Glück konnte sie niemand hören. Ihr Blick blieb auf der ein Stück entfernten Straße Richtung Ankh-Morpork hängen. Ein einsamer Karren wirbelte kleine Staubwölkchen auf. Wie oft hatte sie schon daran gedacht, einfach heimlich mit der nächsten Kohlladung nach Ankh-Morpork zu fahren. Sie hatte außer dem väterlichen Hof und der näheren Umgebung noch nie etwas anderes gesehen und Pomelie Butterreibe war überzeugt, dass sie dringend etwas ändern musste, denn sonst würde sie bald nicht nur wie Kohl riechen, sondern auch wie Kohl aussehen oder sich so verhalten.
Wann immer sie ihren Vater auf die große Stadt, die gar nicht so weit weg und für Pomelie Butterreibe doch unerreichbar war, ansprach, winkte er ab. Ein Landmädchen hätte in der Stadt nichts zu suchen. Wer sollte ihm mit der Arbeit helfen, wenn sie weg war? Sie hätte ganz falsche Vorstellungen, Ankh-Morpork wäre nicht so wie in den Büchern von Robert Milcher beschrieben, sondern ein sündiger, stinkender Pfuhl, in dem man höchstens sein Verderben fand, aber sicher nicht sein Glück. Auch die Fahrer der Karren, die ihre Kohlladungen nach Ankh-Morpork brachten, bedachten Pomelie Butterreibe mit einem sehr merkwürdigen Blick, wenn sie sie über die vielen Wohltätigkeitsveranstaltungen, die gut gekleidete, charmante Bevölkerung oder die neueste Liebesgeschichten, die die Gesellschaft entzweiten, ausfragte. Wahrscheinlich steckten sie alle mit ihrem Vater unter einer Decke, der einfach zu stur und faul war, um sie endlich gehen zu lassen!
"Pomelieeeeeeeeeeeee "
"Jaaaa doch!", brüllte Pomelie! Sie stand auf und versetzte dem nächsten Stein einen herzhaften, wütenden Tritt. Es hatte sich einfach endgültig ausgepomeliet! Wenn sie nicht ging, würde sie hier versauern. So viel stand fest. Vorsichtig schnupperte sie an ihrem Arm. Er roch tatsächlich ein bisschen nach Kohl. Sie schloss ihre Hand fester um Robert Milchers
Gondelfahrten auf dem Ankh - Eine romantische Liebesgeschichte und fasste einen Entschluss. Die nächste Wagenladung nach Ankh-Morpork würde nicht nur aus Kohl, sondern auch aus Pomelie Butterreibe bestehen.
Ein bisschen später
Remedios von Schwarzfell saß in ihrem geräumigen Büro, das sie zu ihrer größten Zufriedenheit immer noch für sich alleine hatte, obwohl problemlos noch ein paar weitere Schreibtische Platz gehabt hätten. Dieser Umstand erlaubte ihr einige Annehmlichkeiten, wie beispielsweise ein geräumiges Körbchen für besondere Tage im hinteren Teil des Büros, hemmungsloses Haaren, ohne dass sich jemand darüber beschwerte oder das verwegene auf-den-Tisch-Legen von Füßen. Die Gefreite lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, schlürfte vorsichtig ein bisschen frisch aufgebrühten Kräutertee und blätterte zum wiederholten Male die Akte durch, die auf ihrem Schoß lag. Es war der erste Fall, den sie ohne die Unterstützung ihres Ausbilders Kolumbini zu lösen versuchte. Sie schnaubte ungehalten. Ihre Kollegin Rabbe Schraubenndrehr hatte nur wenige Wochen vor ihr bei RUM angefangen und auf der Karriereleiter schon die nächste Sprosse erklommen. Bei der Werwölfin hingegen tat sich gar nichts und mittlerweile steckte sie schon seit einigen Monaten in der Ausbildungsphase. Ihr Kollege Fynn Düstergut, der ebenfalls angehender Ermittler war, hatte mit dem Abteilungsleiter wenigstens einen ordentlichen Ausbilder! Remedios hatte nie den Eindruck gehabt, dass Inspäctor Kolumbini sonderlich um sie bemüht war und in letzter Zeit machte er sich mehr als nur rar, sie bekam ihn kaum noch zu Gesicht. Remedios begutachtete den Zettel mit ihren Notizen, knüllte ihn kurzerhand zusammen und beförderte ihn mit einem schwungvollen Wurf in den Papierkorb. Es war zum Haare wachsen, wenn es wenigstens bei den laufenden Ermittlungen Fortschritte gäbe! Aber auch hier hatte sie das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Keine Frage, die sie nicht schon überprüft hätte, keine Idee, die sie nicht schon gehabt hätte und keine Notiz, die sie nicht schon einmal gemacht hätte. Wenigstens hatte ihr Fynn Düstergut seine Unterstützung zugesichert - wahrscheinlich war auch Romulus der Ansicht, dass es für seinen Schützling nur von Vorteil sein konnte, sich auf eigene Faust an einem Fall zu probieren. Sie nahm einen erneuten Schluck Kräutertee und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder den vor ihr liegenden Fakten.
