Funktionsstörung

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von Chief-Korporal Ophelia Ziegenberger (RUM)
Online seit 13. 04. 2012
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 Außerdem kommen vor: MaganeRabbe SchraubenndrehrAraghast BreguyarOpalRomulus von GrauhaarJargon SchneidgutMichael MachwasRogi FeinstichKolumbiniBreda KrulockValdimier van VarwaldMina von NachtschattenEttark BergigHatscha al Nasa

"...But nothing I could say could change anything... I wish I could save you! I wish I could say to you, I'm not going nowhere. I wish I could say to you: It's gone be allright!..." (Kelly Clarkson - Save You)

Dafür vergebene Note: 15

Szene 1

Die Augen, der Frau mit dem eher unbestimmbaren Alter, schleuderten ihrem Gegenüber eine geballte Ladung Wut und Hass entgegen. Sie befreite ihren Arm ruckartig aus der sanften Umklammerung der schmalen Hand, wobei ihre Bewegung auf keinen nennenswerten Widerstand traf.
"Ich will vorbei!"
Die solcherart abgewehrte junge Frau schüttelte verzweifelt den Kopf. Ihr rotes Haar hatte sich stellenweise aus der Frisur gelöst, die Schatten unter ihren müden Augen kündeten von anhaltender Sorge. Sie trat einen kleinen Schritt zurück, fort von der Aggression. Dann streckte sie mit verräterischem Zittern den rechten Arm weit von sich, um den Durchgang seitlich zu verwehren.
"Ich kann nicht! Verstehe doch! Es würde alle unsere Bemühungen kaputt machen!"
Die andere Frau lachte viel zu laut auf. Ein kurzes, abgehacktes Geräusch.
"Du kannft mich nicht aufhalten und daf weift Du ganf genau."
Die Angesprochene senkte leicht den Kopf, ob aus Resignation oder Trotz, war nicht erkennbar. Ihr ausgestreckter Arm versperrte noch immer den Weg.
Das frustrierte Knurren hub wieder an. Die Selbstsicherere der beiden schoss wie ein entsicherter Armbrustbolzen auf das menschliche Hindernis zu. Die geballte Faust flog voran und eine Sekunde darauf prallte der schmale Körper der rothaarigen Frau mit einer solchen Wucht an die hinter ihr befindliche Wand, dass das gesamte Zimmer kurz bebte.
Das Opfer rutschte wie in Zeitlupe an der zart geblümten Tapete zu Boden. Es blieb reglos in dem Haufen sich aufbauschender Stoffschichten liegen.
Die Angreiferin ballte schwer schnaufend ihre Fäuste und schien hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis, der Bewusstlosen zur Hilfe zu eilen und dem Wunsch, endlich ungehindert an dieser vorbei zu der Tasche im Nebenraum zu stürmen. Bevor sie sich entscheiden konnte, regte sich etwas in den Kleiderlagen. Die Liegende stützte mühselig ihren Oberkörper auf, wobei sie sich nur eines Armes bediente. Sie schnappte nach Luft und schwenkte merkwürdig ihren Kopf, als wenn sie einen dünnen Schleier von sich abschütteln oder mit milder Ungeduld ein Insekt verscheuchen wolle. Ihr Blick hob sich, bis sie von dem Platz am Boden zu der Anderen emporschauen konnte. Ihre Augen wirkten unnatürlich groß, sie schwieg betroffen.
Ihr Gegenüber rang mit sich, krampfte immer wieder die Fäuste zusammen und spannte die Schultern an.
"Gib ef auf! Daf hat allef keinen Finn! Ich will Dir nicht weh tun..."
Einen Moment lang herrschte Schweigen, nur unterbrochen von schwerem Atem.
Die Rothaarige kam schwerfällig wieder auf die Beine, wobei sie sich mit einer Hand an der Wand abstützte. An ihrer Schläfe breitete sich bereits eine deutliche Rötung zum Auge hin aus und begann anzuschwellen. Ihre Stimme klang fassungslos, als sie sagte:
"Das bist nicht Du, Rogi... Das wirst Du bereuen."
Die Angreiferin lächelte grimmig.
"Foll daf eine Drohung fein, Ophelia?"
"Nein, eine schlichte Wahrheit. Sieh Dich doch nur mal an! Ist es das, was Du willst?"

Szene 2

~~~ Zwei Tage zuvor ~~~

Dschosefien Kasta

Die Türglocke war gleich drei Mal schnell hintereinander angeschlagen worden, was nur wenig Interpretationsspielraum ließ. Entweder handelte es sich um einen Boten aus dem Büro oder aber um einen Klackerjungen. In beiden Fällen wäre die Nachricht vermutlich für ihren Mann bestimmt, doch nur wenn es einer der offiziellen Boten war, würde dieser noch immer vor der Tür stehen, wenn sie etwas länger zum Öffnen bräuchte.
Dschosefien öffnete mit einem unverbindlichen Lächeln und blickte auf das dürre Kind in den fadenscheinigen, viel zu großen Kleidern hinab. Einer der Renner der öffentlichen Klacker. Er streckte ihr auffordernd eine klebrige Hand mit zerknittertem Umschlag entgegen. Und die zweite Hand gleich mit, diese allerdings geöffnet und in eindeutiger Absicht aufgehalten.
"Hallo Frolein, hier is eine wichtige Nachricht von eine Frau Ziegenberger für dich. Macht unsre Beförderungspauschale, die du ja schon kennst, ne? Wie imma." Sein dreckiges Grinsen wirkte unpassend charmant für so einen jungen und ungepflegten Erpresser. Eigentlich zahlte ja schon der Absender dafür, dass seine Nachrichten weitergeleitet wurden. Es hatte sich aber eingebürgert, dass die Renner für die letztliche Zustellung ebenfalls abkassierten. Wollte man sich dieser Gepflogenheit entziehen, so erreichten einen erfahrungsgemäß immer weniger Nachrichten. Den übrigen Klackerzeilen stießen dann auf dem Weg unvorhersehbare Dinge zu. Etwas, was sie und ihr Mann sich nicht leisten konnten.
Dschosefien legte den passenden Betrag in kleiner Münze auf den Handteller und nahm den zerknitterten Brief entgegen. Sie betrachtete ihn neugierig von allen Seiten, während sie sich bereits umwandte und die Haustür hinter sich schloss.
Ophelias Absender, zweifellos. Niemand sonst aus der Stadtwache würde ihnen schreiben. Was sie wohl von ihr wollte? Sie hatten sich doch erst vor zwei Wochen bei den Eltern zum oktotäglichen Spaziergang getroffen und dort hatte die Kleine nichts verlauten lassen. Es musste also um etwas Aktuelles gehen. Und dass Ophelia ihr ohne Grund schreiben würde, bei all der Arbeit, die diese sich mit ihrer merkwürdigen Marotte aufgeladen hatte, das konnte sie im Grunde von vornherein ausschließen.
Sie brach den kleinen Wachsklecks und entfaltete die Nachricht. Sie überflog den Text in aller Eile, wobei ihre feinen Brauen ungläubig immer weiter in die Höhe wanderten.

"Liebste Dschosie!
Ich hoffe, Ihr seid beide wohlauf. Bitte verzeih meinen Mangel an konventionellen Belanglosigkeiten, wenn ich mit diesem Schreiben recht unverblümt auf den Kern meines Anliegens zu sprechen komme.
Ich sehe mich unangenehmerweise dazu gezwungen, mich mit einer Bitte an Euch zu wenden, die nur aufgrund der besonderen Stellung Eures Hausstandes zum Büro seiner Lordschaft überhaupt existieren kann.
Gehe ich recht in der Annahme, dass es nicht allzu große Umstände bereiten würde, vorübergehend eine kleine Bleibe für zwei berufstätige Frauen aufzutun? Als Privatperson stünde mir eine langwierige und nicht unbedingt von Erfolg gekrönte Suche bevor. Doch ich meine mich zu entsinnen, dass Du von vielen, geradezu entzückenden kleinen Zimmern sprachst, die ab und an freistünden, wenn sie nicht zur Unterbringung etwaiger fremdländischer Diplomaten genutzt würden oder Ähnlichem.
Eine befreundete Kollegin hat sich dankenswerter Weise dazu bereit erklärt, ihre Freizeit zu meinen Gunsten einzusetzen. Sich dabei noch länger als ohnehin schon in der Wache aufhalten zu müssen, erschiene uns beiden reizlos. Wir möchten daher in den nächsten Wochen gerne eine gemeinsame Unterkunft beziehen.
Dementsprechend benötigen wir zwei Zimmer und eine kleine Küchennische, nichts Großes. Ich bin selbstredend gerne dazu bereit, einen angemessenen Beitrag zur Deckung der Kosten zu leisten. Da wir bis in die späten Abendstunden zu diskutieren gedenken, wäre es von Vorteil, wenn die Räumlichkeiten nicht unmittelbar an andere Wohnbereiche angrenzen würden. Eine relative Nähe zum Pseudopolisplatz wäre erfreulich aber keinesfalls Bedingung.
Zu allem Überfluss bin ich, was diese Sache betrifft, zu undamenhafter Eile gezwungen. Wäre eine konkrete Rückmeldung schon zu morgen möglich?
Ich bedanke mich im Voraus, für Eurer Verständnis und Eure Mühen!
Herzlichst, Deine Ophelia
P. S.: Bitte lasse noch nichts hierzu Mutter oder dem Rest gegenüber verlautbaren. Ich möchte erst um die Machbarkeit meines Vorhabens wissen, ehe ich mich den unvermeidlichen Einwänden stelle. Vielen Dank!"


Dschosefien wendete den Brief und blickte dann wieder auf das gleichmäßig gesetzte Schriftbild. Sie runzelte in leichter Missbilligung die Stirn.
An sich sprach nichts dagegen, dass Ophelia einmal mehr die Flügel streckte und dem heimischen Nest zu entfliehen drohte. Die überhastete Art ihrer Anfrage indess sprach in den Augen der älteren Schwester Bände. Es deutete alles darauf hin, dass sich Ophelia wieder einmal in eine ihrer unvernünftigen Episoden verrannte. Warum nur konnte das Mädchen ihr Leben nicht ebenso gesittet angehen, wie es andere ihres Alters und Standes taten?
Dschosefien seufzte nachdrücklich. Sie faltete den Brief zusammen und setzte sich an den Sekretär, um ihrem Mann eine Nachricht zu schicken. Nur, weil sie Ophelias Ansinnen für übereilt hielt, würde sie sich diesem noch lange nicht entziehen. Soweit Dschosefien sich erinnern konnte, war es das erste Mal, dass ihre kleine Schwester sie überhaupt um etwas bat. Seit dem unsäglichen Zwischenfall hatte Ophelia zudem keinerlei persönliche Ambitionen mehr gezeigt, welche über die gesellschaftlichen Minimalkonventionen hinaus gereicht hätten. Dies war unvorsichtig und inakzeptabel, zumal es bereits zu Gerede in ihren Kreisen geführt hatte.
Die schlanke Gattin des Baldornius Kasta beugte sich vor und tunkte die versilberte Feder ins Tintenfass.
Ihr Urteilsvermögen gab ihr untrüglich zu verstehen, dass sich in allernächster Zeit keine willkommenere Möglichkeit dafür anbieten würde, sich wieder aktiv in Ophelias Leben einzubringen. Natürlich zu deren eigenem Besten. Letztlich wäre das auch in Mutters Interesse.

Szene 3

Ophelia Ziegenberger

Sie ließ die Klappen mit einem ohrenbetäubend lauten Rasseln in deren Ruhepositionen fallen, dann schloss sie das Schreibpult, hakte die Sicherungskette wieder seitlich in das Gerät ein und zog das Notizbuch aus der Schublade. Sie legte es auf das geschlossene Pult und blätterte bis zu dessen letzter Eintragung, einer Routine-Nachricht, die von dem diensthabenden Rekruten, Vinzent Trocken, sorgfältig notiert worden war. Die Zeile darunter war die letzte freie auf dieser Seite. Das traf sich gut, dort würde niemand mehr so genau hinsehen. Nach kurzem Zögern notierte sie in relativ großer und ungewöhnlich unleserlicher Schrift "11 Uhr und ein Viertel Stundenglas - von Chief-Korporal Ziegenberger - an D. Kasta - Betreff: Recherche - Text: siehe Postausgangskladde". Das war nicht ordnungsgemäß aber selbstredend konnte sie nichts dafür, wenn die Seite dort endete und der Nachrichtentext nicht mehr in die Zeile hinein passte, nicht wahr?
Es würde niemand nachfragen. Dafür verschickte sie zu viele Klackeranfragen zu Nachforschungszwecken und diese war die erste, deren Text sie nicht ausgeschrieben hatte.
Die Wächterin wandte sich mit einem flauen Kribbeln in der Magengegend vom Klacker ab.
'Was tue ich hier? Eine bewusste Auslassung ist nichts anderes als Betrug, gleichgültig was ich mir einzureden versuche! Ich beginne, Informationen vor den Vorgesetzten und den Kollegen zu verheimlichen. Und dabei ist es unbedeutend, wie groß oder klein dieser Verrat ist. Solch ein Verhalten ist beschämend!'
Andererseits... sie würde Rogi nicht enttäuschen. Das Versprechen war gegeben und nun lag es eben an ihr, die Situation zum Positiven zu beeinflussen, bis dass es keinen Grund für Heimlichkeiten mehr geben würde. Vielleicht hätte sie an Rogis Stelle anders entschieden? Aber vielleicht auch nicht. Es stand ihr kein Urteil darüber zu.
'Und das Wichtigste jetzt ist ohnehin, Rogi jede nur erdenkliche Hilfe zu geben.'
Sie musste dringend an die frische Luft, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Sie musste tief durchatmen und einen klaren Kopf bekommen.
Ophelia öffnete das schmale Fenster, welches gleichzeitig als Ausstieg zum Dach genutzt wurde. Sie raffte ihre Röcke mit einer Hand und beugte sich etwas vor, um sich nicht den Kopf am Rahmen anzustoßen. Um den Klackerturm herum, an der Mauerseite des Gebäudes, wand sich ein halbseitiger schmaler Laufsteg. Irgendwann hatte irgendein handwerklich begabter Wächter eine Sitzfläche an die Schrägseite des Daches montiert, so dass die Klackerwache zumindest in den heißen Sommernächten hier draußen sitzen konnte, um ihrem Dienst nachzukommen, anstatt in dem Brutkasten, in den der Raum hinter ihr sich dann mit seinen drei verglasten Seiten verwandelte, verschmachten zu müssen. Der Platz im Freien wurde aber selbst bei sehr schlechtem Wetter viel genutzt - und sei es nur, um sich die eine oder andere Zigarette zu genehmigen, ohne vom Kollegen der nächsten Schicht wegen schlechter Luft im Turm angeranzt zu werden.
Ophelia trat dicht an das Metallgeländer und sog die klare Luft tief in ihre Lungen.
Der kalte Wind blies hier, auf dem Dach des Wachhauses, scharf zwischen ihre Kleiderschichten und ließ sie frösteln. Er jammerte leise durch die Ritzen der gesenkten Turmklappen.
'Der Himmel ist so klar! Wenn es doch nur auch meine Gedanken wären...'
Sie betrachtete die dunklen Dächer und die unzähligen blinkenden Lichter der Nacht, die bunt und unstet von Turm zu Turm sprangen und vom Großen Strang zurück geschickt wurden.
Sie seufzte leise. Dann raffte sie das Schultertuch enger um sich, kletterte wieder durch das Fenster hinein, nickte dem Rekruten dankbar dafür zu, dass er ihr den Platz am Klacker so bereitwillig überlassen hatte und stieg die Treppen ins Wachhaus hinab.
'Ich muss mich konzentrieren! Was gilt es als nächstes zu bedenken? Ich werde vermutlich dafür sorgen müssen, dass Rogi bereits in dieser Nacht nicht alleine bleibt. Die Sucht hat sie noch viel schlimmer im Griff, als ich es zu befürchten gewagt hätte.'
Ein Eingeständnis, welches schwer fiel. Doch all die kleinen Symptome sprachen für sich: Rogis gehetzte Blicke, ihre unterschwellige Unruhe, ihr Zittern, der kaum zu unterdrückende Juckreiz...
Ophelia war kein Spezialist, wenn es um diese Dinge ging. Aber sie hatte mit Kollegen der unterschiedlichsten Bereiche zu tun, auch mit den Kontaktern. Und diese Kollegen kannten sich sehr gut mit solcherlei sozialen Gepflogenheiten aus, das gehörte für sie zum Handwerkszeug, wenn sie vertrauensvoll auftreten und auch bei den eher zwielichtigen Informanten auf Gesprächsbereitschaft hoffen wollten. Sie würde eine der letzten Unterhaltungen mit dem neuen Gefreiten, Reiner Rundumschlag, auffrischen müssen. Der junge Wächter hatte sich vor einiger Zeit verstimmt darüber geäußert, sich schon wieder mit den "Suchtis" einlassen zu müssen, da würde er sich bestimmt über die Gelegenheit dazu freuen, ihr ausführlich davon zu berichten, wie er die Verhaltensweisen dieser Leute deutete und wie er deren Überzeugungen zu seinen Gunsten beeinflusste. Gewiss kam es in Rogis Fall vor allem darauf an, diese zu motivieren und ihr dabei zu helfen, ihre eigenen Kräfte wiederzufinden.

Szene 4

Rogi Feinstich

'Ich bin allein. Doch wie lange schon?'
Sie war immer noch damit beschäftigt, das Geschehene zu verarbeiten. Ihr Kartenhaus war so unerwartet über ihr zusammengestürzt, dass sie es nicht fassen konnte. Es war gewiss keine halbe Stunde her, dass Ophelia ihr Büro betreten und ihr in übertragenem Sinne den Boden unter den Füßen fortgezogen hatte. Mit so wenigen, fundierten Worten obendrein! Sie hatte sie mit ihren großen Augen unschuldig angesehen und gleichzeitig eine Reihe von Beobachtungen, Fakten und logischen Schlüssen aufgezählt, die Rogi keinen Ausweg mehr gelassen hatten. Sie hatte der Ermittlerin ihre Sucht eingestehen müssen.
'Aber woher hätte ich auch ahnen sollen, dass sie das alles im Sinn behalten würde, all die vielen winzigen Hinweise, die niemand sonst beachten würde? Mein Griff zur Tasche, als Bregs uns den Mieder-Auftrag gab und Ayami als Auftraggeberin andeutete... das ist so... wirklich niemand käme auf die Idee, sich das zu merken, geschweige denn es mit anderen Erinnerungen aufzurechnen! Genauso das mit den leeren Ampullen, als ich sie nach der Ascher-Sache in der Sechs behandelt habe. Oder in der Gruft. Ich konnte sie ja schließlich schlecht sich selbst überlassen...'
Rogi legte ihren Kopf in beide Hände und schüttelte ihn langsam und verzweifelt.
'Wenigstens hat sie mir geschworen, dass sie es niemandem erzählen wird. Sie hat mir ihr Schweigen zugesichert!'
Aber konnte sie sich darauf wirklich verlassen?
Das Gespräch zwischen ihnen spulte sich immer und immer wieder in ihrem Kopf ab.
'Ophelia versteht das alles nicht. Sie verkennt das Problem. Sie will helfen, versteht aber nicht, dass das unmöglich ist. Eine Wohngemeinschaft mit ihr, um mich davon abzubringen, das Serum weiter zu nutzen? Es ist die einzige Möglichkeit für mich, jeden Tag von Neuem weiterzumachen und sie will es mir nehmen? Reden allein ändert nichts. Sie kann noch so oft betonen, was ich angeblich Gutes bewirkt habe. Es gäbe genug Leute, die das anders sehen würden. Deren Ansichten sind doch nicht einfach ungültig, weil sie keine Wächter sind! Nur weil Respekt gut ist, heißt das noch lange nicht, dass ein Igor Befehlsgewalt haben sollte. Oder dass die verlorenen Leben ausgeglichen wären.'
Sie stöhnte bei diesem Gedanken auf und raufte sich das ohnehin schon wirre Haar.
'Was habe ich nur getan! Ich kann mich unmöglich darauf eingelassen haben, das kann nicht funktionieren!'
Die Igorina stand langsam auf, doch zu schnell für ihren derzeitigen Zustand. Sie fiel zurück auf den Stuhl und fasste sich an die schmerzende Brust. Das Stechen wollte einfach nicht nachlassen und sie war unfähig sich selbst zu helfen.
Der kurze Zwischenfall vor wenigen Minuten kam ihr wieder in den Sinn und überrollte sie beinahe mit einer Welle des Schamgefühls. Ophelia auf den Knien vor ihr, wie diese gegen jegliche innere Überzeugung ankämpfte und ihr ungeschickt mit nur einer Hand die Spritze aufzog. Wie Ophelia fast blind ob ihrer Tränen die Nadel ansetzte, um eben genau das zu tun, was sie von ihr erwartet hatte, wovon diese sie aber mit aller Macht hatte abbringen wollen.
'Wie konnte ich soweit sinken, sie dazu zwingen zu wollen? Ich wusste doch, wie sehr ihr das zusetzen würde... und ich bin ihr extra deswegen noch hinterher gerannt... sie so zu manipulieren! Nein, so tief kann ich noch nicht gesunken sein...'
Es stellte nur einen geringen Trost dar, dass sie es letztlich selber gewesen war, die dies im letzten Moment eingesehen und Ophelia vom entscheidenden Schritt abgehalten hatte.
Doch dementsprechend hatte sie nun auch die Konsequenzen zu ertragen. Das Mittel fehlte an allen Stellen in ihrem Kreislauf, es fehlt ganz essentiell in ihrer Püsche...
Sie wagte einen zweiten Versuch aufzustehen und schwankte leicht, als sie schließlich zum Stehen kam.
'Ich muss hier raus. Bevor Ophelia zurückkommt. Wenn sie denn wieder kommt...'
War die Verdeckte Ermittlerin eventuell schon beim Kommandeur?
Bei dem Gedanken krampfte sich ihr ganzer Körper zusammen.
'Roger hatte Recht: Ich hätte die Wache verlassen sollen.'
Rogi tastete sich langsam zum Ausgang, als ihr Blick auf ihre Reisetasche fiel.
'Ich bin immer bereit gewesen, zu gehen. Egal wohin. Doch jetzt?'
Sie schüttelte den Kopf.
'Zu schwer. Zu unhandlich. Ein paar Mal tief durchatmen, dann wird es schon gehen. Es hilft zumindest.'
Außerhalb ihrer Zelle war es ruhig, doch der Gang erschien ihr in diesem Moment endlos. Sie trat den Rückzug in ihre Zelle an und bezog Stellung vor der Apothekerkommode. Sie öffnete eine der Schubladen und betrachtete die dort liegende Spritze. Voll aufgezogen mit ihrem Beruhigungsmittel. Sie betrachtete ihre zittrigen Hände.
'Nein, Ophelia würde es merken.'

Szene 5

Ophelia Ziegenberger

Sie war die Treppe wieder bis ganz hinunter gestiegen und an der angelehnten Tür des vorletzten Raumes dieses Kellerganges angekommen. Sie zog die Tür mit dem üblichen lauten Knarren weiter auf, während sie gleichzeitig damit begann, ihre Pläne zu erörtern.
"So, ich habe die Nachricht abgeschickt. Morgen sollten wir Genaueres wissen. Bis dahin..."
Sie blieb wie angewurzelt inmitten des Büros stehen.
Rogi war fort!
Die Schublade des Apothekerschränckchens stand offen. Sie eilte zu ihm hinüber und warf einen ängstlichen Blick hinein. Dann atmete sie auf. Die vorbereitete Spritze lag noch darin, ebenso wie die restlichen Vorräte des Beruhigungsmittels.
Sie sah sich aufmerksam um. Die Stühle standen exakt noch so, wie zu dem Zeitpunkt, als sie die Zelle verlassen hatte, ebenso wie Rogis Reisetasche, die fertig gepackt neben dem Tisch stand. Die Unterlagen, die Rogi beim Eintreten zu ihrer ersten Unterredung an diesem Abend bearbeitet hatte, lagen achtlos auf dem Tisch, nicht sonderlich geordnet aber auch nicht auffällig verstreut - Rogi hatte sie in der Sekunde auf der Arbeitsplatte abgelegt und vollständig vergessen, als ihr dämmerte, wohin das Gespräch führen würde. Quer über den älteren Unterlagen lag die aufgeschlagene Akte des königlichen Mieders, die Berichtesammlung, welche Ophelia ursprünglich als Vorwand mitgebracht hatte, um das Gespräch überhaupt zu beginnen. Und die Luft stand auf eine Weise still, die deutlicher als alles andere davon kündete, dass sich niemand Lebendes in diesem Raum aufhielt.
Es schnürte ihr die Kehle zu.
'Sie muss die Wache überstürzt verlassen haben, ohne genauere Pläne dazu, wohin sie gehen wird!'
Sie hatte auf Ophelias Frage, ob es einen Rückzugsort für sie gäbe, nur stumm verneint. Eine schreckliche Situation! Wie verzweifelt musste man sein, jemandem, der es gut mit einem meinte, ohne nachzudenken den Rücken zu kehren und stattdessen, obwohl es einem elendig ging, allein in eine eisige Nacht hinaus zu flüchten? Und wem hatte die Igorina es zu verdanken, dass sie sich überhaupt dazu gezwungen sah?
Ophelia schlug sich die bebende Hand vor den Mund. Sie presste die Lippen hart zusammen.
'Was soll ich jetzt bloß machen? Ich kann Rogi unmöglich alleine ihren Ängsten und Schmerzen überlassen!'
Die Igorina gäbe ein allzu leichtes Opfer unlizensierter Angriffe ab, wenn sie in ihrem derzeitigen Zustand durch die Straßen der großen Wahoonie stolperte und dabei möglicherweise auffällig würde. Und obendrein hatte Ophelia mit ihren aufdringlichen Fragen und Einmischungen dazu beigetragen, dass es Rogi noch schlimmer als ohnehin schon ging!
Sie straffte ihre Gestalt und verließ mit schnellen Schritten die kalten Räumlichkeiten. Es war ihr gleichgültig, was sich links und rechts von ihr ereignete, sie hatte nur noch Augen für die Stufen zu ihren Füßen, für die Klinke ihrer Bürotür, den weiten Umhang an ihrer Garderobe und die sich mit jedem Schritt nähernde Flügeltür des Wachhausportals. Diese schwang auf den Stoß ihrer Hand hin auf und sie trat entschlossen in die Nacht hinaus. Es war ihr egal, dass eine Ein-Personen-Suche um diese Zeit und ohne jeglichen Hinweis darauf, in welche Richtung die gesuchte Person von der Wache aus gegangen sein mochte, ein aussichtsloses Unterfangen sein musste. Sie dachte nicht genauer darüber nach, was sie da tat, sondern folgte einfach ihrem verzweifelten Gefühl.
Geradeaus, fort! Möglichst schnell weit, weit weg - vielleicht sogar schon mit dem Gedanken, der nachfolgenden Kollegin zu entgehen?
Ihre Füße folgten automatisch der breiteren Straße, bis sie sich allmählich verlangsamte und ihr immer häufiger der Gedanke kam, eine der uneinsichtigen Seitengassen zu nehmen.
Waren das möglicherweise die Gedanken gewesen, die die Igorina auf ihrer Flucht geleitet hatten?
Sie musste sie einfach finden - sie musste!

Szene 6

Rogi Feinstich

Der Weg war ihr endlos vorgekommen, umso mehr, da er keinem bestimmten Ziel gegolten hatte.
Fort! Hauptsache sie wäre nicht mehr in der Nähe, wenn Ophelia zurückkäme. Oder noch schlimmer, vielleicht sogar der Kommandeur!
Bei jedem einzelnen Meter, den sie von der Zelle aus bis vor die Tür des Wachhauses zurückgelegt hatte, hatte sie schreckliche Bilder vor Augen gehabt, in denen er sie aufhalten und zur Rede stellen wollte. Doch sie hatte Glück im Unglück gehabt. Der Wachetresen war leer gewesen und niemand ihr entgegen gekommen. Ein Teil von ihr, der pflichtbewusste und dienstbare, hatte sich die Namen der Rekruten merken wollen, die ihren Posten so fahrlässig unbeaufsichtigt ließen. Doch das schreckliche Ziehen in ihrem Brustkorb lenkte sie sofort davon ab. Und dann lief sie durch die Straßen.
'Ob Ophelia mir folgen wird?'
Nur mit Mühe konnte sie den Drang unterdrücken, Blicke über die Schulter zurück zu werfen. Den Schmerzen gesellte sich ein Klumpen Übelkeit in ihrem Magen hinzu.
Sie kannte dieses Gefühl. Auf der Flucht zu sein, abgrundtiefe Angst vor dem zu haben, was hinter ihr lag, vor dem, was sie einholen und packen und an den Haaren zu fassen bekommen konnte und was ihr das scharfe Messer an die Kehle setzte, um mit einem kurzen Ruck ein vorzeitiges Ende zu setzen, all die Wärme aus ihr herausfließen zu lassen, bis eisige Hände nach ihr griffen, welche...
Die Übelkeit brach schwarz wie eine Welle finsterster Vergangenheit über sie herein und sie stürzte in letzter Sekunde hinter eine Häuserecke, um sich dort zu übergeben. Die Krämpfe schüttelten sie von Kopf bis Fuß und sie brauchte eine Weile, um sich, mit beiden Händen flach an die kalte Ziegelsteinmauer gestützt, wieder zu fassen. Ihr Kopf hing kraftlos nach vorne. Sie weigerte sich, den Erinnerungen Raum zu geben.
'Weiter! Egal wohin! In Bewegung bleiben und nicht nachdenken!'
Sie steckte die Hände in die Taschen und fand ein Stück Stoff, mit dem sie sich über den Mund wischen wollte. Im schwachen Licht der nahen Laterne betrachtete sie das Tuch und erstarrte.
Das war Ophelias. Das Tuch, welches diese ihr gegeben hatte, damit sie sich die Tränen trocknen konnte!
Sie schloss verzweifelt die Augen und ballte eine Faust um das Stück Stoff.
'Warum kann sie mich nicht in Ruhe lassen? Warum hat sie überhaupt das Gespräch gesucht, wenn doch von vornherein klar war, dass sie mir ohnehin nicht helfen kann? Keiner kann das!'
Rogi löste die Faust um das Tuch, wischte sich mit diesem über das Gesicht und warf es zu Boden.
'Ophelia ist selber Schuld daran, falls sie sich jetzt Sorgen macht. Ich habe sie schließlich nicht darum gebeten, sich in mein Leben einzumischen!'
Der Schmerz im Herzen der Igorina fuhr dieser so heftig in die Glieder, dass sie sich vornüber zusammenkrümmte. Ein leises Wimmern entrang sich ihrer Kehle.
'Das ist nicht gut! Das ist gar nicht gut! Ich benötige dringend das Beruhigungsmittel! Ein Schuss nur und das Schlimmste ist ausgestanden. Eine Dosis nur und es geht meinem Körper wieder besser. Bestimmt! Aber die Spritze liegt im Wachhaus. Bei Ophelia.'
Blindlings stolperte Rogi weiter die Straße hinab und begann sich schon zu fragen, wie lange sie diese Tortur wohl aushalten könne, als sie an einem freundlich erleuchteten Eingang anhielt und erstaunt aufblickte.
'Roger! Das ist das Restaurant, in dem Roger arbeitet! Wie bin ich denn hierher...'
Sie schloss die Augen.
'Ich kann nicht reingehen. Warum bin ich hierher gekommen? Er darf mich nicht so sehen, das wäre...'
"Rogi?"
'Zu spät!'
Sie riss erschrocken die Augen auf, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen.
Roger stand in der geöffneten Tür, umkränzt von dem hinaus drängenden Licht. Er hatte soeben die neuen Gäste eingelassen, die selben Vampire, die sich davor an ihr vorbei geschoben hatten, ohne dass sie selber diese wahrgenommen hatte. Er zögerte. Sein Kellnerfrack saß passgenau und er wirkte in dieser Arbeitskluft fremd und unnahbar auf sie.
"Rogi, waf maft Du hier? Geht ef Dir nift gut?"
Sie schüttelte noch zaghaft den Kopf, nicht sicher, ob sie damit seiner Frage antwortete oder dem innerlichen Schrei Ausdruck verleihen wollte, dass er sie so nicht sehen durfte, dass er sich umdrehen und hinein gehen sollte, ohne sie wahrgenommen zu haben. Da kam er schon hastig die flachen Stufen hinab auf sie zu. Er legte ihr besorgt eine Hand auf die Schulter und sah ihr tief in die Augen. Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern:
"Komm rein und setf Dif einen kurfem Moment! Waf auch immer paffiert ift, Du kannft ef mir gleif erfählen. If mache früher Fluf, irgendwie muff daf gehen."
Eigentlich wollte sie widersprechen. Doch es fehlte ihr dafür an der nötigen Kraft. Er nahm sie bei der Hand und führte sie in das warme Licht des Foyers. Der gepolsterte Stuhl war weich. Sie ließ sich gegen dessen Lehne fallen.
Da kam Roger schon zurück, sein Jacket hatte er gegen einen langen Mantel ausgetauscht und sich einen Schal um den Hals geschlungen. Er kam direkt auf sie zu.
"Wir können. Geht ef?"
Rogi ließ sich unauffällig von ihm aufhelfen, dann traten sie auch schon wieder gemeinsam in die Nachtluft hinaus. Sie merkte sehr wohl, dass Roger ganz selbstverständlich den Weg zur Wache einschlug. Bedeutete dies, dass er diese, entgegen aller anders lautenden Vorwürfe, eben doch als ihr Zuhause ansah?
Die Schmerzen schmetterten auf sie hernieder, wie eine unsichtbare Faust. Ihr Herzschlag setzte einen Moment lang aus, bevor er mit doppelter Geschwindigkeit wieder einzusetzen schien.
Roger hielt ihren Arm und halb kam ihr zu Bewusstsein, das er es war, der sie jetzt noch auf den Beinen hielt und dabei überdeutlich den von ihm umklammerten, rasenden Puls spüren musste. Er starrte sie fast furchtsam an.
"If frage Dif jetzt nift erft, waf paffiert ift. Ef gibt Wiftigeref, glaube if. Du brauft fofort dein Beruhigungfmittel, Rogi. Wo haft Du ef?"
Das ironische Lachen blieb ihr im Halse stecken und klang nur wie ein hilfloses Krächzen.
Sein Blick suchte schon nach ihrer großen Umhängetasche, fand diese aber nicht.
"Bei Ophelia. Im Wachhauf!"
Der Weg dorthin wurde lang. Es fehlte nicht viel und Roger hätte sie getragen. Doch das hätte sie nicht zugelassen. Die kurze Distanz am Tresen vorbei wurde der schwierigste Teil dieser insgesamt schon schrecklichen Nacht. Roger lenkte die Rekruten sofort nach ihrer beider Eintreffen ab. Womit, das wusste sie im Nachhinein nicht einmal, so sehr war sie darauf konzentriert, es aufrecht und mit ausdruckslosem Gesicht bis zur Treppe zu schaffen und dort nicht sofort hinunter zu stürzen. Sie konnte kaum die Erleichterung darüber auskosten, dass niemand auf sie gewartet hatte. Der Gedanke an Ophelia verflog auf der Stelle. Kaum hatte sie die Zelle betreten, da gaben ihre Beine endgültig nach. Sie lag noch ebenso am Boden, als Roger herzu eilte.
"Um Himmelf Willen!"
Rogi blickte kraftlos zu ihm auf. Er wirkte verschwommen. Sie blinzelte das Wasser aus ihren Augen und beobachtete fast teilnahmslos, wie er erst ihren Puls und dann den Blutdruck maß. Er wandte ihren Kopf der Kerze zu und zog leicht die Lider in die Höhe, um besser die Pupillen betrachten zu können. Dann legte er seinen Kopf auf ihren Brustkorb und horchte ihren keuchenden Atem ab. Sie brauchte nicht sein fachmännisches Urteil um zu wissen, dass es ihr viel zu schwer fiel, Luft zu holen. Und dass es nicht gut um sie stand.
"Wie lange ift daf letzte Mal her, Rogi?"
Er kannte sie viel zu gut. Wie hatte es dazu kommen können, dass er ihr dabei assistierte, sich selbst systematisch zu vergiften? Denn das wären ganz sicher Ophelias Worte gewesen.
Rogi holte schluchzend Luft.
'Warum denke ich schon wieder an Ophelia? Ich will nicht an die Ermittlerin denken!'
"Fu lange!"
"In Ordnung. Dann gebe if Dir eine etwaf niedrigere Dofif alf fonft."
Er stand in einer schnellen Bewegung auf und eilte zur geöffneten Schublade des Apothekerschränkchens. Sie sah ihm mühsam nach, so dass sich ihre Blicke trafen, als er die aufgezogene Spritze bedeutungsvoll aus dem Kasten hob und sie anstarrte.
Sie wandte den Blick ab.
Er kniete sich neben sie, zog ihren Ärmel hoch bis die Armbeuge frei lag und setzte ohne weitere Verzögerungen die Spritze an.
Rogi schloss die Augen, als sie den Einstich spürte. Kurz darauf begann ihr Arm zu kribbeln, die Flüssigkeit schoss kalt in ihre Adern und nach und nach entspannten sich ihre Muskeln. Roger hob sie vom Boden auf und stemmte sie unter größter Kraftanstrengung weit genug in die Höhe, um sie auf die Schlaffläche zu betten. Sie hörte das Knarren der Sprossen, dann breitete er wohlige Wärme in Form der Decke über sie. Das Senken selbiger an ihrer Seite kündete davon, dass er sich zu ihr gesetzt hatte, sein Schweigen hingegen davon, dass er sie beobachtete.
Sie öffnete die Augen und begegnete seinem Blick.
"Nun kannft Du ef mir in aller Ruhe erfählen. Waf ift hier paffiert? Und waf hat daf mit diefer Ofelia fu tun, bei der Du angeblich dein Medikament gelaffen hatteft?"

Szene 7

Ophelia Ziegenberger

Eine Laterne wäre hilfreich gewesen. Oder eine Fackel. Zumindest redete sie sich das ein. Sie hätte damit in Seitenstraßen leuchten und die Gehwege absuchen können. Zur Not auch die dunklen Häusernischen, in denen scheues Gesindel in vor Dreck stehenden Decken gewickelt herumlungerte. Beim Weitergehen ließ es ihr misstrauische Blicke folgen.
Ophelia setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen und suchte eine weitere Gasse mit gehetztem Blick ab. Sie fror erbärmlich und der warme Atem stand ihr immer wieder in zarten Dunstwolken vor Augen, bevor er fort wehte.
'Wieder nichts!'
Sie hatte längst das Gespür dafür verloren, wie spät es wohl sein mochte. Ab und an hatte sie zwar Turmuhren schlagen oder klingeln hören und irgendwann hatte sogar aus weiter Ferne der Ruf eines Kollegen geklungen, der ihr in altmodischer Weise vormachen wollte, dass alles gut sei, der innewohnende Sinn dieser Zeitansagen war ihr jedoch entgangen. Das einzige, woran sie denken konnte, war ihr Unvermögen, die Igorina zu finden.
Es gab keinerlei Spuren zu dem vermutlich eingeschlagenen Weg der Sanitäterin!
Der Kiefer schmerzte schon, so fest biss Ophelia die Zähne zusammen.
Zum tausendsten Mal fragte sie sich, ob es nicht doch irgendeinen Gesprächsfetzen in ihren Erinnerungen gab, der als Hinweis dazu dienen konnte, wo sie vielleicht sonst noch suchen könnte. Sie war schon beim Igordrom gewesen, ebenso wie bei den Zweite Hand-Geschäften der Umgebung rund ums Wachhaus. Einige von ihnen hatten sogar geöffnet gehabt, doch Rogi war nirgends zu sehen gewesen.
Sie konnte die Finger der linken Hand zwar schon lange nicht mehr spüren, doch allmählich begann sie zu vermuten, dass die schleichende Kälte dafür verantwortlich war, dass sie selbst den Arm bis zur linken Schulter hinauf nicht mehr wahrnahm. Sie tastete mit den eisigen Fingern der Rechten unter den Umhang. Das Leder des Geschirrs, welches den gelähmten Arm an Ort und Stelle hielt, war nahezu unnachgiebig fest geworden und fühlte sich wie gefroren an.
Sie blieb stehen und atmete erzwungen ein und aus.
'Es hat keinen Sinn. So werde ich Rogi niemals finden.'
Die Schultern der Wächterin sanken langsam herab, wie sie verloren auf dem mit Rauhreif überzogenen Kopfsteinpflaster der schattigen Straße stand. Schnell ziehende Wolken zogen schmale Mondscheinstreifen durch die schiefe Häuserschlucht.
Noch schlimmer: Rogi würde nicht von ihr gefunden werden wollen. Es war fatale Zeitverschwendung, sich etwas anderes einzureden. Und nun?
Ophelia legte den Kopf in den Nacken, atmete langsam warme Dunstwolken in die Luft und versuchte, zu einer Entscheidung zu kommen. Ihre Wangenmuskeln spannten sich an. Sie straffte die Schultern und steuerte festen Schrittes auf das neue Ziel zu, welches sich nur wenige Meter vor ihr befand. Sie wusste längst nicht mehr, wie die Straßen hießen, durch die sie in den letzten Stunden gezogen war. Lediglich die ungefähre Richtung, in die sie sich für den Rückweg zur Wache aufmachen musste, war ihr noch bewusst.
Wenn sie Rogi gegen deren Willen und ohne weitere Informationen nicht würde finden können, dann würde sie stattdessen nur darauf hoffen können, dass Rogi ganz von selbst den Entschluss fasste, wieder in die Wache zurück zu kommen. Schließlich hatte sie ihr ja versprochen, niemandem von all dem zu erzählen!
'Das muss Rogi doch in einem klaren Moment bewusst werden, oder? Solange sie zum frühen Morgen zurück ist und ihren Verpflichtungen nachkommt, solange wird niemand Anlass zu Vermutungen und Verdächtigungen haben. Fortzugehen wäre genau das Verhalten, welches die Heimlichkeiten auffliegen lassen und alles verändern würde. Solange Rogi zurückkommt, solange hat sich nichts geändert - zumindest nicht für die Anderen. Bestimmt wird Rogi das einsehen. Oder?'