Vor fünf Tagen war Willibald Mandelblatt, 62, Totengräber und Friedhofswächter, wohnhaft in der Kleinen Mattstraße 5, tot auf dem Friedhof der Großen Gasse aufgefunden worden. Mit einer Reihe Arbeitskollegen hatte er schichtweise mehrere kleinere und größere Friedhöfe in den äußeren Bezirken von Ankh-Morpork betreut. Da es in den letzten Monaten vermehrt Beschwerden über Vandalismus, umgegrabene und zerstörte Gräber sowie Diebstahl gegeben hatte, hatte Willibald Mandelblatt zusätzliche Nachtschichten angenommen, während derer er gemeinsam mit einem Kollegen von10 Uhr abends bis 6 Uhr morgens auf einem der Friedhöfe nach dem Rechten sah und Kontrollrunden drehte. In der Tatnacht hatte sich sein Kollege, Robbi Klaus, 28, wohnhaft in der Traubermannstraße 24/3, aufgrund einer plötzlichen Übelkeit kurzfristig krankgemeldet, woraufhin Willibald Mandelblatt seinen Dienst alleine angetreten hatte. Um 06:11 hatte ein morgendlicher Besucher die Leiche Willibald Mandelblatts zwischen den Gräbern entdeckt. Er hatte mit einem stumpfen Gegenstand zwei Schläge auf den Kopf erhalten. Der erste Schlag war frontal gegen die Stirn erfolgt und hatte eine befremdliche Kuhle im Schädel des Mannes hinterlassen. Willibald Mandelblatt war vermutlich getaumelt, hatte sich um die eigene Achse gedreht und war gestürzt. Der zweite Schlag folgte auf den Hinterkopf, vermutlich als der Friedhofswärter schon am Boden gelegen hatte. Die Obduktion hatte ergeben, dass die Schläge, gemessen an Größe und Statur Willibald Mandelblatts, jedoch nicht kräftig genug gewesen waren, um ihn zu töten - er hatte lediglich das Bewusstsein verloren, war dann jedoch an einer Hirnblutung gestorben. Der Zeitpunkt des Todes wurde auf etwa 2 Uhr festgelegt. Am Tatort wurden abgesehen von ein paar Blutspritzern in der Umgebung des Kopfes fast keine Spuren gefunden. Sämtliche Fuß- und Fingerabdrücke stammten von Personen, die den Friedhof in den letzten 48 Stunden besucht hatten, rasch identifiziert werden und ein Alibi für die Tatnacht vorweisen konnten. Einzig unter den Fingernägeln des Toten hatten sie dunkle Wollfasern gefunden. Remedios ging davon aus, dass Willibald Mandelblatt wohl versucht haben musste, den Täter abzuwehren, möglicherweise sogar anzugreifen. Der Täter musste eine Art Wollmaske getragen haben, niemand versucht einen Angreifer abzuwehren, indem er ihn an der Schulter kratzt. Weitere Indizien waren jedoch rar gesät. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört, niemandem war etwas Verdächtiges aufgefallen. Willibald Mandelblatt hinterließ keine Familie, hatte kaum Freunde und lebte zurückgezogen. Seine Nachbarn beschrieben ihn als stillen, unauffälligen und angenehmen Zeitgenossen.
Remedios tippte sich mit ihrem Bleistift an den Nasenflügel. Sie kam nicht weiter. Jemand kam, schlug Willibald Mandelblatt nieder und verschwand wieder - und niemand hatte etwas gesehen oder gehört? Sie besah sich weitere Unterlagen, auf denen sie eine Art Statistik für sich erstellt hatte. Neben dem Friedhof der Großen Gasse war Mandelblatt noch für vier weitere Friedhöfe zuständig gewesen, auf denen er in verschiedenen Nächten patrouilliert hatte. Die Gefreite schüttelte unweigerlich den Kopf - Patrouillen auf einem Friedhof! War das nicht etwas übertrieben? Was ließ sich da schon stehlen? Ob der Markt nun mit verschwundenen, wertvollen Grabbeigaben überschwemmt wurde? Sie schrieb sich eine kurze Notiz und klebte sie als Erinnerung auf ihren Schreibtisch. Auf dem Friedhof der Großen Gasse war bisher noch vergleichsmäßig wenig geschehen. Ein Arbeitskollege von William Mandelblatt hatte über zerstörte Grabsteine und umgegrabene Gräber gesprochen, mehr war nicht passiert. Remedios hatte seine Aussage protokolliert. Sie überflog die Akte. Thadeus Dick, 54. Er war der Ansicht, dass eine Gruppe Jugendlicher ein neues Hobby gefunden hatte, oder eine neue Art, um sich abzureagieren. Oder dass hungrige Straßenhunde die Gräber aufbuddelten. Oder beides. Hatte Willibald Mandelblatt also einfach nur das Pech gehabt? Andererseits patrouillierten die Friedhofswächter und Totengräber stets paarweise um gewappnet zu sein und rasch Verstärkung rufen zu können, wenn sie tatsächlich den Urhebern der Zerstörung begegneten. Willibald Mandelblatt hatte in dieser Nacht keinen Partner gehabt. Hatte der Täter das gewusst, und sich deshalb den Friedhof der Großen Gasse ausgesucht? Remedios dachte an die plötzliche Übelkeit von Robbi Klaus, der in der Tatnacht nach Angaben seiner Frau wimmernd im Bett saß und einen Eimer griffbereit haben musste, sich am nächsten Tag aber wieder vollkommen gesund fühlte. Oder hatte der Täter das alles geplant…?
Remedios schnippte wütend ihren Bleistift auf den Schreibtisch. Sie konnte so schlecht einschätzen, wo rationales Denken aufhörte und wo sie anfing, Blödsinn zu überlegen, der nichts mehr mit dem Fall zu tun hatte. Wie sollte sie denn vorgehen, wenn sie keine wirklichen Anhaltspunkte hatte?
Ein leises Klopfen riss sie aus ihren trüben Gedanken. Auf dem Fenstersims saß eine dicke Taube, die sie erwartungsvoll anstierte. Remedios sprang auf und öffnete das Fenster. Ein weiterer Vorteil dieses Büros. Es hatte ein Fenster auf den Hof hinaus und da der Taubenverschlag direkt gegenüber und sie zu faul war, den Hof für eine Nachricht jedes Mal überqueren zu müssen, verschickte und empfing sie ihre Tauben einfach bequem vom Büro aus. Sie fischte einen kleinen Brotkrumen aus ihrer Hosentasche, ließ ihn sich von der Taube aus der Hand picken und löste gleichzeitig die schlanke Phiole, die an den Fuß der Taube gebunden war. Sie entfaltete die Nachricht und erkannte sofort die Handschrift Fynn Düsterguts.
Weitere Befragungen auf Friedhöfen durchgeführt. Momentan FdKb. Ansch. Übergriffe nur bei vorhergehenden Beerdigungen.
Remedios runzelte die Stirn. Was sollte das eine mit dem anderen zu tun haben? Sie griff nach ihrer Jacke und steckte ihren Notizblock in die Tasche. Fynn hatte die Nachricht vom Friedhof des Kummerbergs aus geschickt. Wenn es einen Zusammenhang gab, dann würden sie ihn schon herausfinden.
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Annemarie Kümmeltart war eine rüstige, ältere Dame, deren Mann ihr nach seinem Tod ein großes Haus und kaum Vermögen hinterlassen hatte. Um dennoch irgendwie über die Runden zu kommen, vermietete sie die unteren zwei Stöcke ihres Hauses in Form von einzelnen Zimmern und kleineren Wohnungen. Sie betonte stets, dass sie ein ordentliches Haus führte und weder Lumpenpack noch Bittsteller noch unanständige Schmutzfinke bei sich duldete. Ein Zimmer bei Annemarie Kümmeltart zu mieten hatte zwei große Vorteile: Sie interessierte sich nicht für das, was in den Wohnungen ihrer Mieter vor sich ging, sofern man pünktlich zahlte, reinlich aussah und sie höflich grüßte. Zudem hatte sie einen gesegneten Schlaf, trank strikt nach Gewohnheit um 9 Uhr kurz vor dem Schlafengehen ihre letzte Tasse Tee und war danach wie weggetreten. Vermutlich hätte sogar eine Trollfamilie, die in ihrem Haus eine Tanzveranstaltung organisierte, ihren Schlaf nicht stören können. Hätte sich Annemarie Kümmeltart dazu entschlossen, anstatt früh schlafen zu gehen einen Rundgang durch ihr Haus zu machen, ihre Mieter zu besuchen und hier ein lobendes und dort ein tadelndes Wort auszusprechen, so hätte sie einige Dinge gesehen, die ihr mit Sicherheit nicht recht gewesen wären. So würde sie in Vollmondnächten im Zimmer des netten jungen Mannes, der im zweiten Stock am Ende des Ganges wohnte, einen großen, braunen Wolf vorfinden. Ihr würde auffallen, dass sich die Anzahl der Männerbesuche, die die hübsche junge Frau aus Zimmer 4 im ersten Stock erhielt mit Einbruch der Nacht rapide erhöhte. Und wenn sie die Wohnung des sympathischen jungen Mannes im Keller betreten würde, der freiwillig diese Zimmer gemietet hatte, die sonst nie jemand bewohnte, da sie kalt und feucht waren, würde ihr ein eigenartiger Geruch in die Nase steigen. Und sie würde bemerken, dass ihr Mieter in seiner kleinen Wohnung in Eigenregie einige Umbauarbeiten vorgenommen hatte. Ihr würde auffallen, dass ihr Generalschlüssel für eines der Kellerabteile nicht mehr passte, da das Schloss ausgetauscht worden war. Aber Annemarie Kümmeltart kam nicht auf solche Ideen. Sie war in letzter Zeit stets erschöpft, antriebslos und blieb bevorzugt in ihren eigenen Zimmern. Und der nette Mieter der Zimmer im Keller ging mithilfe einer kleinen Mixtur, die er eigenhändig zusammenstellte, sicher, dass das auch so blieb.
Er drückte sich näher an die Mauer und schob seine behandschuhten Hände in die Manteltasche. Er konnte wirklich nicht sagen, dass sein Tag erfolgreich verlaufen war. Er musste sich neu orientieren, endlich war es so weit. Er hatte lange gezögert, aber der Zwischenfall mit diesem verdammten Friedhofswärter hatte den Ausschlag gegeben. Es war gar nicht so schwer. Anstatt einfach zu verschwinden hatte dieser Trottel seine Pflichten ernst genommen, hatte seine Schaufel erhoben und war auf ihn zugerannt. Er hatte ihm einen leichten Schlag versetzt, doch der alte Idiot hatte nicht aufgegeben, nach seinem Gesicht gegrabscht… Er hatte nochmal zugeschlagen. Dabei hatte er extra dem Fisch-Curry des einen Typen nachgeholfen, damit er seine Ruhe haben würde! Es war schon einige Male knapp und etwas brenzlig gewesen, aber auf den anderen Friedhöfen waren die Wärter bei den geringsten Anzeichen von Unruhe sofort in ihre Häuschen verschwunden oder hatten ihre Runde in die entgegengesetzte Richtung fortgesetzt. Aber dieser alte, verdammte Trottel meinte ja, für seinen Lohn auch etwas leisten zu müssen! Ob Kurz