Und wenn Ophelia nichts weiter blieb, als auf Rogis Einsicht zu warten, dann würde sie einen Teufel tun, dieses Warten in der Eiseskälte fortzusetzen! Sie war so durchgefroren, dass sie nicht einmal mehr die Energie zum Zittern aufbrachte. Also würde sie den Rückweg antreten und dort darauf warten, dass Rogi zur Vernunft käme.
'Vorher aber werde ich mich für den langen Weg rüsten.'
Ophelia ließ die klapprige Tür hinter sich zu schwingen und wartete einige Sekunden, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit der verrauchten Kaschemme gewöhnt hatten.
Ein kurzer Tresen, die niedrige Decke so mit dem Qualm von einem Dutzend Zigaretten verhangen, dass die fünf Öllampen wie magische Flugobjekte in Wolkenbänken flackerten. Die wenigen Tische waren tatsächlich zur Hälfte besetzt. Alle Augen hatten sich auf sie gerichtet und es war mucksmäuschenstill in dem Raum.
Sie friemelte mit einer Hand die Umhangschließe auf und ließ diesen von den Schultern rutschen. Sie legte ihn auf einen der beiden freien Barhocker, nickte den zwielichtigen Gesellen wortlos zu und setzte sich sodann wie selbstverständlich auf den zweiten Barschemel.
"Einmal Knieweich, bitte!"
Der grobschlächtige Wirt, ein erstaunlich gepflegt aussehender, nicht mehr sonderlich junger Mensch, griff nach einem sauberen Glas im Regal hinter sich und nach einer durchsichtigen Flasche. Er schraubte deren Verschluss auf, stellte das kleine Glas vor ihr auf den Tresen und begann, es bis zur Hälfte zu füllen. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen.
Sie begegnete seinem lauernden Blick nur kurz, bevor sie sich gleichgültig darauf beschränkte, das Glas zu beobachten. Es war ihr durchaus bewusst, dass sie unter dem Umhang ihre Wacheuniform getragen hatte und diese nun allen neugierigen Augen zur Schau stellte.
Die Flüssigkeit wechselte gluckernd von der Flasche in ihre neue Heimat und ein stechend scharfer Geruch breitete sich um die Wächterin herum aus.
Sie legte die fällige Münze mit einem harten Geräusch auf den Tresen und hob den kleinen Klaren, wie um sich selbst zuzuprosten. Der Geruch kitzelte sie in der Nase.
Merkwürdig, dass sie mit ihren 23 Jahren heute zum ersten Mal einen Knieweich trinken würde.
Sie ignorierte diesen Gedanken ebenso, wie die Sorge um Rogi oder die Beobachter um sie herum und kippte das kleine Glas auf ex. Der scharfe Alkohol brannte ihr die Kehle fast weg, so dass sie prompt einen Hustenanfall bekam und ihr die Augen tränten.
Der Wirt beobachtete sie mit überheblichem Grinsen und aus einer Ecke hörte sie hämisches Gelächter.
Sie blinzelte durch den Qualm und hielt sich instinktiv an der Metallschiene des Tresens fest, welcher sich zur Seite zu schieben begann.
'Das muss daran liegen, dass der Tag zu lang gewesen ist. Und ich bin überarbeitet.'
Sie seufzte.
'Und der Tag ist längst noch nicht zu Ende! Einen Moment aufwärmen, dann den Rückweg in Angriff nehmen. Bis dahin nur einen kurzen Aufenthalt im Warmen. Ob sie hier auch Klatschianischen Kaffee führen?'

Szene 8

Roger Igoratius

Nach so langer Zeit wieder diese völlig zerstochene und vernarbte Armbeuge zu sehen, hatte ihm innerlich einen Schlag in die Magengrube versetzt.
'Es ist eine Schande!'
Ein Igor, der den eigenen Körper nicht pfleglich behandelte, war wie... wie... Es fehlten ihm nahezu die Worte dafür. Alles, womit er das vergleichen konnte, war gleichzeitig nicht hart genug für den widerwärtigen Umstand, den es beschreiben sollte und doch viel zu unbarmherzig dafür, dass es hier immerhin um Rogi ging! Deren Schicksal war schrecklich.
'Auf keinen Fall würde ich mit ihr tauschen wollen! Diese Vetinari hat ebenso wenig noch alle Schrauben im Oberstübchen, wie Rogis Vorgesetzter in der Wache, dieser Kommandeur. Die stecken doch beide unter einer Decke! Einen so verdorbenen Plan hat sich einer allein gar nicht ausdenken können und Rogi selber hat ja angedeutet, dass sie allenthalben die Einflussnahme ihrer ehemaligen Herrin hinter verschiedenen Vorkommnissen vermutet. Eine Igorina an die Stadt zu verscherbeln! Verrückte Herrschaften hin oder her aber es hat alles irgendwo seine Grenzen und einen Igor an die Allgemeinheit zu übereignen, das kann nicht gut gehen. Das ist nichts anderes, als ein unmoralisches, abartiges und unnötig grausames Experiment. Und Experimente gehören in dafür vorgesehene Laboratorien, inklusive gewisser Parameter, zu denen unter anderem schwächere Spezies, leichtsinnige Reisende oder meinetwegen noch menschliche Jungfrauen zählen mögen aber keinesfalls die getreuen Assistenten!'
Rogis Atem ging inzwischen gleichmäßiger, langsamer. Das Gespräch hatte sie zwar zusätzlich erschöpft, so dass ihr immer häufiger die Augen zugefallen waren, aber er hatte alles aus ihrem eigenen Munde erfahren müssen. Endlich schien sie in den Schlaf hinüber zu dämmern.
Er lag reglos neben ihr, beobachtete jede Muskelbewegung unter ihrer angespannten Gesichtshaut.
'Wenn sie es nur schafft, in die Tiefschlafphase zu wechseln! Dann wird sie sich etwas erholen.'
Er rekapitulierte das, was sie ihm erzählt hatte und erschauerte dabei.
'Die Angelegenheit zieht Kreise. Nun ahnt nicht nur dieser Valdimier etwas. Nein, eine weitere Wächterin weiß definitiv um Rogis Problem. Je mehr darum wissen, desto wahrscheinlicher ist es, dass irgendwer sie verraten wird. Dabei hat es so gut ausgesehen! Kaffee ist zwar auch nicht gesund aber Rogi hat den Eindruck erweckt, dass sie ihr Leben auf diesem Wege wieder in den Griff bekommen hat.'
Ihre geschlossenen Lider zuckten und die darunter verborgenen Augäpfel glitten eilig hin und her.
Vom Gang vor der Zelle erklangen leise Geräusche, die sich näherten.
Verdammt! Vorhin hatte er es noch für eine gute Idee gehalten, die Bürotür halb geöffnet zu lassen, damit Rogi nicht im Ernstfall durch deren gut gepflegtes Knarren gestört würde. Jetzt wäre es ihm lieber gewesen, wenn er sie geschlossen und damit jedem Besucher den Zutritt verwehrt hätte.
'Sie muss doch Ruhe haben!'
Die Schritte verharrten unschlüssig vor dem Büro. Dann war ein lang gezogener Seufzer zu hören.
'Geh weg, wer immer Du bist!'
Doch die unbekannte Person hörte nicht auf sein lautloses Flehen. Stattdessen betrat sie zögerlich den Raum, offenbar ohne die Tür weiter zu öffnen.
Er konnte den Eindringling nicht sehen, da Rogi das Hochbett, auf dem sie lagen, wie einen tiefen Gerümpelboden auf der Höhe zwischen Decke und oberem Rahmen der Bürotür eingezogen hatte. Obendrein hatte sie es direkt an der Eingangswand verankert, so dass jeglicher Besucher nur eine ungewöhnlich tiefe Holzdecke über seinem Kopf sah, deren Absatz knapp vor dem Schreibtisch geradezu endete. Lediglich die Leitersprossen zur linken, leicht von der Wand abgesetzt, an die sie genagelt worden waren, gaben einen dezenten Hinweis. Ihr kleines Reich hier oben war, ohne zusätzlichen Aufwand, gänzlich uneinsichtig.
Der leise Atem im unteren Bereich des Raumes stockte und dann liefen die Schritte schnell nach rechts, dorthin wo die Apothekerkommode mit dem hohen Aufbau stand. Eine Schublade wurde ruckartig geöffnet, dann folgte Stille.
Er hielt den Atem an.
'Derjenige weiß Bescheid! Entweder ist es der Vampir oder die Ermittlerin. Die Schublade hat vorhin offen gestanden. Ich muss sie aus Gewohnheit geschlossen haben! Jetzt ist es klar, dass wir hier waren und es vielleicht sogar noch sind.'
Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
"Rogi? Bist Du wieder zurück?"
Am liebsten hätte er laut geflucht.
Rogi warf den Kopf im Schlaf beiseite und rang nach Atem.
Die leichten Schritte unter ihnen kamen schnell zur Kante des Schlafbodens gelaufen und er hörte, wie Stoffschichten raschelten und eine Stiefelsohle über die erste Sprosse an der Wand scharrte.
'Verdammt! Verdammt! Verdammt!'
Er setzte sich ruckartig auf und blickte auf eine relativ kleine Wächterin in voller Streifenmontur hinunter, die sich damit abmühte, mit lediglich einer Hand ihre diversen Rockschichten zu raffen und gleichzeitig eine Sprosse zu fassen zu bekommen. Die grobe Wolle ihres zurückgeschlagenen Umhanges glitzerte von der darauf abgesetzten Luftfeuchtigkeit, ihr auffallend rotes Haar hatte sich größtenteils aus der Frisur gelöst und sie roch nach Kneipenluft und Knieweich.
'Das hat gerade noch gefehlt!'
"Ftopp!"
Sie blickte erschrocken zu ihm auf und hielt mit einem Arm an der höheren Sprosse inne.
"Du kannft jetft nift fu ihr!"
Sie runzelte missbilligend die Stirn und flüsterte in ebenso eindringlichem Tonfall zurück.
"Ich kenne Dich nicht Herr. Es würde mich wundern, wenn Du auch nur ein Wächter und somit berechtigt wärest, Dich in dieser Weise im Wachhaus aufzuhalten." Weder ihre Stimme, noch ihre extrem aufrechte Haltung ließen auch nur ansatzweise erkennen, dass sie vor nicht allzu langer Zeit einen der hochprozentigsten Drinks der Scheibe getrunken haben musste. Vielleicht glänzten ihre Augen etwas mehr, als dies gewöhnlich bei so wenig Lichteinfall in einem Raum üblich war? Durch das winzige Gitterfenster über dem Schreibtisch drang bereits grau die Morgendämmerung herein.
Sie drückte herausfordernd ihre Schultern zurück und hob leicht das Kinn.
"Was tust Du dort oben, Herr? Und warum sollte ich mich auch nur eine Sekunde von Dir aufhalten lassen?"
Roger suchte nach einer einfacheren Lösung, doch es gab keine. Er gab sich einen Ruck und bevor sie etwas Weiteres sagen konnte, schwang er sich über die Kante und kletterte hinab.
Er musterte sie einmal gründlich von oben bis unten. Das Ledergeschirr, mit welchem ihr zweiter Arm fest an den Körper geschnürt war, ließ sich kaum übersehen.
'Merkwürdig, dass Rogi dieses Merkmal mit keinem Wort erwähnt hat, als sie mir von der Kollegin erzählte. Wo es doch so viel eindeutiger ist, als ihre Haarfarbe.'
"Du bift Ofelia Fiegenberger, nift wahr? Geh bitte! Fie fläft und braucht Ruhe."
Der Blick der Wächterin flog unwillkürlich in die Höhe, zu der Kante des Schlafbodens. Ihre gesunde Hand krampfte sich zu einer schmalen Faust zusammen, dann konzentrierte sie sich mit gerunzelter Stirn wieder auf ihn.
"Wie geht es ihr?"
Roger konnte nicht verhindern, dass er bei dieser Frage einen tiefen Seufzer von sich gab.
"Den Umftänden entfprefend."
Das Fräulein Ziegenberger senkte betroffen den Blick. Sie zögerte und in diesem winzigen Innehalten erahnte er eine ganze Reihe von Gedanken und Überlegungen, die sie gerne mit ihm teilen, Befürchtungen und Ängsten, die sie ihm anvertrauen und Hoffnungen, die sie von ihm bestätigt sehen wollte. Stattdessen richteten sich ihre schiefergrauen Augen bedeutungsvoll auf den Apothekerschrank und dessen geöffnete Schublade. Darüber, auf der Ablage, schimmerte der Glaskolben der leeren Spritze.
"Hast Du...?"
Er sah keinen Sinn darin, es zu leugnen. Rogi hatte Hilfe benötigt, die er ihr hatte geben können.
"Ja."
Ihre Aufmerksamkeit schnellte zu ihm zurück, wobei er so etwas wie Entsetzen in ihrem Gesichtsausdruck zu erkennen meinte. Und noch etwas anderes. Ihre Stimme klang trotz des anhaltenden Flüsterns eindringlich und er konnte hören, wie Rogi sich unruhig herumwälzte.
"Sie muss davon loskommen. Es hilft ihr nicht, wenn man einfach nur tut, worum sie bittet."
Roger fand es sehr schwer, die Gefühlsregungen, die aus ihren Worten, ihrem Blick, aus Mimik und Gestik und Tonfall sprachen, zuzuordnen. War das Schuldgefühl? Er konnte sich nicht sicher sein. Ebenso wenig, wie er genau verstand, was die Wächterin von ihm wollte. Was erwartete sie für eine Reaktion von ihm?
Er legte den Kopf leicht schief und beschloss, die Raterei abzukürzen. So war es auch bei einigen Dienstherren gewesen. Manchmal halfen unverblümte Nachfragen ihnen, ihre Gedanken zu klären. Zumindest zeitweilig.
"Waf wünft Du dir, daf if tun foll? Waf erwarteft Du jetft fon mir?"
Sie trat fast erschrocken einen kleinen Schritt zurück und starrte ihn an. Offenbar kannte sie sich ein wenig mit der Igor-Mentalität aus. Sie hatte sein Ansinnen zwar missverstanden und ging nun fälschlicherweise davon aus, dass er eine Anweisung im Sinne einer Meister-Igor-Beziehung erbat. Was natürlich Unfug war. Sie stand schließlich in keinerlei offiziellem Weisungsstatus zu ihm! Aber immerhin dachte sie nun darüber nach, was sie selber eigentlich wollte. Das würde ihre offensive Haltung etwas regulieren. Und obendrein war das ein guter Schritt dahin, sie von Rogi abzulenken.
Sie schaute ihn unsicher an.
"Ich... ich möchte, dass Du Rogi hilfst. So gut das geht."
Er nickte. Damit konnte er leben. Es war nichts, was er nicht ohnehin gemacht hätte.
"Und ich möchte, dass sie von dem Mittel wegkommt."
Jetzt war es an ihm, die Stirn zu runzeln.
"Daf möfte if auch. Aber daf funktioniert nift einfach fo! Daf braucht Geduld und viel Feit."
"Und meiner Meinung nach auch Konsequenz, Herr...?"
Ihre Augen hatten einen unnachgiebigeren Ausdruck angenommen.
Er antwortete auf die unausgesprochene Frage, indem er sich knapp vorstellte.
"Roger Igoratiuf." Er deutete einen Diener an und fuhr ohne Unterbrechung fort. "Nur, um ganf fifer fu fein, daf if Dif riftig verftanden habe: Du bift der Anfift, daf fie keinerlei Unterftütfung durf ihr Medikament erhalten follte?"
Sie schluckte schwer, nickte aber trotzdem.
"Dieses Serum zerstört sie! Du kannst doch nicht tatenlos dabei zusehen, wie sie immer mehr davon zu sich nimmt!"
Er glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. War die Wächterin etwa verrückt? Die Worte entflohen seinem Mund wie gehaucht.
"Willft Du fie umbringen?"
Ophelia Ziegenberger atmete scharf ein. Es war nicht zu übersehen, dass ihr bei diesem Vorwurf die Tränen in die Augen traten und auf eine verquere Weise war das beruhigend. Sie hing in ähnlicher Weise an Rogi, wie er. Sie musste sich nur in eine merkwürdige Vorstellung davon verrannt haben, was gut für diese wäre. Sie begann den Kopf zu schütteln, als wenn sie ein gerütteltes Maß an Anschuldigungen abweisen wollte.
"Ich sie umbringen? Wie kannst Du so etwas sagen? Wie kannst Du es wagen! Ich mache mir die allergrößten Gedanken und bin die ganze Nacht über auf der Suche nach ihr gewesen, zerfressen von Sorge!"
Roger erinnerte sich augenblicklich an eine ebenso verbrachte Nacht vor einigen Jahren. Als Rogi verschwunden und er auf der Suche nach ihr unterwegs durch die Straßen der Stadt gewesen war. Als sie der Sucht vollständig verfallen gewesen war und nach einem schrecklichen Verlust das Vergessen auf dem Boden einer Flasche Knieweich gesucht hatte. Der dezente Alkoholgeruch der Wächterin ließ diese Bilder umso nachdrücklicher in seinem Sinn erstehen.
'Ich habe etwas mit ihr gemeinsam!'
Er spürte überraschend einen Anflug von Mitleid mit der Menschenfrau. Sie war noch jung. Und wenn er von ihrem ganzen Auftreten ausging, war sie gewiss nicht oft mit solcherlei Tragödien konfrontiert worden. Woher sollte sie da wissen, was für Rogi gut sein würde?
Er nahm sich etwas zurück und besann sich bewusst auf seine naturgegebenen Talente als dienstbarer Geist. Traditioneller Wahnsinn und akute Angst ähnelten einander bis zu einem gewissen Grad. Und die Wächterin hatte nichts anderes als Angst um Rogi. In solchen Fällen trat rationales Denken in den Hintergrund und dann lag es in der Verantwortung eines Igors, besänftigend auf das Gegenüber einzureden, zu versichern, dass alles gut werden und die anrennende Gefahr von Außerhalb einem ganz sicher nichts anhaben können würde.
Dass man den Hinterausgang stets passierbar hielt, war eine ganz andere Sache. Ein Igor verheimlichte seinem Herrn prinzipiell so Einiges, um dessen Erwartungen und dem Mythos gleichermaßen gerecht werden zu können.
Er lächelte sie beruhigend an.
"Glaube mir, if weif, waf gut für fie ift. Fie muffte fich wieder beruhigen, den Kreiflauf runterfahren. Und jetft, da fie daf gefaft hat, muf fie flafen. Morgen wird ef ihr wieder beffer gehen. Daf ift nift daf erfte Mal, daf die Fituation fie etwaf überfordert hat. Fie wird ef auch diefef Mal fafen."
Die schlanke Frau sah ihn an, als wenn er ihre letzte Hoffnung wäre. Sie presste nervös die Lippen aufeinander, dann eröffnete sie ihm:
"Ich bin dabei, eine gemeinsame Wohnung für Rogi und mich zu finden. Für eine gewisse Zeit. Damit sie nicht zu lange allein ist."
Er war dermaßen überrascht, dass ihm einen Moment lang der Atem stockte.
"Weif fie dafon?"
Die Wächterin nickte zaghaft.
"Ja, sie hat dem Plan selber zugestimmt."
Er blickte überrumpelt an ihr vorbei und hinauf, zu dem vom morgendlichen Zwielicht beleuchteten Zellenfenster.
'Kann das sein? Hat Rogi sich wirklich auf diesen haarsträubenden Plan eingelassen? War sie da noch bei Sinnen gewesen oder wird sie sich gar nicht mehr daran erinnern können?'
Diese zierliche Frau hatte sich ganz klar in die Idee eines Komplettentzugs verrannt.
'Wie will sie den rohen Kräften eines amoklaufenden Igors standhalten können? Ist sie sich überhaupt dessen bewusst, wie gewaltbereit Körper und Geist werden können, wenn der Bruch in den Gewohnheiten einer Abhängigkeit zu groß wird?'
Er betrachtete sie nochmals eingehender, wobei er kurz an dem Ledergeschirr, dem eingeschränkten Arm, den zerbrechlichen Handgelenken und den übergroß wirkenden Augen verweilte. Er wollte gerade etwas erwidern und ihr klar machen, wie aussichtslos solch ein Unterfangen sein musste, als ein ungestümes Rascheln von über ihnen ertönte. Rogi hatte sich auf die Seite gewandt.
Sie blickten synchron empor, obwohl natürlich nichts zu sehen war. Aber es war etwas zu hören.
"Verfwindet! Beide!"
Er wollte zur Sprossenleiter eilen, während hinter ihm die Wächterin besorgt Rogis Namen rief, doch die Igorina hielt sie mit Nachdruck auf, indem sie deutlich lauter hinunterrief.
"Ich habe gefagt verfwindet! Ich will mit niemandem reden und ich kann Euch auch nicht eine Minute länger fuhören. Geht endlich weg und laft mir meine Ruhe... bitte!"
Er blickte zu der Wächterin zurück und sah in deren Augen die gleiche Unruhe, die gleiche Frustration und ebensolchen Widerspruchsgeist, wie er sie in sich rumoren spürte. Doch die kleine Frau schluckte all das mit großer Willensanstrengung hinunter und antwortete Rogi in normaler Lautstärke und erstaunlich besonnenem Tonfall, während sie ihn ansah.
"In Ordnung, Rogi. Wir gehen. Wir wollten nur nach Dir sehen aber wenn Du schlafen möchtest, dann ist das eine gute Entscheidung. Bitte verzeih die Störung. Wenn irgend etwas sein sollte... Du kannst jederzeit Bescheid sagen."
Sie sah ihn nur einen Augenblick länger an. Dann wandte sie sich um und verließ den Raum ebenso lautlos, wie sie ihn betreten hatte.
Er blickte unschlüssig nach oben.
"Du auch, Roger!"

Szene 9

Opal

'Zeit sehr langsam jetzt.'
Opal drehte knirschend den Kopf in Richtung des Eingangs und verharrte in dieser Position. Wenn er eines bisher gelernt hatte in der Wache, dann waren das sparsame Bewegungen. Hier war alles so zerbrechlich, wenn man dagegen stieß!
'Sonne nicht viel da. Wolken seien mehr. Vielleicht werden kühler dadurch?'
Er starrte reglos auf die bleichen Lichtflecken im Eingangsbereich des Wachefoyers.
'Kleine Frau Willichnicht werden bald hier stehen.'
Sein Blick senkte sich müde auf den leeren Wachetresen.
'Mit-Steinen-Drin-Konzert von Ggrroorrkk eine Nacht und noch eine Nacht vorher schotter-gut gewesen. Haben gerummst! Wenn Ggrroorrkk wieder da, dann ich gehen wieder hin.'
Nach einiger Zeit bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Er drehte seinen ganzen Körper in Richtung der Tür hinter dem Tresen, die wie üblich offen stand und den Blick ins Innere des Wachhauses gewährte. Dort sah er die Treppen. Und es ging dort zu den Büros und um die Ecke zur Kantine.
Ein Chief-Korporal kam gerade mit müden Schritten langsam die Treppe aus dem Keller hinauf. Sie blieb am Treppenabsatz stehen, wo sie die Augen schloss und tief durchatmete. Als sie sie wieder öffnete, bemerkte sie ihn und dass er sie beobachtete. Sie lächelte ihn freundlich an, nickte ihm zu und stieg die nächste Treppe hinauf, bis sie aus seinem Sichtfeld verschwand.
Ziegenberger, jetzt war ihm der Name wieder eingefallen.
'Stellvertreter von R.U.M.! Wichtig!'
Er freute sich darüber, die Menschenfrau erkannt und sich an deren Namen erinnert zu haben. Und sogar auch noch an deren Rang! Darüber hinaus... er sah keinen Grund dafür, seine Aufmerksamkeit anderweitig zu binden und beobachtete stattdessen der Einfachheit halber weiter die Treppen.
Eine kleine Zeitspanne war vergangen da tauchte wieder die R.U.M.-Frau auf. Dieses Mal trug sie einen kleinen Beutel, ein Tuch und frische Kleidung über dem Arm mit sich. Im Gegensatz zu dem Umhang von vorher.
'Gehen zu die Duschen. Haben geschlafen in Schlafsaal?'
Irgendwas irritierte ihn aber er kam nicht darauf. Außerdem konnte er sich nicht daran erinnern, sie schon einmal im Schlafsaal gesehen zu haben, so wie normalerweise die Rekruten. Er bemühte sich wirklich das zu finden, woran seine Gedanken dauernd aneckten.
'Waren mit Umhang... irgendwas mit Umhang... waren komisch irgendwas damit...'
Gerade, als er beschloss, dass es den gedanklichen Aufwand nicht wert sein konnte, sich weiter darüber den Kopf zu zerbrechen, tauchte der Chief-Korporal wieder auf. Mit frisch gewaschenem Haar und in faltenfreier Uniform erklomm sie tief in Gedanken die Treppen, um in den zweiten Stock zu kommen.
'Kleines Büro neben Eckbüro. Eckbüro, was so nach Hund stinken.'
Auf der Treppe, die aus dem Keller emporführte, tauchte ein Narbenmann auf.
'Viel los seien heute in Morgenstunde! Dieser ein Igor seien, mit Linien in Gesicht. Praktisch für kleine Wesen mit dünner Haut. Machen alle wieder ganz.'
Der Igor war ebenfalls auf dem Weg nach oben. Er bemerkte seinen Blick und nickte ihm fast kollegial zu. Dann war auch der Igor wieder weg.
'Ich kennen ihn? Puzzlegesichter diese sehen alle gleich aus...'
Opal runzelte die Stirn, was zu krustigen Verwerfungen im Gestein führte. Er hatte die halbe Nacht dazu gebraucht, sich für den Notfall einzuprägen, welche Offiziere und Entscheidungsträger im Wachhaus anzutreffen waren. Sie hatte nicht dabei gestanden. Zumindest nicht zu so früher Morgenstunde. Hatte er sich geirrt?
Er stampfte zum Schwarzen Brett, um sich selber davon zu überzeugen, sich geirrt zu haben. Aber nein! Die Verdeckte Ermittlerin war gestern zum Abend das letzte Mal eingetragen gewesen. Er starrte auf den Dienstplan. Er dachte darüber nach.
'Nicht meine Sache seien. Vielleicht Bett von ihr kaputtgebrochen, weil sie zu schwer geworden. Nicht meine Sache. Kann sie schlafen, wo sie will.'
Er drehte sich wieder der Tür zu und beobachtete dabei den Zeiger der Uhr, wie sich dieser auf die kleine Markierung neben der vollen Stunde schob. Fünf Minuten nach sieben!
Die Wachhaustüren öffneten sich mit Schwung und eine gebrechliche, ältere Dame kam herein, der dürre Arm rammte ihren Regenschirm regelrecht mit jedem Aufsetzen in den Boden.
"Ich möchte mich beschweren!"

Szene 10

Ophelia Ziegenberger

Ihr war sehr, sehr schwindlig, so viel stand mal fest. Selbst das unangenehm kühle Wasser im Waschraum hatte nichts daran ändern können. Eigentlich hatte sie gehofft gehabt, sich dort etwas aufwärmen und die Kälte aus dem Innern spühlen zu können. Doch der große Raum im Keller war lediglich klamm gewesen, der Wasservorrat dümpelte mehr als nur 'etwas frisch' im Auffangbehälter vor sich hin.
Ophelia erreichte wankend den Treppenabsatz.
'Vielleicht hätte ich nach dem Knieweich auf die anderen Getränke verzichten sollen? Ein einfaches Glas Wasser oder ein Tee wären nett gewesen. Aber wenn es die nun einmal nicht zu erwerben gab! Der Steife Klatschianer hatte zumindest eine angenehme Temperatur. Aber irgendwie... ist mir jetzt nicht so gut...'
Sie streckte den Rücken durch, machte mit reiner Willensanstrengung den nächsten Schritt und ging in überaus aufrechter Haltung zu ihrem Büro. Dort blieb sie stehen und blickte auf die Türklinke hinab. Und dann sah sie auf den Stapel zusammengelegter Wäsche auf ihrem Arm.
'Wie konnte ich vergessen, den Schlüssel bereits unten aus meiner Gürteltasche zu nehmen?'
Es fiel ihr unsagbar schwer, eine Entscheidung zu treffen.
'Die Wäsche auf den Boden zu legen kommt auf keinen Fall in Frage. Und dieserart nach dem Schlüssel zu suchen, kann nur in einer unwürdigen Vorstellung enden. Soll ich einfach vor der Tür stehen bleiben und warten? Vielleicht fällt mir etwas zur Lösung des Problems ein?'
Irgendwie erschien ihr das vollkommen logisch.
Leise Schlurfschritte näherten sich und blieben dicht hinter ihr stehen.
Sie sah sich um und begegnete dem aufmerksamen Blick des Igors.
'Was macht er noch hier im Wachhaus? Hat er kein Zuhause?'
"Foll if folange die Kleidung halten, bif Du die Tür geöffnet haft?"
Ophelia überlegte kurz und nickte dann. Dabei war sie darauf bedacht, den Kopf nicht zu schnell zu bewegen. Während Igoratius ihr die Wäsche abnahm, schloss sie umständlich ihre Bürotür auf. Sie bedachte den vernarbten Mann mit einem misstrauischen Blick.
'Immerhin hat er Rogis Aufforderung Folge geleistet. Nur... was will er jetzt von mir?'
Sie betraten gemeinsam das Büro und der Igor legte die Wäsche neben der Tür auf dem Seitenschrank ab.
Ophelia riss ein Streichholz an und entzündete sowohl Lampe, als auch Kerze, bevor sie das Hölzchen auspustete. Sie wandte sich ihm beinahe verschüchtert zu.
"Es ist eigentlich nicht die passende Uhrzeit für Herrenbesuch."
Er erwiderte gelassen ihren Blick.
"If bin kein Herrenbefuch. Aufer du möchteft daf..."
"Nein." Ihre erschrockene Antwort kam sofort. Die dazugehörigen Überlegungen folgten mit deutlicher Verzögerung und aus einem unüberhörbar verwirrten Geisteszustand heraus. Zumindest unüberhörbar für den aufmerksamen Besucher.
"Ich möchte keinen Herrenbesuch. Das schickt sich nicht. Aber wenn ich keinen möchte und Du nur dann welcher wärest, wenn ich ihn wollen würde, dann bist Du im Moment keiner. Dann ist es legitim, Dich zu empfangen..." Etwas an der Formulierung war nicht ganz richtig, aber das schien ihn nicht zu stören, warum also sollte es sie stören? Im Gegenteil, sie meinte kurz ein humorvolles Leuchten in seinen Augen aufblitzen zu sehen, bevor deren Ausdruck wieder ernst wurde.
Der Raum hatte die unseelige Tendenz, sich in Schräglage zu begeben.
Ophelia setzte sich vorsichtshalber auf den bereitstehenden Stuhl und sprach auch noch leise den anderen Gedanken aus, der ihr durch den Kopf schlenderte.
"Ich kann mir gar nicht erklären, was Du von mir möchtest, Herr."
Igoratius folgte ihr lediglich mit seiner Aufmerksamkeit. Er lehnte sich im Gegensatz zu ihr mit verschränkten Armen gegen die Schreibtischkante.
Irgendwie fühlte sie sich beobachtet, klein und nicht vorzeigbar.
Und es fiel ihr unangemessen schwer, diese Gedanken für sich zu behalten.
"Das ist mir unangenehm, wenn Du mich so beobachtest, Herr. Wie sehe ich nur aus! Ein Vogelnest ist gar nichts gegen das da auf meinem Kopf."
Igoratius öffnete seine defensive Armhaltung und fragte gerade heraus:
"Kann ich behilflich fein?"
Ophelia überlegte angestrengt. Und nicht nur im Stillen für sich.
"Ich weiß nicht, ob Du das kannst? Du bist nicht Märrie. Märrie kennt sich mit so etwas aus. Und Du bist auch keine Frau, selbst wenn Du derzeit kein Herrenbesuch bist. Frauen können sich normalerweise nämlich sehr gut die Frisur richten. Auch wenn ich da im Moment leider eine Ausnahme bilde. Der Arm... Du weißt schon... Aber bei Männern ist das nicht selbstverständlich. So ein Kuddelmuddel! So kann ich doch nicht den Tag über durchs Wachhaus laufen! Ach, was für ein Unglück! Aber in den alten Kleidern mit dem Geruch der Kaschemme an mir, nein, das wäre auch nicht gegangen. Zu viele Fragen. Auch wegen Rogi."
Sie seufzte leise. Das Angebot des Igors war ihr schon wieder entfallen.
Eine feuchte Strähne fiel ihr ins Gesicht. In dem Versuch, sich möglichst wenig zu bewegen, um dem andauernden Schwindelgefühl entgegen zu wirken, pustete sie dagegen. Aber die Haarsträhne schwebte nur leicht beiseite, bevor sie wieder herabsank und sich an ihre Wange klebte.
Er betrachtete das frisch gewaschene, lange Haar.
"Du möchteft eine Hochfteckfrisur haben?"
Die Frage war einfach, ebenso wie die Antwort.
"Ja."
Erst dann kam ihr der Gedanke, dass da immerhin ein fremder Mann stand, den sie kaum kannte. Narben hin oder her. War es angemessen, sein Angebot anzunehmen? Immerhin würde er ihr dazu sehr nahe kommen und den gesellschaftlich geforderten Spielraum unverheirateter Leute deutlich unterschreiten.
Er stieß sich von der Tischkante ab, als wenn er zu allem bereit wäre, wenn...
"Frifuren find eigentlich mehr Rogif Ftärke. Daf ift fo ein typifef Igorina-Ding. Aber ich kümmere mich darum." Sein Blick wurde merkwürdig intensiv, als wenn er nur eine Sache noch klären müsste, obwohl er längst beginnen wollte. "Wenn Du mir ein paar Fragen geftatteft?"
Sie sah ihn verwundert an.
Warum genau bot er ihr seine Hilfe an? Das hatte doch bestimmt irgendetwas mit Rogi zu tun? Doch die Antwort auf diese Frage war ganz sicher furchtbar vielschichtig und kompliziert. Das war nur logisch, bei einer insgesamt derart verfahrenen Situation. Wollte sie sich jetzt mit komplizierten Antworten abmühen? Konnte sie es überhaupt?
"So sich deine Fragen in einem statthaften Rahmen bewegen, Herr, kann ich sie Dir auch gestatten."
Logik funktionierte auch dann noch, wenn sie nicht großartig nachdachte. Irgendwie war das beruhigend.
Der Igor trat hinter ihren Stuhl. Seine Hände fuhren beherzt unter das Haar und griffen nach, um dessen ganze Fülle zu fassen zu bekommen. Seine Haut streifte ihre Haut und sie fröstelte.
'Igors sollen hervorragende Liebhaber sein... Ob da etwas Wahres dran ist?'
Seine Stimme lenkte sie von dem neuerlichen, etwas anders gearteten, Schwindelgefühl ab.
"Wie bift Du darauf gekommen?"
Ophelia bemühte sich ernsthaft darum, seinen Gedanken zu folgen. Doch seine Motive blieben ihr verborgen, ebenso wie die Übergänge von einer Frage zur nächsten. Sie schloss resigniert die Augen und überließ sich dem steten Zug der geflochtenen Strähnen an ihrer Kopfhaut und dem Strom seiner Fragen. Sie antwortete, so gut ihr dies möglich war.
"Worauf bin ich gekommen?"
"Darauf, wie ef um Rogi fteht."
Die Wärme ihres Büros sickerte allmählich in sie ein. Ihre Muskeln entspannten sich und das gleichmäßige Hin und Her seiner Bewegungen, das ihren Kopf wie ein langsames Pendel schwingen ließ, trug dazu bei.
"Sie ist immer so bemüht... ich glaube, wenn sie manches Mal darauf verzichtet hätte, zu helfen, dann wäre es mir nicht so deutlich aufgefallen. Vielleicht haben sich unsere Wege in letzter Zeit auch nur zu oft gekreuzt? Eine Zeitlang war ich mir nicht sicher. Aber als wir die Sache mit dem Mieder bearbeiten sollten, gab es nur noch die eine Schlussfolgerung. Soweit ich es verstanden habe, kommt sie nicht sonderlich gut mit der Vorstellung zurecht, dass diese ehemalige Arbeitgeberin darin verwickelt war. Oder ist. Wir haben die Karte zwar gefunden aber der Hintermann ist flüchtig. Es bleibt also vermutlich abzuwarten, ob die Vetinari sich noch einmal dazu äußern und eine Wache-Intervention anfordern oder aber sich selbst darum kümmern wird." Ophelia schüttelte leicht verärgert über die aufdringliche Vampirin den Kopf. "Ich finde es unangemessen, mit welcher Selbstverständlichkeit sie sich das Recht dazu herausnimmt. Als wenn sie in der Stadtwache nicht viel mehr als ihr persönliches Recherche-Instrument sähe. Das kann doch nicht richtig sein, auch nicht, dass der Kommandeur sich darauf so widerstandslos einlassen muss." Roger hielt ruckartig inne und seine Hand stützte sie schnell an der rechten Schulter ab, ehe sie vom Stuhl gefallen wäre.
"Oh... mein Gleichgewichtssinn..."
Ophelia bemühte sich nun doch darum, die Augen geöffnet zu halten.
Roger stand einen langen Moment reglos hinter ihr, bevor er die Strähnen fester griff und das Flechten wieder aufnahm. Seine Stimme klang gereizt.
"Rogi fagte, daf Du nicht fur Wacheleitung gegangen bift, fondern direkt fu ihr. Und nur fu ihr! Warum behältft Du ihr Geheimnif für Dich?"
Darüber brauchte sie nicht einmal nachdenken.
"Weil sie mich darum gebeten hat."

Szene 11

Romulus von Grauhaar

Der Weg von seinem Büro in das seiner Stellvertreterin betrug über den Gang nur knappe zehn Schritte. Manchmal hatte er schon gedacht, dass eigentlich ein Durchbruch zu ihr ganz praktisch wäre. Dann hätte er jetzt nicht extra hinüber laufen müssen, um ihr den Krempel zu bringen. Ganz, ganz selten war er sogar in Versuchung, irgendwas gegen die Wand zu schmeißen oder einfach laut zu rufen. Es würde funktionieren und sie würde ganz sicher angelaufen kommen. Aber dann stellte er sie sich im Türrahmen vor, ebenso kompetent und freundlich, wie unnachgiebig zu sich selbst. Die Uniform korrekt bis zum kleinsten Detail angelegt und den Blick auf ihn gerichtet, als wenn er alles wüsste. Dann verging ihm seine faule Haltung ganz schnell und er raffte sich auf und strich die eigene Kleidung glatt, bevor er eben doch wieder losging und bei ihr anklopfte.

"Ja, bitte?"
Romulus öffnete die Tür zu ihrem schmalen Büro und augenblicklich schlug ihm der schwere Duft einer herben Teemischung entgegen.
'Eine andere Sorte als sonst? Riecht irgendwie sehr viel kräftiger. Bloß gut, dass die Idee mit dem Wanddurchbruch gar nicht in Frage kommt. Ich vergesse immer wieder, wie mich diese Teegerüche hier drin auf Dauer nerven würden.'
"Gut, dass Du da bist."
'Blöde Einleitung - Natürlich ist sie da. Wo sollte sie auch sonst sein? Mit dem kaputten Arm ist sie schließlich nicht einsetzbar.'
Ophelia hatte sich bei seinem Eintreten von dem Schreibtisch, der zum Fenster geradezu ausgerichtet war, abgewandt und war der Höflichkeit halber aufgestanden. Nach ein paar fruchtlosen Versuchen hatte er es längst aufgegeben, sie davon abzubringen und ihm mit etwas mehr Lässigkeit zu begegnen. Das war wohl einfach nicht ihre Art. Und irgendwie war das auch eine ganz schmeichelhafte Respektsbezeugung.
Sie sah ihm erwartungsvoll wie immer entgegen.
Er lief zu ihrem Schreibtisch und legte den Stapel Papiere, den er ihr geben wollte, einfach auf all dem Anderen ab, was da schon lag. Sortieren würde sie sich das bestimmt sowieso lieber selber.
"Das hier habe ich eben von Kanndra bekommen. Sind alles nur schnell hingeworfene Berichte des Einsatzes heute, lauter Ikonographien und handschriftliche Kopien der Akte. Die FROGs sind wahrscheinlich auf was ganz Großes gestoßen und es könnte sein, dass es da Zusammenhänge zu dem Fall von vor drei Wochen gibt. Ich meine, mich an irgendwas zu erinnern aber ich komme nicht drauf und die entsprechende Akte kann ich auch nicht finden. Ist die vielleicht schon im Archiv? Oder liegt die noch bei einem unserer Leute auf dem Schreibtisch? Da gab es einen Mord, bei dem die Waffe vergessen wurde, weil jemand mitten hineinplatzte. Sagt Dir das vielleicht noch was?"
Ihr Blick trübte sich leicht, als sie sich zu erinnern versuchte.
Er musterte sie abwartend und in der begründeten Hoffnung, dass sie gleich mit der passenden Antwort aufwarten würde. Das klappte ziemlich oft. Sie waren eben ein gutes Thiem.
Sie blickte ihn wieder an.
"Du meinst den Van Vallaffay-Fall? Den Fall, bei dem Herrn van Vallaffay der Kopf mit dem silbernen Kuchenheber fast vollständig abgetrennt wurde, bevor der Kohlehändler dazwischen kam?"
Romulus schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Das Ding mit dem Kuchenheber, genau! Das war' s gewesen! Wie hatte er das nur vergessen können?
"Ja, genau den! Weißt Du, wo die Akte geblieben ist?"
"Lilli müsste sie noch haben."
"Wunderbar! Wärst Du bitte so nett, da mal nachzufragen? Wir brauchen einen aktuellen Stand der Ermittlungen, um zu vergleichen, ob es Zusammenhänge zu dem Einsatz heute morgen gibt. Und wenn Du schon mal dabei bist, dann wäre es auch ganz gut, wenn Du die Kopien hier zu einer ordentlichen Akte zusammenstellen könntest. Bei mir sieht das immer so gewollt aus. Bei Dir hat das Hand und Fuß, da bist Du einfach viel sorgfältiger und vorbildlicher, das wissen wir ja. Geht das?"
Seine Stellvertreterin lächelte ihn an und neigte leicht den Kopf, um ihm zuzustimmen.
"Kein Problem, Sör. Ich werde mich darum kümmern."
Irgendetwas war anders an ihr, als sonst. Bildete er sich das nur ein?
"Ist alles in Ordnung mit Dir, Chief-Korporal?"
Sie straffte augenblicklich ihre Schultern, ihre Haltung wurde zu hundert Prozent vorbildlich, wie aus einem dieser albernen Lehrbücher für feine Damen, auf denen alle abgebildeten Personen Bücher auf dem Kopf balancierten. Sie ließ dieses typische Lächeln aufleuchten, dem man alles abnahm, das einen wärmte und jeglichen Zweifel tilgte.
"Es gibt keinen Grund zur Sorge, Sör. Es tut mir leid, wenn ich Anlass dazu gegeben haben sollte. Es ist nichts, Sör, lediglich eine unruhige Nacht. Aber Du wirst keinen Grund zu Beanstandungen haben. Ich werde mich sofort um alles kümmern. Ist sonst noch etwas?"
Von unruhigen Nächten konnte er, dank dieses Möchtegern-Musikers von einem Nachbarn, ein Liedchen singen. Offensichtlich wollte sie nicht darüber reden und er wäre bestimmt der Letzte, der sich aufdrängen würde. Sie kam eigentlich immer mit allem gut zurecht und da hatte es schon einiges Schlimmeres für sie gegeben, als eine schlaflose Mondphase!
Beim Blick auf den chaotischen Papierstapel, den er ihr auf den Schreibtisch geladen hatte, fiel ihm regelrecht ein Stein vom Herzen.
'Das ist bei ihr viel besser aufgehoben. Außerdem hat sie dann auch etwas Sinnvolles zu tun. So ein großer Fall ist doch viel aufregender, als für die Kollegen im Einsatz langweilige Recherche-Anfragen zu verschicken oder die Ausgaben-Belege für die Abteilung auf dem Laufenden zu halten.'
"Nein, danke! Das wäre vorerst das Wichtigste. Sag einfach Bescheid, wenn Du was brauchst, in Ordnung?"
"In Ordnung, Sör."
Er nickte zufrieden vor sich hin und machte sich wieder auf den Weg in sein Büro zurück.
Ach, jetzt hatte er ganz vergessen, ihr zu erklären, was es mit dem FROG-Einsatz heute auf sich gehabt hatte. Na, egal. So wie er sie kannte, würde sie sich sowieso gleich mit Feuereifer auf die Unterlagen stürzen und das selber herausfinden. Zusammen mit lauter Kleinigkeiten, die ihm selbst beim intensiven Studium der Akte entgangen wären. Und wenn sie Fragen hätte, würde sie sich bestimmt melden. Das hatte er ja auch noch mal angeboten.
Sein Magen knurrte laut.
'Ist es etwa schon Zeit für das zweite Frühstück? Wie schnell der Vormittag davon rast! Vielleicht liegt noch eine Dose im Schubfach...'

Szene 12

Mina von Nachtschatten

Das Teearoma schlug ihr entgegen, als sie die zweite Etage des Wachhauses am Pseudopolisplatz betrat.
Mina lächelte.
'Als wenn man nach Hause kommt!'
Der Gedanke verflog und ließ Wehmut zurück. Doch glücklicherweise hatte sie dafür keine Zeit. Schon stand sie vor Ophelias Büro und klopfte dreimal kurz an.

"Ja, bitte?"
Sie öffnete die Tür und ihre Vorgesetzte wandte sich ihr zu, indem sie sich von dem blauen Samtpolster des Drehstuhls erhob.
"Mina! Du bist früh dran. Darf ich?"
Ophelia kam ihr entgegen und nahm ihr wie selbstverständlich das Kleiderbündel aus den Armen. Sie hängte die Sachen mit bereit liegenden Bügeln hinter der Tür auf und deutete dann einladend auf den zweiten Stuhl.
"Tee?"
Mina atmete tief durch und ließ sich erleichtert auf dem Samtpolster nieder.
"Ich habe leider nicht viel Zeit, der Einsatz bei den Ellermanns, Du weißt?"
Ophelia nickte ernst, ließ sich deswegen aber noch lange nicht davon abbringen, zu dem ehemaligen Kaffeedämon neben der Tür zu gehen und die zusätzliche Tasse vorzubereiten. Sie füllte ein winziges Teesieb mit feinem Blattwerk, versenkte es in einer bauchigen Kanne aus feinstem Porzellan und blickte zu ihr hinüber.
"Ich nahm bereits an, dass es knapp werden würde und habe mir daher erlaubt, die nächste Verkleidung vorsorglich zusammenzustellen. Sie dürfte gut passen und Dir zusagen. Und ich habe sie hinter der Tür bereit gehängt. Es bleibt Dir also wenigstens etwas Zeit, um den Tee zu genießen, Dich zu stärken und Dich etwas aufzuwärmen."
Ophelia richtete ihre volle Aufmerksamkeit auf den Vorgang des Aufbrühens, während sie etwas leiser anfügte:
"Wenn ich Dir durch die Umstände schon so viel mehr an Arbeit aufbürde, dann ist dies Wenige das Mindeste, was ich tun kann, um Dir etwas Unterstützung zukommen zu lassen."
Mina spürte die aufwallenden Emotionen ihrer Kollegin durch den Raum branden. Frustration. Wertlosigkeit. Sie war in diesem Moment überaus froh, dass es ihr nicht möglich war, die hinter den Gefühlen lauernden Gedanken zu lesen. Das hier fiel eindeutig in den Bereich der Privatsphäre, zu dem sie nicht einmal dann hätte Zugang haben wollen, wenn ihr dies möglich gewesen wäre. Ihre Hochachtung vor Ophelia verbot es eindeutig, sie quasi zu belauschen.
Sie verstärkte den inneren Wall und unterbrach die Jüngere mit einer milden Warnung im Unterton.
"Ophelia..."
Die Angesprochene blickte überrascht von dem arbeitenden Kaffeedämon auf, der das heiße Wasser in einem kleinen Becher aus seiner Behausung anschleppte. Sie wurde sich der Situation bewusst und sofort verebbte die unsichtbare Komponente des Gesprächs zwischen ihnen, als wenn sie ein lästiges Hintergrundrauschen abgestellt und dazu lediglich einen Knopf betätigt hätte.
"Tut mir leid, Mina. Ich habe mich vergessen. Aber ich werde mich wieder mehr darauf konzentrieren." Sie lächelte entschuldigend und wechselte das Thema. "Erzähle bitte! Wie war dein Einsatz? Lief alles wie erwartet?"
Mina entspannte sich wieder. Die Zusammenarbeit mit der ranghöheren Ermittlerin war so wunderbar unkompliziert und angenehm. Ophelia hatte wirklich reichlich Erfahrungen im Umgang mit ihrer Spezies. Natürlich hingen dort ganz sicher auch für sie die traumatischen Erinnerungen an den Ascher-Fall mit drin, doch das merkte man ihr nicht an. Und seitdem Ophelia durch eine solcherart rücksichtslose Schule gegangen war, hatte sie sich mühsam die Fähigkeit erarbeitet, Gedanken und Gefühle nach Außen hin abzugrenzen. Das gelang ihr nicht immer und auch nicht immer perfekt, doch mit wachsendem Erfolg. Was es Mina - wie jedem anderen Vampir auch - deutlich angenehmer machte, sich in der Gegenwart der Ermittlerin aufzuhalten. Ein Paradoxon, von dem zu erfahren Ophelia vermutlich nicht wirklich erfreut gewesen wäre.
Mina nahm dankbar die Tasse entgegen und lehnte sich an die gepolsterte Stuhllehne zurück.
"Nein, leider gab es einen Zwischenfall. Glücklicherweise erst ganz zum Schluss und auch abseits des Falles. Aber es ist wichtig, dass wir das in den Akten vermerken. Der Untote Briefkasten am Fährenweg ist aufgeflogen. Ich habe erfahren, dass einer der Joram-Brüder dort für die Bande Schmiere steht und sie nur darauf warten, einen Spitzel zu erwischen. Ich konnte das in Verkleidung nicht selbst in die Hand nehmen und mein nächster Einsatz ist ja schon gleich. Aber wir sollten ihn schnellstmöglich außer Betrieb nehmen und dazu kennzeichnen! Ist irgendwer in der Umgebung aktiv?"
Die Stellvertretende Abteilungsleiterin blickte kurz auf den großen Stadtplan hinter ihnen, an der ansonsten freien Längswand des Büros. Blaue und rote Fähnchen markierten verschiedene Orte, ohne dass Mina zuordnen konnte, welche Systematik dahinter verborgen lag. Um die Briefkästen konnte es sich eigentlich nicht handeln, was beruhigend war, da es einem Besucher ansonsten leicht möglich gewesen wäre, den gesamten Nachrichtenapparat nach nur einem Plausch auffliegen zu lassen. Ophelias Augen huschten über die eingezeichneten Straßen und Gebäude und sie schien angestrengt nachzudenken.
"Eventuell Zu-Arm-Für-Einen-Namen, von der D.O.G., wenn ich das in der Kantine beim Anstehen richtig interpretiert habe. Aber da bin ich mir nicht sicher. Ich könnte Breda vorsichtshalber eine Taube schicken. Und ansonsten natürlich eventuelle Informanten aus dem Viertel rund ums Perlendock."
Mina seufzte innerlich.
"Das bedeutet dann wohl, dass ich die Pause gleich hier und jetzt abbrechen sollte."
Ophelia blickte sie direkt an und wandte besänftigend ein:
"Mache Dir keine Gedanken deswegen. Ich werde, wenn Du dich für den nächsten Einsatz umziehen gehst, einen kleinen Rundgang bei den bekannten Kästen machen und sie abkontrollieren. Dann nehme ich diesen Kasten dazu, schaue dabei gleich nach, ob noch etwas Neues hinterlegt wurde und bringe im Zuge dessen die Warnmarkierung an."
"Gut. Das beruhigt mich sehr."
Ophelia lächelte ihr über den Rand der Tasse hinweg zu. Ein vager Hauch von sorgenvoller Erschöpfung durchdrang Ophelias Kokon und streifte Mina.
Sie fühlte einen Stich schlechten Gewissens. Neuerdings nahm sie es als so selbstverständlich an, dass die Kollegin ihr viele der unliebsamen oder zeitaufwändigen Aufgaben abnahm, nur weil diese seit der Ascher-Sache nicht mehr im Außeneinsatz gewesen war. Das taten alle.
"Bist Du dir sicher, dass Du dich darum kümmern willst, Ophelia? Es wäre auch in Ordnung, wenn ich selber..."
Ophelia schüttelte energisch den Kopf und unterbrach sie damit.
"Nicht, Mina! Du brauchst einen Moment, um Dich wieder zu sammeln. Nichts ist gefährlicher, als ein Mangel an Konzentration im Einsatz. Der Ellermann-Fall ist brisant und ich möchte nicht, dass dabei irgendetwas schief geht und Du in Gefahr gerätst. So ein Spaziergang an der frischen Luft kann mir nur gut tun, dann komme ich auch mal wieder etwas raus. Meinst Du nicht?"
Mina nickte erleichtert.
"Gut, dann sind wir uns einig. Trink Du nur in Ruhe deinen Tee aus, während ich schon mal deine alte Verkleidung in den Fundus runter bringe und dort eintrage! Wenn ich eh' schon auf dem Weg bin, kann ich den restlichen Tee auch noch für Rogi mitnehmen. Ich schulde ihr noch ein warmes Getränk."
Ophelia füllte bereits etwas von dem heißen Tee aus der Kanne neben der Tür in eine schlanke, metallene Thermoskanne, stöpselte diese zu, hängte sie sich mit dem Riemen über die Schulter und nahm den ganzen Schwung abzuliefernder Kleidung über den freien Arm. Mit dem Ellenbogen des festgeschnürten Arms drückte sie die Klinke ihrer Bürotür hinunter und mit der Fußspitze stieß sie diese auf.
Mina war nahe daran, aufzuspringen und ihr zu helfen aber dann unterließ sie es. Die Verdeckte Ermittlerin vermittelte den deutlichen Eindruck, dass sie mit den Einschränkungen ihrer Situation alleine zurechtzukommen gedachte. Und das tat sie ja auch!
Ophelia blickte noch einmal zurück.
"Ach, wenn ich schon dabei bin, gehe ich auch gleich im Anschluss zum Taubenschlag, wegen der Nachricht an Breda. Es wird also etwas länger dauern, dann bist Du bestimmt schon wieder unterwegs. Zögere nicht, Dir noch von den Keksen zu nehmen. Deinen Bericht kannst Du einfach auf den Schreibtisch legen, ich sehe ihn dann heute noch durch und ergänze die Akte, soweit es nötig ist. Und sei bitte vorsichtig, bei den Ellermanns, ja?"
Mina versprach es.
Die Tür schloss sich mit einem laut vernehmlichen Klicken und dann saß sie allein in Ophelias Büro. Das merkwürdig blasse Mittagslicht fiel durchs Fenster herein und warf den Schatten der Blumenvase auf den papiergefluteten Schreibtisch. Eingelullt von der angenehmen Nachwärme der Aktivitäten des Kaffeedämons, nippte sie an dem heißen Getränk und ließ die Entspannung durch ihren Körper rieseln.

Szene 13

Günther

"Ne, ne, ne, ne, ne! Auf keinen Fall Kanndra! Da kannst Du sagen, was Du willst. Sie ist so ziemlich die einzige Wächterin der ganzen Truppe, die dafür nicht in Frage kommt!"
Als Reaktion auf diese Aussage grinste der namenlose Kantinendämon dreckig und es war klar, dass er irgendwas Fieses antworten würde.
"Das sagst Du nur, weil Du in sie verknallt bist… Horatius!"
Günther ballte seine Dämonenfäuste und wünschte sich von ganzem Herzen, dass er mit ihnen, so wie die mächtigeren, weit entfernten Verwandten der Spezies, Feuerblitze oder Flammen schleudern könnte. Da er das aber nicht konnte, beschränkte er sich weiterhin auf eines der üblichen Verbalgefechte mit dem 'Kollegen'. Um zu verdeutlichen, wie ernst ihm sein Standpunkt war, was die Abteilungsleiterin der F.R.O.G. anbetraf, argumentierte er:
"Nein, das hat überhaupt nichts damit zu tun, Du Ankh-Schlamm produzierender Wurm! Kanndra hat einfach nicht die Püsche für so was! Kanndra ist ohne Fehl und Tadel, eine Frau von Würde. So etwas wäre unter ihrer... äh, Würde eben! Da würde ich ja sogar noch eher Lilli verdächtigen, der Außenagent zu sein, und bei Lilli würde ich es ja wohl mitbekommen, wenn es so wäre!"
Die Tür des Fundus knarrte laut.
Die beiden Dämonen hielten gleichzeitig inne und wurden, wie auf Kommando, mucksmäuschenstill. Hoffentlich war das niemand, der auf der Suche nach ihnen war. Lilli beispielsweise. Dann wäre die erschlichene Pause vorbei.
Von der anderen Seite des Raumes hörten sie das übliche Rascheln und Klappern von Kleidern, die auf Bügeln auf den Balken neben dem hohen Pult aufgehangen wurden. Dann raschelten Seiten und ein Stift kratzte über Papier.
Sein Diskussionspartner sah ihn verschwörerisch an und synchron nippten sie lautlos an ihren Bierbechern.
Hinter der Mauer aus abgehangenen Klamotten wurde das Verleihverzeichnis des Fundus zugeschlagen. Dann herrschte kurz Stille.
Günther zog fragend beide Brauen in die Höhe, doch der Kantinendämon zuckte nur die dürren Schultern.
'Was macht der Typ da? Kann er nicht wieder schleunigst verschwinden?'
Die Fundus-Tür knarrte und knatterte in den Angeln, so wie sich das für eine Tür gehörte, die in der Nähe eines Igor-Domizils gelegen war. Lilli hatte sie zwar schon oft geölt aber Günther ließ es sich nicht nehmen, im Gegenteil der Igorina zuzuarbeiten. Es wäre einfach zu schade gewesen, um diesen grandiosen Warnmechanismus!
Der Kaffeedämon atmete erleichtert aus.
"Wie ich diese Unterbrechungen hasse! Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, Du wolltest mir erklären, woher Du das wissen willst, dass deine Lilli Dich nicht deswegen immer öfter stehen lässt, weil sie es als Außenagent nicht gebrauchen kann, wenn Du ihre ganzen Petzereien mitbekommen würdest, schnuckeliger Herz-Schmerz-Horatius?"
Ihm war klar, dass der Kerl nur provozieren wollte aber es fiel trotzdem verdammt schwer, sich nicht völlig gehen zu lassen.
"Erstens habe ich nichts gegen diese 'Petzereien', wie Du sie nennst. Und zweitens: Du bist ja nur neidisch, dass ausgerechnet die unvergleichliche Kanndra mich trotz des verlogenen Etiketts am Kasten bei meinem richtigen Namen genannt hat, während von Dir selbst nicht ein einziger der Wächter, die dauernd was von Dir wollen, deinen kennt! Ha!"
Sein Gegenüber presste getroffen die Lippen aufeinander und warf ihm mörderische Blicke zu. Aber immerhin hielt er die Klappe.
"Und was Lilli angeht... die ist nie und nimmer der Agent! Vertrau mir! Das wüsste ich."
Der Kantinendämon trank missmutig einen Schluck Bier und fragte dann provokativ:
"Na gut. Dann sag Du mir doch, wer es ist. Immer nur bestreiten, das kann ich auch. Aber den richtigen Tipp abgeben ist schwerer. Also?"
Günther warf sich in die Brust und posierte stolz.
"Die Ziegenberger!"
Hinter den Kleiderstangen, nahe der Tür, raschelte es heftig und eine Maus quiekte leise. Die folgende Stille wirkte etwas dichter, als zuvor, doch das kannten die beiden Dämonen schon und ließen sich nicht davon beirren. Ein so altes Gemäuer, in dem ständig irgendwo Türen aufstanden und ein wahres Labyrinth von Postgängen die Wände durchzog, wurde selbstredend auch von den Nagern genutzt. Die Rohrpostdämonen konnten da schon froh sein, wenn es nicht die größeren Verwandten waren, die ihnen in den Tunneln begegneten. Rogis Feuerwand vor einigen Monaten war zwar nichts weiter als ein Erpressungsversuch gewesen, wenn auch ein erfolgreicher. Gegen den Kleintierbefall des Systems hatte das aber auf Dauer nicht genügt.
Die knittrige Dämonenfratze des Artgenossen grinste ihn ungläubig und verächtlich zugleich an.
"Der Vampirhappen? Nicht im Ernst. Woher hast Du denn den Verdacht? Die könnte doch keiner Fliege was zu Leide tun und dann soll sie ein Kollegenschwein sein?"
Günther begann heftig gestikulierend an seinen Fingern abzuzählen:
"Ja eben! Denk doch nur mal, wie logisch das wäre! Es gibt doch überhaupt keine bessere Tarnung, als total unschuldig zu wirken, als wenn man kein Wässerchen trüben könnte! Dann sind alle unvorsichtig und vertrauen ihr und lassen sich aushorchen. Außerdem hat sie Zeit. Sie ist ständig hier im Wachhaus und hat alles im Blick. Sie wandert zwischen den Büros und der Kantine, zwischen Rogis Zelle und dem Taubenschlag hin und her... sie ist zugleich überall und nirgends zu finden und garantiert immer da, wo Informationen ausgetauscht werden. Ich könnte drauf wetten, dass sie einer der ganz wenigen Wächter ist, die wirklich Bescheid wissen, was hier so abgeht. Wenn nicht sogar die einzige!"
Der Kaffeepanscher schien ins Grübeln zu kommen.
"Ja, wenn Du das so sagst, dann klingt es logisch." Er sah ihn misstrauisch an. "Trotzdem glaube ich nicht, dass das auf deinem Mist gewachsen ist. Da hast Du bestimmt irgendwen belauscht. Gib's zu! Wer hatte als erstes die Idee?"
Günther wand sich leicht verlegen, gab dann aber nach. Vielleicht vergaß sein Gegenüber dadurch, dass er ihn eben doch etwas zu grob angefahren hatte?
"Hm, ich wäre da schon auch drauf gekommen. Aber bitte! Ich hab' gehört, wie der große Glatzkopf von S.E.A.L.S. das seinem Gnumien-Kumpel gegenüber behauptet hat."
Der Dämon horchte auf.
"Ettark? Der Schläger in schwarzer Kluft? Ha! Da würde ich nicht allzu viel drauf geben."
"Hm? Wieso denn nicht?"
Er grinste selbstzufrieden wie ehedem.
"Der Kerl hat eine IA-Anzeige hinter sich und wurde sogar verurteilt. Nur, falls Du nicht auf dem Laufenden sein solltest. Und nun rate mal, wer ihn angezeigt hatte! Na, kommt dein winziges Gehirn von selbst drauf?"
Günther stöhnte entnervt, als es ihm wieder einfiel.
"Ja, ja. Man kann ja wohl mal was vergessen. Und falsch muss der Verdacht deswegen noch lange nicht sein. Immerhin passt das dann wieder dazu, dass sie keine Hemmungen hat, jemanden zu verpetzen."
Der Kantinen-Kollege grinste weiter süffisant vor sich hin, als er beinahe schon versöhnlich nachhakte:
"Und? Was hat der Kobold-Dschinn darauf geantwortet? Geht er auch davon aus, dass es die Ziegenberger ist?"
Günther runzelte die Stirn, als er sich zu erinnern versuchte.
"Also zumindest hat er es nicht sofort abgestritten. Ich glaube, er hat da ernsthaft drüber nachgedacht."
Die Fundus-Tür knatterte laut und nachhaltig, als sie sich erst öffnete und dann nachdrücklich wieder ins Schloss fiel.
Die beiden Dämonen tranken in einhelligem Schweigen ihre Becher leer und warteten darauf, dass der neuerliche Besucher mit seinem Kram fertig würde. Im vorderen Bereich des Raumes war es jedoch verdächtig still. Sie warteten noch eine Weile, ohne sich zu rühren. Sie wurden unruhig und warfen sich nervöse Blicke zu. Bis Günther mit einem unguten Gefühl flüsterte:
"Ist da jetzt etwa jemand raus gegangen?"

Szene 14

Ophelia Ziegenberger

'Ich? Sie verdächtigen mich, der Außenagent zu sein und für IA zu spionieren?'
Die Zellen im hinteren Trakt waren momentan nicht belegt, das wusste sie mit ziemlicher Sicherheit. Und ein anderer Ort fiel ihr auf die Schnelle nicht ein, an dem sie nur für sich sein konnte. Weswegen sie, ohne groß nachzudenken, dorthin lief, eine der holzverstärkten Türen aufzog und sich aufgewühlt auf die leere Pritsche setzte.
'Aber... ich habe doch nie auch nur den leisesten Anhaltspunkt zu solchen Verdächtigungen gegeben! Wie können sie nur...'
Ophelia schwirrte der Kopf. Sie beugte sich vor, stützte den Ellenbogen auf ihr Knie, die Stirn auf die Hand.
'Das kann nicht wahr sein! Das ist absurd! Das können sie nicht ernsthaft glauben!'
Die Kälte strömte von draußen in das vergitterte Loch der Fensteröffnung hinein, an der Steinwand und an ihrem Rücken hinunter. Doch sie spürte die äußere Kälte kaum - innerlich begann sie zu frösteln.
'Rogi!'
Sie setzte sich erschrocken wieder auf und starrte durch das hohe Gitterfenster der Tür hindurch auf die Gangwand, als ihr eine fatale Ereigniskette gewahr wurde.
'Günther und dessen Dämonenfreund haben im Grunde nur das widergegeben, was sie andernorts aufgeschnappt haben. Es gibt demnach Wächter, die mich wegen dieser abstrusen Gerüchte misstrauisch beobachten. Sie beobachten mein Kommen und Gehen. Sie könnten dabei auf Rogis Geheimnis aufmerksam werden! Aber ich kann deswegen trotzdem nicht einfach damit aufhören, mich um sie zu sorgen und nach ihr zu sehen. Das geht nicht!'
Sie schlang ihren rechten Arm wie wärmend um die linke Schulter und wiegte sich leicht vor und zurück. Die Situation war so dermaßen verfahren, dass ihr keine Lösung einfallen wollte, egal wie sehr sie darüber nachdachte.
'Und das alles nur, weil ich einen Moment gezögert habe! Nur, weil ich die Tür unverrichteter Dinge zufallen ließ, um mich vor dem Besuch bei Rogi zu sammeln und tief durchzuatmen! Ich hätte mich sofort bemerkbar machen sollen, als das Gespräch der beiden wieder einsetzte. Statt dessen habe ich gedacht... ach, ich habe gar nicht gedacht. Ich war so verwirrt. Und als sie dann meinen Namen in die Diskussion brachten... Es ist schrecklich!'
Um ihren Mund legte sich ein ungewöhnlich verbitterter Zug.
'Natürlich spricht alles gegen mich. Ich habe mich immer darum bemüht, zu allen Kollegen gleich freundlich und hilfsbereit zu sein. Und, ja, ich habe mich genauso darum bemüht, mit jedem im Kontakt zu sein und dadurch an aktuelle Informationen aus allen Abteilungen zu kommen. Das funktioniert nur so! Wenn man nicht genug miteinander redet, in so einem großen Kollegium, dann gehen Informationen verloren! Wenn nicht jeder sein Bestes und sich Mühe gibt, dann kann das im Außeneinsatz den Tod bedeuten! Wo wäre ich schließlich heute, wenn nicht Andere miteinander geredet und zusammengearbeitet hätten? Wie sollte ich sonst meine Arbeit richtig machen?'
Ein bösartiger Gedanke schlich sich in ihre Überlegungen ein.
'Ich könnte ja auch einfach mal nichts machen. Mich in meinem Büro verstecken und mit niemandem mehr reden. Alle Informationen für mich behalten. Dann könnten sie ganz schnell sehen, was sie von ihren Verleumdungen hätten.'
Doch solch eine unprofessionelle Attitüde kam nicht in Frage. Sie schüttelte traurig den Kopf.
'Wie gehe ich jetzt mit diesem Wissen um?'
Eine Schlussfolgerung der vergangenen Nacht tauchte wieder in ihrem Sinn auf, nur dass sie deren Richtigkeit dieses Mal für sich selber erkannte: Solange sie ihrer Tagesroutine nachgehen und nichts an ihrem Verhalten ändern würde, solange würde sich auch für die Beobachter nichts geändert haben.
Sie neigte entschlossen den Kopf und erhob sich wieder von der Pritsche.
'Gut. Dann wäre das beschlossene Sache. Ich werde diese heimlichen Unterstellungen ignorieren. Ich muss sie weitestgehend ausblenden und mich auf meine Arbeit konzentrieren.'
Der Grund, weswegen sie in den Keller gekommen war, außer dem Abstecher zum Fundus, dämmerte ihr wieder und sie seufzte leise.
'Es hat keinen Sinn, das länger hinauszuzögern.'
Ophelia verließ die Zelle und wandte sich dem Büro der Igorina zu.
Deren Tür stand offen, so dass Ophelia lediglich sachte am Türrahmen anzuklopfen brauchte.
Rogi hatte offenbar an den Akten weiter gearbeitet, die sich immer noch auf ihrem Schreibtisch türmten. Sie drehte sich ruckartig um und noch in der Bewegung verfinsterte sich ihr Gesicht.
"Waf willft Du?"
Die Zurückweisung in der Stimme ihres Vorbildes tat weh. Aber, so redete sie sich selber gut zu, Rogi stand unter großer Anspannung. Da war es nicht verwunderlich, wenn sie unfreundlich war.
'Habe Geduld mit ihr! Sie wird vermutlich nicht anders können, als den Druck Dir gegenüber herauszulassen. Besser so, als wenn sie einen der Rekruten zusammenstauchen würde. Du weißt immerhin Bescheid und Du bist erwachsen. Da kannst Du dich auch etwas zurücknehmen. Wie würde Großtante Pätrischa sagen? Eine wahre Dame von Stande lässt sich niemals dazu hinreißen, sich zu vergessen! Manieren hat man - oder man hat sie nicht. Und Du, meine liebe Ophelia, hast sie gefälligst zu haben!'
Glücklicherweise hatte sie sich die Ausrede für ihr Auftauchen bereits vorher zurechtgelegt. Selbst, wenn all ihr antrainierter Instinkt sie davon zu überzeugen versuchte, dass sie sich unanständig verhielt, indem sie sich in anderer Leute Privatleben einmischte. Es wäre gefährlicher Unfug sich dafür zu entschuldigen, Rogi helfen zu wollen. Gefährlich, weil es Rogi einen argumentativen Hebelpunkt gegeben hätte. Und Unfug, weil sie - außer diesem Roger - die einzige war, die half! In Anbetracht der Schwere dieser Notsituation, durfte sie nicht vor der Verantwortung scheuen. Sie ging zum Schreibtisch hinüber und schluckte alle Entgegnungen, die ihr auf der Zunge lagen, hinunter. Sie befreite sich umständlich von dem Riemen der Thermoskanne, die sie bisher über die Schulter geschlungen getragen hatte.
"Ich habe etwas Tee mitgebracht. Ich dachte mir, dass er Dir sicherlich gut tun könnte. Er ist frisch aufgebrüht und noch warm."
"Ich brauche keinen..."
"Ja, auch das dachte ich mir. Trotzdem! Es schadet nicht, wenn ich ihn Dir hierlasse." Das für sie völlig atypische Verhalten, jemandem ins Wort zu fallen, brachte Rogi für eine Sekunde aus dem Konzept. Genug Zeit, um den zweiten Vorwand vorzubringen und sie von dem Tee abzulenken. "Und ich wollte die Mieder-Akte abholen, wenn Du sie fertig gesichtet haben solltest. Araghast wollte sie vermutlich zu heute Abend wiederhaben, wenn ich ohnehin meinen wöchentlichen Termin bei ihm habe."
Das Minenspiel der Igorina war so deutlich ablesbar, als wenn dort Buchstabenkolonnen in Schriftbändern vorbeigezogen würden. Bei der Erwähnung der Akte huschte deren Blick zu dem Stapel rechterhand. Rogis Gereiztheit schien zuzunehmen, während sich so etwas wie Resignation einstellte. Als jedoch Breguyars Name fiel, zuckte Rogis Blick wie gehetzt zu ihr zurück. Rogi wusste um das regelmäßige Training beim Kommandeur! Dieses Wissen hielt sie aber augenscheinlich nicht davon ab, sofort vom Schlimmsten auszugehen - und ihr im Grunde ganz genau das Gleiche zu unterstellen, wie all die Kollegen, die heimlich boshafte Gerüchte verbreiteten. Sie konnte es Rogi quasi an den Augen ansehen, welche sie nun wie ein zu obduzierendes Insekt betrachteten.
"Du gehft heute wieder fu ihm?"
Die eigentliche Frage lautete anders, wie Ophelia sehr genau wusste. Sie hatte wirklich Mühe, das verständnisvolle Auftreten beizubehalten, als sie kurzangebunden antwortete.
"Wäre es Dir lieber, ich täte es nicht? Es ist nur eine weitere Trainingseinheit, Rogi. Ich habe Dir versprochen, nichts zu sagen. Vertraue mir!" Im Stillen fügte sie flehentlich an 'Bitte! Nicht auch noch Du!'. Doch das sagte sie nicht laut. Stattdessen beschwichtigte sie Rogi mit den Worten: "Es würde ihm auch viel mehr auffallen, wenn ich fort bliebe, denkst Du nicht?"
Die Igorina wirkte etwas verunsichert, nickte dann aber wortlos.
Sie sahen einander an, dann griff Rogi zu dem Aktenstapel, zog mit einem Griff die angefragte Akte daraus hervor und reichte sie ihr.
Ophelia nahm die Akte entgegen, machte auf dem Absatz kehrt und flüchtete in verhaltenem, damenhaftem Tempo aus dem verstaubten Büro. Den schlichten Papphefter drückte sie dabei so fest an ihre Brust, als wenn er eine Rettungsboje und sie auf hoher See in Not wäre.

Szene 15

Rabbe Schraubenndrehr

'Schnell noch zur Ziegenberger, den Wisch abgeben und dann in die Kantine.'
Die Wachablösung am Klacker war gerade in dem Moment aufgetaucht, als sie die letzte Nachricht ihrer Schicht rein bekam. Der Wechsel lief routiniert und unkompliziert ab, indem Rabbe darüber informierte, dass nichts Besonderes gewesen war und die neue R.U.M.-Kollegin sich erst einmal das Protokollbuch schnappte, um die letzten Einträge zu sichten. Das merkwürdige Zwielicht dieses Nachmittags drang blendend und trübe zugleich durch die Fenster ins Turmzimmer, so dass die unzähligen Staubschichten hier oben auf den Möbeln und an den seitlichen Scheiben fast schon wie ein eigenständiger Farbanstrich wirkten.
Die junge Frau sammelte ihre wenigen Sachen im Klackerraum zusammen, darunter einen Stift und eine Tasse, bevor sie Remedios stumm zunickte, zur Tür ging und diese kurz darauf von außen schloss. Die sportliche Werwölfin mit dem markanten Profil war allerdings schon so sehr in das Sichten des Protokollbuches vertieft, dass sie den Gruß nicht einmal mehr erwiderte.
Dadurch, dass ihre Abteilung in den letzten Wochen einen so regen Zulauf verzeichnen konnte, war es zu dem skurrilen Paradoxon gekommen, dass ausgerechnet ihnen immer häufiger Leute fehlten, wenn eine kurzfristige Sache reinkam. Die Schichtpläne sorgten für "Gerechtigkeit", wie ein S.E.A.L.S.-Kollege ihr abends im Eimer schadenfroh erklärt hatte. Irgendwer musste schließlich den Klacker bewachen, warum dann nicht hauptsächlich G.R.U.N.D. und R.U.M.?
Rabbe lief den Gang hinab, vorbei an dem Korrekturbüro dieser Teilzeitnäherin. Erst auf der Treppe und bereits eine Etage tiefer ging ihr auf, dass es vielleicht doch schneller gegangen wäre, die Klackernachricht ins hausinterne Rohrpostsystem zu werfen. Zumindest für sie selber. Wer konnte schon wissen, was der Stellvertretenden Abteilungsleiterin womöglich an neuen Aufgaben einfallen würde, wenn sie dort aufkreuzte?
Sie seufzte entnervt.
'Ach, egal. Wird schon schief gehen.'
Sie erreichte das Büro und klopfte kräftig an.
"Ja, bitte?"
Sie öffnete die Tür und salutierte halbherzig, als die Stellvertreterin sich ihr zuwandte.
'Na, ganz frisch sieht die Ziegenberger aber auch nicht mehr aus. Da war mein Vormittag am Klacker anscheinend ruhiger als ihrer.'
"Gefreite Schraubenndrehr, bitte, komm doch herein und nimm einen kurzen Moment Platz. Ich bin gleich soweit."
Die rothaarige Frau deutete mit der Hand, die noch eine Schreibfeder hielt, zum nahe stehenden Polsterstuhl.
"Mam, ich wollte nur kurz…"
Die Wächterin am Schreibtisch seufzte vernehmlich und unterbrach sie in einem Tonfall, der gleichzeitig überaus freundlich und etwas angestrengt wirkte.
"Bitte, Gefreite!"
Rabbe runzelte die Stirn und ließ sich genervt auf den Stuhl fallen.
'War klar gewesen. Ich hätte doch die Rohrpost nehmen sollen!'
Die Verdeckte Ermittlerin schrieb in einer aufgeschlagenen Akte offenbar einen kurzen Absatz zu Ende. Währenddessen konnte sie sich ja ein wenig von hier aus umschauen.
Der geschwungene Schreibtisch musste eine Spezialanfertigung sein. Er war passgenau in die Fensterseite des Raumes eingefügt worden und zog sich zudem noch rechterhand, bis zur Hälfte des Zimmers hinüber. Obwohl das Holz dunkel und stabil wirkte und die lange Platte an mehreren Stellen von einem Unterbau aus Schränkchen mit Schubladen gestützt wurde, hatte sie sich bereits etwas unter der Last der Aktenstapel gebogen, die hier täglich über die Fläche zu wandern schienen. Die aktuell vorhandenen Stapel waren streng geordnet und lagen exakt ausgerichtet aufeinander. Es war auf den ersten Blick zu erkennen, dass an diesem Schreibtisch jemand arbeitete, der Ordnung schätzte. Die wenigen Akten, die auf den freien Flächen dazwischen aufgeschlagen lagen und sich teils gegenseitig überdeckten, schienen einem System zu folgen. Suchte die Ermittlerin etwa nach Zusammenhängen zwischen verschiedenen Fällen? Aber bei so vielen?
Rabbe zog beide Brauen in die Höhe, entschied dann aber, dass sie froh sein konnte, nichts damit zu tun zu haben. Das sah einfach viel zu sehr nach stinklangweiligem Papierkram aus.
Die Feder wurde mit einem abschließenden Schwung über das raue Papier gezogen und dann in ihren Halter gestellt. Die schlanke Wächterin legte ein Löschpapier über das beschriebene Aktenblatt, beugte sich leicht vor, um das Tintenfass zuzuklappen und drehte sich dann mit dem Sitz ihr zu. Die geballte Aufmerksamkeit der kleinen R.U.M.-lerin wirkte fast etwas beängstigend auf Rabbe.
"So, ich stehe zur Verfügung. Was kann ich für dich tun, Gefreite?"
Rabbe streckte ihr die Hand mit der notierten Klackernachricht entgegen, während sie mit der anderen Hand immer noch ihre leere Tasse festhielt.
"Ich komme grad von meiner Schicht am Klacker und als letzte Nachricht kam diese hier rein. Sie ist an Dich adressiert, Mam und da dachte ich mir, wenn ich eh' auf dem Weg runter bin, zur Kantine, könnte ich die Nachricht auch gleich selber abgeben. Man weiß ja anscheinend nie so genau, wie lange das mit dem Rohrpostsystem sonst dauern kann."
Die Stellvertretende nahm die Notiz dankend entgegen und las diese durch.
Rabbe wusste auch so, was darin stand. Immerhin hatte sie sie empfangen und notiert, auch wenn das gleichzeitige Lesen und Aufschreiben der Signale ihr furchtbar kompliziert vorkam und sie ohne das Notizblatt mit den Decodierungshilfen aufgeschmissen gewesen wäre. Die wenigen Schichten am Klacker, die sie stellvertretend für R.U.M. abdecken musste, bedeuteten einfach noch etwas Übung.

Liebste Ophelia!

Bitte mache Dir nicht zu viele Gedanken um den Aufwand, den deine Bitte augelöst haben mag. Es ist sowohl Baldornius, als auch mir eine Freude, Dir diesen kleinen Gefallen erweisen zu können. Welche Umstände uns dazu in die Lage versetzten, ist als nebensächlich zu betrachten.

Deinen Wünschen entsprechend konnten wir eine hübsche kleine Wohnung in Ankh auftun. Die monatlichen Aufwendungen für dieses Kleinod sind nicht zu verachten, halten sich aber - in Anbetracht der guten Lage - noch deutlich im statthaften Rahmen. Zu zweit sollten sie tragbar sein. Die Adresse lautet Fünf-Und-Sieben-Hof 1, zwischen dem Ofenweg und dem Schleichweg gelegen im Bezirk der Langen Mauer. Die Zimmer zeigen beide auf den malerischen Platz hinaus, auf dem ab und an Händler ihre Waren feil bieten - der Grund dafür, warum die Miete trotz allem tragbar ist, denn dadurch ist es dort manchmal etwas lebhafter. Sollte Dir dieses Arrangement nicht zusagen, so ließe sich mit etwas mehr Zeit auch noch etwas anderes finden. Da Du aber betontest, wie dringend die Angelegenheit sei...

Der Schlüssel ist im Erdgeschoss bei der überaus gutherzigen Frau Jahwohl hinterlegt. Bitte richte dieser meinen Dank für die unkomplizierten Absprachen aus.

Auch wäre ich erfreut, wenn Du meine guten Wünsche unbekannterweise an deine sicherlich liebreizende Mitbewohnerin ausrichten könntest. Es ist eine großzügige Geste von ihr, Dich so zu unterstützen und ich bin sicher, dass wir uns sehr gut verstehen werden, insofern sich die Gelegenheit eines Zusammentreffens bieten mag.

In freudiger Erwartung eines kleinen Einstandsbesuches in deinen neuen Räumlichkeiten verbleibe ich herzlichst, deine

Dschosefien


Rabbe konnte sich nicht verkneifen, die Stellvertretende beim Lesen der Nachricht zu beobachten und sich ihren Teil zu denken. Erst schien die Ziegenberger erleichtert, denn sie atmete entspannt durch und ihre Schultern lockerten sich etwas. Dann zogen sich aber ihre Augenbrauen minimal zusammen.
'Vielleicht hat sie Stress in ihrer alten Wohnung? Würde erklären, warum sie irgendwie ein bisschen fertig aussieht und eine neue Wohnung braucht. Ist mir jedenfalls bisher nicht aufgefallen, dass sie schonmal Augenringe gehabt hat. Sind zwar nur leichte Schatten, das kenne ich auch anders, aber im Gegensatz zu sonst! Naja, vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein? So lange kenne ich sie ja auch noch nicht. Hm, anscheinend zieht sie mit einer anderen Wächterin zusammen. Wäre irgendwie spannend zu wissen, mit wem. Andererseits geht' s mich nichts an. Wer will schon was Privates über den Vorgesetzten wissen? So nah ran muss ich dann auch nicht. Hmmm... ich frage mich, was es heute in der Kantine zu essen geben wird? Hackbraten war ja schon gestern...'
Die Vorgesetzte blickte von dem Schreiben auf und nickte ihr freundlich zu.
"Danke, für die schnelle Übermittlung."