wohl in der Zeitung davon gelesen hatte? Wahrscheinlich schon. Aber Kurz konnte ihm sowieso egal sein, er brauchte ihn nie und hatte ihn nie wirklich gebraucht. Alles was Kurz konnte, konnte er schon lange. Als er ihm das erste Mal begegnet war, war er fasziniert gewesen. Dieser Mensch hatte die Gabe, aus Nichts etwas Vollkommenes zu schaffen! Selbst aus der hässlichsten Puppe, die zu Boden gefallen war und Schrammen hatte, konnte er Schönheit hervorlocken. Er war ein Meister, ein Künstler, ein Virtuose! Er hatte ihn in fast verehrt in dieser ersten Zeit, hatte Samuel Kurz bewundernd über die Schulter geschaut, wie er fleckige, hässliche und zerstörte Puppen reparierte und ihnen zu altem Glanz verhalf. Samuel Kurz hatte ihm den einen oder anderen Handgriff gezeigt und er hatte schnell gemerkt, dass das, was Kurz tat, nicht wirklich etwas Besonderes war. Er hatte einfach nur sehr, sehr lange geübt. Aber das konnte er auch! Außerdem war er im Gegensatz zu Kurz bereit, den nächsten Schritt zu tun. Als er das erste Mal daran gedacht hatte, hatte er es als so logisch empfunden, dass er sich wunderte, wieso er nicht schon früher daran gedacht hatte. Kaputte, hässliche Puppen zu reparieren war eine Sache. Wieso Talent an Puppen zu verschwenden, wenn es unerträglich viele hässliche Menschen in der Welt gab? Wie kam er dazu, sein ästhetisches Auge von entstellten Gesichtern, triefenden Nasen, Glubschaugen, schiefen Zähnen oder einer asymetrischen Knochenstruktur beleidigen zu lassen? Wieso sollte er täglich in die fleckigen und pockennarbigen Gesichter anderer Menschen blicken? An manchen Tagen konnte er kaum seine Zimmer verlassen, da er sich vom Aussehen der anderen Leute und der Hässlichkeiten, die er an jeder Ecke erblickte so gepeinigt fühlte. Es war an der Zeit, etwas zu ändern. Wer würde schon etwas dagegen haben, wenn man sein Aussehen etwas korrigierte? Wenn derjenige danach schöner wieder nach Hause gehen konnte, wäre das doch jedem gerade recht!. Wer strebte denn heutzutage nicht nach Perfektion, nach einem makellosen Äußeren? Samuel Kurz war begeistert gewesen. Dies war eine größere Herausforderung, als die liebliche Gestaltung seiner Puppen. Hier war wahre Fingerfertigkeit gefragt. Mit der Idee waren zahlreiche neue Fragen und Vorbehalte aufgetaucht. Wie war das umzusetzen und zu bewältigen? Es gab so viele Leute, denen ihr Aussehen herzlichst egal war. Reell konnte man ja niemanden dazu zwingen, sich der einen oder anderen Korrektur zu unterziehen. Zudem fehlte beiden das nötige Wissen und Können - wenn man einen wirklich hässlichen Menschen umgestalten wollte würde man anderes Werkzeug benötigen, man müsste Knochen brechen und neu zusammensetzen, man müsste Infektionsrisiken minimieren, Nebenwirkungen wie hässliche Schwellungen oder ein nicht zufriedenstellendes Ergebnis einkalkulieren. Davon waren die beiden noch weit entfernt, das war ihnen bewusst. Aber sie hatten Zeit, sie konnten lernen. Angenommen, jemand würde auf dem Heimweg zusammengeschlagen werden. Er würde das Bewusstsein verlieren und sie könnten ihn irgendwo verwahren. Angenommen dieser jemand würde Tage später wieder irgendwo aufwachen, mit Kopfweh zwar, aber viel schöner als zuvor… derjenige würde doch sicher nicht annehmen, dass ihm Böses geschehen war. Wahrscheinlich wäre er sogar noch dankbar sein, dazu beitragen zu können, die Scheibe zu einem ästhetischeren Ort zu machen!
Und dieser Kurz hatte dennoch daran gezweifelt! Das sei nicht menschenmöglich, wie solle das denn gehen, innerhalb so kurzer Zeit, man bräuchte ganz andere Materialien, man könne nicht mit der alten Modelliermasse arbeiten, und überhaupt wäre ihm das alles irgendwie suspekt. Glücklicherweise war ihm jedoch eine geniale Idee gekommen, mit der er Kurz überzeugen konnte. Sie könnten ja einfach üben. An jemandem ausprobieren, ob eine Optimierung nach ästhetischen Gesichtspunkten möglich wäre, was sich aus unansehnlichen Menschen alles herausholen lassen könnte. Wenn sie dann das Gefühl hätten, dass sie bereit wären, könnten sie den nächsten Schritt wagen. Bis dahin würden sie einfach experimentieren. Aber wie, hatte Samuel Kurz eingewandt, wie sollen wir das verwirklichen? Niemand wird sich freiwillig dafür zur Verfügung stellen.
Nun, hatte er geantwortet, Puppen reichen für solch künstlerisches Bestreben nicht weiter aus. Die ersten Versuche an einem Menschen würden wahrscheinlich nur zu größerer Hässlichkeit führen. Du hast schon Recht, niemand würde sich bei unserem jetzigen Können freiwillig einer solchen Prozedur unterziehen, du hast schon Recht. Aber es gibt Menschen, die muss man nicht fragen. Die Friedhöfe sind voll davon.