Rabbe schreckte richtig ein wenig aus ihren wandernden Gedankengängen auf.
"Was? Oh, ja... kein Problem."
Ihr Gegenüber legte den Zettel ordentlich in eines der Schubfächer unterhalb der Tischplatte und schob dieses fest zu. Dann wandte sie sich ihr wieder zu.
'Oh-oh! Das sieht nach einem 'Gespräch' aus!'
"Gefreite Schraubenndrehr... ich bin ganz froh, dass sich die Gelegenheit zu einem Gespräch bietet. Du bist jetzt schon eine kleine Weile bei uns und ich frage mich, ob Du dich in der Abteilung wiederfinden kannst, ob es Dir bei uns gefällt oder ob Du dir vielleicht irgendeine Art von Hilfestellung wünschst. Kurzum: Wie geht es Dir bei uns?"
Rabbe lehnte sich schwer zurück und atmete tief durch.
'Puh, eine von diesen Fragen!'
Als wenn sie nicht schon genug um die Ohren gehabt hätte mit dem Schnüfflerzwerg und seinen Unterstellungen! Aber immerhin ging es ihr hier nicht schlecht, das konnte sie wohl gefahrlos zugeben.
"Mir gefällt es hier ganz gut, bei R.U.M., Mam. Und das geht schon alles klar. Ich brauche keine Hilfe oder so."
Die grauen Augen musterten sie mit einer sanften Intensität, dass Rabbe Angst bekam, die rothaarige Frau könne bis in ihr Innerstes sehen. Sie unterbrach schnell den Blickkontakt, indem sie auf die leere Tasse zwischen ihren Händen blickte. Dabei stellte sie fest, dass sie diese nervös umklammert hielt und sie immer wieder hin und her drehte. Sofort hörte sie damit auf.
"Ist natürlich alles noch neu und so. Aber ich komm schon klar. Sind ja auch alle sehr nett zu mir. Der Oberfeldwebel hat mir auch schon einiges erklärt und sonst kann ich ihn ja auch immer fragen..." Vorsichtshalber schob sie noch hastig ein "...Mam." hinterher. Erst dann wagte sie wieder kurz aufzublicken.
'Meine Güte! Sie macht nichts weiter, als Dich anzugucken, Rabbe. Und trotzdem hat sie eine solche Wirkung auf Dich! Du bist doch sonst nicht so... so zurückhaltend.'
Ihr Blick blieb an dem Ledergeschirr der Vorgesetzten hängen und an deren derart geschienten Arm.
Die Ziegenberger nickte verständnisvoll und bedachte sie, wie Rabbe es aus dem Augenwinkel heraus wahrnahm, mit einem weiteren Lächeln, bevor sie sagte:
"Wir freuen uns auf jeden Fall über die Unterstützung, die Du uns bietest. Und Du sollst wissen, dass ich Dir ebenso als Ansprechpartner zur Verfügung stehe, wie der Oberfeldwebel... falls dies gewünscht ist."
Rabbe hatte den deutlichen Eindruck, dass sich hinter diesen Worten sehr viel mehr verbarg, als auf den ersten Blick zu erkennen war. Allerdings war die Aufmerksamkeit der Vorgesetzten zum Ende hin eher in Richtung des Fensters abgeschweift, so dass Rabbe vermutete, dass es dabei nicht unbedingt um sie selber ging.
'Die ist mit ihrem eigenen Kram beschäftigt. Ich könnte drauf wetten, dass sie von den Gerüchten Wind bekommen hat. Wenn man die ernst nehmen würde, dann käme natürlich wirklich keiner mehr auf die Idee, ihr irgendwas zu erzählen. Aber da ist nie und nimmer was Wahres dran, sonst hätte von Grauhaar sie nicht als seine Stellvertreterin behalten. Der wird schon wissen, warum er jemanden wie sie für den Dschob behält, obwohl sie so zerbrechlich aussieht. Ist eigentlich 'ne Schweinerei, dass irgendwer nicht nur auf die Idee gekommen ist, sie hätte was mit der I.A. zu tun, sondern solchen Mist auch noch verbreitet! Da kann sie auch nichts gegen machen. Wenn so Gerüchte erst mal im Umlauf sind... Augen zu und durch. Aber immerhin. Für mich hat' s den Vorteil, so richtig nimmt sie mich gar nicht wahr. Gut! Dann brauch ich mir auch keinen Kopf machen wegen der Sachen, die sie fragt. Oder die sie fragen könnte! Selbst wenn sie stutzig werden würde - sie hat grad nicht den Nerv dafür, sich ernsthaft in meine Angelegenheiten einzumischen. Wenn ich mich zusammenreiße und nicke, bin ich hier schnell wieder draußen.'
"Danke, Mam. Aber wie gesagt... ich komm schon zurecht."
Die Stellvertretende sah sie einen Moment lang wieder so intensiv an, dass ihr fast das Herz in die Hose gerutscht wäre, weil alle ihre Überlegungen damit von Jetzt auf Gleich über den Haufen geworfen zu werden drohten. Dann nickte die Ziegenberger aber nur und entließ sie aus dem Gespräch.
"Das freut mich zu hören. Dann nehme ich an, dass ich Dich mit weiteren Fragen nur unnötig von deiner wohlverdienten Pause abhalten würde. Und das möchte ich natürlich nicht. Von daher..."
Rabbe sprang von dem weichen Polster auf, als wenn eine darin versteckte Sprungfeder sie gepiekt hätte und war direkt auf dem Weg zur Bürotür. Sie blickte sich nur kurz um, die Hand lapidar zum Salutieren in Richtung Kopf gedeutet.
"Danke, Mam!"
Erst, als sie die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte und auf dem Korridor stand, als die leisen Geräusche des Wachhauses um sie her zu hören waren und das intensive Teearoma sich mit den heraufziehenden Dünsten von Frau Piepenstengels gebratenen Fettteilchen vermischte, lockerte sich auch ihre Nackenmuskulatur wieder.
'Eigentlich ist sie nett. Sie gibt sich echt Mühe, fragt nach, wie es einem geht und so...'
Rabbe fuhr sich unschlüssig mit einer Hand durchs Haar und klopfte mit der anderen die leere Tasse rhythmisch gegen ihren Oberschenkel.
'Aber sie muss auch nicht alles wissen! Manche Sachen kann ich ja wohl für mich behalten. Und wenn ich es mir anders überlegen sollte, kann ich immer noch zu ihr hin gehen. Genau!'
Und mit diesem Entschluss zufrieden, steuerte die Gefreite zielgerichtet auf die Treppe nach unten zu und dem Speichel fördernden Geruch entgegen.

Szene 16

Araghast Breguyar

Der amtierende Kommandeur der Stadtwache wippte leicht auf den Zehenspitzen. Er sog die eisige Nachtluft tief in seine Lungen und verzog die Mundwinkel.
'Gute Brise! Ich würde mal sagen, die Ankh-Decke ist endgültig zugefroren.'
Sein Blick wanderte über den ausnehmend klaren Sternenhimmel und wie von selbst begann ein Teil seiner Aufmerksamkeit, die sichtbaren Konstellationen zu kartographieren. Der davon unbeeindruckte Teil seines Gehirns beschäftigte sich eher mit den aktuellen Entwicklungen in der Wache. Und mit der unterschwelligen Vorfreude auf das anstehende Treffen.
Die 'Sitzung'!, korrigierte er sich gedanklich.
'Oder noch offizieller, die 'Trainingseinheit'. Es geht um Selbstverteidigung und die dafür nützlichen Kniffe.'
Araghast Breguyar blickte auf die Schuhspitzen seiner guten Stiefel.
'Ach, wem mache ich etwas vor? Wir wissen beide, dass sie nicht nur Kampftechniken benötigt. Hierbei geht es um Selbstvertrauen. Um Überlebenswillen und darum, härter zu werden. Bloß gut, dass sie von sich aus das Gespräch mit mir gesucht hat. Hätte ich sie ansprechen und ihr die Sitzungen aufdrängen müssen, wäre das alles zum Scheitern verurteilt gewesen. So hat sie wenigstens eine echte Chance.'
Er seufzte innbrünstig.
'Sie arbeitet mit, gibt sich Mühe, ist zuverlässig und immer aufmerksam. Und trotzdem... es bleibt das Bauchgefühl! Ich komme bei ihr nicht bis zum Kern des Problems durch! Als wenn ein Fisch immer wieder zwischen den Händen davonglibscht! Im einen Moment merke ich, wie ihre Erinnerungen die Bewegungen im Kampf zu blockieren beginnen. Wie da etwas hochzukochen beginnt und wie sie sich verhaspelt und stockt. Und dann hat sie sich übergangslos wieder voll unter Kontrolle und lässt nichts davon heraus. Und auch nichts anderes mehr an sich ran! Was soll ich machen? Ihr mehr Zeit lassen? Oder soll ich sie stärker fordern, härter mit ihr umspringen? Den Finger auf die Wunde legen?'
Ein Rekrut kam aus den Ställen und lief völlig arglos, in Gedanken versunken, an ihm vorüber, ohne den ranghöchsten Vorgesetzten in den Schatten an der Wand zu bemerken. Der Kerl war riesig und außergewöhnlich stämmig.
'Rekrut Wildgrube, genau. Quasi frisch vom Bauernhof importiert.'
Der warm ausgeleuchtete Zugang zur Küche schien den frischen Wächter mit seinen kulinarischen, oder zumindest annähernd kulinarischen Düften, zu sehr zu locken, um noch irgendwas anderes um sich her wahrzunehmen.
'Irgendwie muss er sein beachtliches Kampfgewicht wohl halten,' dachte Breguyar sarkastisch.
Er versank etwas mehr in der umgebenden Dunkelheit und zog sein Halstuch enger. Er runzelte missbilligend die Stirn.
'All die vielen Neuen und kaum einer von ihnen bringt auch nur das nötigste Rüstzeug dafür mit, in den Schatten zu überleben. Wie soll man diese Kindsköpfe guten Gewissens auf Streife schicken? In der Nacht können tausend Gefahren lauern, Beobachter überall! Hinter den dunklen Fenstern, auf den Dächern, in den Nischen zwischen den abgestellten Karren dort drüben, vor den Aborten... überall! Nicht nur hier, in meinem Eck.'
Er schüttelte den Gedanken von sich ab, wie lästigen Regen. Man konnte von ihm ja wohl kaum erwarten, jeden x-beliebigen Idioten am Leben zu erhalten! Jeder wusste, dass die Wache ein Selbstmordkommando war!
'Bei Ophelia Ziegenberger ist das etwas anderes,' dachte er. 'Sie ist es wert, sich speziell für sie einzusetzen und Zeit in sie zu investieren. Sie hat Biss! Sie will nicht nur über-leben. Sie setzt den Maßstab neu.'
Ein ironisches Grinsen umspielte seine herben Gesichtszüge.
'Nicht nur für sich selber. Irgendwie auch für alle anderen Personen in ihrer Umgebung. Es ist schon merkwürdig, dass sie einem Teil meines Lebens ihre so typische Regelmäßigkeit aufgestempelt hat. Wir treffen uns nun schon seit Wochen jeden Dienstag nach Feierabend, so zuverlässig wie der Alte Tom, bei Wind und Regen. Was Leonata wohl dazu sagen würde, dass ihr Ehegatte auf Arbeit so etwas wie Berechenbarkeit entwickelt?'
Der Zug um seinen Mund wurde wieder grimmig.
'Wenigstens das Training hat gute Fortschritte gemacht. Sie kann den Dolch führen. Und sie hat sich darin verbessert, ihn auch mit stärkerem Körpereinsatz abzuwehren. Dass sie nur eine Hand nutzen kann, tut dabei kaum noch etwas zur Sache.'
Einige Übungsszenen spulten sich in seinem Kopf ab und er war zufrieden mit den bisherigen Resultaten. Er begann, sich die Übungen zu überlegen, die für heute anstanden. Dabei lehnte Araghast sich an die metallene Rutschstange der F.R.O.G., die hier dicht an der Rückwand des Gebäudes herunterlief. Die Kälte kroch ihm jedoch sofort durch die Kleiderschichten, so dass er es sich schnell anders überlegte und, mit den Händen tief in den Taschen, stetig auf und ab zu wippen begann.
Es wird mir gleich warm genug werden.
Der Dolch in seinem Stiefelschacht lockte mit einem Versprechen.
'Es tut gut, sich regelmäßig mit jemandem im Kampf zu messen, selbst wenn es nur ein fortgeschrittener Anfänger ist. Manchmal überrascht Ophelia mich sogar. Normalerweise ist sie viel zu leicht zu durchschauen aber ab und an ist sie unberechenbar. Wäre interessant herauszufinden, was dann in ihr vor sich geht.'
In den Ställen gegenüber schlug eines der Pferde unwillig mit den Hufen gegen das morsche Holz der Boxen, was ihn aus den wohligen Gedanken riss.
'Verdammt! Haben die Rekruten den Viechern zu viel Hafer ins Futter getan? Das gibt doch nur wieder Reparaturen und Rechnungen! Ich sollte vielleicht mal rüber gehen und...'
Die Hoftür linkerhand, direkt neben dem Turm mit der TK-Anlage, öffnete sich und in das Licht der Öllampen trat eine schlanke Wächterin im Umhang. Sie suchte den Innenhof kurz mit ihrem Blick ab, bevor sie zielstrebig auf ihn zukam.
"Sör! Ich hoffe, ich habe Dich nicht zu lange warten lassen?"
"Keineswegs, Chief-Korporal. Hast Du deinen Übungsdolch schon umgeschnallt?"
Zur Antwort hob sie den Umhang beiseite und präsentierte ihm das schmale Messerhalfter an der Hüfte.
"Ja, Sör."
"Gut, dann können wir ja gleich beginnen."
In einträchtigem Schweigen legten sie ihre wärmende Oberbekleidung ab und begannen mit den leichten Dehnübungen für Arme und Beine. Ihrer beider Atem stieg in kleinen Wölkchen zum Sternenhimmel empor. Als er sich sicher war, dass ihre Muskeln etwas angewärmt sein mussten, schüttelte er seine Arme ein letztes Mal aus und räusperte sich, um mit dem Privatunterricht zu beginnen.
"Lass uns die Übung von letzter Woche wiederholen, die wir neu dazugenommen hatten. Weißt Du noch den Bewegungsablauf?"
Sie nickte konzentriert.
"Entwaffnen des Gegners, wenn dieser frontal angreift und kein Ausweichen mehr möglich ist: Mit der Rückhand den Schlag der Angriffshand am Gelenk parieren, die eigene Dolchklinge über das Gelenk des Angreifers überhaken, das hintere Bein vorziehen und vor dem Standbein des Gegners platzieren, so dass man sich automatisch gegen ihn einwendet. Dann die Hebelkraft nutzen, indem man sich selbst mit dem Oberkörper über den gestreckten Dolcharm des Gegners stützt."
'Exzellent! Wenn das bei den Rekruten nur halb so gut klappen würde mit dem Erinnern, dann könnte man aus jeder Anfängertruppe innerhalb weniger Tage ein Sondereinsatzkommando für F.R.O.G. schnitzen.'
Äußerlich ließ er sich von seiner heimlichen Freude nicht viel mehr als ein knappes, zustimmendes Brummen anmerken.
"Dann lass mal sehen, ob die Praxis ebenso gut sitzt!"
Sie stellten sich in Angriffsposition auf und zückten die Waffen.
'Ihre Haltung ist nicht so tadellos wie sonst.'
"Lockerer in den Knien!"
Die vielen Röcke ihrer Dienstuniform fielen fast unmerklich in den geforderten Faltenwurf und die richtige Kontur. Ihr Blick war unbeweglich auf ihn gerichtet, die Armhaltung abwartend geöffnet. Die Dolchklinge glimmte reglos im Licht der entfernten Lampen.
Er griff sie an.
In dem Moment, in dem seine Klinge sich ihr näherte, weiteten sich ihre Pupillen leicht. Sie trat ihm den üblichen, halben Schritt entgegen, dann knallten ihrer beider Handgelenke schmerzhaft aufeinander und er konnte in letzter Sekunde in die falsche, nämlich in die Bewegungsrichtung wegtauchen, bevor ihre Klinge seinen Unterarm aufgeschlitzt hätte.
"Verd... was war das denn?"
"Es tut mir so leid, das ist meine Schuld! Es tut mir leid, ich..."
Er richtete sich wieder auf und winkte ab.
"Nein! Nicht! Das kann passieren. Wo lag das Problem? Grenze den Fehler ein, dann von vorne!"
Sie steckte den Dolch in die Scheide zurück, wobei ihm nicht das leichte Zittern ihrer Hand entging.
'Irgendwas stimmt hier nicht!'
Seine Sinne waren geschärft. Dieser Art gewarnt, nahm er viele verschiedene Signale wahr, die ihm seinen unbestimmten Verdacht bestätigten. Mimik, Gestik... Aura? Was auch immer ihm etwas mitteilen wollte, alles zusammen buchstabierte geradezu den Umstand, dass die gegenwärtige Verfassung Ophelia Ziegenbergers in wichtigen Aspekten von ihrem standardmäßigen Zustand der letzten Wochen abwich. Worin genau, das wollte sich ihm noch nicht erschließen. Aber das war nur eine Frage der Zeit.
Ihrer Stimme hingegen war einen Wimpernschlag später schon nichts mehr von der kurzen Unsicherheit anzuhören.
"Ich habe nicht in der richtigen Reihenfolge gehandelt, Sör. Ich hätte zuerst auf meine Handhaltung und dann erst auf die Beinstellung achten müssen."
"Richtig. Warum?"
Ihr Blick erwiderte standhaft den seinen, ihrer Stimme fehlte es an jeglicher Emotionalität.
Da war es wieder! Nichtsnutzige Götter des Pandemoniums, wie er diesen Moment hasste, wenn sie alle Schranken hochfuhr. Und das auch noch gleich zu Beginn der heutigen Übungsstunde!
Innerlich knirschte er mit den Zähnen, während er scheinbar geduldig ihrer Antwort lauschte.
"In einem echten Kampf hätte es mir nichts genutzt, dem Gegner vorbereitend entgegenzutreten, ohne seinen Angriff als erstes abzuwehren. Ich wäre nicht schnell genug gewesen, dem Stoß zu entgehen und somit kampfunfähig gewesen, bevor ich meine Aktion hätte durchführen können."
"Auch das ist richtig."
Irgendwas ritt ihn, dem Ärger ob ihrer inneren Blockade Luft zuzugestehen. Hatte er sich vorhin noch gefragt, ob er ihr mehr Zeit eingestehen sollte, um sich der püschologischen Seite ihrer beider Treffen zu öffnen? Und war es richtig, diese Entscheidung jetzt sofort, aus dem Impuls heraus zu treffen?
'Vergiss es, altes Haus! Vertraue deinen Bauchentscheidungen! Der nette Bregs muss jetzt mal in die stille Ecke. Wir haben lange genug gewartet, wir gehen das eigentliche Problem ab sofort etwas direkter an. So, meine Liebe, dann komm gefälligst aus deinem Schneckenhaus heraus!'
Er steckte den Dolch zurück in den Stiefelschaft und kreuzte die Arme vor der Brust.
"Was ist los?"
Ihre Maske der Gelassenheit bekam einen deutlichen Riss, als sich ihre Pupillen vor Schreck dermaßen weiteten, dass ihr Blick im Halbdunkel bodenlos wirkte.
'Erwischt! Ich wusste es!'
"Sör?"
Sie kämpfte sichtlich darum, sich eine Ausrede einfallen zu lassen. Aber damit würde er sich nicht zufrieden geben. Und das musste sie wissen. Er hatte nicht umsonst den Ruf, dermaßen intuitiv in den verborgenen Ängsten seiner Opfer herumstochern zu können, dass es fast an Gedankenlesen grenzte.
Der Püschologe in ihm hielt einfach nur den bohrenden Blick unnachgiebig aufrecht.
Ophelia wandte ihren Blick ängstlich von ihm ab. Etwas, was sie bisher bei ihren Gesprächen tunlichst vermieden hatte. Gleichgültig wie persönlich oder provokativ seine Fragen gewesen waren, sie sah, wie er herausgefunden hatte, in einem gehaltenen Blickkontakt so etwas wie das Sinnbild für die aufrecht erhaltene persönliche Würde. Es gab Fragen, die sie geschickt umgangen hatte und sogar solche, die sie einfach nicht beantwortet hatte. Aber dass sie in einem entscheidenden Moment ihrer Konversation mit ihm, wenn sie sich beide seiner Rolle als Püschologe bewusst gewesen waren, seinem Blick ausgewichen wäre, das hatte es bisher nicht gegeben! Und jetzt sah sie tatsächlich zu Boden! Sie presste die Lippen aufeinander und in dem unsteten Licht der entfernten Lampen wirkte sie wesentlich blasser, als eben noch.
'Wird sie etwa umkippen?'
Er spürte einen ungewohnten Stich in der Brustgegend.
'Schlechtes Gewissen? Nur weil ich ihr püschologisch auf die Sprünge helfen will? Jetzt reicht es!' Über seine eigene Reaktion entrüstet, hakte er etwas unwirscher nach, als beabsichtigt.
"Ich warte! Und wage es nicht, mir irgendeine Ausrede aufzutischen! Ich würde es wissen."
Es konnte nur mit einem ihrer beiden großen Traumata zusammenhängen. Entweder das Verhör mit der Folter oder der Vampirangriff. Nichts anderes konnte so eine starke Abwehrreaktion auslösen. Zumindest hatte er bisher nichts anderes entdecken können, was da in Frage gekommen wäre.
'Vielleicht redet sie endlich von sich aus darüber? Das wäre ein echter Durchbruch!'
Araghast musste sich richtiggehend selber zurückhalten, um sie seine Aufregung nicht spüren zu lassen.
'Jetzt nicht den Fehler machen und sie über die Klippe treiben. Sachte, ganz langsam. Du hast schon ausreichend Druck aufgebaut und sie in die Enge getrieben, das siehst Du ja. Lass sie von sich aus den nächsten Schritt machen. Es bleibt ihr ohnehin kaum ein anderer Ausweg aber wenn sie jetzt von sich aus redet, dann kommen wir vorwärts!'
Ihr gesamter Körper stand unter extremer Spannung. Sie rang mit sich selber und sie wäre nicht die Erste gewesen, die den offenkundigen Fluchtreflex in seiner Gegenwart nicht länger im Zaum hätte halten können. Meistens stürmten solche Verlierer aus seinem Büro, indem sie sich mit einem Türenknallen verabschiedeten. Hier gab es nicht einmal diese metaphorische Hürde. Keine Wände, keine Türen, keine Zäune. Sie konnte einfach gehen. Doch er erwartete mehr von ihr!
'Nicht Du! Du wirst mich gefälligst nicht enttäuschen! Bleibe hier und steh' das aus! Sonst hätte ich mich in Dir getäuscht.'
Die stellvertretende Abteilungsleiterin drehte sich um, so dass sie ihm den Rücken zuwandte. Er konnte regelrecht die Muskelstränge sehen, wie sie sich über den Schultern und den Hals hinauf abzeichneten. Aber noch war sie nicht losgegangen, noch fühlte sie sich ihm verpflichtet.
'Komm schon, komm schon!'
Unsicherheit, ob seiner Entscheidung, begann an seinem Herzen zu nagen.
'Wenn sie sich jetzt doch für die Flucht entscheidet? Wenn ich es zu weit getrieben und sie zu früh gedrängt habe? Dann hätte ich alles verspielt!'
Er konnte sich nicht länger zurückhalten. In wesentlich freundlicherem Ton brummte er etwas leiser:
"Ist es so schlimm, mit mir zu reden?"
Ein winziger Teil seiner Gedanken schämte sich, damit manipulativ an ihre überaus strenge gesellschaftliche Erziehung zu appellieren. Aber alle anderen Bestandteile seiner Persönlichkeit traten diesem einen Teil im übertragenen Sinne in den Hintern und deklarierten mit großen Plakaten: Der Zweck heiligt die Mittel!
Ihre Schultern sanken minimal herab.
'Wer sagt es denn!'
Sie schüttelte zögerlich den Kopf und drehte sich langsam wieder zu ihm um.
Er war tatsächlich etwas erschrocken über den Gesamteindruck, den sie nun auf ihn machte. Sie wirkte mit einem Mal wie ausgebrannt. Etwas an ihr, das vorher da gewesen war, sie aufrecht gehalten und zum Leuchten gebracht hatte, schien verschwunden und stattdessen bemerkte er zum ersten Mal die Schatten unter ihren Augen. Sie wirkte kraftlos, bis zu einem Punkt, an dem er ihr am liebsten den Arm gereicht und sie zum nächsten Stuhl geführt hätte und er fragte sich unwillkürlich, wie sie eine so tief reichende Erschöpfung tagtäglich vor ihm und allen anderen verbergen konnte.
Ihr Blick flackerte unsicher.
"Natürlich ist es keine Strafe, mit Dir zu reden, Sör. Es ist im Gegenteil ein sehr großzügiges Angebot, wie mir sehr wohl bewusst ist. Und vielleicht habe ich den Fehler gemacht, es einmal zu oft abzulehnen..." Sie atmete tief durch. "Nun gut." Sie straffte ihre Schultern und lächelte ihn tapfer an. "Ich nehme an, dass es an der Zeit ist, über die Dinge zu sprechen, die mir im Keller des Karakost-Anwesens zustießen? Oder soll ich lieber mit den Ereignissen im Ascher-Fall beginnen, weil sie zeitlich näher liegen?"
Araghast Breguyar verschlug es die Sprache. Exakt solche Reaktionen waren die unvorhersehbaren Rosinen im Kuchen des Umgangs mit ihr! Da strampelte er sich wochenlang mit der Frage ab, ob er sie mehr schonen müsse, um ihr überhaupt das Eingeständnis zu entlocken, dass sie vielleicht, ganz eventuell nicht ausschließlich Kampftechniken benötigte. Und dann veränderte sie innerhalb von wenigen Sekunden die gesamten Voraussetzungen und kredenzte ihm ihr Seelenleben auf dem Silbertablett!
Er räusperte sich misstrauisch.
"Das bleibt Dir überlassen. Es kommt darauf an, was Dich in diesem Moment mehr beschäftigt."
Warum nur schien sein Schädel von unzähligen Wacheglocken zu bersten, die in rasender Karrenfahrt angeschlagen wurden? Irgendwas lief schief! Irgendetwas stimmte nicht und er kam verdammt noch mal nicht darauf! Was war es? Endlich ließ sie ihn an ihre Püsche heran und doch fühlte es sich so an, als wenn sie eine riesige schwarze Tür vor seiner Nase zugeschlagen hätte. Das konnte einen wahnsinnig machen, dieses Empfinden, vor einem Spiegel zu stehen, der einem nur das zeigte, was man zu sehen wünschte, während sich hinter seiner reflektierenden Fläche, hinter dem lichten Schein, Unheil wie ein schwarzer Mahlstrom zusammenballte.
Er starrte sie mit einer Mischung aus Misstrauen, Erleichterung, Faszination und Verzweiflung an, doch dieses Mal hielt sie dem Blick stand. Sie wirkte nur noch immer erschöpft. Und traurig.
Aber das war doch echt! Dieses Angebot war keine Täuschung. Sie würde über ihre schlimmsten Ängste und Traumata sprechen, ihm ihr Innerstes offenbaren und sich damit bloßstellen, ohne die emotionalen Schutzwände, die sie so lange standhaft zwischen sich und der Außenwelt aufrecht erhalten hatte. Es war das, was er erhofft aber nicht erwartet hatte. Nicht so schnell!
'Ich habe das Gefühl, sehenden Auges in eine Falle gelockt zu werden. Warum? Und wie?'
Doch so oder so wäre es ausgeschlossen gewesen, sie jetzt noch zu stoppen. Solch eine Chance bot sich nicht zweimal.
Mit einem Nicken deutete er ihr an, dass er ganz der aufmerksame Zuhörer sein würde.
Sie lächelte. Es war zwar immer noch jenes Lächeln, dass sie immer wieder nutzte, wenn sie unbewusst ihr Gegenüber beruhigen wollte, doch es wirkte im Gegensatz zu sonst nur noch klein und verloren auf ihn. Sie bückte sich zu ihrem abgelegten Umhang und legte ihn sich wieder sorgsam um die Schultern. Ihr Blick wanderte zu den blinkenden Sternen empor und sie begann mit leiser Stimme zu erzählen.
"Ich habe… nur wenig geschlafen in letzter Zeit. Das ist alles wie ein nicht enden wollender Alptraum, Sör."
Die Wahrheit hinter ihren Worten flammte mit einer Intensität hindurch, dass selbst der kleinste Zweifel in ihm verlosch.
'Sie wird es machen! Da ist kein Trug in ihr, wo auch immer das Gefühl herkommt, ich werde schon noch dahinter kommen.'
Sie stockte kurz und fuhr sich mit der gesunden Hand an die Kehle, als wenn die Erinnerungen sie dort gepackt hielten und körperlich würgten. Ihre Stimme brach beinahe, als sie flüsterte:
"Immer wenn ich denke, dass es mir alles zu viel wird, dann vermisse ich ihn so schrecklich."
Sie sah für einige Sekunden zu ihm, bevor sie den Blick schnell wieder gen Himmel wandte und Araghast kam nicht umhin, die Tränen zu bemerken, die ihre Augen zu füllen begannen, bis sie lautlos überliefen und hinab fielen.
"Ich weiß, dass das nicht echt sein kann. Und ich weiß, dass er nur darauf wartet, dass ich zu ihm zurückkomme und sein Eigentum werde. Es wäre keine Liebe. Und ich habe mir geschworen, Fräns Opfer nicht derart mit Füßen zu treten, dass ich meine Eigenständigkeit, mein Leben dafür fortwerfe. Aber… ich habe eben immerzu das Gefühl, dass es viel leichter wäre, aufzugeben. Er würde es wissen und auf mich warten. In dem Moment, in dem ich kapituliere, wird er am Eingang des Wachhauses stehen und… mich mit offenen Armen begrüßen. Er wird mich an sich ziehen, mich in seine Umarmung schließen und mich von da an... beschützen."
Ophelias tränenverschleierter Blick richtete sich Hilfe suchend auf ihn und er hatte Mühe, die mordlüsterne Aggression, die übermächtig in ihm aufwallte, vor ihr zu verbergen.
'Dieser arrogante Kadaver!'
Der ehemalige Pirat in ihm hätte Ascher mit Freuden aufgeknüpft und kielgeholt. Er hatte direkt im Anschluss an die Ereignisse sogar ernsthaft darüber nachgedacht, seine privaten Ersparnisse zu ihren Gunsten in einen Assassinen-Auftrag zu investieren. Allerdings hatte Ophelia damals schon deutlich gemacht, dass an dem Kerl zu viele Schicksale hingen, an denen ihr etwas lag. Araghast hatte ihre Gutmütigkeit verflucht, sich aber zugleich gesagt, dass es genau solche absurden Anwandlungen sein konnten, die ihr helfen würden, darüber hinweg zu kommen. Und dann hatte sie ja auch wieder ihre üblichen Routinen aufgenommen und einen moderaten Eindruck vermittelt. Und nun das!
Er stand unerwartet selber so sehr unter Anspannung, dass er in knappem Ton antwortete.
"Würde! Er 'würde' das garantiert liebend gerne machen. Aber er 'wird' nicht dazu kommen! Nicht, solange ich das verhindern kann!"
Sie sah ihn weiter mit diesem unbestimmbaren Ausdruck an und er fühlte regelrecht körperlich, wie sie etwas zu bedauern schien. Die Logik hätte nahe gelegt, dass sich ihr Bedauern auf seine Worte bezog, auf den Umstand, dass er sie zu ihrem eigenen Besten von Ascher fernzuhalten gedachte. Die Intuition hingegen überraschte ihn mit der Vermutung, dass Ophelia stattdessen viel mehr ihn bedauerte! Oder ihre Worte an ihn?
'Was zum...'
Hatte er etwas übersehen?

Szene 17

Rogi Feinstich

Durch die Scheiben ihres vergitterten Fensters war gedämpft der nicht allzu weit entfernte Ruf eines Wächters zu hören. In der Nähe des Wachhauses gaben sich fast alle noch Mühe, die Stunden laut und deutlich auf ihren Streifen durchzusagen.
"Zeeeeeehn Uuuuuuhr und alles ist guuuuuuut!"
Die Igorina hielt in ihrer Arbeit inne und blickte auf.
'Ophelia wird sich gleich mit Breguyar treffen!'
Ihre Hände begannen leicht zu zittern und sie legte das Skalpell neben die beinahe fertig ausgeschnittene Todesanzeige. Sie blickte reglos geradeaus und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
'Sie wird ihn treffen und sie werden miteinander reden. Er wird sie aushorchen. Ganz bestimmt. Das macht er so.'
Sie legte die Handflächen flach auf die Tischplatte und drückte zu, um das verdammte Zittern zu unterbinden. Ihre Gedanken schwappten zäh und träge durch das Gehirn und wenn sie tief durchatmete, um den Nebel darin zu lüften, wurde ihr davon schwindlig.
Sie riss erschrocken die Augen weiter auf, als ihr die Bedeutung dessen bewusst wurde.
'Nein! Nein, bitte nicht!'
Sie begann ängstlich damit, die Symptome zu beobachten und zu klassifizieren. Ihr Innerstes krampfte sich schmerzhaft zusammen und sie war sich nicht eindeutig sicher, ob das nun eine rein püschische oder doch eher eine weitere physische Reaktion ihres Körpers auf die entsetzliche Schlussfolgerung der Analyse war: Ihre Atemfrequenz wich deutlich von ihren Standardwerten ab. Sie atmete nicht häufig genug und die Atemzüge, die sie tat, schienen nicht mehr ausreichend Sauerstoff zu transportieren. Das erklärte zweifellos die zunehmende Trägheit ihrer Gedanken. Und das sporadisch auftretende Schwindelgefühl!
'Das kann nicht sein, das darf nicht sein. Ich kann nicht so viel weiter sein, als ich es befürchtet hatte! Ich habe doch Rogers Dosierungen eingehalten, ich habe mich so lange an seine Vorsichtsmaßnahmen gehalten! Größtenteils. Also... fast immer.'
Sie schlug die bebenden Hände vors Gesicht.
'Das kann so nicht weitergehen... Ich muss damit aufhören! Ich muss!'
Die inzwischen vertraute Frustration kochte einmal mehr in ihr hoch und wütend schloss sie die gehobenen Hände zu Fäusten und schlug diese auf ihren Arbeitstisch. Sie verfehlte nur knapp das dort liegende Skalpell.
'Genau, was Ophelia von mir verlangt. Als wenn sie das Recht dazu hätte! Sie ist nicht mein Meister!'
Doch dieser Gedanke führte zwangsläufig zum nächsten und schon in der folgenden Sekunde sackte Rogi verzweifelt in sich zusammen.
'Ihre Hoheit wird auftauchen. Wenn ihr das alles zu Ohren kommt, wird sie wieder in meiner Zelle auftauchen und ganz genau so wie beim letzten Mal vor mir stehen. Sie hätte sowieso längst hier sein müssen. Es ist so lange her, dass ich degradiert wurde! Vielleicht wartet Sie nur etwas länger, um mich zu zermürben? Nur warum?'
Ihre Augen begannen, die wenigen Ecken und Nischen des Raumes abzusuchen. Sie griff unbewusst nach dem Skalpell und hielt es krampfhaft zwischen den Händen.
'Sie kann sich überall verstecken - überall!'
Rogis Gedanken wechselten sprunghaft zu der anderen Gefahr zurück. Zu der Bedrohung, die ihr Ihre Hoheit überhaupt erst auf den Hals zu hetzen vermochte. So diese nicht längst unterwegs sein sollte.
'Ich kann mich nicht darauf verlassen, dass Ophelia nichts sagt! Was, wenn sie sich versehentlich verplappert? Oder wenn sie meint, dass sie ihr Versprechen doch brechen muss, weil sie denkt, mir damit etwas Gutes zu tun? Oder einfach nur um nach Vorschrift zu handeln? Es spricht so viel dagegen, dass sie es für sich behält! Und wenn Breguyar es erst einmal weiß, dann wird alles schrecklich werden. Ayami wird es erfahren! Er wird ihr einen Bericht schicken, woher sollte Sie sonst immer alles über mich wissen?'
Nein, die brisanten Teile ihrer Akte würden keinem von beiden in die Hände fallen, dafür hatte sie gesorgt. Ihr Blick glitt kurz zur eisgefüllten Truhe. Tief verborgen unter den Ersatzteilen lagen diese Blätter wortwörtlich auf Eis.
'Und wenn er das in meine Akte eintragen will?'
Rogi ließ das Skalpell auf den Tisch fallen. Sie stand schnell auf - und musste sich prompt an der Tischkante festhalten.
'Das darf doch nicht wahr sein! Was soll der Mist? Funktioniere gefälligst!'
Der Schwindel ließ nach.
'Ich muss verhindern, dass Ophelia ihm irgendwas verrät! Dann wird er gar nicht erst auf die Idee kommen, die Akte nach so langer Zeit wieder aufzuschlagen und sie sich genauer anzusehen. Und alles andere wird auch nicht passieren.'
Sie durchdachte so gut es ging ihre Möglichkeiten, griff nach ihrer Jacke und dem Schal und machte sich auf den Weg nach oben. Sie lief die Treppen zum Erdgeschoss des Wachhauses hinauf und dann weiter bis in den zweiten Stock. Dort bog sie ab und passierte schnell die Büros der hier untergebrachten R.U.M.-ler und F.R.O.G.s. Ebenso, wie das Büro des Kommandeurs, wobei ihr trotz des sicheren Wissens, dass dieser bereits im Innenhof auf Ophelia warten würde, ein Übelkeit erregender Schauder den Rücken hinab rieselte. Dann öffnete sie die Tür zu Valdimiers Büro und nutzte dieses als direkten Zugang zum Turm.
'Wie gut, dass ich seinen Schichtplan ohnehin im Blick habe. Im Erdgeschoss komme ich nicht ungesehen an Breguyar vorbei, im ersten müsste ich an ag LochMoloch von den S.E.A.L.S. vorbei und im dritten wäre mein Ziel zu leicht zu erraten, wenn man mich sehen würde.'
Sie schlüpfte auf der anderen Seite aus Valdimiers Büro hinaus und von dort aus direkt zum Taubenschlag hinauf. Ausnahmsweise hatte die Kommunikationsexpertin keinen Blick für ihre kleinen Schützlinge, obwohl sie von diesen mit einem mehrstimmigen Gurr-Choral begrüßt wurde. Sie eilte an ihnen vorbei und stand schließlich, umgeben von Dunkelheit, an der Dachkante, um in den drei Stockwerke tiefer gelegenen Innenhof der Wache hinab zu sehen.
'Ich muss nur aufpassen, dass ich weiter links bleibe. Dann gerate ich nicht versehentlich in den Blickwinkel der sauberen Fensterscheibe von der TK-Anlage gegenüber.'
Ihre Aufmerksamkeit richtete sich wieder nach unten und sie suchte mit angestrengtem Blick die Schatten zwischen dem Eingang zur Küche und den Stallungen ab.
'Ich weiß, dass Du dich da irgendwo versteckst, Sör.'
Rekrut Wildgrube überquerte den Hof und verschwand im Gebäude und in dem Moment entdeckte sie endlich die leichte Bewegung einer Hand neben der Notfallstange der F.R.O.G.s.
'So berechenbar, Sör...'
Der Kommandeur der Wache schien schon eine Weile zu warten. Solange er sich unbeobachtet fühlte, rückte er von den Wänden fort und wippte sich auf den Zehenspitzen warm. Gerade, als von den Ställen ungeduldige Hufschläge gegen die Boxen zu hören waren und er scheinbar verärgert die Hände aus den Taschen zog, um der Unruhe auf den Grund zu gehen, öffnete sich auf der anderen Seite des Hofes die Tür. Ophelia trat daraus hervor und lenkte ihn damit ab. Sie kam direkt auf ihn zu. Sie grüßten einander knapp und begannen sofort mit den üblichen Aufwärmübungen.
Es war nicht das erste Mal, dass sie ihnen dabei von hier oben aus zusah. Inzwischen wussten eine ganze Menge Wächter um diesen dienstäglichen Termin. Zu Beginn hatten sich, an den wärmeren Abenden, sogar noch vereinzelt Zuschauer am Fenster des F.R.O.G.-Bereitschaftsraumes eingefunden, um ihren Chef anzufeuern. Breguyar hatte dem entschieden einen Riegel vorgeschoben.
Für Rogi war es nur das erste Mal, dass sie es absichtlich darauf anlegte, die beiden heimlich zu beobachten und dabei unentdeckt zu bleiben.
Sie runzelte die Stirn.
'Ich könnte ihren Arm ganz bestimmt wieder reparieren, wenn sie mich nur ließe! Aber sie kommt ja bestens zurecht, alles toll. Muss auch noch einarmig mit Bregs kämpfen, wo die meisten schon mit zweien nicht gegen ihn ankommen! Wie soll ich sie da davon überzeugen, sich noch einmal von mir operieren zu lassen? Eine Schande! Der gute Arm!'
Im Hof drunten begannen die beiden Kontrahenten mit den richtigen Übungen. Ophelia kam zu früh mit ihrem Konter und sofort fragte der Kommandeur sie peinlich genau ab.
Rogi hörte nicht mehr so genau hin. Knappe Befehle und langatmige Vorträge zum Thema des Dolchkampfes hatte sie schon vor Jahren über sich ergehen lassen müssen. Breguyars Begeisterung, für seine kleinen Überraschungsübungen mit den F.R.O.G.s, war geradezu legendär in der Wache. Vielleicht ging es ihm mehr um das Kämpfen, als um Ophelias Püsche? Seine Methoden waren ihr allemal suspekt.
Sie entspannte sich etwas.
'Sie reden wirklich nicht viel. Also zumindest nicht über andere Themen, als...'
Breguyars Körperhaltung veränderte sich gefährlich, als er die Arme provokativ vor dem Oberkörper kreuzte und Ophelia mit seiner typischen Püschologenstimme zum Reden aufforderte. Sein letzter Satz hallte leise, dafür aber umso schärfer in der kalten Nachtluft nach.
"Was ist los?"
Rogis Körper richtete sich kerzengerade auf und sie vergaß jegliche Vorsichtsmaßnahmen, als sie sich gefährlich weit über die niedrige Brüstung lehnte, um ja alles zu sehen und zu hören, was dort drunten geschah.
'Ich wusste es! Hab ich was verpasst? Er wird sie durch die Mangel drehen, bis sie alles verrät!'
Rogi behielt Ophelia im Blick und lauschte konzentriert deren leiser Stimme.
"Sör?"
'Du versuchst Zeit zu schinden? Vergiss es! Er hat den Braten gerochen und wird jetzt nicht mehr loslassen. Ein Bluthund ist nichts gegen ihn! Wie habe ich nur denken können, das würde gutgehen? Er wird alles herausbekommen. Alles!'
Ihr Herz raste vor Aufregung und in ihren Schläfen pochte es.
Ophelia stand mit gesenktem Kopf inmitten der sich überschneidenden Schatten der Hofbeleuchtung. Ihre Mimik war von hier aus nicht lesbar und noch immer hatte sie sich nicht zu einer Antwort durchgerungen.
"Ich warte! Und wage es nicht, mir irgendeine Ausrede aufzutischen! Ich würde es wissen."
Breguyars akzentuierte Stimme trug weit, in der Windstille.
Rogi war hin und her gerissen. Die Situation war nahezu unerträglich für sie.
'Soll ich mich bemerkbar machen und ihn ablenken? Aber er wird sie nicht gehen lassen, bis er hat, was er will. Und wenn ich Ophelia etwas zuwerfe, was sie an ihr Versprechen erinnert? Aber ich hab nichts Passendes dabei!'
Ihre Gedanken überschlugen sich und heraus kam eine waghalsige Idee.
'Und wenn ich Bregs niederschlage?'
In ihrer Panik bemerkte sie nicht einmal, wie viele unbeantwortete Fragen solch ein Vorgehen hervorrufen würde. Sie konnte gerade soweit denken, dass Ophelia sich ihr bestimmt nicht in den Weg stellen, sondern sie decken würde. Da war schließlich noch das Versprechen und wenn Ophelia nicht imstande war, Rogis Geheimnisse für sich zu behalten, dann musste sie sich nicht wundern, wenn sie die Sache selbst in die Hand nahm! Und der lästige Püschologe würde sich ebenfalls an nichts mehr erinnern, schließlich würde sie ihn überraschen und von hinten angreifen und vielleicht hatte sie noch irgendwas Nettes in ihrer Sammlung, was seine Erinnerungen der letzten Stunden komplett löschen würde?
'Er denkt ja sogar offenbar immer noch, dass es keinen besseren Schutz gibt, als eine Wand im Rücken. Und dabei vergisst er die Notfallstange genau vor dieser Wand!'
Einen Sekundenbruchteil erinnerte sie sich daran, dass er gewissermaßen als ihr derzeitiger Meister gelten konnte.
'Nicht im absoluten Sinne. Es ist verwirrend.'
Dann aber zog ihr Gehirn zwei Namenskärtchen aus dem metaphorischen Karteikasten, die sie daran erinnerten, dass sie nicht die Erste in einem engen Geflecht naher verwandschaftlicher Beziehungen wäre, die sich spontan gegen einen unerfreulichen Arbeitgeber und dessen Interessen entschied. Auch das war Tradition - Familientradition.
Sie sah sich nervös um und schätzte ab, wie weit sie zu dem Fenster des Bereitschaftsraumes über Eck springen musste.
'Eine Etage tiefer und etwa drei Meter entfernt. Mehr oder weniger. Wenn ich von hier aus über die Brüstung klettere, ganz dicht an die Hausecke herangehe und dann...'
Eine Bewegung aus dem Augenwinkel lenkte sie ab und mit Entsetzen beobachtete Rogi, in Bewegungslosigkeit gefangen, wie Ophelia sich von dem Püschologen abwandte. Ihr Gesicht war dadurch zum hinteren Haupteingang ausgerichtet, wo die meisten Öllampen brannten. Ihr Profil war klar umrissen und hell ausgeleuchtet. Ihre Augen wirkten wie versteinert. Doch die Emotionen, die über ihre Mimik flammten, wechselten im Sekundentakt: Hilflosigkeit, Angst, Hoffnung, Verzweiflung... Entsetzen.
'Sie wird es ihm sagen! So ein Geheimnis, das erträgt sie nicht. Egal was ich machen will, ich muss mich beeilen.'
Sie kletterte über die Brüstung und balancierte die kurze Strecke zur linken Hauswand hinüber. Dabei verfolgte sie panisch das Geschehen im Hof.
Araghast sprach nun so leise, dass Rogi nicht mehr verstehen konnte, was er sagte. Doch die Wirkung auf Ophelia war so offensichtlich, dass sie vor Schreck abrutschte und hastig mit den Armen rudernd das Gleichgewicht wahrte.
Ophelia schloss die Augen. Ihre Wangenmuskeln mahlten regelrecht, bevor sie die Augen mit einem absolut resignierten Ausdruck wieder öffnete. Sie hatte sich entschieden. Eindeutig.
Etwas an Ophelias folgendem Verhalten irritierte sie zwar aber Rogi hatte genug damit zu tun, wieder sicheren Halt zu finden, um es mehr als flüchtig zu registrieren: Ophelia wandte dem Püschologen noch immer ihren Rücken zu, als sie erst ergeben lächelte und dann... Man konnte es nicht anders beschreiben. Ihre Haltung schmolz dahin, ihre Schultern sackten herab, das Lächeln zerrann von den Zügen, als wenn jemand Wasser über eine Tafel fließen ließe. Es war, als wenn sie eine Maske getragen, eine Rolle gespielt hätte und beides beiseite legte. Sie schüttelte den Kopf und drehte sich zu Breguyar um.
'Zu spät! Wenn ich jetzt erst Zeit damit vergeude, zum anderen Sims hinüber zu gelangen, dann komme ich nicht mehr rechtzeitig unten an, um das Schlimmste zu verhindern. Ich muss springen. Drei Stockwerke. Das wird zwar schmerzhaft aber es wäre nicht das erste Mal. Womit ist zu rechnen? Mindestens ein Beinbruch. Ich kann es trotzdem schaffen. Die Stange ist nahe genug und Bregs ist völlig auf Ophelia konzentriert, die ebenfalls nicht in meine Richtung guckt.'
Rogi holte tief Luft, spannte die Beinmuskeln an und biss die Zähne zusammen.
"Ich nehme an, dass es an der Zeit ist, über die Dinge zu sprechen, die mir im Keller des Karakost-Anwesens zustießen? Oder soll ich lieber mit den Ereignissen im Ascher-Fall beginnen, weil sie zeitlich näher liegen?"
Rogi stockte der Atem.
Ophelias Stimme schwebte sanft zu ihr hinauf. Leise und fügsam. Es folgte Stille.
Ihre Beinmuskeln begannen zu zittern und in fassungslosem Erstaunen lehnte die Igorina sich weit genug zurück, dass sie die kalten Ziegel des schrägen Daches bis zum Rücken hinauf spüren konnte.
'Hat sie wirklich...'
Breguyars Antwort klang ebenso aus der Fassung gebracht, wie sie sich fühlte.
"Das bleibt Dir überlassen. Es kommt darauf an, was Dich in diesem Moment mehr beschäftigt."
Ophelia blickte zu den Sternen empor und Rogi war erleichtert, dass beide weit genug zur Mitte des Innenhofes hin gewandt standen, um sie nicht sofort zu sehen. Und dass die Vorsprünge im Mauerwerk zusätzliche Schatten warfen und den Bereich der Dachkante vor einer zufälligen Entdeckung schützen würden.
"Ich habe… nur wenig geschlafen in letzter Zeit. Das ist alles wie ein nicht enden wollender Alptraum, Sör."
Rogi fühlte sich prompt etwas unwohl.
'Das ist meine Schuld. Du warst die ganze Nacht auf der Suche nach mir...'
Sie spürte die Erleichterung wie in Wellen durch ihren gemarterten Körper rieseln.
'Ein kluger Schachzug. Er wird der falschen Fährte folgen. Es könnte funktionieren.'
Die Igorina balancierte vorsichtig auf den mit Rauhreif überzogenen Dachziegeln zurück und hinter die dünne Metallbrüstung. Sie stand dort sehr still. Eine lange nicht mehr empfundene Emotion schien ihr die Lungen zu weiten und das Atmen zu erleichtern: Vertrauen!
'Sie lenkt ihn ab. Mir zuliebe. Ausgerechnet damit!'
Rogi massierte sich, in Gedanken versunken, die Daumen.
'Ich hab mich in ihr geirrt.'
Das abendliche Vorhaben rückte in ihren Fokus und ernüchterte Rogi schlagartig. Ihr Magen fühlte sich ganz flau und hohl an.
'Sie will mich nachher im Keller abholen um zu dieser Wohnung zu gehen.'
Die Sanitäterin atmete mehrmals tief durch.
'Unserer Wohnung! Wie konnte ich mich nur dazu überreden lassen? Kann das gut gehen? Eigentlich nichts Anderes, als bei einem Meister zu wohnen. Aber sie ist nicht meine Herrin!'
Die Vorstellung hatte etwas Befremdliches. Im Grunde wusste sie nicht einmal, wie so ein Zusammenleben mit Ophelia wohl aussehen könnte.
'Sie ist Romulus' Stellvertreterin und sie bringt mir ziemlich viel Respekt entgegen. Aber sonst? Privat?'
Ophelia war ihr das erste Mal als Rekrutin begegnet. Sie hatte sie für eines dieser neureichen Mädchen gehalten, die schnell wieder aufgaben. Aber Ophelia war dabei geblieben. Unauffällig und immer zur Stelle. Bis sie essentieller Bestandteil der R.U.M.-Belegschaft gewesen und dann auch für deren Abteilungsleitung nicht mehr wegzudenken gewesen war.
'Und dann hat sie damit begonnen, die gefährlichen Aufträge zu übernehmen. Die, bei denen sie letztlich immer auf meinem Operationstisch landete! Wenn man es so sieht, haben wir schon fast zusammengewohnt. Als sie neben meinem Büro in Zelle 6 untergebracht war. Auch keine gute Zeit. Allerdings war damals ich es, die ständig nach ihr sehen musste. Das wird wohl diesmal anders sein...'
Sie verdrängte die unangenehmen Erinnerungen an Ophelias nächtliche Alpträume. Und auch daran, dass sie Ophelia gegenüber vielleicht etwas zu großzügig mit dem Beruhigungsmittel gewesen war, zu freigebig, als es für einen vorbildlichen Igor statthaft war.
'Aber es ist nochmal gut gegangen. Sie hatte Glück. Keine Anfälligkeit dafür.'
Breguyar schien Ophelia zu einem Spaziergang aufzufordern. Er bot ihr in merkwürdig atypischer Weise den Arm zum Geleit, was sie aber mit einem dankenden Lächeln ablehnte. Nebeneinander verließen beide das Gelände über die Karrenzufahrt. Es war zu sehen, dass Ophelia dabei redete, allerdings war ihre Stimme so leise, dass kein Wort davon zu verstehen war.
'Wahrscheinlich ist es besser so.'
Rogi nutzte die unverhoffte Fristverlängerung, bis Ophelia zurück wäre. Kurzentschlossen betrat sie den Taubenschlag und tat routiniert die üblichen Handgriffe: Futternäpfe auffüllen, den Wassertrog reinigen, die Klappen kontrollieren. Was eben so anfiel. Nach und nach fand sie ein inneres Gleichgewicht. Doch ihre Gedanken kreisten beständig darum, wie es wohl sein würde, mit der jüngeren Frau - mit einem Menschen - zusammenzuziehen.
'Ob sie sich vor Spinnen fürchtet?'

Szene 18

Almuth Jahwohl

Die Türglocke vor dem Haus wurde angeschlagen. Der Klöppel brachte den hohen, reinen Ton zum Tanzen. Im Grunde hörte sie es ganz gern, wenn dieser schöne Klang am Haus empor zog und sich beispielsweise mit den lebhaften Gesprächen der nahen Stände oder sogar mit dem Gurren der allgegenwärtigen Tauben auf den sonnenbeschienenen Dachfirsten vermischte.
Jetzt allerdings...
'Es ist unanständig spät, für einen Menschen!'
Almuth schloss indigniert das Buch, in welchem sie bis eben gelesen hatte, um die Wartezeit auf die neuen Mieter zu überbrücken.
'Frau Kasta hätte mir zumindest einen Hinweis darauf geben können, dass ihre Schwester nicht zu Jenen gehört, die Wert auf eine vernünftige Tagesplanung legen.'
Sie legte den schweren Einband auf das Tagesdeckchen, drehte den Docht der Öllampe nahezu herunter und griff auf dem Weg zum Fenster bereits nach den Schlüsseln. Sie öffnete es und sah hinab.
"Wer ist da und was willst Du?"
Auf dem schmalen Gehweg, nach dem sich das Kopfsteinpflaster zu dem kleinen Platz hin anschloss, standen zwei sehr unterschiedliche Frauen und sahen zu ihr hinauf. Diejenige mit dem kleinen Seitenhut antwortete, so dass ihre Stimme zaghaft zwischen den Häuserfronten, die den Platz umgaben, hinauf hallte.
"Frau Jahwohl? Mein Name ist Ophelia Ziegenberger. Dies ist Rogi Feinstich. Gehe ich recht in der Annahme, dass meine Schwester, Dschosefien Kasta, mit Dir gesprochen und die Anmietung der Räumlichkeiten geregelt hat?"
"Das ist richtig. Einen Moment bitte, Frau Ziegenberger. Ich komme zu Dir herunter."
Sie schloss das Fenster, warf sich die dünne Pellerine über und stieg dann die eine Etage hinab. Das große Schlüsselbund klapperte unangenehm laut, als sie die stabile Tür öffnete. Die beiden jungen Frauen blickten ihr aufmerksam entgegen, wobei Frau Ziegenberger sogar einen Knicks machte.
'Na, wenigstens hat sie Erziehung.'
Almuths strenger Blick richtete sich prüfend auf die zweite Dame, die etwas versetzt hinter der ersteren stand. Sie korrigierte sich gedanklich.
'Keine Dame, ein Igor. Wehe sie verteilt Dreck im Treppenhaus! Merkwürdig, dass Frau Kasta bezüglich der Miethöhe nachgehandelt hat, wo ihre Schwester bei der Stadtwache offenbar genug verdient.'
Sie zog die Tür weiter auf und bat die nächtlichen Ankömmlinge mit einer Geste herein.
"Bitte, kommt herein! Dein Gepäck ist bereits am Nachmittag eingetroffen, Frau Ziegenberger. Ich habe es nach oben bringen lassen, wo es nun im Flur steht. Ich wollte mich nicht erdreisten, die Zimmerzuteilung vorweg zu nehmen." Sie ließ einen zweiten prüfenden Blick über die Angestellte und deren große Gepäcktasche schweifen. "Wie steht es mit ihren Habseligkeiten? Ist dies alles oder ist zu morgen noch eine Zustellung angedacht, um deren Unterbringung ich mich dann kümmern sollte?"
Die etwas desolat wirkende Igorina antwortete ihr knapp, wobei deren Augen nahezu amüsiert ihren Blick konterten.
"Daf ift allef."
Almuth hob leicht verunsichert die Brauen, entschied dann aber, dass es wohl genügen würde, die nötigen Absprachen mit Ophelia Ziegenberger zu treffen. Gerade, als sie sich von der Igorina abwandte, wanderte der Blick der Hauptmieterin mit einem verstehenden Blinzeln von der Begleiterin zu ihr. Sie errötete und beeilte sich zu erklären.
"Oh, Frau Jahwohl, ich befürchte, da liegt ein Missverständnis vor. Frau Feinstich ist meine Kollegin und wir sind, mit deinem Einverständnis, als gleichwertige Mieter vorstellig. Sie ist nicht... also wir haben keine... da liegt keine traditionelle Bindung vor."
Almuths Aufmerksamkeit richtete sich voll auf die Frau in der grünen Männeruniform dieser Eingreifftruppe der Stadtwache. Sie registrierte das ungekämmte Haar, die klassischen Narben und den erdverbundenen, fast schon breitbeinigen Stand.
'Keine Bedienstete? Womöglich eine Freundin der jungen Dame? Es würde mich wundern, wenn die werte Frau Kasta das wüsste! Das scheint mir nun wirklich nicht der richtige Umgang für eine Dame aus gutem Hause zu sein. Aber vielleicht bin ich in meinen Ansichten auch nur wieder etwas zu altmodisch? Je nun, dann soll es meinetwegen so sein. Solange sie sich an die Mietvereinbarungen halten...'
"Selbstredend nicht. Ich nehme mir nicht die Dreistigkeit heraus, ohne jegliches Vorwissen über die Stellung einer Person zu urteilen. Dennoch war der Hinweis natürlich gut gemeint und somit löblich."
Sie drehte sich dem Treppenaufgang zu und überließ es den beiden Wächterinnen, ihr zu folgen.
"Die Räumlichkeiten befinden sich in der zweiten Etage und weisen auf den Platz nach vorne hinaus. Einmal die Woche gibt es eine Kohle- und eine Holzscheitlieferung, die hinauf gebracht und neben dem Ofen in der Küche aufgeschichtet werden. Jeden Abend wird von einem Wasserjungen der Vorrat im Speicher aufgefüllt. Das Abwasser wird am frühen Vormittag entsorgt, ebenso wie der Abort. Dies geschieht während der Abwesenheit der Mieter. Anschließend bestehe ich darauf, dass die Wohnräume gute zehn Minuten lang durchgelüftet werden, wobei es mir gleichgültig ist, inwieweit das Wetter angeblich mit dieser Vorgabe korrespondiert oder nicht. Ich händige euch jeweils ein Paar Ersatzschlüssel zu der Haustür und der Wohnungstür aus. Die Zimmer sind nicht einzeln abschließbar. Zwischen zwölf Uhr und zwei Uhr am Nachmittag herrscht Mittagsruhe, ab neun Uhr am Abend ist Nachtruhe einzuhalten. Sollte eine Reinigung der Zimmer durch jemand Dritten gewünscht sein, so kann ich gerne eine vertrauenswürdige Person dafür vorschlagen und einstellen."
Sie waren auf dem Treppenabsatz der zweiten Etage angekommen und Almuth drehte sich den beiden Nachzüglern zu, um diese mit ihrem - wie sie wusste - strengen Blick zu bedenken.
"Ich dulde weder sabotierte Scharniere, noch drapierten Staub außerhalb der angemieteten Räume. Ebenso wenig wie Männerbesuch innerhalb der Räume. Gibt es noch Fragen?"
Die beiden Frauen sahen einander nur kurz an. Es war nicht zu übersehen, welche von beiden auch künftig das Reden übernehmen würde. Ophelia Ziegenberger schüttelte milde lächelnd den Kopf.
"Nein, keine weiteren Fragen, Frau Jahwohl. Es war überaus freundlich von Dir, dich um alles zu kümmern. Wir werden uns heute nur noch häuslich einrichten und dann sicherlich alsbald zur Ruhe begeben. Alles Weitere können wir vielleicht morgen am Abend durchsprechen, wenn es Dir recht ist?"
Almuth neigte zustimmend den Kopf.
"Das ist mir recht." Sie überreichte die beiden Schlüsselringe. Und einen Brief. "Diese Nachricht kam vor einigen Stunden per Boten und ist für Dich."
"Für mich? Aber es weiß doch noch... oh!" Beim Anblick der Absenderangaben schien sie zu erstarren. "Meine Mutter."
Es kostete Almuth viel Selbstbeherrschung, bei der vorliegenden Reaktion nicht in wild wuchernde Spekulationen zu verfallen. Sie verbot sich jegliche Reaktion und verabschiedete sich stattdessen für den Rest der Nacht.
"Wir sprechen uns morgen wieder. Ich wünsche den Damen eine geruhsame erste Nacht im neuen Heim!"
"Vielen Dank, Frau Jahwohl, Dir auch!"
Die Hauptmieterin knickste zum Abschied ein weiteres Mal, ihre Begleiterin hingegen wirkte lediglich erleichtert, als sie ebenso kurz angebunden wie zuvor reagierte.
"Danke, wird fon gehen."
Sie bedachte beide Frauen mit einem irritierten Blick.
'Diese jungen Leute!'

Szene 19

Ophelia Ziegenberger

Der kleine Reif mit den gusseisernen Schlüsseln lag unverhältnismäßig schwer auf ihrer geöffneten Handfläche. Zwei lange, vom häufigen Gebrauch nachgedunkelte Stäbe mit gezackten Bärten.
'Irgendwie hatte ich mir den Auszug von daheim und den Bezug einer eigenen Wohnung immer anders vorgestellt. Gemeinsam mit einem liebenden Ehemann, um eine Familie zu gründen, so wie es einer Ziegenberger vorherbestimmt schien. Trotz allem, was passiert ist, hat sich an dieser Vorstellung nicht das Geringste geändert. Merkwürdig... das war mir bis eben nicht klar. Na ja, nun lässt es sich ohnehin nicht mehr rückgängig machen. Rogi braucht einen Rückzugsort und wenn sie auf anderem Wege keinen finden kann, dann ist dies das Mindeste, was ich für sie tun kann. Es ist ein Anfang...'
Sie wurde sich dessen bewusst, dass Rogi in dem engen Flur dicht neben ihr stand und sie beobachtete. Schnell schloss sie die Hand um den Schlüsselbund und blickte optimistisch auf.
"Schön. Dann sehen wir uns doch mal die Zimmer an!"

Dschosefien hatte nicht übertrieben. Die beiden Wohnräume waren bezaubernd. Nebeneinander gelegen und nahezu identisch eingerichtet, waren sie mit allem ausgestattet, was eine moderne junge Frau sich erhoffen konnte: Es gab ein rustikales Bett mit hohen Kopf- und Fußenden, über denen sich das Bettzeug sicherlich gut auslüften ließ. Jedes Zimmer hatte zwei hohe, schmale Fenster, die mit Gardinen aus filigranster Lochspitze verhangen und von blickdichtem Brennersamt gerahmt waren. Die beige Tapete mit dem winzigen bunten Blümchenmuster und der umlaufenden Dekorbordüre in dem gleichen tiefroten Brennersamt, wie es die Fensterschals aufgriffen, vermittelten sofort den Eindruck einer weiblichen Hand hinter all dem. Die dunkel gemaserten Dielen schimmerten gepflegt und waren teilweise von flauschigen, hellen Teppichen bedeckt. Es gab einen großen Schreibtisch mit hohen Ablagefächern, auf dem frische Blumen in einer Vase standen - eine überaus freundliche Willkommensgeste Frau Jahwohls, wenn man die Jahreszeit bedachte. Abgerundet wurde das Interieur durch einen massiven, dunklen Schrank, eine Waschgelegenheit hinter einem achatenen Paravent und einem fast zwei Meter hohen Standspiegel hinter selbigem.
Ophelia lächelte versonnen.
"Als wenn einem ein freundliches Willkommen entgegen wehen würde. Nicht wahr?"
Sie drehte sich zu Rogi um und erhaschte nur noch einen Blick auf deren fortschwebende Tasche. Sie war in den Nachbarraum rechterhand verschwunden. Ophelias Lächeln verkrampfte bei der unabsichtlich zur Schau gestellten Gleichgültigkeit etwas.
'Oh, na gut. Für sie hat das alles eine andere Bedeutung, als für mich.'
Sie blickte wieder in das Zimmer hinein und strich mit der Hand über den Holzrahmen.
'Aber es ist ein schönes Zimmer. Ich denke, ich werde mich hier wohl fühlen.'
Sie legte den Briefumschlag achtlos auf den Schreibtisch, zog beide Hutnadeln aus dem kunstvollen Geflecht und legte sie, gemeinsam mit dem dazugehörigen Hut, neben die Nachricht. Dann drehte sie sich um und begann ihr zwischengelagertes Gepäck nach und nach vom Flur aus in den Raum zu verfrachten. Rogi war augenblicklich zur Stelle und half dabei, obwohl sie schon abwehren wollte.
"Rogi, das brauchst Du wirklich nicht, ich komme schon zurecht. Das geht problemlos, wenn ich ein, zwei Mal mehr gehe."
Die Igorina ließ sich nicht beirren.
"Ich habe nie befweifelt, daff Du alleine furecht kommft. Und ef geht genaufo problemlof, wenn ich helfe."
Darauf fiel ihr keine Erwiderung ein, so dass sie gemeinsam Taschen und Koffer durch die Wohnung trugen, bis sich alles in Ophelias Zimmer stapelte.
Rogi stemmte die Arme in die Hüften.
"Waf ift da allef drin? Fo viel Feug braucht doch kein Menf, wenn er in ein einfigef Fimmer fieht. Oder?"
Ophelia spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.
"Ähm... ich bin mir nicht sicher. Mir blieb aufgrund der knappen Zeitplanung nicht viel anderes übrig, als eine kurzfristige Nachricht an meine Mutter zu senden und ihr die Auswahl zu überlassen. Ich hatte eigentlich nur vom Nötigsten gesprochen. Aber wer weiß, was Mutter darunter verstanden hat?"
Sie blickte zu dem Umschlag, den sie erst einmal auf dem blanken Schreibtisch abgelegt gehabt hatte. Mit einem tiefen Seufzer gab sie sich einen Ruck, ging hinüber und öffnete ihn undamenhaft, indem sie eine Ecke zwischen den Zähnen hielt und das Couvert mit dem Zeigefinger der beweglichen Hand aufriss. Ein dreiseitiges Schreiben auf edlem Büttenpapier entfaltete sich. Sie setzte sich vorsichtshalber gleich auf den zierlichen Stuhl, bevor sie zu lesen begann. Ein kleiner Teil von ihr registrierte, dass Rogi noch immer unschlüssig im Raum stand. Ihre Augen überflogen den Text und ihre Befürchtungen bestätigten sich mit jeder weiteren Zeile. Am Ende ließ sie den Brief entnervt sinken und hob wieder den Blick. Was ihr die ungeteilte Aufmerksamkeit der Kollegin einbrachte, die noch immer an der Tür stand.
"Ich werde nicht darum herum kommen, morgen bei meinen Eltern vorbeizusehen. Sonst stünde Mutter hier vor der Tür und darauf kann ich gerne noch etwas verzichten."
Die Igorina wusste darauf nicht viel zu antworten und schwieg daher. Sie stand etwas verloren auf dem runden Flauscheteppich, wie auf einer kleinen Insel, die Hände hingen seitlich an ihr herab, wie Wäschestücke an einer Leine. Bei Windstille.
Ophelia riss sich zusammen.
'Der Unwillen meiner Mutter ist wirklich kein bedeutungsvolles Thema. Ich muss aufpassen, dass sie sich nicht langweilt. Sonst beginnen ihre Gedanken ganz sicher damit, zu den gefährlichen Wünschen abzudriften.'
"Aber das ist nicht so dramatisch. Hast Du deine Sachen schon ausgepackt?"
"Ja. Daf war nicht fo viel."
Sie blickte auf ihren Gepäckberg, ohne dass ihr etwas Besseres einfallen wollte.
"Möchtest Du mir vielleicht mit meinen Sachen helfen? Nur wenn Du möchtest! Die Kleidung muss in den Schrank und Haarutensilien dort hinter den Paravent, auf die Ablageflächen neben dem großen Bodenspiegel... und alles andere, was wir finden... dafür müsste ich mir erst mal einen Ort aussuchen, weswegen es keinen Unterschied macht, wo Du es hinlegst. Hauptsache die Taschen werden ausgeräumt, damit man hier wieder gehen kann."
Rogi nickte.
"Ficher."
Sie griff nach dem ersten großen Koffer, einem Monster von einem Kasten, beschlagen mit Lederriemen und metallenen Scharnieren. Der Deckel hob sich unter Rogis zupackendem Griff mit einem Ächzen. Die Igorina nahm das zu oberst liegende Kleidungsstück zur Hand und hob es in die Höhe, so dass es sich zu einem schillernden grauen Abendkleid entfaltete. Das Vorderteil war bis zur rechten Hüfte hinab mit winzigen Perlen bestickt.
"Fo, fo. Daf Nötigfte..."
Ophelia lächelte gequält.
'Sieh es positiv: Die nächsten zwei bis drei Stunden dieser Nacht wird sie voraussichtlich abgelenkt genug sein.'

Die Turmuhren schlugen bereits die dritte Stunde vor der Dämmerung, als Ophelia mit der nimmermüden Hilfe Rogis die Koffer, Taschen und Schachteln verstaut und ihr neues Domizil bezogen hatte. Der wuchtige Kleiderschrank quoll über und die Sammlung romantischer Bücher, die sie schon seit ihrer Kindheit nicht mehr angerührt und trotzdem ganz zu unterst in einer der kleineren Kisten gefunden hatte, stand, mangels ausreichender Regalfläche, auf dem Boden neben dem Schreibtisch aufgestapelt.
Rogi hatte sich jeglichen weiteren Kommentars über den Inhalt ihres Gepäcks enthalten. Es war gleichzeitig beunruhigend und friedlich, die ehemalige Ausbilderin dabei zu beobachten, wie diese in stetem Rhythmus den Raum durchquerte, schweigend ein weiteres Kleidungsstück aus den Koffern heraus hob, es prüfend ausklopfte, zum Schrank ging und es dort auf einen der Holzbügel zog, um es aufzuhängen. Und dann im gleichen Arbeitstempo zurück ging, um mit dem nächsten Teil ebenso zu verfahren. Es hatte fast etwas Mechanisches an sich. Es gab Momente, in denen wollte sie Rogi ansprechen und sich mit ihr über irgend eine Belanglosigkeit unterhalten. Doch deren selbstversunkene Aktivität zu unterbrechen schien unangebracht und dumm, so dass sie es unterließ und sie beide stattdessen in einvernehmlichem Schweigen vor sich hin arbeiteten. Bis jetzt.
"Geschafft!"
Sie blickte sich erleichtert im Zimmer um, richtete sich gerade auf, den Rücken gestreckt.
Auch Rogi nickte zufrieden.
Ophelia strich sich mit dem Handrücken die kitzelnden Haarsträhnen aus dem Gesicht.
"Jetzt könnte ich einen Tee..."
"Ich mach unf welchen."
"...vertragen."
Sprach es und war bereits verschwunden.
Ophelia blieb verunsichert zurück.
'War das jetzt ein verständnisvoller Impuls unter Freundinnen? Oder ihre dienstbare Veranlagung?'
Sie rieb sich nachdenklich den linken Oberarm, soweit das Ledergeschirr dies zuließ.
In Rogi eine Freundin zu finden, hätte sie gefreut. Deren Igor-Reflexe auszulösen hingegen, wäre ihr unangenehm gewesen.
Sie gab sich einen Ruck und folgte den leisen Geräuschen der Betriebsamkeit in die Küche.
Dieser Raum war deutlich kleiner als ihre Wohnräume und ursprünglich nicht dazu angedacht, viel Zeit in ihm zu verbringen. Dennoch wirkte er praktisch und gemütlich. Es gab einen gusseisernen Herd mit drei großen Platten und einer Klappe, dazu ein Spülbecken aus Emaille, einen Schrank mit breiter Arbeitsfläche. Darüber hing eine Geschirrvitrine, durch deren Glastüren sie feines Tee-Porzellan sehen konnte. Die Teller waren unter dem Hängeschrank aufrecht hinter eine Leiste gehakt und bildeten, nebeneinander aufgereiht, mit ihren unterschiedlichen Blumenmustern einen wesentlichen Bestandteil der Raumdekoration. Über dem Herd hingen Kupfertöpfe und Pfannen in verschiedenen Größen. Der versprochene Holzscheit-Stapel reichte beinahe bis an die Oberkante des Herd-Monstrums heran und seitlich stand ein winziger Tisch mit zwei Stühlen.
Rogi hatte den Herd bereits soweit angefacht, dass sich wohlige Wärme ausbreitete. Sie schloss soeben unter schabendem Geräusch der Eisenscharniere und einem metallenen Schlag die Klappe und griff sogleich zu dem bereit stehenden Teekessel, um ihn mit Wasser zu füllen und aufzusetzen.
Ophelia gesellte sich zu ihr und öffnete neugierig die Vitrinentüren des oberen Schrankes.
"Wie gut, dass die Wohnung bezugsfertig eingerichtet ist." Sie entnahm zwei Tassen mit den dazugehörigen Untertellern und suchte nach Löffeln. Sie fand poliertes Silberbesteck, welches nicht nur hübsch anzusehen war, sondern auch erfreulich schwer in der Hand lag. Sie lächelte glücklich.
'Ein bisschen wie zu Hause.'
Auf der Suche nach Zucker entdeckte sie den schmalen Beistellschrank und konnte sich einen erfreuten Ausruf nicht verwehren.
"Oh, Rogi, schau nur! Sogar einige frische Vorräte hat sie uns hinterlegt! Ich werde mich morgen auf jeden Fall bei ihr bedanken."
Sie stellte das Geschirr und die Zuckerdose auf den kleinen Tisch und deckte mit Brot, Streichfett und Marmelade ein. Das würde zwar nur ein kleines Mahl ergeben aber eben auch ein feines. Das Brot war ganz frisch und duftete herzhaft.
"Unsere erste gemeinsame Mahlzeit in der eigenen Wohnung!"
Sie sah sich um und stellte fest, dass Rogi bereits mit dem Aufgießen der Teeblätter beschäftigt war, so dass keine Hilfe mehr benötigt würde. Kurzentschlossen setzte sie sich an den Tisch, um auf Rogi zu warten.
Die Igorina legte das Sieb in die Spüle und den Deckel auf die Kanne. Sie trug diese zum Tisch herüber.
Rogis Hände zitterten deutlich, als sie die Teekanne zum Einschenken bereit hielt.
Ophelia spürte, wie ihre Euphorie bei diesem Anblick verflog. Doch sie sagte nichts dazu, sondern blickte stattdessen schnell zu Rogi auf und hielt dieser lächelnd die Tasse entgegen.
"Gefällt es Dir hier?"
Die Igorina wich ihrem Blick aus. Sie goss konzentriert den Tee in die beiden Tassen, stellte die Kanne vorsichtig auf dem hervorgezauberten Kork-Untersetzer ab und setzte sich mit stockenden Bewegungen zu ihr. Sie nahm ihre Tasse wärmend zwischen die Hände, den Blick in die trübe Flüssigkeit gerichtet. Das Zittern ließ deswegen jedoch nicht nach.
"Ich... weif nicht." Das Schweigen war nicht unangenehm, denn irgendwie war zu erahnen, dass Rogi ihre Gedanken lediglich noch in Worte fasste. "Ef ift ungewohnt." Sie hob langsam ihren Blick. "Ophelia", sagte die Igorina leise, "Ich weif nicht, wie Du dir daf hier vorftellft, doch ich möchte, daf du mich... unf Igorf verftehft."
Ophelia hielt gebannt die Teetasse fest und schenkte Rogi ihre volle Aufmerksamkeit.
"Daf allef hier ift fo ungewohnt, weil ef fich wie eine alte Anftellung in Überwald anfühlt. Fo vertraut und doch fo fremd..." Sie seufzte schwer und trank einen Schluck aus ihrer Tasse, bevor sie fortfuhr. "Ich weif nicht, ob Du daf verftehen kannft, doch alf Igor ift man dafu da, fu helfen und fu dienen. Man verpflichtet fich ganf einer Perfon und nur diefer ift man Rechenfaft fuldig." Die Igorina schaute ihr kurz in die Augen. "Fo habe ich ef gelernt."
Rogi stellte langsam die Tasse ab. Ihre zittrigen Hände wanderten unter den Tisch, so dass sie für Ophelia nicht mehr zu sehen waren.
"Doch in der Wache wird viel mehr alf daf von mir erwartet." Die Sanitäterin senkte den Blick. "Ich weif nicht, wie lange ich daf aufhalte. Wie lange ich dem Druck noch ftandhalten kann. Und ohne mein Beruhigungfmittel..." Sie brach an der Stelle ab. "Ich hätte auf Roger hören follen... und die Wache verlaffen..."
"Aber..." Ophelia setzte dazu an, ihr zu widersprechen. Eine Wache ohne die Ältere war für sie schier unvorstellbar! Andererseits... wenn die Umstände sie derart belasteten und ein Wechsel ihr gut täte...
Doch Rogis Hand hob sich und unterbrach sie wortlos. "Fag nichtf. Ich würde ja doch bleiben. Ef ift nur fo fwer, den Kodex fu wahren. Natürlich gibt ef Igorf, die keinem Meifter dienen, doch fie dienen der Familie! Tante Igorina fum Beifpiel hilft, herrenlofe Igorf fu vermitteln." Rogi strich sich mit einer Hand über die Augen und kniff sich in den Nasenrücken. "Und alf wäre ef nicht fon flimm genug einer Ftadt fu dienen, redet man noch über mich. Alf würde ich einen Keil in die Familie treiben. Die einen verachten mich und die anderen..." Rogi schaute zur Decke und seufzte. "Fie nennen mich die Eine."
Der Ausdruck klang vage vertraut für Ophelia. Er katapultierte sie gedanklich zu den Ermittlungen im Ascher-Fall zurück, zu einem Gespräch mit einem der Dienstmädchen. Der dazugekommene Igor hatte Rogi, als sie ihre Bekanntschaft mit dieser erwähnte, mit einem Ausdruck von Bewunderung als 'Die Eine' bezeichnet. Seine Kollegin hingegen, hatte auf Rogis Nennung geradezu verstört reagiert.
Die Sanitäterin verzog kurz das Gesicht. "Ich follte nicht fo viel darüber nachdenken. Daf verurfacht Magengefwüre. Roger verfteht mich fumindeft und ich hoffe, Du auch."
Ophelia nickte zögerlich. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihrer Stimme vertrauen konnte.
"Du redest nicht oft darüber. Oder?"
"Nein", sagte die Igorina langsam, "Aber ich dachte, Du follteft ef wiffen."
Ophelia streckte die Finger ihrer rechten Hand und legte diese flach auf den Tisch.
"Danke! Ich danke Dir, dass Du mir gegenüber so offen und ehrlich bist. Vielleicht ist es überflüssig, das zu erwähnen aber ich möchte Dich auch etwas wissen lassen: Ich hatte stets die allerhöchste Hochachtung vor Dir! Und nichts, von all dem, was Du zur Zeit durchmachst, wird daran etwas ändern." Sie blickte Rogi gespannt an, als sie fortfuhr. "Ich weiß, Du hast einen höheren Dienstrang und wenn man es dreht und wendet, könnte man auch sagen, ich hätte Dich dazu gedrängt, Dich zu deinem eigenen Besten für diese Lösung zu entscheiden. Aber... Du kannst auf mich zählen."
Die Igorina saß bewegungslos auf dem Küchenstuhl und es verging ein etwas längerer Moment, ehe sie nickte.
Ophelia wusste in der gleichen Sekunde, mit unfehlbarer und instinktiver Sicherheit, dass Rogi ihr Freundschaftsangebot nicht als solches erkannt hatte. Und dass hier auch keine Erklärung helfen würde. Die Igorina konnte zwar mit den Konzepten von Respekt und Pflicht etwas anfangen, was es aber mit dem Begriff 'Freundschaft' auf sich hatte, das schien an ihr vorbei zu gehen. Ob es an den undurchschaubaren Traditionen ihrer Spezies, an dem gewohnheitsmäßigen Festhalten an Arbeitgeber-und-Arbeitnehmer-Konstellationen oder schlicht und ergreifend daran lag, dass Rogi bisher allen Versuchen, mit ihr Freundschaft zu schließen, aus dem Wege gegangen war... es sah nicht so aus, als wenn ihrer beider Zusammenleben in einer Freundschaft resultieren würde.
'Ich mag und respektiere sie. Doch objektiv betrachtet sitzen auf dieser Seite des Tisches eine Verdeckte Ermittlerin und auf jener Seite eine Sanitäterin, die durch nicht viel mehr als den Dschob und ein Geheimnis miteinander verbunden sind.'
Ophelia fühlte, wie Bedauern in ihr aufstieg. Sie drängte es schnell zurück.
'Dafür bleibt nicht auch noch Kraft!'
Rogi sah überrascht auf, als sie sich entschlossen erhob und mit dem Abräumen begann.
"Es ist spät geworden. Lass uns den Tisch abräumen und zu Bett gehen."
Rogi schien erleichtert.
Sie beeilten sich und am Ende des Korridors trennten sich ihre Wege. Ophelia ging in das linke Zimmer, Rogi in das rechte.
Ophelia hatte gedacht, von dem Gespräch viel zu aufgewühlt zu sein, um schlafen zu können. Dazu kam noch das leise Rascheln in den Wänden und das Knacken unter den Dielen, wenn das Holz arbeitete. Doch die vorige, durchwachte Nacht forderte ihren Tribut und so schlief sie sofort ein, sobald ihr Kopf das Kissen berührt hatte.

Szene 20

Rogi Feinstich

"Igorina!"
'Sie ist hier!'
Rogi riss panisch die Augen auf und verfing sich bei dem Versuch, an die Wand zurückzukriechen, prompt in der Bettdecke. Sie blieb hängen, rutschte auf dem ungewohnt glatten Laken weg und stieß mit der Stirn gegen das Bettende. Sie registrierte, dass sie sich in diesem neuen Zimmer befand und die Seiten des Bettes zu hoch dafür waren, durch das Bettzeug behindert, hinüberzuhechten.
Und geradezu stand ein schwarzer Schatten im Dunkel des Raumes.
Rogi brachte kein Wort heraus, ihr Herz raste in einem ungesunden Rhythmus.
Die Dunkelheit schien sich zu manifestieren und die Vampirin trat gelassenen Schrittes näher. Sie verursachte auf den Dielen nicht das geringste Geräusch und auch ihre Kleidung schwieg. Der Blick der bleichen Herrscherin musterte sie ungerührt.
"Ich bin enttäuscht von Dir."
Rogi hatte das Gefühl, als wenn ihr eine unsichtbare Hand die Luft abdrücken würde. Dabei hatte ihre ehemalige Herrin noch keinen Finger gerührt.