Eine Zeit lang war das gut gegangen. Sie schlichen sich auf Beerdigungen herum, suchten die Zeitungen nach Todesfällen ab und spitzten die Ohren, wenn jemand über einen tragischen Unfall sprach, bei dem die verstorbenen Opfer furchtbar entstellt worden waren. Es kostete einige Überwindung, aber es funktionierte. Sie ebneten Gesichtszüge, modellierten Nasen, kräftigten oder schmälerten Kiefer und holten ihre Werke mit Pinsel und Farbe in ein schöneres Leben zurück. Der Aufwand war beträchtlich, zumal Samuel Kurz die Leichen nicht in seiner Werkstatt haben wollte. Er hatte sein Kellerabteil umbauen müssen, um all die notwendigen Chemikalien, Materialien und die Leiche an sich unterbringen und arbeiten zu können, er hatte Karren organisieren müssen und er war ständig damit beschäftigt Friedhöfe zu inspizieren. Er hatte geglaubt, dass es weniger auffällig wäre, wenn sie es danach aussehen ließen, als hätte eine Horde Jugendlicher eine lange Nacht auf dem Friedhof verbracht und randaliert - vielleicht war das ein Fehler gewesen. Aber das war nicht mehr zu ändern. Er fühlte auf jeden Fall, dass er bereit war. Er hatte genug von Leichen. Er hatte Kurz geschrieben, aber dieser hatte jegliche Zusammenarbeit quittiert. Er hätte es eigentlich wissen müssen, dass Kurz den Schwanz einziehen würde. Sollte er doch bei seinen Puppen bleiben, dieser zweitklassige Bauchpinsler! Dann war eben nur er der Virtuose.
Lautes Rufen aus einer nahen Bar holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Er fluchte leise. Er konnte es sich nicht leisten, sich ablenken zu lassen oder sich in Gedanken zu verlieren. Wer weiß, wer schon alles vorbeigegangen war, vielleicht wäre jemand dabei gewesen! Andererseits hatte er den ganzen Tag niemanden gefunden, mit dem er hätte arbeiten wollen. Hässliche Leute gab es zwar an jeder Ecke, aber auch sein Gefühl musste stimmen. Seine Finger spielten mit einer Münze in seiner Tasche. Er musste einfach nur geduldig sein.
Kurze Zeit später schien er erhört worden zu sein. Eine junge Frau bog um die Ecke. Sie war groß, schien kräftig zu sein und ging mit unsicheren Schritten. Ihre Nase hätte genauso gut von einem Schwein stammen können, ihre Haut war fleckig und ihr Kinn so schmal, dass sie gar keines zu haben schien. Sie war perfekt. Und er fühlte, dass er es konnte. Er wartete, bis sie einige Meter Vorsprung hatte, sah sich um und folgte ihr lautlos. Ihr langer Zopf schwang sachte im Takt ihrer Schritte. Er sah sich rasch um. Sie waren alleine. Er fasste in seine Tasche, holte einen Gegenstand hervor und zog ihn der jungen Frau vor sich mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, über den Kopf.
Was vorher geschah
Pomelie Butterreibe hatte aufrichtig versucht, sich in Ankh-Morpork zurecht zu finden. Nachdem sie sich aber sogar mit Karte das vierte Mal an diesem Tag verlaufen hatte, es mittlerweile dämmerte und sie keine Ahnung hatte, wo sie sich befand, gab sie auf. Sie setzte sich in einen kleinen, klatschianischen Imbiss, bestellte sich einen Kaffee und barg das Gesicht in den Händen. Sie war nun seit vier Tagen in der Stadt und konnte ihre Unterkunft nur noch für diese Nacht bezahlen - wenn sie auf Essen verzichtete möglicherweise noch für eine weitere. Irgendwie hatte sie sich das alles anders vorgestellt. Als sie hinter den Toren Ankh-Morporks vom Karren gesprungen war, hatte sie es schon fast ein bisschen bereut, die Dollar im Sparkohl ihres Vaters gegen einen Abschiedsbrief ausgetauscht zu haben. Die Stadt stank bestialisch und anstatt auf wunderschönen, kleinen Pflastersteinen in den verschiedensten Farben zu wandeln, trat sie zielsicher von einer Pfütze in die andere, die der Farbe nach nicht nur aus Regenwasser, sondern vor allem aus Kuhdung, Urin und Blut bestanden. Sie hatte noch keinen der perlmuttfarben glänzenden Paläste gesehen, die Robert Milcher so ausführlich beschrieben hatte, als sie nach einer Gondelfahrt auf dem Ankh gefragt hatte, hatte man sie ausgelacht und überhaupt waren ihr noch nicht viele Menschen begegnet, die fein gekleidet oder charmant waren. Pomelie Butterreibe fühlte sich schrecklich fehl am Platz und nutzlos. Ankh-Morpork sollte ihre Freiheit sein, ihre Erfüllung, ihr neues Leben! Stattdessen hatte sie kein Geld, fühlte sich nicht wohl und wusste nicht, was sie mit all der freien Zeit anfangen sollte. Sie dachte an ihren Vater, der auf dem butterreibschen Hof vor lauter Arbeit wahrscheinlich nicht einmal Zeit hatte, sich die Haare zu raufen, und spürte, wie sich das schlechte Gewissen, dass sie seit ihrer Ankunft verdrängte hatte, breit machte. Sie nahm einen Schluck Kaffee. Vielleicht war ihr altes Leben doch nicht so schlecht gewesen. Was sollte sie denn in Ankh-Morpork schon tun? Was konnte sie denn schon? Wenn sie für andere Leute würde putzen, kochen und arbeiten müssen, hätte sie genauso gut auf ihrem Gemüsehof bleiben konnten. Mit Kohl kannte sie sich wenigstens aus, da konnte ihr keiner was vormachen. Sie musste lächeln, als sie daran dachte, wie stolz ihr Vater bei den anderen Kohlbauern immer ihren Fleiß und ihre starken Arme hervorhob. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Sto Lat zu verlassen. Vielleicht sollte sie nach Hause gehen.
Pomelie Butterreibe trank ihren Kaffee aus, legte eine Münze auf den Tisch und verließ das Lokal. Draußen wandte sie sich spontan nach rechts, folgte eine Zeit lang den verwinkelten Gassen und holte dann erneut ihren Stadtplan hervor, um sich zurechtzufinden. Noch bevor sie sich orientieren konnte, verspürte sie einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf und ein Reißen am Hals. Ihr wurde schlecht, sie taumelte und fiel und fiel und fiel und als Pomelie Butterreibe schließlich von Bewusstlosigkeit umfangen wurde, fiel und fiel sie weiter in ein tiefes, endloses Dunkel und ihr war, als fielen, polternd und tosend, tausende Kohlköpfe mit ihr.