"Hoheit..."
"Hatte ich mich bei meinem letzten Besuch so undeutlich ausgedrückt? Ich denke nicht."
Rogi registrierte irgendwo in ihrem Hinterkopf, dass sie zu hyperventilieren begann, dass die Vampirin dies mit allen ihr zur Verfügung stehenden Sinnen wissen würde - und dass sie absolut nicht im Stande war, an irgendeinem dieser Punkte etwas zu ändern.
"Hoheit, ef tut mir fo leid! Ich habe mir wirklich Mühe gegeben! Ich habe meine Ftrafen erfüllt und allef gemacht, waf mir aufgetragen wurde..."
Die Vetinari trat gemächlich näher, so dass sie nur noch eine Armeslänge trennte. Der herbe Duft von Kiefern und dem ungestümen Wind der rauhen Schluchten drang auf Rogi ein - ebenso wie der kupferne Hauch des Todes.
'Das ist unmöglich... ich habe Sie noch nie auf diese Weise wahrgenommen und außerdem ist Überwald viel zu weit weg! Die Reise und die Gerüche in Ankh-Morpork hätten längst dafür gesorgt, dass...'
Ayamis Stimme kappte ihre Gedanken mit der Präzision eines Zwergenskalpells.
"Was hast Du dir dabei gedacht, kleine Igorina? Ich hatte nichts davon gesagt, dass Du mit einer Mahlzeit zusammenziehen sollst."
Die Vampirin legte den Kopf leicht schräg bei dieser Frage, als wenn sie ernsthaft darüber nachdenken würde.
Rogi rang nach Atem, während sie entsetzt flüsterte: "Fie ift keine Mahlfeit."
"Sie war es und sie wird es wieder sein. So wie es ihnen allen vorbestimmt ist." Die Vampirin überwand lautlos die letzten Zentimeter und setzte sich elegant auf die Bettkante. Ihre schwarzen Pupillen schluckten das Licht. "Ich habe Dich hierher gesandt, damit Du mich würdevoll vertrittst und meinen Platz in dem Getriebe der Stadt frei hältst. Das war nicht zu viel erwartet. Doch was muss ich sehen, wenn ich mich in meiner Sorge um dein Wohlergehen hierher bemühe?"
Rogis Sichtfeld schien zu schrumpfen und wie ein hypnotisiertes Kaninchen konnte sie die Augen nicht mehr von ihrem nahen Verderben abwenden.
Die makelos weiße Hand ihrer unabänderlichen Meisterin hob sich von der im Vergleich fast grau wirkenden Bettdecke. Die Königin fasste sie sanft unters Kinn. Der Hautkontakt war so eisig, dass Rogi wie von einem elektrischen Schlag getroffen zusammenzuckte. Die wachsamen Augen wirkten für eine Sekunde amüsiert, bevor der stählerne Griff ihren Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite wandte.
"Du hast deinen Körper zerstört. Ist es das, wofür ich Dich am Leben erhalten hatte? Zahlst Du dieserart deine Lebensschuld an mir ab, Igorina?" Die Vampirin ließ von ihr ab und faltete die Hände im Schoß. "Ich denke es wäre angemessen, Dich zu strafen. Doch womit? Vielleicht sollte ich Dich als gescheitertes Experiment betrachten und mir ein neues Spielzeug suchen, eines, das meinen Anforderungen eher entsprechen wird..." Sie erhob sich in einer fließenden Bewegung und schritt, ohne einen Blick zurück zu werfen, auf die nahe Zimmertür des kleinen Raumes zu. "Wie hieß sie noch gleich? Ophelia? Meines Wissens ist sie bereits vertraut mit unseren Gepflogenheiten."
Rogi befreite sich aus der inneren Starre und der Decke. Sie sprang aus dem Bett und stolperte dem davonhuschenden Schatten auf den Flur hinaus hinterher.
"Nein! Nicht!"
Ihre Gedanken überschlugen sich und brachen in völliges Chaos aus.
'Sie ist meinetwegen hier! Ich habe mit meinem Einverständins zu dieser Wohnsituation Ophelia in Ihren Fokus und damit in tödliche Gefahr gebracht! Die Vetinari ist unberechenbar und ich habe keine Chance, Sie aufzuhalten!'
Gleichzeitig pochten deren Ideale durch ihre Gedanken.
'Hat die Meisterin nicht Recht, wenn sie argumentiert, dass die Sterblichen kaum mehr darstellen, als Nahrung und Ersatzteile?'
Rogi schlug sich die Hände an die Schläfen.
'Was passiert mit mir? Das sind nicht meine Gedanken. Oder doch?'
Sie erreichte Ophelias Zimmer und stieß dessen Tür gänzlich auf. Der Anblick, der sich ihr bot, drehte ihr fast den Magen um.
Ayami hatte sich an das Kopfende von Ophelias Schlafstätte gesetzt und die junge Wächterin nahe zu sich heran gezogen. Ophelia war wach und, ihrem panischen Blick nach zu urteilen, vor Angst fast am Rande des Wahnsinns. Dennoch brachte sie nicht viel mehr als leise Schluchzer zustande. Als sie Rogi im Türrahmen erblickte, setzte sie sich noch einmal verzweifelt zur Wehr. Was ihr nichts nutzte. Die Umarmung der mächtigen Vampirin legte sich erbarmungslos um ihren Körper, wobei Ophelias gesunder Arm bewusst auf den Rücken verdreht und eingeklemmt worden war. Der gelähmte Arm hing frei an ihr herab, bar jeglichen Geschirrs und doch nutzlos. Ayami neigte Ophelias Kopf mit nur einer Hand fast beiläufig beiseite, gleichzeitig darauf bedacht, ihr den Mund damit zuzuhalten, um störende Widerworte zu unterbinden. Ophelias Augen füllten sich mit heißen Tränen, während sie zum Schweigen und Erdulden verdammt war. Ihre Haut wirkte blasser, als selbst das blütenweiße Nachthemd, welches sie trug. Ihr langes rotes Haar wurde zum einzigen Farbfleck in dem nächtlichen Zimmer und etwas an der Szenerie erinnerte Rogi an den Einsatz, als sie Ophelia in Aschers Keller gerade noch so hatte am Leben erhalten können. Ayami vergoss nicht einen Tropfen des so kostbaren Blutes. Doch sie machte sich auch nicht die Mühe, Spuren in der Haut ihres ohnehin schon gezeichneten Opfers zu vermeiden.
Rogi fühlte sich wie in Sirup gefangen. Sie wollte zu Ophelia rennen und sie befreien. Sie konnte eine Mitwächterin unmöglich sich selbst überlassen. Gleichzeitig begann ein Teil ihres Gehirns unaufhörlich die Zeilen zu rezitieren, die ihr Sein bestimmt hatten, solange sie sich zurückerinnern konnte. 'Niemals widersprechen... niemals widersprechen... niemals...'
Die Herrin blickte lächelnd auf, wofür sie die dunkel gefärbten Lippen von dem pochenden Hals hob.
"Möchtest Du jetzt ihren Arm operieren, Igorina? Das wünschst Du dir doch so sehr! Du würdest ihr damit etwas Gutes tun. Die Scheibe nimmt keine Rücksicht auf solche, die sich nicht selber wehren können. Sie wäre Dir dankbar. Später."
Rogi stand fassungslos mitten im Raum.
Die Vampirin lachte leise. Ihr Tonfall wurde voller, verführerischer.
"Die Entscheidung ist für Dich zu schwer? Dann werde ich sie Dir abnehmen. Du brauchst nicht zu denken, wenn Du das nicht möchtest, kleine Igorina."
Rogi kämpfte darum, vor aufsteigender Angst nicht in Ohnmacht zu fallen.
Ayami lächelte noch immer. Mit trügerischer Sanftmut erteilte sie ihr einen Befehl.
"Igorina! Du bist mit deiner Aufgabe damals nicht zufriedenstellend fertig geworden. Bitte tue mir den kleinen Gefallen und behebe den Defekt - sofort!"
Rogi spürte, wie sie sich reflexartig umwandte und wie ihr Körper Bewegungen zu vollführen begann, die sie ihm nicht aufgetragen hatte. Sie verließ das Zimmer und suchte in dem ihren nach der Wickelrolle mit den Instrumenten. Danach ging sie zurück und setzte sich neben die Königin, die ihr während der Mahlzeit interessiert dabei zusah, wie sie das Operationsbesteck bereitzulegen begann. Sie öffnete den Ärmel des langen Nachthemdes, welches Ophelia trug, und rollte den hauchdünnen Stoff bis zu deren Schulter hinauf auf. Der schlanke Arm legte sich fast von selbst in die richtige Position, so widerstandslos fügte er sich ihren dirigierenden Händen.
"Mache Dir keine Gedanken, wegen einer Betäubung, Igorina. Diese Mittelchen würden ihren Kreislauf nur unnötig belasten, wo sie ohnehin schon so aufgeregt ist. Zudem haben sie einen so unangenehmen Nachgeschmack. Ich werde sie einfach etwas ablenken. Nicht wahr?"
Rogi hörte ein ersticktes Wimmern und sah, wie der Körper in der kalten Umarmung zu zittern begann. Ihr Blick hob sich, bis sie Ophelia ins Gesicht sah. Ayamis schlanke Finger verdeckten noch immer unverrückbar Ophelias Mund und inzwischen liefen dieser die Tränen hemmungslos über. Sie schien mit den angstgeweiteten Augen um Gnade zu flehen.
Rogi hatte das Gefühl, schreien zu müssen.
'Das ist Wahnsinn! Das kann alles nicht real sein!'
Stattdessen setzte sie willenlos das Skalpell an dem entblößten Oberarm an und öffnete mit einem sauberen Zug der Klinge die oberste Hautschicht.

Rogi holte mit einem gewaltigen Atemzug zitternd Luft und schlug noch einmal die Augen auf. Sie lag im Bett, in einem dunklen Raum, von draußen war ein Karren zu hören, dessen beschlagene Räder schnell über das Kopfsteinpflaster ratterten.
Sie rang keuchend nach Luft.
'Ein Alptraum. Einer dieser realistischen Alpträume... Sie beginnen wieder!'

Szene 21

Roger Igoratius

Roger saß auf ihrem Schreibtischstuhl und wartete. Die Nacht hatte er mit ihr verbringen wollen, doch entweder war sie wirklich mit dieser Wächterin zusammengezogen oder sie streifte wieder allein durch die Straßen. Draußen ging soeben die Sonne auf.
Die Türklinke wurde langsam hinunter gedrückt und er richtete sich auf, als Rogi ihr Büro betrat.
Sie zuckte zusammen, als sie ihn sah und schloss schnell die Tür.
"Du kannft mir doch nicht fo einen Frecken einjagen! Waf machft du hier?"
Sie sah müde aus.
"Ich wollte nach dir fehen nachdem waf geft..." Er unterbrach sich. Das war nicht der Augenblick, ihr Vorwürfe zu machen. "Du bift mit diefer Wächterin fufammengefogen?"
Sie nickte und trat an ihm vorbei um an ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen. Ihre Bewegungen waren langsamer als sonst.
'Oder bilde ich mir das ein?'
"Wie geht ef dir?"
Ihr Blick richtete sich auf ihn. "Nicht gut, Roger. Nicht gut."
"Dann laf den Unfinn! Diefer Entfug wird dif umbrignen. Fie wird dif umbringen! Dein Körper fafft da…"
"Laff ef gut fein, Roger", unterbrach sie ihn scharf und er machte einen Schritt zurück.
'Was denkt sie sich nur dabei! Ein Herz hat sie deswegen schon verloren! Und nun ein weiterer radikaler Entzug? Die Folgen sind kaum kalkulierbar! Es könnte klappen, doch das Risiko ist zu hoch.'
Der Gedanke, sie zu verlieren, war unerträglich und er ballte die Hände zu Fäusten.
"Hör mal fu. Du magft vielleicht glauben daff daf klappt aber ich hoffe dir ift auch bewufft, daf ef fiefgehen kann. Und dann?" Er schnaubte abfällig.
Ruckartig stand die Igorina auf und schwankte leicht, doch sie fing sich wieder, gerade als er sie stützen wollte. "Roger, ef tut mir leid aber ef geht nur fo. Ophelia hat viel auf fich genommen, um mein Geheimnif fu bewahren, da werde ich fie nicht enttäufen."
"Blödfin! Fie hat dif erft foweit getrieben! Ich werde mir daf nift weiter mit anfehen!"
Er wandte sich zum Gehen, fest entschlossen, dieser Wächterin seine Meinung zu sagen.
"Roger, warte!"
Er blieb stehen, wandte ihr aber weiter den Rücken zu.
"Hilf ihr lieber! Fie macht fon genug durch wegen mir, Roger. Wegen mir! Alfo mach ihr keine Vorwürfe."
Er seufzte schwer und drehte sich zu ihr um.
"Du willft daf wirklich durchfiehen?"
Sie nickte wieder nur.
"Fo? Dann wird ef Dir ficher nichtf aufmachen, wenn if daf mitnehme." Er trat an die Schublade und entnahm daraus ein paar Fläschchen. Er beobachtete ihre Reaktion. Wie sie einen Arm zum Protest hob und dann doch wieder sinken lies. Er lies das Beruhigungsmittel in seiner Jacke verschwinden. Mit so wenig Widerstand hatte er nicht gerechnet.
'Es ist ihr wirklich ernst damit.'
Er kam wieder auf sie zu und drückte sie an sich. Sie erwiderte erleichtert seine Umarmung.
"Gut if werde ihr helfen"
'Doch vor allem werde ich Dir helfen!'

Szene 22

Inspäctor 'Fred' Kolumbini

Der Ermittler im Stoffmantel stand unschlüssig vor der verschlossenen Bürotür seiner Kollegin.
'Hm... merkwürdig. Laut Dienstplan müsste sie bereits da sein und wenn sie nur kurze Erledigungen tätigt, hängt sie doch sonst einen Zettel an die Tür!'
Er klopfte sich mit dem Pfeifenstiel an das Glasauge, blickte den Gang hinauf und hinunter und überlegte dann noch einmal.
'Heute ist Mittwoch. Falls sie tatsächlich noch nicht da sein sollte, wäre Bregs aufgrund des Kampftrainings vermutlich der Letzte, der sie gestern Abend noch gesehen hätte. Ich könnte ihn fragen, ob sie etwas davon erwähnt hat, dass sie heute später kommen wollte...'
Er verwarf den Gedanken ebenso schnell, wie er ihm gekommen war.
'Wozu so unkameradschaftlich auf diese Unregelmäßigkeit hinweisen? Frauen sind nun mal unzuverlässige Geschöpfe. Sie war bis jetzt eine löbliche Ausnahme. Dann hat sie eben mal verschlafen - sie wird schon noch auftauchen.'
Hinter der Flurbiegung konnte er den schnellen Stakkatoschlag kleiner Absätze auf der Treppe hören, bevor diese auf der zweiten Ebene anlangten und Ophelia um die Ecke kam. Sie wühlte konzentriert in der schmalen Umhängetasche an ihrer Seite herum und ihr Umhang wehte theatralisch aufgebläht hinter ihr her. Sie fand den Schlüssel zu ihrem Büro und blickte auf. Ihr eiliger Laufschritt stolperte, der Umhang fiel in sich zusammen und sie kam dicht vor ihm zum Stehen.
"Oh, guten Morgen! Wolltest Du zu mir? Einen kleinen Moment noch, dann stehe ich zur Verfügung."
Sein taxierender Blick agierte unabhängig von ihm, ebenso wie die schlussfolgernden Denkprozesse. Er hätte nicht einmal dann etwas dagegen unternehmen können, wenn er es gewollt hätte.
'Ihr Haar ist anders frisiert als sonst und in den unteren Schichten noch nicht durchgetrocknet. Es hat heute nicht geregnet. Ihre Kleidung unter dem Umhang ist frisch angelegt: Der dezente Wäscheduft ist noch zu erahnen und die Bügelfalten beginnen sich gerade erst zu glätten. Nach dem Ankleiden aber noch vor dem Verlassen des Hauses, denn den Umhang trägt sie unbeschadet darüber, hat sie sich über eine Tischkante oder Ablagefläche gebeugt, welche mit Staub und einer winzigen Spinnenwebe benetzt war. Sie kann den grauen Belag an sich selbst nicht sehen, weil der umgebundene Arm den Blick von oben verwehrt. Sie hat das Haus in Eile verlassen und vermutlich keinen Umweg in Kauf genommen, denn sie hat genug Wert darauf gelegt pünktlich zu sein, um deutlich außer Atem anzukommen. Mich irritiert ihre betont schlichte Frisur. Sie bevorzugt doch Hochsteckfrisuren. Warum dann stattdessen zum ersten Mal keine, beziehungsweise fast nicht frisiert? Es muss sich etwas Grundlegendes getan haben! Ah! Der helle Rand an ihren Schuhsohlen! Ha! Der ungewöhnliche Matsch stammt von der großen Baustelle an der Schlechten Brücke! Sie kam also aus einer anderen Richtung als sonst, nicht von daheim. Aber... Sie ist bis jetzt privat unterwegs gewesen, sonst wäre ihr Haar nicht erst noch am Durchtrocknen. hmm... Dass sie woanders übernachtet hätte, ist unwahrscheinlich. Meines Wissens hat sie das, außer im Einsatz, noch nie gemacht. Unwahrscheinlich also aber nicht unmöglich. Entweder das oder sie ist vor sehr kurzer Zeit umgezogen. Vor so kurzer Zeit, dass die Umstellung ihren Zeitplan merklich beeinflusst.'
Ein selten humorvoller Impuls trieb ihn, einen Schuss ins Blaue zu wagen.
'Staub und Weben an Ablageflächen, über die man sich schon am frühen Morgen in aller Eile beugt, sind selten. Oder sehr, sehr sympthomatisch.'
Er grinste innerlich, als er der Stellvertretenden zunickte.
"So ein Umzug ist schon nervenaufreibend. Da gibt es dann nichts Besseres, als einen traditionellen Igor an der Seite zu haben. Allerdings kann es von Vorteil sein, den Küchentisch ausdrücklich aus ihrem Zuständigkeitsbereich auszuklammern."
Ophelia blieb mitten in der Bewegung wie erstarrt stehen, den Schlüssel halb zum Aufschließen bereitgehalten. Sie sah ihn sprachlos an.
'Ha! Ich lag also richtig. Na sowas!'
Er deutete mit dem Pfeifenstiel auf ihre Körpermitte.
"Der staubige Querbalken gibt einen kleinen Hinweis."
Sie sah erfolglos an sich herab.
"Unter der... Na, ist nicht so wichtig."
Die stellvertretende Abteilungsleiterin sah ihn dermaßen erschrocken an, dass er seinen kleinen Scherz zu bereuen begann. Er räusperte sich verlegen und hob demonstrativ die Linke mit der Akte in die Höhe, zu der er eine Frage auf dem Herzen hatte.
"Tut mir leid, wenn das zu indiskret gewirkt haben sollte. Man sollte meinen, dass ich über das Alter, neugierig anzutesten, hinaus sei. Ich bin eigentlich wegen der Palomini-Sache hier."
Sie nutzte seine Argumentation, um sich wieder zu fassen und lächelte ihn arglos an. Ein Ausdruck, den er ihr schon lange nicht mehr abnahm. Aber da es ihr so wichtig schien, ließ er sie in dem Glauben.
"Ach, Du musst dich wirklich nicht entschuldigen. Ich habe mich nur so gewundert, dass Du schon von dem Umzug zu wissen schienst, wo er doch erst gestern abend stattfand. Und obendrein bin ich durch die vielen Aufgaben und die Dinge, an die es zu denken galt, noch etwas verwirrt." Sie drehte sich schnell mit dem Schlüssel um und öffnete die Tür. "Komm doch bitte herein und mache es Dir bequem, Inspäctor!" Sie riss ein Streichholz an, um damit wiederum die Schreibtischlampe zu entzünden.
'Raffiniert, die Reibefläche an der Tischkante zu befestigen!'
Der schnell aufleuchtende, warme Feuerschein vertrieb das Grau aus dem Raum.
"Die Palomini-Sache, sagtest Du?"
Er nickte, obwohl sie gerade damit beschäftigt war, sich den Umhang von ihren Schultern zu ziehen und ihn daher nicht sonderlich beachtete.
"Ja. Ich bin den Fall jetzt bestimmt an die fünfzig Mal durchgegangen und irgendwas daran bringt mich ins Schleudern. Ich habe die ganze Zeit überlegt, was es sein könnte und bin zu dem Schluss gekommen, dass es beim Ellermann-Fall, in dem zur Zeit Mina ermittelt, einen Namen gab, bei dem es klingelt. Ich bin mir nicht sicher, ist schon eine Weile her, dass ich da noch für die ersten Nachforschungen zuständig war. Aber ich würde die entsprechende Akte gerne noch mal sichten."
Die R.U.M.-lerin ließ ihre Hand kurz über dem Aktenstapel zu ihrer Rechten schweben. Dann schichtete sie diesen flink um und hob eine dicke Akte aus dem Wust. Sie reichte sie ihm.
"Ich habe sie gestern aktualisiert und mit einigen anderen Archivleichen verglichen. Ich bin zu dem gleichen Schluss gekommen wie Du und hätte Euch natürlich heute Bescheid gegeben. Meines Verständnisses nach handelt es sich um einen gewissen Herrn Hubert Scheinbar. Er taucht in beiden Fällen auf. Darüber hinaus habe ich weitere Verbindungen zwischen einigen Fällen gefunden, die ich daraufhin mit beiden, der Palomini- und der Ellermann-Akte, verglichen habe. Es gibt also, wenn ich das richtig zusammengetragen habe, Querverbindungen zu etwa zwanzig ungeklärten Fällen im Archiv. Mal sind es nahezu identische Vorgehensweisen gewesen, mal könnte es die gleiche Tatwaffe gewesen sein. Die Fälle haben sich hauptsächlich in den Schatten ereignet, weswegen sie schnell abgelegt wurden, und sie haben sich alle in den letzten zwei Monaten zugetragen. Wenn ich mich nicht völlig täusche - und ich würde es mir beinahe wünschen - scheint es in allen ein spezizistisches Motiv zu geben. Ich wollte heute gleich als erstes eine entsprechende Notiz schreiben und diese Breguyar zukommen lassen. Ich richte ihm dann auch gleich aus, dass er die dazugehörige Akte bei Dir finden kann, Inspäctor."
Sie lief währenddessen geschäftig in ihrem Büro umher, weckte den leise grummelnden Kaffeedämon, entzündete eine weitere Kerze und bot ihm einen Stuhl und einen schnell mit Gebäck gefüllten Unterteller an, den sie neben den Aktenberg abstellte.
Kolumbini sah von den nun zwei Akten in seinen Händen zu dem riesigen Stapel auf dem Tisch, aus dem sie die letztere ausgewählt hatte. Er ließ sich auf den angebotenen Stuhl sinken.
"Sind das die alten Fälle, die dafür in Frage kommen?"
Sie schob ihm eine frisch aufgebrühte Tasse schwarzen Tees näher, nickte und lächelte ihn freundlich an.
"Ja, Warum?"
'Wie hat sie eine solche Menge tatsächlich betroffener Fälle aus den unübersichtlichen Ablagebergen herausfiltern können? Vor allem, nachdem diese Fälle als hoffnungslos kategorisiert und fortgeworfen worden sind!'
"Ach, nur so."

Szene 23

Enaga Mim 'Magane' Schneyder, ehemals Drachenzüchtertochter

Magane legte den ausgewaschenen Lappen über den Rand der Spüle, streckte sich und rieb sich müde den Nacken. Dann sah sie sich noch einmal in der Pathologie um.
'Feierabend! Es wird auch Zeit. Wenn ich mich beeile, schaffe ich es vielleicht noch über den Markt, um eine schöne Kleinigkeit für Tom...'
Es klopfte an der Tür.
Die große Wächterin stöhnte entnervt.
'Es ist wirklich immer das Gleiche. Jedes Mal!'
"Ja! Was ist?"
Die Tür öffnete sich und herein kam die Stellvertretende von R.U.M.
"Oh... Du wolltest vermutlich gerade Schluss machen, ich vergaß. Ich habe kaum mitbekommen, wie spät es schon wieder ist."
Sie hasste es, wenn das passierte.
'Aus dem Marktbummel wird wieder nichts werden. Toll!'
Mit einem lang gezogenen Seufzer schüttelte sie resignierend den Kopf.
"Schon gut. Du wirst ja wohl nicht wegen nichts hergekommen sein. Worum geht es?"
Ophelia Ziegenberger neigte dankend den Kopf und trat vollends ein. Sie schloss die Tür hinter sich und kam sofort auf den Punkt.
"Kannst Du dich noch an die Obduktion von vor etwa drei Wochen etwa erinnern, im Van Vallaffay-Fall?"
"Die Tortenheber-Sache?"
Die kleine Frau nickte ernst.
"Selbstverständlich kann ich das noch. Es kommt nicht jeden Tag vor, dass das Opfer auf dem Seziertisch aufwacht und über dessen Härtegrad herumzunörgeln beginnt. Warum fragst Du?"
Die R.U.M.-lerin strich sich in einer zurückhaltenden Geste beiläufig den Rock glatt.
"Es könnte sein, dass es eine Querverbindung zu anderen Fällen gibt. Ich würde das gerne entweder bestätigen - oder ausschließen. Weswegen ich auf der Suche nach zusätzlichen Informationen bin. Vielleicht kannst Du dich noch an irgendetwas erinnern, eine Kleinigkeit oder etwas, was das Opfer gesagt hat? Die Akte selber habe ich bereits gelesen."
Magane runzelte die Stirn.
"Ich wüsste nichts Weiteres, was hilfreich sein könnte. Ich habe alles in die Akte geschrieben. Was sollte das auch sein? Dass er seinem Beinahe-Mörder den Tod an den Hals gewünscht hat?"
"Ich weiß es auch nicht. Aber jeder zusätzliche Hinweis könnte helfen."
Magane verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich an.
"Na gut. Ich erzähle Dir, woran ich mich noch erinnere und danach gehe ich in den Feierabend?"
Die Ziegenberger nickte.
'Puh! Na mal sehen... ist schon ein Weilchen her...'
"Herr van Vallafay wurde hergebracht und auf dem Tisch platziert. Alles deutete darauf hin, dass er tot war. Besonders sein zur Hälfte abgetrennter Kopf und die Tatsache, dass weder Puls, noch Atmung festgestellt werden konnten. Wir haben also damit angefangen, ihn auf etwaige Spuren des Angreifers hin zu untersuchen und allen Kleinkram, den er zum Beispiel in den Taschen bei sich gehabt hatte, einzutüten. Mit 'wir' meine ich in diesem Fall mich. Wir sind etwas unterbesetzt." Sie dachte nach und versuchte, sich an möglichst viele Einzelheiten zu erinnern. "Was er dabei gehabt hat, stand ja im Bericht. Jedenfalls war ich gerade dabei, mit der Pinzette in der Halsöffnung herumzustochern, als ein kräftiger Ruck durch den Körper ging. Ich will gar nicht leugnen, dass ich mich erschrocken habe. Ich bin rückwärts vom Tisch weg und habe mir das erst mal angeguckt. Die Zuckungen hörten trotzdem nicht auf. Hat also, dachte ich mir, nichts mit dem Stimulieren irgendwelcher Nervenbahnen zu tun. Ich habe ihn also erst mal zu packen bekommen und mit Mullbinden am Tisch festgebunden. Er kam ziemlich wirr zu sich und gab unschöne Geräusche von sich." Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. "Stellte sich ziemlich schnell heraus, dass er keine Schmerzen mehr empfand. So gesehen, durfte ich einen neuen Zombi begrüßen." Sie zögerte kurz, bevor sie weiter erzählte. "Sein untoter Zustand wurde durch die instabile Verbindung von Kopf und Körper nicht besser, so dass er nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen war. Andererseits konnte ich in dem Punkt Abhilfe schaffen. Und das dauerte immerhin lange genug, um ihn ausreichend zu beruhigen. Er fand sich dann damit ab, erst mal liegen und warten zu müssen und ich konnte in Ruhe an meinen Handnähten üben. Das einzig Blöde an der Situation war im Grunde, dass er die ganze Zeit über geredet und gemeckert hat. Das meiste, was er sagte, habe ich ausgeblendet." Sie hob abwehrend die Hände, um Ophelias missbilligenden Einwand zuvorzukommen. "Ja, ja. Ich weiß! Aber da hätte jeder Probleme gehabt, sich auf das Dauergenörgel zu konzentrieren, ehrlich! Nervige Jugendliche hier, nervige Alte da, alle keinen Respekt mehr, Raudis, Randalen, blablabla..."
Die kleine Wächterin neigte verstehend den Kopf.
"Im Protokoll hast Du geschrieben, dass er seinen Angreifer nicht gekannt hat und ihn vermutlich auch nicht wiedererkennen würde. Dass es sich aber definitiv um einen Einzeltäter gehandelt hat. Hatte Herr van Vallafay eine eigene Theorie dazu, weswegen er erst niedergeschlagen und dann beinahe mit einem Tortenheber geköpft wurde?"
Magane zuckte mit den Schultern.
"So viel wie er geredet hat, hatte er eine Menge Theorien dazu. Mal hat er sich eingebildet, das Ganze wäre eine Verschwörung scheibischen Ausmaßes, um ausgerechnet ihn umzubringen und dadurch zu verhindern, dass er in die Politik ginge, um dem ganzen außerstädtischen Pack zu zeigen, wo es hingehörte. Dann wieder waren es Außerscheibische oder sogar die Götter, die an ihm ein Experiment gewagt hätten. Irgendwann steigerte er sich sogar in die Idee hinein, dass sein Angreifer möglicherweise ein von den Göttern Auserwählter gewesen sein könnte, der ihm auf brutale Weise das Nachleben schenken musste! Der Kerl hatte einfach nicht mehr alle Tassen im Schrank, wenn Du mich fragst."
Ophelia Ziegenberger wägte das Gehörte ab und ließ sie dann an ihren Überlegungen teilhaben.
"Ich möchte deine Aussage jetzt nicht im Voraus beeinflussen aber ich wüsste nicht, wie ich die Frage sonst stellen sollte: Gab es bereits vor Herrn van Vallafays Erwachen in seinem Aussehen Hinweise darauf, dass er eventuell einer untoten Spezies angehören könnte?"
Die Gerichtsmedizinerin musste etwas grinsen.
"Also normalerweise sieht man das einem Zombi zu Lebzeiten nicht an, dass er eine untote Veranlagung hat, das ist Dir schon klar? Bei denen passiert der Übergang eigentlich immer sehr überraschend."
Ophelia schüttelte verlegen den Kopf.
"Nein, das meinte ich nicht. Dieser Aspekt ist mir bewusst gewesen. Aber wenn Du die Frage so auffasst, dann hat sie sich womöglich ohnehin erledigt."
Magane lächelte noch immer, als sie fortfuhr. "Schon gut! Nein, ich weiß, was Du meinst und er hatte tatsächlich typische Anzeichen, die man, wenn man es darauf angelegt hätte, auch anders hätte interpretieren können: blass wie ein Blatt Papier, hervortretende Augen die ihm garantiert schon zu Lebzeiten einen unangenehm stechenden Blick ermöglicht haben, ungewöhnlich lange Fingernägel... wobei ich bei seiner Gesamterscheinung davon ausgehen würde, dass er es einfach nicht so mit der Körperpflege gehabt hat. Bah! Ich wünschte mir manchmal, dass Mordopfer vorher Bescheid bekämen und sich noch waschen könnten!"
Die Stellvertretende merkte deutlich auf und blickte sie interessiert an.
"Alles in allem hätte jemand Unbedarftes ihn also durchaus mit einem Vampir verwechseln können?"
Magane dachte kurz über diese Frage nach und nickte dann.
"Ja, wäre möglich."
"Danke!" Die kleine Rothaarige ging in Gedanken versunken zur Tür und drehte sich beim Verlassen der Pathologie nur noch kurz um. "Danke für deine Zeit und noch einen schönen Nachmittag!"
Magane blickte ihr nach.
'Hm... Das muss man neuerdings aber nicht auch noch in die Akten eintragen, ob jemand schon vor seinem Tod unansehnlich aussah. Oder?'

Szene 24

Jargon Schneidgut

Der ungewöhnlich klare Himmel ließ den Sonnenuntergang warm über die Hausfassade und über den groben Kies des Innenhofes leuchten. Sie wichen beide zurück und der aufwirbelnde Staub glitzerte kurz in der kalten Luft, als die mit ihm vermischten Eiskristalle sich wieder setzten.
'Sie ist nicht so ausgeglichen wie sonst.'
Der Rechtsexperte ging zwei kleine Schritte seitwärts und beobachtete dabei mit regloser Mimik, wie Ophelia sein Verhalten spiegelte.
Er hatte sie vor etwa zwei Stunden in der Kantine abgepasst, als sie sich ein belegtes Brot holen und damit zurück in ihr Büro flüchten wollte. Ja, irgendwie war exakt dieses Wort bei ihrem Anblick in seinem Sinn aufgetaucht und er hatte es bis jetzt nicht wieder abschütteln können. In den letzten Wochen hatte er sie etwas kennengelernt und dabei festgestellt, dass ihr sehr viel daran lag, mit möglichst jedem Kollegen im Kontakt zu bleiben. Normalerweise scheute sie dazu keine Mühe. Was er unter anderem daran gesehen hatte, dass sie es kaum jemals versäumte, gegen Abend einen letzten Abstecher in die Kantine zu unternehmen, nur um vor dem Heimweg etwas Warmes zu trinken und noch einmal den Austausch zu suchen. Egal wie lang ihr Tag gewesen und wie müde sie war. Heute jedoch... sie war Blicken und Fragen ausgewichen. Bis sie kurz vor der Tür mit ihm zusammenstieß. Er war noch am Überlegen gewesen, ob er sie überhaupt fragen sollte, als sie ihm schon mit beinahe erleichtertem Blick die Antwort gab.
"Jargon, wolltest Du mich wegen einer Übungseinheit fragen? Denn wenn ja, dann wäre das eine Erleichterung. Ich denke, ich könnte etwas Bewegung gut vertragen."
So direkt darum gebeten, konnte er natürlich nicht mehr ablehnen, zumal auch ihm die gemeinsamen Übungen mit ihr Spaß machten. Sie war einer der wenigen Kollegen, die weder zu lasch, noch zu draufgängerisch konterten. Mit ihr zu trainieren machte einfach Sinn.
Heute schien sie sich auf den Verteidigungspart einzuschwören, ihre Angriffe kamen selten. Doch wenn, dann kamen sie viel heftiger als bisher.
Ihre Blicke trafen sich und zeitgleich damit, dass er sein Kurzschwert hob und auf sie losging, packte sie das ihre fester und schien mit der Erde zu verwurzeln.
Die Schwerter trafen klirrend aufeinander und sie traten wieder zurück.
Ophelias Blick wirkte abgelenkt und sie schien insgesamt erschöpft. Irgendetwas an ihrem Äußeren irritierte ihn, doch er kam einfach nicht darauf, was es war. Stattdessen nahm er wieder das langsame Kreisen auf.
Sie redeten normalerweise nicht besonders viel miteinander. Dennoch war ihm bewusst, dass sie offensichtlich unter Anspannung stand.
Er ließ seine Schwerthand sinken und richtete sich gänzlich auf.
Sie nahm ebenfalls die normale Haltung an und sah ihn überrascht an.
Er fragte unsicher: "Sollen wir wirklich weiter üben?"
Sie runzelte verwirrt die Stirn.
"Wenn es Dir recht ist... Warum denn nicht?"
Er ließ das Schwert an seine Seite sinken und lockerte etwas die Schultern.
"Also irgendwie... irgendwas an Dir... Ophelia, du siehst aus als würde dich ein, naja, sehr persönliches Problem belasten. Das man so jetzt - mit den Schwertern und Bewegung allein - nicht lösen kann."
Ein nervöses Kribbeln streifte sein Genick.
Sie sah ihn direkt an und schien fieberhaft zu überlegen. Dann entspannte auch sie ihre Haltung.
Die Ahnung von Gefahr verflog und er konzentrierte sich wieder auf die Mitwächterin.
"Du hast Recht. Es tut mir leid, wenn ich deine Zeit vertan haben sollte. Ich hatte angenommen, meine Gedanken durch frische Luft und Routine bändigen zu können aber dieser Versuch muss wohl als gescheitert angesehen werden."
Er grinste. "Keine Sorge. Man könnte mir das Gleiche vorwerfen. Von daher..."
Ihre unregelmäßigen Treffen im Innenhof hatten dazu geführt, dass er die Stellvertretende Abteilungsleiterin der Raub Und Mord-Abteilung ganz gerne mochte. Als ungeschriebene Regel zwischen ihnen galt zwar, dass sie einander keine privaten Fragen stellten. Genauso selbstverständlich war es jedoch geworden, dass sie sich über die Vorgänge zwischen den Abteilungen austauschten.
"Ähm... wenn es etwas mit der Arbeit zu tun hat... und wenn Du magst, könnte ich dir versuchen zu helfen? Sollen wir uns vielleicht drinnen einen Kaffee holen? So langsam wird's mir dann doch kalt hier draußen."
Sie steckten schweigend die Schwerter weg und gingen auf den hinteren Eingang des Wachhauses zu. Kaum, dass sie es betraten, schlug ihnen muffelige Wärme entgegen.
Ophelia sah ihn kritisch von der Seite an, bevor sie ihren Blick wieder nach vorne richtete.
"Ich weiß nicht, ob Du das kannst, Jargon? Eine der Sachen, die mich aktuell beschäftigen, könnte aber auch für Dich interessant sein. Hast Du von dem Mann gehört, der vor einigen Tagen tot in der Pathologie landete und dort auf dem Seziertisch als Zombie erwachte?"
"Ja", sagte er. "Ein interessanter Fall."
Sie lächelte ihn von der Seite an.
"Ich dachte mir, dass Du das eventuell so sehen würdest. Und? Was sagst Du aus rechtlicher Sicht zu der ganzen Sache?"
Er konnte nicht umhin, die Wärme zu registrieren, mit der ihm eine leichte Röte in die Wangen schoss. Es freute ihn irgendwie sehr, wenn sie ihn um seine Sicht eines Problems bat.
Sie blickte taktvoll fort und tat so, als wenn sie das Angebot auf der Speisekarte brennend interessieren würde. Dabei wusste sie die beiden Standardgerichte und die drei Getränke, die dort vermerkt waren, ganz sicher längst auswendig.
Jargon sammelte seine Gedanken, griff nach dem frisch gefüllten Becher heißen Kaffees, den sie ihm reichte und begann die Fakten, so sie ihm bekannt waren, aufzuzählen.
"Der Mann war ohne Vorwarnung und ohne ersichtlichen Grund auf offener Straße und bei Tag tätlich angegriffen worden. Er hatte nicht einmal die Gelegenheit, sich zu verteidigen. Ohne Quittung kann von einem rechtmäßigen Auftrag nicht die Rede sein. So gesehen hätten wir es mit unlizensiertem Mord zu tun, der aufgrund seiner Geringfügigkeit keinerlei Interesse der Assassinengilde auf sich gezogen hat und somit folgerichtig bei Euch gelandet ist. Ähm... immer unter der Voraussetzung, dass es nicht noch unbekannte Fakten gibt, die dem entgegen stünden? Erst recht, da das Ganze in den Schatten geschah, wenn ich richtig informiert bin?"
Sie nickte und hörte ihm aufmerksam zu, während sie sich gemeinsam einen Tisch in der Ecke der Kantine suchten. Ihre Schwertgehänge richteten sie beim Setzen beiläufig so aus, dass die Schwerter eng anlagen und unter den Tisch zeigten, so dass niemand über sie stolpern würde.
"In Ordnung. Als er wieder zu sich kam, fiel der Anklagepunkt des Mordes faktisch gesehen weg. Es blieben, insofern er Anzeige gegen Unbekannt erstattet hätte, lediglich noch der brutale Angriff mit Körperverletzung oder eventuell Raub?"
Sie schüttelte leicht den Kopf.
"Es wurde ihm nichts entwedet. Er hatte noch alle persönlichen Gegenstände bei sich. Es scheint sich also um eine persönlich motivierte Tat gehandelt zu haben. Und Anzeige erstattet hat er auch nicht. Das wäre ihm zu mühseelig gewesen, mit den Formularen."
"Dann ist keiner mehr von uns zuständig, würde ich meinen."
"Ja. Dementsprechend wurde die Akte auch als abgeschlossen betrachtet. Ich frage mich nur..."
Jargon nippte an der heißen Flüssigkeit.
"Was fragst Du dich?"
Sie blickte mit müdem Blick an ihm vorbei und in eine nicht vorhandene Ferne.
"Wenn der Täter gefunden werden würde und man ihm vielerlei Dinge zur Last legen, keine davon jedoch beweisen könnte, gäbe es dann eine Möglichkeit diesen Fall wieder aufzurollen? Selbst wenn das Opfer den Aufwand scheut?"
Jargon begann ernsthaft über diese Frage nachzudenken.
"Sicherlich... brutaler Angriff mit Körperverletzung kann rechtlich immer noch als von der Obrigkeit zu verfolgendes Verbrechen gesehen werden, vor allem wenn der Tod folgte - ich meine, man kann und sollte vielleicht auch davon ausgehen, dass der Punkt wegfällt. Aber eingetreten ist der Tod praktisch gesehen! Kann man wohl kaum bestreiten, oder? Der 'Club des neuen Anfangs' spricht mit Bezug auf den Übergang ja schließlich auch faktisch vom 'Tod'. Wie lange dieser Zustand andauert ist ja eine andere Frage und für die Definition des ersteren Umstandes ohne Bedeutung. Und dass ein Angriff, mit Tod als Folge, staatlich strafrechtlich verfolgt werden kann, steht ja wohl außer Frage... dazu würde passen, Moment, wo hatte ich denn..." Jargon kramte einige aneinander geheftete Seiten heraus, blätterte sie kurz durch und las dann vor, "'Sieht das Opfer von einer Anzeige ab und besteht im Falle eines tätlichen Angriffs zugleich Unklarheit über den Verbleib oder das Motiv des Täters, so kann ein Haftbefehl wegen 'Gefährdung der allgemeinen Bevölkerung' gegen den Täter erlassen werden, weil sein Motiv unbekannt ist und es daher sein könnte, dass er beabsichtigt, so viele Bürger wie möglich grundlos zu schädigen.'" Er grinste. "Wenn man will kann man praktisch für alles ein Gesetz auftreiben. Das ist zwar mühselig aber machbar."