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Remedios von Schwarzfell erkannte schon von Weitem den dunkelblonden, wuschigen Haarschopf Fynn Düsterguts. Der Gefreite stand an ein Mausoleum gelehnt auf dem Friedhof des Kummerbergs und schien seine Notizen zu überprüfen. Der Friedhof des Kummerbergs gehörte zu den größten und weitläufigsten in Ankh-Morpork, seine Instandhaltung war jedoch teilweise vernachlässigt worden. Die Teile, in denen Grabsteine verwittert am Boden lagen, ganze Gräber von Moos bewachsen, Bäume umgestürzt und nicht weggeräumt worden waren und Gras und Unkraut ungestört zwischen den Gräbern wucherte standen in starkem Kontrast zu den gepflegteren Abschnitten im Zentrum des Friedhofes, an dem jeder Stein und jeder Grashalm genau so stand, wie er zu stehen hatte.
"Hallo Fynn!", begrüßte ihren Kollegen mit einem Winken.
"Aaah, Hallo", erwiderte der Gefreite mit einem Lächeln, "du hast meine Nachricht also erhalten."
"In der Tat. Allerdings kann ich mir nicht viel darunter vorstellen…"
Fynn Düstergut warf einen letzten Blick auf seinen Notizblock und schob seinen Bleistift in die Brusttasche seines Hemdes.
"Konnte ich am Anfang auch nicht. Aber warte, das wirst du gleich selbst hören." Der junge Gefreite deutete auf einen untersetzten, dicken Mann mittleren Alters, der gerade mit zwei dampfenden Tassen vom Wärterhäuschen an der Friedhofsmauer auf sie zugelaufen kam.
Er nickte der Gefreiten ungehalten zu und schnaufte: "Also noch einmal tu ich mir den Weg nicht an und lauf zurück. Tee gibt’s keinen mehr!"
Fynn Düstergut nahm ihm eine der Tassen ab. "Das ist meine Kollegin, Frau von Schwarzfell. Remedios, das ist Otto Habichnich, er ist …."
"Ich bin der Chef hier!", unterbrach ihn Otto Habichnich brüsk und drückte die Brust raus, "Ich mach den Job schon länger als jeder andere, ich teil die Leute ein, ich sag, wer wann wo Dienst tut, wer wo patrouilliert, ich bin dafür zuständig, dass auf den Friedhöfen in meinem Gebiet alles läuft! Ich kenn mich aus! Hier läuft kein Eichhörnchen rum, ohne dass ich davon wüsste!"
Nach dieser Ansprache musste Otto Habichnich erst einmal Luft holen. Sein Schnurrbart bebte vor Aufregung.
"Und wie kommt es dann", fragte Remedios gedehnt, "dass einer ihrer Mitarbeiter erschlagen wurde, ohne dass es von jemandem bemerkt wurde? Und wie kommt es dazu, dass trotz ihrem Aufwand offensichtlich immer wieder Friedhofsinventar und Gräber zerstört werden?"
Otto Habichnich nahm einen Schluck aus seiner dampfenden Tasse und gestikulierte breit. "Das habe ich ihrem jungen Freund hier schon lang und breit erklärt. So gern man es hätte, man kann seine Augen und Ohren nicht immer überall haben. Die Burschen, die dafür verantwortlich sind, sind ausgefuchste Kerle, die sich auskennen. Sie wissen, wer wann und wo Dienst hat, wer wann geht. Irgendein Zeitfenster gibt es immer und dann schlagen sie zu."
"Also hatte Willibald Mandelblatt einfach nur das Pech, in einem Zeitfenster am falschen Ort zu sein?", hakte Fynn Düstergut nach.
"So wie ich das seh - ja.", gab Otto Habichnich ungerührt zu, "Aber der Willibald Mandelblatt ist gar nicht der Punkt, um den geht es gar nicht. Das ist eine viel größere Sache, die es aufzuklären gilt. Dieser Vandalismus, hinter dem steckt was. Und es hat mit den Beerdigungen zu tun!"
"Könnte mich dann bitte jemand aufklären, was es denn nun mit dieser mysteriösen Nachricht vorhin auf sich hatte?"
Otto Habichnichs Augen hellten sich auf. "Als der junge Mann hier vorher zu mir kam, da wusste ich gleich, dass das, was der gute Otto zu sagen hat noch von größter Wichtigkeit sein wird! Ich krieg das ja alles mit, mir kann man da nichts vormachen. Ich durchschau die Sachen immer sofort! Zu meiner Zeit wollte ich ja selbst Wächter werden... bisschen rumschnüffeln, rumrätseln, das hätte mir gefallen. Aber dann hat es geheißen, dass ich einen ordentlichen Beruf erlernen soll, ja und seitdem, seitdem bin ich hier und…."
Fynn Düstergut räusperte sich vernehmlich. Otto Habichnich zog zwar finster die Augenbrauen zusammen, schien aber langsam auf den Punkt zu kommen.
"Auf jeden Fall schreib ich mir einfach gerne Sachen auf. Wenn mal was anders ist, anders ausschaut. Ich merk mir Sachen gut. Und als ich mir dann nach jeder Nacht, in der wieder was zerstört worden ist, die Sache mal genauer überlegt habe, da hab ich mir gedacht, Otto, Otto du erkennst da was! Da ist ein Muster, Otto, und du erkennst es! Und das Muster schaut so aus, dass in jeder einzelnen Nacht, in der randaliert wurde, vorher jemand begraben wurde."
Otto Habichnich holte ein Taschentuch aus seiner Stirn und tupfte sich die schweißbedeckte Stirn trocken.
Remedios verschränkte die Arme vor der Brust. "Werden denn nicht jeden Tag Leute begraben?"
"I wo", holte Otto aus, "doch nicht bei uns! Wer würde sich denn schon freiwillig hier zur letzten Ruhe betten lassen? Die Friedhöfe auf denen das passiert ist sind alle eher abseits. Aber natürlich ist auch nicht randaliert worden, wenn vorher ein Begräbnis war. Ich bin ja nicht von gestern, ich hab mir das mal angeschaut. Otto, hab ich mir gedacht, Otto du musst dem nachgehen. Das ist vielleicht eine Spur, die du da gerade findest…."
Remedios konnte Fynn neben sich leise aufstöhnen hören. Wahrscheinlich hatte er sich von vor ihrem Eintreffen ausgiebig mit der ausschweifenden Erzähllust von Otto Habichnich auseinandersetzen können.
"… und als ich das überprüft habe, da konnte ich feststellen, dass es schon irgendwie mit den Bildern zusammenhängen muss. Manche sagen ja Neeein Neeein, das ist eine fürchterliche Tradition, dass man da die Bilder von den Verstorbenen aufhängen muss, damit alle die anglotzen können und wissen wie die aussehen, das ist ja so unnötig. Und dann wiederum gibt’s welche, und zu denen gehör ich auch, das geb ich offen zu, die sagen Jaaaaa das ist doch nett, dann weiß man, wer gestorben ist, was für ein Gesicht der Mensch gehabt hat, wer das denn eigentlich war, vielleicht kennt man den ja dann und hätte das ohne Bild gar nicht begriffen, dass da im Prinzip ein Bekannter liegt und kein Fremder…. Ich weiß nicht, wie das Muster nun genau ausschaut, aber es hat damit zu tun. Mit den Bildern und den Beerdigungen."
Fynn fischte seinen Notizblock aus der Tasche und warf einen raschen Blick darauf.
"Herr Habichnich, auf diesem Friedhof ist vor zwei Wochen der letzte zerstörerische Akt geschehen. Können Sie uns noch etwas darüber sagen?"
Otto Habichnich sah sich um, zog die Schultern hoch und rückte näher an die Wächter heran. Remedios stieg der Geruch von Knoblauch und Beerentee in die Nase.
"Da kann ich sehr wohl was sagen!", raunte Otto Habichnich verschwörerisch, "Ich hab mir gedacht, Otto, das ist die Chance! Schau dir das an! Ich weiß auch nicht genau, wie ich darauf gekommen bin. Vielleicht ist es die Mischung zwischen Wächter im Herzen und Friedhofswärter in der Erfahrung. Ich hab einfach gerochen, dass da was faul sein muss. Auf jedem Friedhof wurden Sachen zerstört und auf jedem Friedhof war ein frisch umgegrabenes Grab dabei. Aber mit der Zeit kriegt man einfach so einen Blick für gewisse Dinge, das sieht sonst kein Mensch. Und ich sehe einfach, wenn ein Grab von einem ordentlichen Totengräber gemacht wurde und wenn nicht."
Remedios und Fynn blickten sich verwirrt an. "Und was heißt das?"
"Kommt mit!" Otto Habichnich schenkte den Gefreiten einen verwegenen Jetzt-gibt’s-ein-Abenteuer-unter-Wächterkollegen-Blick und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Nach wenigen Minuten hatte die ungleiche Truppe einen etwas abgelegeneren Teil des Friedhofs am Rande der Mauer erreicht.
Vor einem ausgehobenen Grab blieb Otto Habichnich stehen. Er deutete in die Grube und auf den Hügel ausgehobener Erde daneben und sah die Wächter erwartungsvoll an: "Diese Gräbergruppe hier ist verwüstet worden. Und nun, bitte sehr! Seht euch das an! Ich habe es ausgehoben. Mein Gefühl hat mir gesagt Otto, Otto schau da nach. Das stimmt da nicht."
"Ein leeres Grab. Inwiefern hilft uns das weiter?"
"Weil!", schrie Otto Habichnich triumphierend auf, "Weil in diesem Grab jemand begraben worden ist! Da!" Er holte einen zerknitterten Zettel aus der Tasche und hielt ihn den Wächtern unter die Nase. Es war das Bild einer jungen Frau. Otto Habichnich sah so aus, als könne er derart fehlende Kombinierfähigkeit Unverständnis und Inkompetenz nicht länger ertragen. Er packte die Gefreiten bei den Schultern.
"Ja versteht ihr denn nicht?", rief er mit puterrotem Gesicht aus, "Diese Frau da wurde hier begraben! Hier lag mal jemand! Zumindest bis in derselben Nacht jemand gekommen ist, sie ausgebuddelt, das Grab wieder zugeschaufelt, ein paar umliegende Gräber zerstört hat und mit der Leiche verschwunden ist!"
Hinter Otto Habichnichs breitem Rücken flitzte ungesehen ein kleines Eichhörnchen die über die Friedhofsmauer.