Szene 25

Rogi Feinstich

Rogi schüttelte ihre Jacke mit kräftigem Schlag aus, so dass es knallte. Ein paar Federn stoben davon und wirbelten durch ihr Büro.
Die Idee, sich etwas zu bewegen und dazu auf dem Dach nach den Tauben zu sehen, war gut gewesen. Die frische Luft tat ihrem Körper gut, während das Hegen und Pflegen der zerbrechlichen Lebewesen ihrem Gemüt zugute kam. Sie fühlte sich etwas besser als zuvor.
Sie hängte die Jacke weg und hielt dabei überrascht inne.
Sogar das Zittern in den Händen hatte nachgelassen!
Ein leises Klopfen am Türrahmen ließ sie auf dem Absatz drehen. Dort stand Ophelia.
Rogi war nach der unruhigen Nacht so früh wie möglich zum Wachhaus aufgebrochen, ohne darauf zu warten, dass Ophelia aufgestanden wäre und sie sich dadurch noch gesehen hätten. Nun jedoch... Ophelias langes Haar hing in offenen Wellen schwer auf ihre Schultern herab. Ein so seltener Anblick, dass sie regelrecht verfremdet wirkte.
"Ja?"
Ophelia räusperte sich. Sie trat einen schüchternen Schritt näher.
"Hast Du vielleicht gerade einen Moment Zeit, Rogi?"
"Worum geht ef?"
Die Ermittlerin rang sich mit einem schweren Seufzer zu einer Anwort durch.
"Ich bräuchte deine Hilfe, wenn Du so lieb wärst."
"Meine Hilfe? Wofür daf denn?"
"In Kurzem muss ich zu meinen Eltern, um sie wegen des Umzugs zu beruhigen. Und wenn ich dort in einem solchen Aufzug auftauche..." Sie deutete vage auf ihren Kopf, "...dann wird das Gespräch nicht gut verlaufen. Selbst wenn sie sämtliche Hintergründe wüssten, würden zumindest Großtante Pätrischa und meine Mutter meinen derzeitigen Zustand als verwahrlost betrachten und vehement dagegen argumentieren, dass ich weiterhin mir selber überlassen bliebe. Es würde alles noch komplizierter werden." Ihre Lippen waren nur noch ein schmaler, blutleerer Strich. "Könntest Du mir deswegen vielleicht bei einer Frisur helfen?"
Rogis Blick schnellte zu dem geschienten Arm und blieb bedeutungsvoll auf diesem liegen.
'Wenn sie mich operieren ließe, dann hätte sie dieses Problem gar nicht!'
Ophelia wich ihrem Blick endgültig aus. "Normalerweise kümmert sich Märrie allmorgendlich um das Frisieren. In all dem Trubel habe ich keinen weiteren Gedanken daran verschwendet, wie ich das nun handhaben soll. Bis heute morgen. Ich habe alles Mögliche versucht aber alleine bekomme ich das nicht hin. Ich würde Dich auch gar nicht deswegen behelligen, wenn mir einfiele, wen ich sonst fragen könnte. Aber irgendwie... es stünden immer Fragen im Raum... unliebsame Fragen, denen ich lieber von vornherein aus dem Wege gehen würde..." Sie sah wieder auf und wartete ergeben auf die Antwort.
Rogi durchdachte die Situation und sah nichts, was dagegen gesprochen hätte. Sie wandte sich dem Schreibtisch zu, zog den Stuhl von dort zurück und stellte sich hinter diesen. Mit auffordernder Geste deutete sie auf das Sitzmöbel. "Wenn ef weiter nichtf ift..."
Ophelia atmete hörbar auf und beeilte sich, vor der Igorina Platz zu nehmen. Sie griff in ihre Gürteltasche an der Seite und zog eine Bürste und einiges an Haarutensilien hervor. Sie breitete alles auf der Schreibtischfläche aus.
"Ich war mir nicht sicher, ob Du dich bereit erklären würdest. Und selbst wenn... ich weiß ja nicht, was für eine Art von Frisur Dir liegt. Deswegen habe ich einfach alles mitgebracht, was ich auf die Schnelle einpacken konnte."
Einige der Haarklammern wirkten ebenso filigran oder komplex, wie ihr Operationsbesteck. Rogi griff sich erst einmal die Bürste und begann, das lange Haar mit kräftigen Zügen durchzukämmen.
Zwischen ihnen breitete sich angenehme Stille aus.
Als sie die Masse an Haaren in einzelne Strähnen aufzuteilen begann und diese teilweise mit den kleineren Klammern beiseite steckte, sagte Ophelia leise:
"Danke!"
"Fon gut."
Sie hatte ganz vergessen, wie meditativ diese Tätigkeit sein konnte.
Lächelnd entschied sie sich für eine Frisur, bei der die beiden zusätzlichen Daumen essentiell waren, um weitere Strähnen gekonnt querzuflechten.
"Habe ich fon lange nicht mehr gemacht. Daf letfte Mal, daf war in einer Werwolffamilie. Aber da muffte ich meiftenf nur die Knoten auf dem Fell der Kleinen bekommen, wenn fie fu arg rumgetobt hatten."
Ophelia schien zu überlegen, doch der Moment für eine Gegenfrage verflog. Die friedliche Stimmung breitete sich aus. Von außerhalb war ganz entfernt das geschäftige Treiben am Tresen zu hören. Irgendwie trug dies dazu bei, sich hier drinnen zu entspannen.
Rogi konzentrierte sich ganz auf das vor ihr befindliche Projekt und unter ihren Händen wuchs ein ungewöhnliches Kunstwerk heran.

Szene 26

Ronald Ziegenberger

Er war noch nie ein Mann großer Taten gewesen. Worte lagen ihm mehr und auch dort eher diejenigen, die er sorgsam auswählte und in schweigsamer Einsamkeit in seinem Arbeitszimmer zu Papier brachte. Die endlosen Recherchen und sich stapelnden Artikel für die aktualisierten Ausgaben des Almanachs, der womöglich auflagenstärksten Veröffentlichung der Scheibe, vereinnahmten den größten Teil seiner Zeit und Aufmerksamkeit. All die kleinen Ereignisse des Familienlebens, die sich vor der Tür seines Raumes zutrugen, wirkten, im Gegensatz zu den gesicherten Vermutungen über beispielsweise die Multidimensionale Zweikopfschlange der Wiewunderebenen oder den betörenden Duft einer achatenen Blutschnake, farblos und irreal.
Am schlimmsten fand er die Familienkonferenzen!
Kathrine hatte allerdings betont, wie wichtig ihr seine Teilnahme dieses Mal sei, wenn Ophelia zum Tee käme. Sie hatte ihr Anliegen solcherart unterstrichen, dass sie ihm mit einer großen Aufräum- und Lüftungsaktion in seinem Refugium gedroht hatte!
Der scheibenbekannte Mitautor des Almanachs sank bei diesem Gedanken noch etwas weiter in dem Lehnsessel zusammen. Glücklicherweise stand der ihm als Herrn des Hauses bei solchen Gelegenheiten zu. Nur genügten die ausgebeulten Seiten des Polsters nicht, um ihn vor Amalgam zu verstecken. Der griesgrämige Drache legte sein längliches Pferdegesicht einmal mehr so nachdrücklich in missbilligende Falten, dass sie sich dabei das Monokel beinahe in die Augenhöhlen implantierte.
"Ronald, ich wundere mich wirklich sehr darüber, dass Du offenbar nichts zu dem Thema beizusteuern gedenkst. Bist Du dir sicher, dass Dir überhaupt etwas an deiner jüngsten Tochter liegt?"
Der innere Seufzer kam metaphorisch aus den Tiefen seines Herzens.
'Sie lässt nie locker. Niemals! Eher würde eine Eiswüste schmelzen...'
Er griff sicherheitshalber wieder zu der eben erst abgestellten Tasse und hielt sich diese demonstrativ dicht vor den Mund. Lieber verbrannte er sich noch einmal die Zunge, in dem Bemühen, sehr beschäftigt zu wirken, als dass er das Gespräch mit der meckernden Alten vertiefen würde.
"Weißt Du, Amalgam, deine Sorge ehrt Dich natürlich. Aber sie ist unnötig. Ophelia ist inzwischen eine erwachsene junge Frau und wird ihren Weg gehen." Er unterbrach ihren vorhersehbaren Einwand gekonnt, indem er schnell anfügte: "Dass dieser Weg nicht immer demjenigen entspricht, den Du oder ich erwählt hätten, ist dabei wohl selbstverständlich. Sie ist jung und die jungen Menschen wachsen in einer anderen Stadt auf, als wir es noch taten."
"Papperlapapp!"
Er hasste es, wenn sie das tat!
"Mein lieber Ronald, willst Du damit etwa andeuten, dass sich die Regeln des Anstandes willkürlich an- oder abschalten ließen?"
"Natürlich nicht. Aber deren Anwendung hat sich leicht gewandelt in den letzten Jahren, ist milder geworden. Eine Tatsache, die Du nicht zuletzt an dem Erfolg der Kurse des Instituts 'Handkuss' des Herrn Adolph von Knigge ersehen könntest, vor allem mit Bezug auf deren inhaltlichen Aufbau. Die Zeit bleibt nicht stehen - für keinen von uns."
Amalgam schnaubte undamenhaft.
Er wusste genau, dass er damit einen Nerv getroffen hatte.
Das kurze Hochgefühl schwand augenblicklich, als er sich dem viel zu heißen Tee zuwandte.
Das Auftauchen seiner Frau mit dem Kuchentablett rettete sie beide davor, etwas zu sagen, was sie sicherlich bereut hätten. Sie stellte den Teller mittig auf dem niedrigen Tisch zwischen ihnen ab und hielt das Tablett vor sich. Sie wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit der etwas zurückhaltenderen Anna-Gramma, bevor sie in vorwurfsvollem Tonfall fragte: "Haben sie schon wieder miteinander gestritten, Mama? Nicht eine Minute kann man sie allein lassen, wirklich!"
Die rundlichere Dame bewegte unbehaglich die Schultern, was sowohl ihr seidiges Tageskleid in Wallung brachte, als auch ihre unzähligen schmalen Armreifen zum Klingen. Sie schüttelte gutmütig den Kopf.
"Ach, mein Kind, nimm sie doch nicht immer so überaus ernst. Das ist doch nur Geplänkel."
Amalgam ignorierte ihre jüngere Schwester mittels jahrzehntelangen Trainings, nahm das Augenglas zur Hand und hielt es mit prüfendem Blick näher an das soeben abgestellte Kuchensortiment, nur um es sofort darauf wieder vor ihr Auge zu platzieren.
"Was ist das für eine Sorte, Kathrine?"
"Das ist gedeckter Apfelkuchen, meine Liebe."
"Hm, willst Du das Kind auch noch für seine störrische Haltung belobigen?"
Seine Frau hielt das Tablett wie einen historischen Schild der Djellebiler im Kampf, ließ es aber sofort an die Seite sinken, als ihr dies bewusst wurde. Sie straffte die Schultern und erinnerte ihn dadurch an ihre gemeinsame Tochter. Das gleiche rote Haar, die gleiche stolze Haltung - keine Frage, wo ihre kleine Philly das her hatte!
'Hach! Ich weiß, warum ich Kathrine damals geheiratet habe. Meine Feuer-Amazone!'
Der Gedanke löste einen der seltenen Anflüge wehmütiger Zuneigung bei ihm aus.
Kathrine schoss in Richtung Amalgam zurück.
"Es ist das erste Mal, dass sie nicht mehr daheim wohnt und uns besuchen kommt. Da werde ich ihr doch wohl ihr Lieblingsgericht eindecken dürfen! Das Eine hat mit dem Anderen rein gar nichts zu tun. Sie ist immerhin noch meine Tochter!"
Amalgam hob in bedeutungsvollem Schweigen beide Brauen in die Höhe, was dazu führte, dass das Monokel in theatralischem Effekt an seiner Kette herab fiel.
Kathrine warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, bevor sie mit wütend raschelnden Röcken und dem Tablett in die Küche rauschte, um dort der unschuldigen Märrie einzuheizen.
'Was? Was habe ich denn jetzt wieder falsch gemacht? Ich habe doch gar nichts gesagt!'
Amalgam konnte es sich natürlich nicht verkneifen, das letzte Wort zu haben.
"Zu meiner Zeit, da hätte es so etwas jedenfalls nicht gegeben. Und den Apfelkuchen auch nicht!"
Er holte schon Luft, um zu kontern, als sein Blick den Anna-Grammas traf und diese ihm mit mildem Lächeln und angedeutetem Kopfschütteln zu verstehen gab, es lieber dabei zu belassen.
Er atmete betont langsam aus.
An der Wohnungstür kam es zu Aufruhr. Märries freudige Stimme war deutlich heraus zu hören, was Amalgam zu einem ihrer typisch verkniffenen Mundwinkeln bewegte. Kurz darauf öffnete die Haushaltshilfe glückstrahlend die Tür zum Salon.
"Das junge Fräulein ist jetzt eingetroffen."
Damit trat Märrie beiseite und ließ, mit bewunderndem Blick, Ophelia eintreten. Diese erblickte ihn und lächelte ihm herzlich zu.
Ronald erhob sich von seinem Sitz, so wie es jedem wohlerzogenen Gentleman gut zu Gesicht stand, wenn eine Dame den Raum betrat.
Und was für eine Dame aus seinem kleinen Sonnenschein geworden war! Hatte er sie nicht erst vor zwei Tagen das letzte Mal gesehen? Oder war es tatsächlich schon länger her, dass er seine kleine Philly wirklich wahrgenommen hatte? Sein Töcherlein war in den letzten Jahren zu einer eleganten Schönheit herangewachsen, selbstsicher und stilvoll. Das schlichte dunkelgrüne Kleid schmeichelte ihrer Figur und selbst das elendige Ledergeschirr für ihren Arm harmonierte im gegebenen Braunton hervorragend damit. Die kunstvolle Hochsteckfrisur betonte ihre strahlenden Augen, der enganliegende Kragen ihren Schwanenhals und die leichte Röte auf ihren Wangen rundete den angenehmen Anblick ab.
'Wenn ihr ungestümes Temperament sie nicht zur Stadtwache getrieben hätte, mit all den Episoden und bösen Folgen, dann wäre mein Augenstern inzwischen gut vermählt. Keine Frage! Es würde mich wundern, wenn die jungen Männer hinter ihrem Rücken nicht einen zweiten Blick wagten.'
Amalgam stellte wieder einmal ihre Zuverlässigkeit unter Beweis, wenn es um die Zerstörung einer positiven Atmosphäre im Raum ging.
"Ophelia, Kleines! Diese Frisur ist nicht ganz passend für einen Nachmittagstee, denkst Du nicht auch? Meiner Meinung nach wäre sie für eine anspruchsvolle Abendgesellschaft angemessener gewesen. Aber nun ja... die Jugend eben, nicht wahr, Ronald?"
Seine Tochter fuhr sich verunsichert mit der gesunden Hand an das komplizierte Flechtwerk.
Er lächelte ihr beruhigend zu, ging zu ihr hinüber und umarmte sie kurz zur Begrüßung.
Ihr Blick richtete sich deutlich beruhigter auf ihn.
"Vater..."
"Es ist schön, Dich zu sehen, mein Schatz. Es freut mein altes Herz, dass Du dir die Zeit dafür nehmen konntest, zu diesem 'Tribunal' zu erscheinen, welches deine Mutter und deine Tanten für nötig befunden haben."
Das Funkeln in ihren Augen und das angedeutete Lächeln, bevor sie sich zur Begrüßung den Anderen im Raum zuwandte, verrieten ihm mehr als alles andere, wie sehr sie noch immer seinen Humor schätzte.
Er nahm wieder Platz und ließ das, was da kommen sollte, ergeben auf sich zukommen. Währenddessen beobachtete er stillschweigend.
Anna-Grammas Begrüßung ihrer Enkelin fiel erwartungsgemäß herzlicher aus, als diejenige Amalgams. Aber das war nichts anderes, als das, was sie alle seit Jahren gewohnt waren. Dann stieß Kathrine mit Märrie im Gefolge dazu, als sie den frisch aufgebrühten Tee und die Schlagsahne brachten. Kathrine deutete links und rechts zwei flüchtige Luftküsse an den Wangen der Tochter an und setzte sich dann dazu, während Märrie ihnen allen einschenkte und Kuchen kredenzte.
Er nahm seinen winzigen Teller zur Hand und eröffnete mit dem ersten Stich der Gabel den Nachmittagstisch. Märrie schloss die Tür dezent von außen und sie waren unter sich.
Kathrine warf ihm einen aufforderndem Blick zu.
Er räusperte sich betont.
"Ja, nun... wie ist es Dir so ergangen, mein Schatz? Erzähl doch mal, wie es so ist, jetzt nicht mehr zu Hause zu wohnen? Gefällt Dir die Wohnung denn überhaupt? Wir haben ja so gar nicht mitbekommen, dass es Dich fortgezogen hat."
Ophelia legte die zierliche Silbergabel artig auf dem durchbrochenen Porzellanrand ihres Tellers ab. Sie lächelte ihn strahlend an.
"Es ist ganz wundervoll! Natürlich ist es auch etwas ungewohnt, so ganz ohne elterliche Aufmerksamkeit und ohne Märries Handreichungen. Aber da sich die Situation nun einmal so ergeben hat, muss ich doch bemerken, wie schön sich alles gefügt hat. Dschosefien war so überaus freundlich, sich auf mein Anliegen hin nach einer angemessenen Bleibe umzutun und sie hat sich selbst übertroffen. So eine reizende kleine Wohnung! Und auch durchaus in einer passenden Gegend. Ich denke, dass Ihr nichts zu beanstanden haben werdet, Vater."
Er brauchte nicht hinzusehen um zu wissen, dass Amalgams stechender Blick sich nahezu in ihn bohren wollte. Ihre Ansichten standen gestreng knapp außerhalb seines Aufmerksamkeitsradius. Wenn das so bleiben sollte, musste er sie wohl oder übel berücksichtigen.
"Schön, schön! Natürlich machen wir uns auch Sorgen, Schatz. Das wirst Du uns wohl kaum verdenken können. Eine junge Frau, allein..."
"Aber ich hatte Mutter davon informiert, dass ich nicht allein wohnen würde! Meine Kollegin..."
"Eine Igorina!"
Aller Augen richteten sich auf die hagere alte Dame, deren empörter Ausruf noch immer anklagend im Raum zu hängen schien.
Amalgam blickte trotzig zurück.
"Was schaut Ihr mich so an? Ich kann schließlich nichts für ihre Wahl? Es wäre mir neu, dass ich in ihrer Erziehung jemals darauf hingewirkt hätte, dass sie sich mit dem Personal abgibt! Aber vermutlich hätte man es sich denken können, so enthusiastisch, wie Eure Märrie mit ihr umspringen darf?"
Ronald spürte den altvertrauten Groll in sich aufsteigen.
'Warum lasse ich den alten Drachen nochmal unsere Wohnung betreten? Achja... weil Kathrine darauf besteht...'
Auch ihm war es niemals ganz richtig vorgekommen, dass sich zwischen der nur wenige Jahre älteren Aushilfe und seiner jüngsten Tochter eine Art Freundschaft entwickelt hatte. Dschosefien war ein viel unkomplizierteres Kind gewesen und hatte all ihren frühen Ehrgeiz darauf verwendet, einen mehr als standesgemäßen Gatten zu finden. Sie hatte ihnen damit eine große Freude gemacht und eine Sorge genommen. Philly hingegen... das Kind war ein regelrechter Wildfang gewesen. Sie hatte schon im zarten Alter von sechs Jahren trotzige Allüren demonstriert, als sie deutlichen Unwillen darüber an den Tag legte, mit dem Sticken des Stadtpanoramas für ihre Aussteuer zu beginnen! Dabei handelte es sich dabei um eine Ziegenbergersche Familientradition! Andererseits... er würde sich ganz sicher nicht von Amalgam vorschreiben lassen, wie er seine Kinder zu erziehen hatte!
An diesem Gedankengang angelangt, strafte er die alte Dame mit Missachtung und konzentrierte sich einzig und allein auf sein Kleinod.
"So, so! Dschosie hat Dir also bei der Suche geholfen. Dann wird das schon seine Richtigkeit haben."
Kathrine würgte gemeinsam mit einem Stück Kuchen einen Widerspruch herunter, klapperte dafür aber umso lauter mit ihrer Kuchengabel auf dem Teller.
Ophelia tat es ihm gleich, indem sie die Blicke und Gesten der anderen Familienmitglieder ignorierte.
"Ja, Ihr braucht Euch wirklich nicht um mich sorgen. Meine Kollegin ist fleißig und aufmerksam, mit einem überaus hilfsbereiten Gemüt. Sie ist ein Vorbild für mich. Sie bekleidet nicht umsonst einen hohen Rang innerhalb der Stadtwache."
Das abwertende Schniefen von der Seite ließ sich leicht zuordnen, ebenso wie der unausgesprochene Vorwurf, Ophelia würde sich mit 'minderwertigem Pack herumtreiben'.
Ronald blickte nur kurz zu seiner Frau hinüber, deren lodernder Blick ihn regelrecht zusammenzucken ließ. Beinahe entschuldigend antwortete er seiner Tochter: "Hm, ja, das ist natürlich beruhigend, mein Schatz. Ich fürchte nur, dass es deiner Mutter nicht genügen wird?"
Kathrine ereiferte sich sofort in ihrer typischen Art, als sie ihr Stichwort attestierte.
"Ophelia, so geht das nicht weiter! Du kannst doch nicht einfach von heute auf morgen, ohne das geringste angedeutete Wort der Vorwarnung, ausziehen! Wir sind immerhin deine Eltern! Was denkst Du dir nur dabei? Denkst Du es wäre für mich unbedeutend, es wäre kein Schlag ins Gesicht für all meine aufopferungsvolle Liebe, die ich Dir, seit Du klein warst, zukommen ließ? Ich dachte, wir hätten in den letzten Monaten zu einem vertrauensvollen Miteinander gefunden gehabt? Hatte ich mir das etwa nur eingebildet? Hast Du mir nur etwas vorgespielt, damit deine arme alte Mutter Dich mit ihren Fragen unbehelligt lässt? Was habe ich für Ängste ausgestanden! Und was war mit all den Nächten, nach dem unseeligen Zwischenfall, in denen Du nicht heimkommen wolltest und in diesem dreckigen Loch im Wachhauskeller gehaust hast? Dauernd wollte ich Dich besuchen und wurde von dieser unmöglichen Person abgewimmelt!"
Die Erwähnung des Vorfalls spülte Übelkeit, Ärger und Scham in ihm hoch.
'Dieser Dreckskerl, der sich an meinem Mädchen vergriffen hat! Es ist eine Schande, dass Kathrine die Verhandlungen mit dem Vampir übernehmen musste. Ich hätte mich nicht genug in der Gewalt gehabt.'
Ophelias schneidende Stimme erschrack sie alle, als sie sowohl seine Gedanken, als auch den Redefluss ihrer Mutter unterbrach.
"Nenne es ruhig beim Namen, Mutter: Als ich zum Opfer wurde! Zum Vampir-Happen, zur billigen Zwischendurch-Mahlzeit, zum Kauknochen, zur Sauger-Puppe oder welche Begriffe dafür sonst noch kursieren mögen. Ich weiß wohl, wie man im Allgemeinen über solche Leute wie mich redet. Und: Nein, ich habe mich dem fremden Verlangen damals nicht freiwillig hingegeben. Ich hatte keine Chance, zu stärkerer Gegenwehr, trotz aller Übung nicht. Die Schuld lag nicht bei mir!"
Amalgam griff sich entsetzt ans Herz, als sie zischend Luft holte. Kathrine wich Ophelias provokativem Blick aus. Und Anna-Gramma suchte hastig nach einem Stofftüchlein und ihrem Riechsalz. Ophelias Blick blieb an ihm hängen, so dass sie vor allem mit ihm redete, als sie sagte:
"Es sind nicht die Worte, die einen zum Opfer machen. Man selber ist es, sobald man es zulässt! Es ist nicht mehr Eure Aufgabe, mich zu schützen. Es ist meine eigene Aufgabe."
Amalgam fand ihre Sprache vor ihm wieder.
"Große Worte, weiter nichts! Mädchen, Du bist in diesem ehrlosen Haufen zu einem fürs Leben gezeichneten Krüppel geworden, falls Dir das entgangen sein sollte."
"Amalgam, es reicht!" Seine Wut fand in der grausamen Alten ein willkommenes Zielobjekt. "So sprichst Du nicht mit meiner Tochter! Nicht in diesem Haus! Du wirst Dich auf der Stelle bei ihr entschuldigen!"
Die Lippen der Grande Dame pressten sich spröde aufeinander und ihr Kinn hob sich in eindeutiger Absicht einen Millimeter.
Ophelia griff ein.
"Nicht! Sie lässt es, wie üblich, an dem von ihr selbst so gepriesenen Taktgefühl mangeln. Aber ihr Einwand ist nachvollziehbar. Bitte, Vater, lass mich erklären."
Er zögerte, gab ihr dann aber freie Hand.
"Wie Du meinst..."
"Ja, ich denke, es ist wichtig, dass ich diese Sache ein für allemal klarstelle." Sie wandte sich an ihre Großtante, den Blick unnachgiebig, wie eine Fremde. "Besser, fürs Leben gezeichnet, als für den Tod! Darüber hinaus... Du weist auf meine körperliche Einschränkung hin. Das ist dein gutes Recht. Vielleicht meinst Du es sogar gut damit, wer weiß das schon zu beurteilen. Du übersiehst dabei aber, dass ich eben nicht einfach nur jeden Tag der vergangenen Jahre zu irgendwelchen niedlichen Kaffeekränzchen gegangen bin. Ich habe als Wächterin gedient."
Amalgam erwiederte in gekränktem Tonfall: "Das war uns durchaus bewusst. So ein jammervoller gesellschaftlicher Abstieg lässt sich leider nur ungenügend verdrängen."
Ophelia überging den Einwand kommentarlos.
"Als Wächterin zu dienen umfasst auch eine dazu nötige Ausbildung. Ich habe schon in den ersten Wochen der G.R.U.N.D.-Ausbildung mit Waffen trainiert."
Nun war es an Kathrine, peinlich berührt die zu erwartenden Schilderungen der unangebrachten Exzesse ihrer Tochter zu unterbinden.
"Ophelia, nicht... Du musst uns nicht in aller Ausführlichkeit..."
Doch seine Kleine ließ sich nicht mehr aufhalten. Mit einer Mischung aus Entsetzen und väterlichem Stolz hörte er von den Dingen, die sich niemand von ihnen auszumalen getraut hatte. Wo doch gerade er sehr leicht an die entsprechenden Informationen hätte herankommen können - wenn er es ernsthaft versucht und nicht alle damit im Zusammenhang stehenden Fragen verdrängt hätte! Aber welcher liebende Vater hätte es auch ertragen können, mit Sicherheit davon zu wissen, dass sein kleines Mädchen sich wortwörtlich mit dem Bodensatz der Stadt herumschlug, sich für einen Hungerlohn dem Hohn und Spott von Verbrechern aussetzte, sich von ehrlosen Halunken begaffen lassen musste und sich raufte, wie es die Bettler und Diebe in den übelsten Gossen der Schatten taten!
Sie sprach noch immer auf Amalgam ein, der es tatsächlich die Sprache verschlagen hatte.
"Ich wurde dazu ausgebildet, mit dem Schwert zu kämpfen, sowohl mit dem Kurzschwert, als auch mit dem Anderthalb- oder Zweihänder. Die beiden ersten Varianten sind mir geblieben. Ich konnte mit Pfeil und Bogen ebenso gut umgehen, wie mit der Armbrust. Würde jemand Letztere für mich spannen und den Bolzen auflegen, wäre ich auch auf große Entfernungen immer noch zu einem konzentrierten Schussfeld imstande. Ich absolviere regelmäßig ein Kampftraining mit dem Kommandeur der Wache, welches speziell auf meine derzeitige Situation zugeschnitten wurde und mir Tritte, Schläge und Hebelwürfe an die Hand gibt, die auch mit nur noch einem Arm schöne Effekte zeitigen. Ich bin am Dolch ausgebildet, wie es nur sehr Wenige andere in der Wache sind - ebenfalls ein Resultat der Bemühungen des besagten Vorgesetzten." Sie holte tief Luft. "Was aber viel wichtiger ist... Gegenwehr beginnt im Kopf! Und dort bin ich von Anfang an auf mich selbst gestellt gewesen. Dort könnt Ihr mir nicht helfen. Und wenn Ihr mich in meinem Zimmer einsperren und immer noch so tun würdet, als wenn die Welt gut und friedlich und ich ein kleines Mädchen sei... es würde bei Weitem nicht mehr genügen. In meinem Kopf ist es völlig gleichgültig, ob ich nur noch einen Arm zur Verfügung habe. Gebt nicht zu viel auf Äußerlichkeiten. Wirklich nicht!"
Die Stille sickerte zäh zwischen ihnen aus dem Boden herauf und schien sie voneinander zu entfernen.
Sie schloss ihre erschütternden Ausführungen mit den Worten: "Was ich damit deutlich machen möchte: Ich könnte ebensogut alleine wohnen. Deine Vorurteile gegen meine Mitbewohnerin sind völlig gegenstandslos, Amalgam. Ich bin aufgrund der gebotenen Möglichkeiten meiner aktuellen Situation hier ausgezogen und ich werde vorerst nicht zurückkommen. Ich hege keinerlei Abneigung, Vater... Mutter! Aber es ist der richtige Zeitpunkt dafür. Bitte akzeptiert das einfach!"
Er erinnerte sich vage an den Hinweis der Wächterin, die ihn nicht zu seiner Tochter hatte durchlassen wollen, als diese allmählich wieder gesund gepflegt wurde. Es war um eine emotionale Komponente als Folgeerscheinung des Angriffs gegangen. Wobei die Igorina das gleichzeitig wieder relativiert und sich nicht sehr deutlich ausgedrückt hatte. Es habe keinen direkten zeitlichen Zusammenhang zu dem Angriff gehabt aber, naja, Ophelia würde sicherlich im Anschluss an ihre Genesung von selbst darauf zu sprechen kommen und es genauer erklären können, sie habe nicht zu weit vorausgreifen wollen. Es musste dies gewesen sein, was die Sanitäterin angedeutet hatte. Ophelia hatte sich anders mit den Gefühlen auseinandergesetzt, die das alles in ihr ausgelöst hatte, als jeder von ihnen. Ihr Blick war schonungsloser.
Anna-Gramma begann hastig mit ihren silbernen Armreifen zu klimpern, als sie in leise Schluchzer ausbrach und sich das endlich gefundene Stofftüchlein tupfend um die Augen wischte. Kathrine starrte ihre Tochter mit geweiteten Augen tonlos an und Amalgam räusperte sich ein ums andere Mal.
Ophelia beugte sich leicht zu Anna-Gramma vor und legte dieser beruhigend die Hand auf den bebenden Arm.
"Es ist schon gut."
Sie lächelte, auf die ihr eigene Weise, und als er sie so beobachtete, ging ihm ein merkwürdiger Gedanke durch den Kopf.
'Sie ist nicht mehr mein kleiner Philly-Schatz. Ich liebe sie noch ebenso, wie früher. Aber... sie ist eine symphatische Fremde geworden.'

Szene 27

Roger Igoratius

Der Tag war lang gewesen und das Sonnenlicht längst den Grauschattierungen der städtischen Nacht gewichen, als er endlich das Wachhaus erreichte. Er blickte an der vertrauten Fassade mit den erleuchteten Fenstern empor.
'Ich mache das nur für Dich, Rogi! Weil Du mich darum gebeten hast. In jedem anderen Fall, würde ich sie wortlos in ihr Unglück rennen lassen.'
Er atmete einmal tief durch und umrundete dann den Block, um das Gelände über die offen stehende hintere Pforte zu betreten. Hätte er zu Rogi gewollt, wäre der Leichenaufzug in den Keller eine Möglichkeit gewesen. Nicht so heute. Er nahm den Schleichweg am Signal-Turm vorbei, so dass eventuell entgegenkommende Wächter automatisch davon ausgingen, dass er sich zu Recht im Gebäude aufhielt. Immerhin war er ja schon am Empfangstresen vorbei und kannte sich aus.
Als er die Treppen erklommen hatte und vor ihrer Bürotür stand, überkam ihn wieder der bekannte Zweifel.
'Es ist hochgradig gefährlicher Schwachsinn, auf was die Beiden sich hier eingelassen haben. Ich kann das doch unmöglich unterstützen!'
Er ließ mutlos den Kopf hängen und widersprach sich selber.
'Sie will es so. Und Du weißt, dass sie sich nicht umstimmen lassen wird. Was also kannst Du schon machen? Entweder Du gehst mit und verdoppelst den Einsatz... oder Du bist raus. Und dann wärest Du nicht in ihrer Nähe, falls sie es sich anders überlegt.'
Hinter der Bürotür hörte er Stimmen. Diejenige der Ziegenberger war so leise gewesen, dass er sie erst fälschlich dem Hintergrundgeräusch des Wachhauses zugeordnet hatte. Die antwortende Stimme jedoch klang hoch und schrill, pedantisch und unangenehm. Sie war durch das relativ dünne Holz der Tür gut zu verstehen.
"Nein, das meint sie nicht. Sie will sagen, dass es merkwürdig ist, wenn Du die Gerüchte so dermaßen abschmetterst, ohne sie überhaupt erst einmal anzuhören. Natürlich will Dir niemand was unterstellen und es wäre dämlich, allem was gesagt wird, zu glauben. Aber Du hast sofort geblockt, als Lilli es in der Kantine angesprochen hatte - sofort! Du bist doch immerhin Lillis stellvertretende Abteilungsleiterin! Wenn Du ihr nicht zuhören willst oder sie nicht ernst nimmst, dann kann sie genauso gut zu Romulus gehen. Oder direkt zu Rogi und es selber ansprechen!"
Roger zuckte zusammen. Wenn 'Gerüchte' und 'Rogi' innerhalb eines Gesprächs aufeinandertrafen, dann bestand eindeutig Gefahr für ihrer beider Sorgenkind! Er beugte sich unwillkürlich näher, um die leisere Antwort zu verstehen.
"...nicht nötig... mir leid, wenn ich an dem Abend etwas kurzangebunden rea... keine Abs... und natürlich nehme ich solche Hinweise ausgespr... nur nicht der günstigste Rahmen für ein solches Gespr..."
Ihre Stimme war einfach zu leise, um trotz des Auf und Abs ihrer Modulation durchgängig hörbar zu sein. Er überwand seine Hemmungen, blickte kurz den Gang hinunter und legte dann sein Ohr an die Tür. Sofort konnte er dem Gespräch problemlos folgen.
"...gerne bereit, deine Vermutungen zu durchdenken und einen geeigneten Zeitpunkt abzupassen, um mit ihr über dieses Thema zu sprechen. Wäre das mehr in deinem Interesse, Lilli?"
Eine Pause mit einem ganz sachten, rhytmischen Pochen folgte der Frage und kurz darauf war wieder die ennervierende Stimme zu hören.
"Ja, das wäre gut. Am besten wartest Du nicht zu lange damit, denn ich kann Dir sagen, dass an den Gerüchten was Wahres dran ist. Lilli macht sich halt Sorgen, auch wenn sie das nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Aber ich habe eben meine Kontakte. Man glaubt gar nicht, was die Rohpostdämonen alles mitbekommen, weil niemand auf die Röhren-Enden in den Büros achtet. Die brauchen nur mal ein Päuschen an der frischen Luft machen, beinebaumelnd an der Klappe hocken und ein Schnapperwürstchenfutzel kauen und - schwupps - schon sehen sie, wer wo seine Flasche mit Hochprozentigem versteckt! So ist das nämlich!"
Es war nicht zu erraten, was in der folgenden Pause innerhalb des Raumes geschah, dann aber sagte die Ziegenberger:
"Lilli, es war richtig von Dir, deswegen zu mir zu kommen. Danke! Ich nehme das auf jeden Fall ernst und kann Dir jetzt schon versprechen, dass ich mich darum kümmern werde. Ich werde diese Angelegenheit allerdings so dezent behandeln, wie nur möglich und ich würde Dich und Günther ebenfalls darum bitten wollen, nicht mit weiteren Personen darüber zu sprechen. Können wir uns darauf einigen?"
Die Stimmen näherten sich der Tür und Roger sprang flink zurück, bis er sich an die gegenüberliegende Wand anlehnte, als wenn er schon ewig darauf warten würde, endlich dran zu sein.
Die Tür öffnete sich und eine kleine Frau mit einem viereckigen Kasten zwischen den Händen trat heraus. Sie sah ihn kurz an und ging dann an ihm vorüber. Aus dem Kasten erklang die durchdringende Stimme.
"Na siehste! Sie hat Dich ernst genommen. Und sonst hättest Du immer noch zu I.A. gehen können..."
Die rothaarige Wächterin sah ihm verunsichert entgegen. Anstatt jedoch unnütze Fragen zu stellen, bat sie ihn lediglich mit einer Geste herein und schloss hinter ihm die Bürotür.
Sie hatte es sich ganz gemütlich eingerichtet - für einen Menschen.
"Igoratius war dein Name, nicht wahr? Möchtest Du einen Tee?"
Er ignorierte den angebotenen Sitzplatz und lehnte auch das Getränk unangenehm berührt ab. Es hätte sich falsch angefühlt, bedient zu werden. Stattdessen steckte er beide Hände vorsichtshalber tief in die Taschen, um nicht seine Nervosität zu verraten.
"Hm... ja, Roger Igoratiuf."
Sie schenkte sich selber Tee nach, tat Zucker dazu und setzte sich dann, zu ihm gewandt, auf den Drehstuhl vor ihren Schreibtisch. Einen kleinen Schluck gönnte sie sich, dann sah sie müde zu ihm auf.
"Ich nehme an, dass es Dir um Rogi geht? Wie kann ich Dir weiterhelfen?"
Er blickte sich noch kurz demonstrativ um und ließ sich Zeit mit der Antwort. Es war verdammt schwer, den eigenen Widerwillen zu unterdrücken und sich, entgegen der festen Überzeugung, auf diesen Wahnsinn einzulassen.
Sie wartete geduldig
"Ach, ef nütft ja doch niftf!" Sein Unmut machte sich Luft und er sah sie mit einem Ruck herausfordernd an. "Du willft daf unbedingt durffiehen, waf?"
Sie stellte die Tasse langsam auf der Arbeitsfläche neben sich ab und ließ ihre Hand in den Schoß sinken.
"Rogi möchte das ebenso. Es geht hier um sie."
Er biss knirschend die Zähne zusammen.
'Wie weit kann man in seiner Verblendung eigentlich gehen? Sie wird Rogi umbringen!'
"Die ganfe Fache ift ein Fehler. Ein riefiger, entfetflifer Fehler! Ef wird fiefgehen. Blof, daff Du dir nift mal forftellen kannft, wie fehr."
"Und deine Einstellung ist hilfreicher?" Ihr Blick barg so viel Skepsis, dass es sich nicht mehr um eine reine Fragestellung handeln konnte. Was sofort darauf durch ihre Worte unterstrichen wurde. "Der Körper hört nicht von allein damit auf, mehr von dem Mittel einzufordern. Ich habe mich inzwischen erkundigt und meine Vermutungen bestätigt gefunden. Solche Beruhigungsmittel, die zur Sucht führen, zerstören den Körper von innen und suggerieren ihm gleichzeitig, dass er mehr von ihnen bräuchte, um Herr über die Symptome zu werden. Je mehr sie davon nimmt, desto schlimmer wird es werden. Ganz davon abgesehen, dass der Abhängige immer schlechter Luft bekommt, bis hin zu dem Punkt, dass er ersticken kann. Sie kann so nicht weiter machen. Und weniger zu nehmen, bedeutet trotzdem, es weiter zu nehmen und sich selbst damit zu verlocken und in die Enge zu treiben. Sie will damit brechen! Das hat sie mir selber gesagt. Dann muss sie es auch tun und nicht nur 'so tun als ob!'"
Roger krampfte beide Hände in den Taschen zu Fäusten und warf den Kopf entnervt in den Nacken.
'Himmel, was für ein verbohrtes Weib! Als wenn die Konstitutionen von Menschen und Igors vergleichbar wären! Eine Fehleinschätzung? Unmöglich! Kein Wunder, dass Rogi sich an sie klammert. Sie scheint so verdammt selbstsicher, als wenn sie allein aus ihrem Willen heraus den Mond zur Sonne machen könnte! Aber das wird ihr nichts nützen...'
"Du denkft, Du wüffteft allef, waf? Du tuft fo, alf wenn dir kein einfiger Fehler unterlaufen könnte. Aber if will Dir mal waf fagen: Ef geht hierbei nift um irgendeinen herbeigelaufenen Fuft. Und wenn Dir in der Ftatik deinef Kartenhaufef doch ein Fehler unterlaufen fein follte, dann wird fie die Folgen davon fu tragen haben! Bift Du dir dann noch ebenfo ficher, na?"
Sie sah ihn einen sehr langen Moment über schweigend an. Ihre grauen Augen glitzerten beinahe fiebrig, als sie in sehr viel leiserem Ton antwortete, als er ihn angeschlagen hatte.
"Es ist nicht mein Leben. Ich sehe auch keine Alternative. Und ich werde sie in ihrer Entscheidung unterstützen. Wie steht es da mit Dir... Roger?"
Er riss die Hände aus den Taschen und raufte sich frustriert die Haare, während er auf dem minimalen Raum, den das Zimmer bot, herumzutigern begann. Seine Stimme war pure Frustration, als er antwortete.
"If habe ihr perfönlifes Beruhigungfmittel an mif genommen. Heute morgen. Fie hat nift einmal... ach, egal."