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Als Pomelie Butterreibe der vertraute Geruch von Kohl in die Nase stieg wusste sie, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, Ankh-Morpork wieder zu verlassen. Es war gänzlich anders gewesen, als sie sich vorgestellt hatte. Noch dazu hatte man sie niedergeschlagen, ausgeraubt und die Halskette ihrer Mutter gestohlen! Als sie nach ein paar Stunden mit brummendem Schädel wieder aufgewacht war und ihr zwischenzeitlich jemand ein paar Münzen hingeschmissen und Wein über sie verschüttet hatte, wollte sie nur noch nach Hause. Die Stadt hatte ihr wirklich nicht das neue und aufregende Leben geboten, nach dem sie sich gesehnt hatte. Sie sprang vom Karren, der sie mitgenommen hatte, und ging auf den elterlichen Hof zu. Vielleicht brauche ich wirklich kein völlig neues Leben, keinen Neubeginn, dachte sie bei sich. Vielleicht reicht es, wenn ich einfach am alten Leben ein bisschen was verändere. Pomelie Butterreibe atmete tief durch, drückte die Türklinke nach unten und trat ein.
"Hallo Papa. Es tut mir Leid. Aber ich werde in Zukunft nicht mehr so viel arbeiten. Und ich werde mehr lesen… das heißt, nur ordentliche Bücher…."
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Remedios von Schwarzell saß in ihrem Büro, nippte an ihrem Tee und bedachte die Akte, die sie auf ihren ausgestreckten Beinen balancierte mit finsteren Blicken. Das war also ihr erster eigener Fall gewesen. Gut, Fynn war dabei gewesen. So eigen war der Fall also nicht. Und er war es gewesen, der das entscheidende Gespräch mit Otto Habichnich geführt hatte. Das schmälerte ihren Ruhm ein wenig. Aber es war ihr Fall. Obwohl sie sich eigentlich eingestehen musste, dass Otto Habichnich den Bärenanteil ihrer Arbeit übernommen hatte. Er war es gewesen, der recherchiert, kombiniert, nachgehakt und nachgedacht hatte. Er hatte den entscheidenden Riecher gehabt und das, obwohl er nicht einmal ein Wächter und Remedios doch so stolz auf ihre Nase war. Auch nicht außer Acht zu lassen waren die Geschehnisse nach ihrem Gespräch mit Otto Habichnich. Auf die hatte sie ebenfalls peinlich wenig Einfluss gehabt.
Nach ihrem Gespräch mit Otto Habichnich hatten Fynn und Remedios beschlossen, dass es besser wäre, mit Romulus Rücksprache zu halten. Im Wachhaus waren sie jedoch gleich ins Büro von Rabbe Schraubenndrehr geschickt worden, die gemeinsam mit Dagomar von Omnien einem schmächtigen, gut gekleideten Mann gegenübersaß, in dessen Gesicht sich abwechselnd Scham, Schuld und ein sehr schlechtes Gewissen spiegelten. Dort hatten sie die ganze Geschichte erfahren. Wie sich Samuel Kurz und Merwin Stieger kennengelernt und ihre gemeinsame, harmlose Leidenschaft für alles, was ästhetisch korrekt und perfekt war geteilt hatten. Wie daraus langsam mehr geworden war, wie sie sich entschlossen hatten ihre Vorstellungen und Ansprüche auszuleben. Wie Samuel Kurz mit den abwegigen Idealen seines Partners nichts mehr anfangen konnte, wie er sich distanzieren und ihn von seinem Vorhaben abbringen wollte. Wie er keine Sekunde mehr länger mit seinem Wissen hätte leben können, dass da draußen jemandem etwas zustoßen könnte. Wie er sich deshalb entschlossen hatte, bei der Wache ein Geständnis abzulegen, weil er so einfach nicht mehr leben konnte, weil er weg aus Ankh-Morpork wollte, neu beginnen wollte und einen reinen Tisch hinterlassen wollte. Wie er es geschafft hatte, unter all den Wächtern ausgerechnet Rabbe Schraubenndrehr in die Arme zu laufen… Remedios grunzte unwillig. Wie Romulus schließlich dazu gestoßen war und Samuel Kurz erneut sein Geschichtlein erzählte und dass Merwin Stieger, nachdem er den Friedhofswächter umgebracht hatte, wohl zu allem bereit war und gerade jetzt in diesem Augenblick jemandem etwas antun könnte. Wie er dem Abteilungsleiter treuherzig seine gesammelte Korrespondenz mit der offensichtlichen Privatadresse Stiegers überreicht hatte. Wie Dagomar von Omnien beim Erstellen eines ersten, kurzen püschologischen Profils der beiden an dieser Stelle mit den Lippen besonders oft die Worte dumm und naiv geformt hatte. Wie Romulus schließlich FROG eingeschalten hatte, die freiwillig und gnadenlos ausgerückt waren, um Merwin Stieger aufzusuchen und ihn, eine bewusstlose junge Frau sowie ein beträchtliches Lager gestohlenen Gegenständen aus Samuel Kurz' Puppenmanufaktur tatsächlich unter besagter Adresse aufgefunden hatten. Wie er alles gestanden hatte, auch den Übergriff auf Willibald Mandelblatt.
Remedios warf die Akte wütend zurück auf den Tisch. Wenn sie das alles beachtete, wäre es reinste Ironie, von ihrem ersten eigenen Fall zu sprechen. Sie hatte absolut nichts dazu beigetragen! Die Denkarbeit hatte ein anderer geleistet und der andere Rattenschwanz hatte sich einfach ohne ihr Zutun zufällig in Wohlgefallen aufgelöst. Vielleicht hatte Inspäctor Kolumbini doch genau gewusst, was er da tat, als er ihr diesen so schwierig aussehenden Fall überantwortete. Remedios seufzte tief auf und griff nach ihrer Jacke. Sie konnte jetzt entweder jemanden finden, der mit ihr ein Bier trinken ging und ihr versicherte, nicht die schlechteste Ermittlerin in der Geschichte der Wache zu sein… oder sie konnte Otto Habichnich aufsuchen, um ihm ihre Stelle anzubieten….
Zählt als Patch-Mission für den Ermittlerin-Patch.
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