Er ließ sich auf den zuvor angebotenen Stuhl fallen und lehnte sich mit dem Ellenbogen schwer auf die Schreibtischfläche neben sich. Sein Blick richtete sich ins Leere, während seine Gedanken unaufhörlich um Vergangenheit und Zukunft der einen Person kreisten, die ihm besonders viel bedeutete.
Aus dem Nichts heraus tauchte nebem seinem Ellenbogen die abgelehnte Tasse Tee auf.
Er blickte mit ironischem Ausdruck zur Wächterin hinüber aber diese setzte sich nur mit leisem Kleiderrascheln auf ihren Platz zurück.
"Wo wohnt Ihr Beiden jetft eigentlif?"
"Fünf-Und-Sieben-Hof 1, in der zweiten Etage."
"Hm... und? Gefällt ef ihr da?"
"Es ist eine hübsche Wohnung und sie hat sich nicht negativ geäußert. Sie meinte nur, dass es ungewohnt sei. Und das ist es ja auch."
Rogis eindringliche Worte gingen ihm durch den Sinn, als er die junge Frau betrachtete und nicht umhin kam, zu bemerken, wie erschöpft sie wirkte. '...Fie macht fon genug durch wegen mir, Roger. Wegen mir!...'
Der Gedanke ließ ihn nicht los und so fragte er sie geradeheraus.
"Warum? Warum machft Du daf? Auf welfem Grund opferft Du Feit und Geduld, läfft Dif fon folchen Kollegen, wie der Wächterin eben, aufmanövrieren und wahrft ihr Geheimniff, entgegen fämtlifer Forfriften? Waf erhoffft Du dir davon?"
Die Antwort kam prompt.
"Ich bin ihr das schuldig, das und noch viel mehr! Ich fühle mich dazu verpflichtet, ihr zu helfen. Von Anfang an, schon als ich zu meinem ersten Tag in der Wache antrat, hat sie sich um mich gekümmert. Sie hat meine Ausbildung begleitet, mir auf Streife wichtige Tipps gegeben, sie hat sich später danach erkundigt, zu welcher Spezialisierung ich tendieren würde... sie hat Interesse an meinem Wohlergehen gezeigt. Später hat sie es in noch umfassenderem Maße getan, als sie mir das Leben gerettet hat! Sie hat sich viele, viele Tage und Nächte um mich gesorgt, als es mit meiner Genesung nur schleppend voran ging. Ich bin mir inzwischen nicht mehr ganz sicher, ob sie so etwas wie Freundschaft erwidern kann, nichts desto trotz fühle ich - von meiner Seite aus - tiefe Verbundenheit zu ihr. Wenn ich ihre Last erleichtern kann, dann möchte ich dies auch tun. Sie hat meine schlimmsten Alpträume mit mir zusammen durchstanden! Und da soll ich mich jetzt von ihr abwenden? Ich denke nicht, dass mir das möglich wäre! Könntest Du es an meiner Stelle?"
Er ließ den Kopf hängen und gab sich innerlich geschlagen. Sein Blick blieb an den frisch polierten Dielen hängen.
"Fie hat fowaf fon einmal ferfucht. Und fie muffte mit einem Herfen dafür befahlen!"
Da eine Reaktion von ihr ausblieb, hob er den Blick. Sie sah ihn erschrocken an und flüsterte:
"Sie hat schon einmal versucht, vollständig damit zu brechen? Verstehe ich das richtig? Und es ist... also... wie meinst Du das genau?"
Er lachte sarkastisch.
"Fo, wie if ef fage: Damalf hatte fie glückliferweife noch fwei Herfen. Aber die Anftrengung war fu grof. Daf ältere von ihnen brach unter dem Druck fufammen, gerade alf fie im Wafraum def Wachhaufef Kröfelstraffe ein heifef Bad nehmen wollte. Daf Herf meiner Mutter hat ihr damalf daf Leben gerettet. Aber jetft hat fie nur noch daf eine und auch daf ift nift mehr daf Jüngfte. Die Belaftung ift mindeftenf ebenfo grof wie damalf..."
Die kleine Wächterin griff sich unwillkürlich selbst ans Herz und er hatte den Eindruck, dass ihr die Worte fehlten.
Vielleicht hätte er sie in diesem einen Augenblick überrumpeln und dazu bringen können, den Irrsinn ihres Planes einzusehen. Vielleicht. Und eventuell wäre das sogar für alle Beteiligten das Beste gewesen. Wer konnte das schon wissen. Aber zum Einen hatte er sich wohl schon selber damit abgefunden, dass er dem Pfad folgen würde, den Rogi vorgab. Und zum Anderen wirkte die Wächterin von einer Sekunde auf die andere hilflos. Von ihrer vorgegebenen Selbstsicherheit fehlte jede Spur. Sie wollte Rogi ebenso wenig Schaden, wie er es wollte. Er würde sie anleiten. Und wenn es nur darum ginge, sie unauffällig in die richtige Richtung zu schubsen und ihr zu verdeutlichen, welche Hilfe die richtige für Rogi wäre!
Er sah sie direkt an und sie lauschte aufmerksam seinen Worten, als er zu erzählen begann, wie es damals gewesen war.
"Hör fu! If weif nift, ob Du fo waf fon mal mitgemacht haft? Nift? In Ordnung. Ef gibt Dinge dabei, die Dif erfrecken werden. Wenn fie daf Beruhigungfmittel abfetft, dann wird ef nur kurfe Feit dauern, bif fie die erften Fymptome feigen und auf dem Ruder laufen wird. Fie wird nervöf werden. Fehr nervöf! Und unleidlich. Du kannft Dif auf heftige Ftimmungffwankungen einftellen. In der einen Fekunde wie ein Dämon auf klatfianifem Kaffee, in der näften Fekunde die perfonififierte Reue. Du musst Dir dann immer wieder fagen, daff fie ef nift fo meint. Fie wird ferdammt mief flafen - und dadurf noch aggrefiver werden. Womit wir endgültig beim Thema find..." Er blickte sie ernst an. "Fie wird fich irgendwann, an irgendeinem Punkt, kaum mehr unter Kontrolle haben. Foll heifen, ef ift fehr wahrfeinlif, daff fie handgreiflif werden wird."
Sie blinzelte und richtete sich kerzengrade auf.
"Du willst mir weißmachen, dass Rogi, die keiner Fliege etwas zuleide tun kann, mich schlagen könnte?"
Er nickte grimmig, merkte aber brummelnd an: "Na ja, waf heift, keiner Fliege waf fuleide tun? Foweit if weif, hat fie kein Problem damit, die Viecher..."
Die Wächterin schüttelte fassungslos den Kopf.
"Niemals! Sie würde niemals Hand an mich legen. Wir sind Kolleginnen und darüber hinaus hat sie schon so viel für mich getan. Das wäre überhaupt nicht ihre Art!"
'Sie ist zu gutgläubig. Und sie ist nicht auf das vorbereitet, was auf sie zukommt.'
"Glaube mir einfach. If weif, wofon if rede. Im Gegenfatf fu Dir, habe if daf allef nämlif fon mitgemacht. Nimm meine Warnungen ernft! Ef wird nötig fein!"
Sie sah ihn mit ihren großen grauen Augen wie ein Kind an, welches sich im Walde verlaufen hatte.
'Na toll! Ich sollte lieber in der Nähe bleiben. Das werden anstrengende Nächte, wenn ich nach Arbeit auch noch zu ihrer Wohnung rüberpendeln muss, um sie im Auge zu behalten.'
"Ef wird wohl beffer fein, wenn if Dir fur Ficherheit die Adreffe def Reftaurantf gebe, in dem if arbeite. Für den Notfall."

Szene 28

Ophelia Ziegenberger

Sie konnte nicht schlafen. Zu viel ging ihr im Kopf herum und verlangte nach ihrer Aufmerksamkeit.
'Bin ich mit meiner Familie zu streng gewesen? Sie können doch nichts dafür, dass ihnen der Gedanke an das, was mir passiert ist, zu nahe geht. Es wäre ebenso wenig richtig, wenn sie völlig unberührt darüber hinweggingen.'
Sie schloss die Augen und rieb sich entnervt die Stirn.
'Es ist so viel auf einmal! Erst Rogi, dann die I.A.-Vorwürfe, Lilli mit ihren Vermutungen, meine Familie, Breguyars misstrauische Fragen, Rogers Vorwürfe... irgendwann komme ich auch nicht mehr drumherum, mich bei diesem Schwimmkurs im Rhododendra-Tempel anzumelden, den die Inspektorin mir vor einigen Wochen zur Auflage gemacht hat. Es wundert mich so oder so, dass Romulus diesen Punkt nicht wieder angesprochen hat. Will er mich schützen? Oder hat er ihn womöglich wirklich vergessen? Und um den ganzen Schlamassel abzurunden, hätte ich noch den Fall mit den vielen Leichen in den Schatten... Ach, ich muss damit aufhören! Dieses ganze Grübeln fühlt sich schrecklich an und führt nur zu Kopfschmerzen.'
Sie drehte sich rastlos auf die andere Seite, so dass sie die Wand dicht vor ihrer Nase anstarrte, hinter der Rogis Zimmer lag.
'Sie wirkte nervös auf dem Heimweg. War es richtig, mit ihr darüber zu sprechen, dass Roger sich nach ihr erkundigt hat?'
Sie runzelte die Stirn.
'Es hat keinen Sinn, sich mitten in der Nacht den Kopf zu zerbrechen. Gleichgültig worüber. Schlafe endlich! Wie willst Du dich sonst morgen konzentrieren können?'
Langsam fielen ihr die Augen zu. Und in ihre schläfrigen Gedanken schlich sich etwas Fremdes. Kühl, zurückhaltend... und leicht arrogant!
'Nicht wirklich fremd... Hmmm... woher...'
'Guten Abend!'
Sie erstarrte. Ihr Körper fröstelte unter der Bettdecke, doch ihr Geist war schon zu weit in die zwielichtige See der Schläfrigkeit gedriftet, um diesen Kurs noch ohne Weiteres wechseln zu können. Sie hielt innerlich die Luft an.
'Racul?'
Die körperlose Stimme des uralten Vampirs schien ihr in seltenem Wohlwollen zuzunicken.
'Es ist freundlich von Dir, mein Kind, dass Du mich nicht ebenso kaltblütig und kurz angebunden hinauswirfst, wie zu unserem letzten Kontakt. Wobei meine Wahl des Zeitpunktes für unser Gespräch auch nicht unerheblich gewesen sein dürfte...'
'Es hatte einen guten Grund, weswegen ich es beim letzten Mal tat - immerhin gehört mein Denken mir und es sollte niemandem gestattet sein, sich dieser Art einzuschleichen. Du solltest nicht hier sein, Herr!'
Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie träumte oder noch wachsam genug war.
Der Vampir übermittelte ihr das Empfinden, sie in milder Kühle herablassend zu belächeln.
'Und es hat einen mindestens ebenso guten Grund, weswegen ich es dennoch bin.' Seine Präsenz wurde ernster, konzentrierter. 'Kind, ich muss Dir mitteilen, dass Du die leidige Angewohnheit entwickelst, Dich äußerst freimütig mitzuteilen. Es interessiert mich nicht, inwieweit deine Arbeit oder die übrigen Tändeleien eines sterblichen Alltags Dich beschäftigen. Ich sehe mich ernsthaft belästigt.'
'Aber...' Sie war verwirrt. 'Ich teile mich mit?'
Sein mentaler Seufzer war eine kalte Brise in ihren Gedanken, der den 'Geruch' von Staub, altem Pergament und trockenem Rost in sich zu tragen schien.
'Ich hatte es befürchtet. Du bemerkst es nicht einmal? Immerhin fällt damit der Verdacht weg, Du hättest mich absichtlich mit deinen Trivialitäten verärgern wollen.'
'Es tut mir leid, ich wusste nicht einmal, dass das möglich ist.' Seine verbalen Seitenhiebe drangen nicht zu ihr durch. Sie fühlte sich noch immer im wattigweichen Reich der Halbträume gefangen, nur mit dem Unterschied, dass sein Vorwurf etwas in ihrem Gehirn in Gang setzen wollte - was aber nicht ansprach. Manipulierte er sie? Oder gab es etwas an oder vielmehr in ihr, was sie nicht unter Kontrolle hatte? Was passierte mit ihr?
Sein knöcherner Humor blitzte hervor, als er antwortete:
'Es sollte auch nicht möglich sein! Zumal die Art deiner Gedankenübermittlung ausgesprochen ungewöhnlich ist. Erst vermutete ich einen Zusammenhang zu deinen zahlreichen Kontakten zu den verschiedensten Vampiren. Für einen Menschen, der uns inzwischen mit ausgeprägtem Misstrauen begegnet, verfügst Du, was das angeht, über mehr Erfahrungen, als man erwarten würde. Dann aber muss ich sagen, dass ich meistens nur Gefühle empfange. Oder Bilder dessen, was Du beobachtest. Manchmal wäre es direkt eine Erleichterung, stattdessen klar verständliche Worte zu empfangen - so sie höflicherweise auch an mich adressiert wären! Du scheinst eine natürliche Veranlagung für diese merkwürdige Art der Kommunikation in Dir getragen zu haben. Leider wird es wohl Zeit brauchen, Dir den Begriff der 'Manieren' auf diesem Gebiet näherzubringen. Wobei ich gestehen muss, dass ich verwundert bin. In meinen Nachforschungen zu Dir gab es keinen Hinweis darauf, dass deine Blutlinie durch irgendeine Besonderheit aufgewertet worden wäre. Ordinäre Morpork-Abstammung. Andererseits gibt es ja noch die spielwütigen Götter, magische Reststrahlung, Flüche? Was auch immer dein zweifelhaftes Talent ausgelöst hat! Du wirst mit jedem Tag aufdringlicher.' Seine Stimme in ihren Gedanken klang sowohl gelangweilt, als auch entnervt. 'Im Anschluss an unsere erste Begegnung, zu der Zeit nach der Belagerung, erklärte ich mir die emotionalen Streiflichter von Dir noch als eine Art ungewöhnliches Nachleuchten. Mit der Panikwelle wegen deines drohenden Todes in diesem Wasserbecken fand ich mich zwangsläufig ab, da ich davon ausging, damit sei es das dann auch endlich gewesen. Die schmerzliche Romantik allerdings, die wir seit deinen Ermittlungen bei Parsival mit uns herumtragen dürfen, die ist wirklich sehr schwer auszublenden. Nicht, dass ich mir diesen Schuh anziehen würde aber wenn ich noch einer dieser jungen Rüpel wäre, dann hätte ich sie längst mit Stumpf und Stiel ausgerissen!'
Der Schrecken lauerte dicht außerhalb ihres Bewusstseins, ließ sie aber vorerst unberührt.
'Herr, ginge das? Könntest Du mich von Parsivals Einfluss entbinden?'
'Selbstredend könnte ich das. Aber ich werde es nicht tun! Es läge nämlich ebenso wenig in meinem Interesse, auf längere Sicht an einen beschädigten Menschen gebunden zu sein. Das, was er Dir eingepflanzt hat, ist sehr tief verwurzelt. Wenn ich es gewaltsam entfernen täte, bliebe nicht mehr viel von deiner ursprünglichen Persönlichkeit übrig. Von geistigen Defekten als Nebenwirkungen möchte ich gar nicht erst reden. Alles sehr lästig. Nein, damit musst Du dich auf dem langwierigen Wege arrangieren.'
Seine Antwort veränderte nichts an der aktuellen Situation, womit ihr dämmernder Geist sich schulterzuckend zufrieden gab. Ein neuer Gedanke tauchte auf.
'Wir sind aneinander gebunden? Warum hat Parsival nichts davon bemerkt?'
Raculs Stimme klang außerordentlich zufrieden.
'Der Jungspund braucht nicht alles zu wissen. Und was uns beide angeht... Du teilst deine Gedanken mit mir. Ich teile meine Gedanken mit Dir.'
Ophelia wurde schwindling.
'Das klingt wie ein Ritual.'
'In früheren Zeiten war es das auch.'
'Was... was hatte es damals zu bedeuten?'
'Damals waren es die ersten Worte der Bindungszeremonie zwischen Lehrer und Schüler. Ich muss gestehen, dass ich noch an den alten Zeiten hänge. Selbst ohne die Zeremonie, nehme ich meine Verpflichtungen ernst.'
In ihre Verwirrung mischte sich Ungeduld.
'Aber wir sind doch keinerlei langfristige Verpflichtung eingegangen! Es hieß damals nur, dass wir Wächter uns als Schutz mit Eurem Clan verbünden und danach jeweils wieder eigener Wege gehen sollten.'
'Junge Dame! Es gibt auch noch andere Sichtweisen, als nur die deine! Ich habe Dich beschützt, Du hast währenddessen die Stadt verteidigt. Wir sind uns nicht mehr fremd, auch wenn es mir zeitweise lieber wäre.' Er räusperte sich verhalten, bevor er anfügte: 'Es scheint auch, dass ein Teil deines Geistes sich in dem meinen verfangen hat. Keine Sorge! Bitte nicht, das ist so überflüssig. Die Situation ist einfach nur ungewöhnlich. Das ist mir bisher noch bei keinem meiner Zöglinge passiert. Wir werden einfach sehen müssen, wie sich das noch entwickelt.'
'Annoia, steh' mir bei! Verfangen? Was bedeutet das?'
Er seufzte laut in ihren Gedanken.
'Es bedeutet, dass Du dringend mentale Selbstkontrolle erlernen musst, um mich nicht andauernd aus meiner Tagesruhe herauszureißen!'
Ein Geräusch außerhalb ihres Gedankenkosmos ließ sie aufschrecken.
Hinter der Wand, dort, wo im Nebenraum Rogi schlief, war etwas Schweres zu Boden gefallen.
Ophelia schlug die Augen auf und war mit einem Wimpernschlag hellwach und alarmiert.
Racul nahm ihr Aufschrecken wahr.
'Was ist passiert?'
Sie antwortete automatisch in Gedanken, während sie sich bereits leise aus der Decke schälte, nach der abgedimmten Lampe auf dem Nachttisch griff, den Docht hochdrehte und auf bloßen Sohlen aus dem Zimmer schlüpfte: 'Ich weiß es nicht. Aber ich werde es herausfinden.'
An Rogis Zimmertür angelangt, lauschte sie in die ungewohnten Geräusche der Wohnung bei Nacht. Fast verschluckt vom Knarren der Korridordiele hörte sie aus deren Zimmer ein leises Rascheln.
"Rogi? Ist alles in Ordnung bei Dir?"
Das Rascheln hielt an und ein Stöhnen gesellte sich dazu.
Sie hatte eine ungute Ahnung und griff nach der Klinke.
"Rogi, ich komme jetzt rein, um nach Dir zu sehen. Nicht erschrecken, ja?"
Sie öffnete die Tür und trat, gemeinsam mit dem hoch erhobenen Lichtschein, ein.

Die Kollegin lag inmitten ihrer Zudecke auf dem Fußboden. Das zerwühlte Laken hing noch zur Hälfte am Bettkasten, hatte sich aber sonst unnachgiebig um Rogis Füße festgezurrt. Das raschelnde Geräusch kam daher, dass die Igorina noch immer schlief und sich dabei unruhig hin und her wand. Sie zuckte in unregelmäßigen Abständen beiseite und ihre Hände schnellten abwechselnd in die Luft, als wenn sie sich in ihrem Traum darum bemühte, Etwas oder Jemandem auszuweichen. Ihr Gesicht verriet Hilflosigkeit, ebenso wie die zittrige Stimme, mit der sie sich wispernd der Dunkelheit gegenüber verteidigte.
"Nein... nicht... warum machft Du daf, Hoheit?"
'Interessant! Wann bist Du mit einer Igorina zusammengezogen?'
Ophelia zuckte vor Schreck zusammen. Sie hatte Raculs Anwesenheit in ihren Gedanken völlig vergessen gehabt.
'Das gehört nicht zu den Dingen, die irgendwen außerhalb dieses Raumes etwas angehen, Herr. Ich wäre Dir verbunden, wenn Du dich nun zurückziehen könntest.'
Seine Neugier verwandelte sich ob ihres Tonfalls augenblicklich in gekränkte Verachtung.
'Da ging es mir bereits unzählige Male ähnlich; jede einzelne der betreffenden Gelegenheiten stellte sich als eine herbe Enttäuschung heraus. Es ist ja nicht so, als wenn das in meiner alleinigen Verantwortung läge!"
Rogi begann am ganzen Körper zu zittern. Ihre Stimme hob sich. "Ich wünfte, ich könnte ef nicht, För!" Die Schlafende streckte beide Hände vor sich hin und drehte den Kopf so weit beiseite, als wenn sie ihn sich gleich verrenken würde. "För, bitte nicht! Ich kann ef auch fagen, bitte! Fombi! Verrottender lebender Abfall... Fombi, Fombi, Fomb..." Sie brach in einem Wimmern ab und begann auf dem Boden liegend um sich zu schlagen.
Ophelia wartete nicht länger, sondern stellte hastig die Lampe ab und sprang näher. Sie griff sich das lose Ende des Lakens vom Bett und zog es quer über Rogis Oberkörper, so dass diese sich noch mehr darin verfing und fasste schnell die freie Hand, die noch immer pochend auf den Boden traf.
"Rogi! Rogi, so höre doch! Es ist alles gut! Alles wird gut! Werde wach, Du träumst nur schlecht!"
Die Gegenwehr wurde stärker, so dass Ophelia sich mit ihrem Oberkörper dicht über die Kollegin beugte, um sie zu beruhigen. Sie flüsterte verstört: "Was soll ich denn nur machen? Was soll ich tun? Wenn sie so weiter macht, wird die Vermieterin unter Umständen noch auf uns aufmerksam..."
Rogis Körper bäumte sich gegen Ophelias Griff auf, so dass sie diese beiseite schubste. Aus ihrem Mund lösten sich unter angestrengtem Gurgeln die Worte: "Dreckigef Vampirpack!"
Racul war sofort gegen sie eingenommen.
'Mit diesem Exemplar stimmt etwas nicht. Du solltest sie fortschicken. Mit Solchen gibt es nur Ärger, glaube mir. Obendrein ist es eine sinnvolle Tradition, warum nur unsereiner als rechtmäßiger Meister für diese Geschöpfe in Frage kommt. Du bist viel zu schwach, um sie zu bändigen. Wie willst Du sie zur Vernunft bringen? Du hast nicht einmal eine Streckbank im Keller.'
Ophelias Geduld war erschöpft.
"Ich bin nicht ihr Meister! Ich bin ihre Freundin! Geh' endlich!"
"Gerne! Einen letzten wohlmeinenden Rat noch: Am ehesten beruhigen sie sich, wenn man sie einige Stunden in einen Sarg steckt. Alternativ genügt es aber auch, sie gut verschnürt beiseite zu legen und sich erst einmal um Wichtigeres zu kümmern. Wenn gar nichts anderes mehr hilft, dann schicke sie mit einem gezielten Schlag in die Bewusstlosigkeit. Obwohl... ich bezweifle, dass Du das hinbekommst... Nun ja... zumindest würde es ihren Kreislauf schonen."
Und damit sickerte wieder Wärme in ihren Geist zurück, als wenn sie in einen Flecken Sonnenschein getreten wäre. Sie atmete auf und konzentrierte sich endlich auf die Sanitäterin.
"Rogi, bitte werde wach! Hörst Du mich?"
Die Igorina versteifte sich. Ihre unterschiedlich gefärbten Augen sprangen auf. Sie starrte halb durch Ophelia hindurch aber wenigstens hatte das Gezappel aufgehört.
"Endlich! Tut mir leid, wegen der Decke, ich nehme sie gleich fort. Geht es?"
Rogi schnappte nach Luft und blinzelte die letzten Schleier des Alptraums beiseite. Ihr Blick wurde konzentrierter, bis er an Ophelia hängen blieb.
"Waf machft Du hier?"
Sie sah sich gehetzt um und wollte sich aufrappeln, hatte aber Schwierigkeiten damit, das Laken von sich zu schieben und sich mit den zitternden Händen überhaupt genügend abzustützen.
Ophelia half ihr dabei, sich aus dem Gewickel zu befreien.
"Ich konnte nicht schlafen, als ich Dich gehört und dann nach Dir gesehen habe. Du hattest einen schlimmen Alptraum, nicht wahr?"
Rogis Blick huschte unstet zwischen den Schatten in den Zimmerecken umher und das Zittern in ihren Händen schien stärker zu werden. Sie stützte sich am Bettrand auf und erhob sich etwas ungelenk.
"Ef geht fon. Mach Dir keine Gedanken. Du kannft ruhig wieder rüber gehen."
Ophelia nahm die Bettdecke vom Boden auf und legte sie sorgsam an das Fußende zurück. Sie ging zur Tür, blieb aber abrupt stehen, als sie spürte, dass Rogi dazu ansetzte, ihr zu folgen.
"Soll ich Dir vielleicht etwas zu Trinken bringen? Eine warme Milch machen? Märrie hat mir, als ich noch klein war und nicht schlafen konnte, immer eine zubereitet..."
Die Igorina war mit einem Ruck wie festgewurzelt stehengeblieben und rieb sich hochnervös die Hände.
"Rogi?"
Die Kollegin hatte sichtliche Mühe, den Blick konstant ausgerichtet zu halten und ihre gesamte Haltung kündete von Rastlosigkeit und schlechtem Gewissen.
"Ja, ja. Ich hab doch gefagt, daff allef ok ift. Geh einfach flafen! Ich kümmere mich fon alleine um meine Milch."
Etwas machte 'klick' in ihren Gedanken und sie verstand, was vor sich ging. Rogis Umhängetasche musste noch im Korridor oder in der Küche liegen!
Sie sagte in gedehntem Tonfall: "Es geht Dir gar nicht um ein warmes Getränk... nicht wahr?"
Rogis Augen verengten sich und sie ballte wie in einem Reflex frustriert die Hände zu Fäusten.
"Daf geht Dich nichtf an! Und nun geh endlich inf Bett!"
Ophelia richtete sich kerzengerade auf.
"Du hast doch gar kein... Moment! Roger hat nicht alles an sich genommen, richtig? Nur das hochdosierte, für Dich selber. Du würdest stattdessen auf das Medikament für Menschen ausweichen?"
Rogi wich ihrem Blick aus und wollte sich brummelnd an ihr vorbeizwängen.
"Waf Du nur wieder denkft! Du hatteft fon immer viel fu viel Fantafie. Geh einfach flafen und laff mich in Ruhe, dann können wir beide die Nacht einigermafen überftehen..."
Ophelia fasste sich ein Herz und trat ihr in den Weg. Sie ergriff Rogis Unterarm und hielt diesen fest, um sie aufzuhalten.
In Rogis Blick loderten Wut und Hass auf. Sie befreite den Arm mit einem so heftigen Ruck, dass Ophelias Finger nutzlos wie Blütenblätter an der Haut abglitten.
"Ich will vorbei!"
'Ich muss sie davon abbringen. Im Moment stehe nur ich zwischen ihr und dem Rückfall.'
Sie schüttelte den Kopf.
Die aufkochende Agression in Rogis Haltung erschreckte sie, so dass sie einen Schritt zurückwich. Sie bemerkte das verräterische Zittern ihres gesunden Armes nur zu deutlich, als sie ihn demonstrativ beiseite streckte, um ihr den Weg zu versperren.
"Ich kann nicht! Verstehe doch! Es würde alle unsere Bemühungen kaputt machen!"
Rogi lachte kurz auf und der boshafte Unterton machte die Situation bedrohlich.
"Du kannft mich nicht aufhalten und daf weift Du ganf genau."
'Es ist wirklich unwahrscheinlich, dass ich das könnte,' dachte sie bei sich. 'Sie ist trainierter, stärker als ein Mensch, hat die Kampferfahrung als F.R.O.G.! Und kaum jemand weiß genauer um meine Grenzen, als sie es tut.'
Sie hatte kaum bemerkt, wie ihre Konzentration bei den aufkommenden Selbstzweifeln nachließ. Der Fehler wurde ihr in der selben Sekunde klar, als Rogis Schlag sie aus heiterem Himmel gegen die Schläfe traf - selbstredend an eben jener Seite, an der sie dem schützenden Reflex nicht nachgeben und den Arm in die Höhe hätte reißen können. Schmerz explodierte in ihrem Kopf, die Welt ruckte in einem bunten Streiflicht beiseite und es wurde dunkel.

Als sie wieder zu sich kam, geschah dies etappenweise. Erst wurde ihr der pochende Kopfschmerz bewusster, dann das im gleichen Rhythmus pulsierende Licht hinter den geschlossenen Augenlidern. Es gesellten sich das Empfinden für Raum und Geräusche hinzu. Rogi musste nahe bei ihr stehen. Ein herber Schwindelanfall ließ sie nach Luft schnappen und sie sich nach einer Achse im Raum sehnen, an der sie ihre Orientierung hätte ausrichten können. Ein Klumpen Übelkeit ballte sich in ihrem Magen zusammen.
Sie blinzelte und fand sich auf dem Boden wieder.
Die Gegenwart der scheinbar unschlüssigen Igorina legte nahe, dass sie nicht lange ohnmächtig gewesen sein konnte.
'Ein einziger, sauberer Schlag. Vermutlich hatte Racul sich das in etwa so vorgestellt. Nur eben mit vertauschten Rollen...'
Sie rappelte sich so gut es ging auf und schüttelte desorientiert den Kopf. Die Wahrnehmung für Oben und Unten rutschte wieder an ihren angestammten Platz und sie begann vorsichtig den Blick zu heben - ausgehend von den schweren Wächterstiefeln direkt vor ihr.
Rogi hatte sich keine Handbreit fortbewegt; sie rang mit sich.
'Roger hatte mich gewarnt und ich habe ihm nicht geglaubt. Nicht eine Sekunde hätte ich es für möglich gehalten! Das nennt man dann wohl Lehrgeld zahlen. Breguyar wäre mit meiner Leistung unzufrieden, wenn er davon wüsste. Ich war unvorsichtig.'
Die Kollegin blickte vorwurfsvoll auf sie herab. Deren Stimme klang beinahe verzweifelt, als sie ironischerweise konstatierte: "Gib ef auf! Daf hat allef keinen Finn! Ich will Dir nicht weh tun..."
Ophelia dachte mit einem gewissen Bedauern: 'Dafür ist es leider zu spät. Aber nochmal wirst Du mich nicht unachtsam erwischen.' Sie stützte sich an der Wand ab und ignorierte den neuerlichen Schwindel dabei. 'So, wie ich die Situation einschätze, wären Roger und Racul sich jetzt zumindest darin einig, dass Reden allein bei ihr keinen Erfolg mehr haben wird. Der eine würde mir vorwerfen, dass ich ihr das Medikament vorenthalte, welches ihren Kreislauf schont. Der andere würde mir dazu raten, sie gewaltsam ruhigzustellen. Und was denke ich? Hm... vor allem, dass ich in einem Kampf gegen sie kaum bestehen könnte und diesen daher unbedingt vermeiden möchte! Vielleicht ist Püschologie einen Versuch wert?'
"Das bist nicht Du, Rogi... Das wirst Du bereuen."
Rogi lächelte grimmig.
"Foll daf eine Drohung fein, Ophelia?"
Ihr entging nicht, wie sich bei dieser Frage die Muskeln in Rogis Beinen anspannten.
"Nein, eine schlichte Wahrheit. Sieh Dich doch nur mal an! Ist es das, was Du willst?"
Die Igorina begann unruhig von einem Bein auf das andere zu wechseln und sich die Unterarme zu kratzen. Sie schnitt eine Grimasse.
"Ef... ef tut mir leid. Ich wollte Dich nicht flagen."
"Das hast Du aber. Nur, um an diese Flüssigkeit heranzukommen, die Dich mehr unter Kontrolle hat, als Du dich selbst..."
Rogi antwortete mit gequältem Gesichtsausdruck.
"Du hätteft doch einfach nur inf Bett gehen müffen! Einfach gehen und mich in Ruhe laffen, dann wäre Dir nichtf paffiert! Diefe unerträglichen Alpträume... ich kann daf nicht! Ich halte daf nicht auf, die machen mich noch wahnfinnig! Verfteh daf doch! Ef tut mir furchtbar leid aber..."
Rogi wich ihrem Blick aus und näherte sich ihr, um in einem zweiten Versuch die Tür zu passieren.
"Deine Hände zittern noch mehr, als beim letzten Mal. Wie willst Du so die Spritze aufziehen können? Und denke nicht, dass ich Dir dabei helfen werde!"
Rogi sah erst auf ihre Hände hinab. Und dann mit einem undefinierbaren Ausdruck wieder zu ihr auf.
"Oh, Du wirft mir helfen!"
Sie glaubte der Drohung instinktiv! Die Art und Weise, in der Rogi sie ansah, ließ sie das Schlimmste befürchten, ohne sich den kommenden Schrecken überhaupt genauer ausmalen zu können.
Dann jedoch blinzelte sie.
'Nicht mit mir! Wie perfide ist das denn, in deinem Zustand noch selber mit püschischen Tricks zu kommen?'
Wie hatte Roger sich nur gegen diese gänzlich unbekannte Variante Rogis behaupten können?
Sie schüttelte den Kopf.
"Nein, Rogi! Das werde ich nicht!"
"Hätte ich Dich nicht auf der Pflicht mir gegenüber entlaffen, dann hätteft Du ef getan. Daf bedeutet, daff Du fehr wohl weift, waf Du mir wirklich fuldig bift."
Rogi ging unbehelligt an ihr vorbei.
Ophelia sah ihr wie betäubt in den kurzen Korridor nach, als wenn sie soeben einen zweiten Schlag gegen den Kopf erhalten hätte. Sie stolperte hinterdrein und suchte nach den passenden Worten, um sich zu verteidigen.
"Rogi! Du kannst nicht ernsthaft behaupten, ich würde Dir eine Assistenz bei einem Selbstmord auf Raten schulden!"
Sie erreichten die kleine Garderobe, wo die Igorina sofort hektisch in der abgestellten Umhängetasche zu wühlen begann. Einzelne Gegenstände fielen heraus und landeten unbeachtet auf dem Boden: Verbandsrollen, ein Bleistift, kleine Papiertütchen mit fein gerolltem Garn, die Lederbanderole mit dem Operationsbesteck... Rogi drehte sich nicht einmal zu ihr um, als sie kalt antwortete.
"Du fuldeft mir fwei Leben! Mit fowaf kenne ich mich auf. Meinef geht grad den Bach runter und wenn ich nicht bald diefef Beruhigungfmittel bekomme, dann ift ef fowiefo keinen Pfifferling mehr wert. Ich komme an kein frifef Herf heran und die Alpträume werden dafür forgen, daff mein altef ef nicht mehr lange macht. Dann werde ich an einem Infarkt fterben! Alfo tu gefälligft, waf Du begonnen hatteft, waf Du mir fuldeft und forge dafür, daff ich wieder vernünftig arbeiten und funktionieren kann! Fonft bift Du nämlich daran fuld, wenn ef fief geht. Weil Du mich aufgehalten haft! Und ob Du damit klarkommen würdeft... ich weiß ja nicht.'
Ophelias Gedanken begannen sich bei diesem Vorwurf gefährlich im Kreis zu drehen. Sie versuchte, die reelle Gefahr nicht an sich heranzulassen und den Rest ihrer üblichen Gelassenheit zusammenzukratzen.
'Das sagt sie, um mich zu manipulieren. Egal ob ein wahrer Kern daran sein mag... ich darf nicht darauf reagieren, sonst wird sie diese Schwäche als Hebelpunkt nutzen. Ich muss es ignorieren, ich muss es ignorieren!'
In der Tasche schlugen Glas und Metall leise klirrend gegeneinander und mit triumphierendem Funkeln in den Augen wandte Rogi sich ihr zu. Die Phiole reflektierte silbrig das Streulicht aus Rogis Zimmer. Es war eindeutig das Beruhigungsmittel mit der Dosierung für Menschen. Sie erkannte die träge Flüssigkeit und die farbige Tinte des Etiketts zweifelsfrei wieder, so oft wie sie diese in der Zeit ihrer Heilung zu sehen bekommen hatte.
"Ef wird Feit, deine Fulden bei mir abfubefahlen!"
'Sie sieht wie eine Wahnsinnige aus, unheimlich, wie eine der Darstellerinnen aus diesen Horrorklickern. All die Narben, das Spritzbesteck... ihr Blick! Ich kann absolut nicht einschätzen, wozu sie gerade in der Lage ist!'
Rogi kam grinsend auf sie zu, Spritze und Phiole in der Hand. Dass diese Gegenstände für deren Eigengebrauch angedacht waren, machte es dabei keinen Deut besser.
'Aber sie will etwas von mir. Solange sie die Hoffnung hat, es auch zu bekommen, wird sie mir nichts tun.'
Die Sanitäterin ging zielstrebig in ihr Zimmer zurück und ergriff Ophelia hart am Arm, um sie mit sich zu ziehen.
'Andererseits kann sie mich nicht dazu zwingen. Unmöglich! Und spätestens, wenn es endgültig in ihrem Sinn ankommt, dass ich das nicht tun werde, wird sie der Agressivität freien Lauf lassen. Sie hat gezeigt, wozu sie in der Lage ist! Und Roger hat obendrein gesagt, dass sie dann nicht mehr zurechnungsfähig ist... Egal wie leid es ihr danach täte, ich denke, das Risiko kann ich nicht eingehen.'
Rogi war dermaßen auf ihr Ziel fixiert, dass sie nicht einmal einen Blick zu ihr zurück warf und sie lediglich hinter sich her zog.
'Dann ist es wohl gleich für mich an der Zeit, etwas zu bedauern...'
Sie wappnete sich innerlich. Gerade, als sie die Tür zu Rogis Zimmer erreichten, zog sie ihren Arm in Rogis Griff mit einer langsamen, gleichmäßigen Bewegung zurück, so dass diese widerwillig stehenblieb und sich halb zu ihr umdrehte. Sie löste den Arm ängstlich aus Rogis Fingern, zog die Hand dicht an ihren Oberkörper zurück und jammerte in flehentlichem Tonfall:
"Warte! Ich kann das nicht..."
"Fo ein Unfinn! Du..."
Ihre flache Handfläche traf Rogi über dem Brustbein und schubste diese an die Wand neben der Tür.
Rogi sah sie überrascht an und suchte im Reflex nach Halt.
Die Phiole landete mit einem leisen Klirren auf dem Boden.
Die unterschiedlichen Augen verengten sich und ein unerbittlicher Zug legte sich um den Mund der Igorina.
Ophelia setze nach, um Rogi einen geraden Faustschlag gegen das Kinn zu versetzen aber da stand die Igorina schon ganz woanders. Nämlich keine zehn Zentimeter von ihr entfernt, den Nachthemdkragen zwischen den bebenden Fäusten fest gepackt.
Die Flurwand stoppte sie beide, indem Ophelia mit dem Rücken gegen diese gestoßen wurde.
"Du haft fie kaputt gemacht! Du haft fie mit Abficht kaputt gemacht!"
Sie schloss die Augen und wand sich in dem festen Griff, als wenn sie sich klein machen und vor dem Zorn der Igorina verstecken wollte.
"Es tut mir so leid, Rogi, nicht schlagen! Bitte schlag mich nicht!"
Der Griff lockerte sich etwas und sie blinzelte ängstlich, um schnell ein möglichst genaues Bild der Situation zu bekommen.
Rogi war außer sich vor Wut und Frustration, sowie gleichzeitig verwirrt und verzweifelt, ihrem Blick auf deren Hände nach zu urteilen, die immer noch in der Nähe von Ophelias Hals auflagen.
Sie zögerte keine Sekunde länger.
'Jetzt oder nie...'
Ihre rechte Ferse traf mit aller Wucht den Spann von Rogis linkem Fuß.
Rogis Griff löste sich etwas und diese folgte einem natürlichen Reflex, indem sie die Augen zusammenkniff und sich dem Schmerz - und somit auch Ophelia - entgegen beugte.
Diese streckte den gesunden Arm in einer windmühlenartig anmutenden Bewegung seitlich weit von sich, schwang ihn gestreckt über ihren Kopf auf die andere Seite, drehte ihren gesamten Oberkörper bis zur Hüfte dabei mit ein und beugte sich so weit vor, dass Rogis Griff endgültig ausgehebelt wurde und von ihr abfiel.
Rogi wollte sich soeben wieder aufrichten und öffnete die Augen.
In der Sekunde sah Ophelia über ihre rechte Schulter hinweg zu ihr hin, knickte den Arm ein, zielte und ließ aus der selben Bewegung heraus - sich aufrichtend - den angewinkelten Ellenbogen zurückschnellen.
Keine Zeit mehr, um auszuweichen!
Rogis Kopf flog nach hinten, sie erschlaffte und sank zu Boden. Ihr Körper blieb reglos liegen.
Ophelia atmete tief durch. Sie hätte sich gerne den schmerzenden Ellenbogen gerieben, doch dazu hätte es einer zweiten einsatzfähigen Hand bedurft.
"Dieses Mal wäre Breguyar mit meiner Leistung zufrieden gewesen. Die Kombination hat tatsächlich funktioniert! Warum bringen wir sie nicht schon den Rekruten bei?"
Sie sah auf Rogi hinab.
'Und nun?'
Raculs Worte kamen ihr wieder in den Sinn.
'Gut verschnüren. Dann kann sie mir nichts mehr tun und wird sich selber beruhigen. Bestimmt!'
Sie sah sich hektisch nach Seilen um. In der Küche gäbe es vielleicht Paketschnur?
Da fiel ihr Blick auf die Verbandsrollen, die in der Nähe der Eingangstür am Boden verteilt lagen.
'Viel besser!'
Schnell sammelte sie einige davon auf, lief zu der Igorina zurück und begann, erst deren Hände Rücken an Rücken aneinander zu wickeln und dann deren Füße. Nach kurzem Überlegen verknotete sie den Verband zwischen Rogis Händen mit einem weiteren, welchen sie mühseeligst um die Körpermitte wickelte und über der Wirbelsäule zusammenband.
Sie rollte die Sanitäterin gerade auf den Rücken zurück, als diese wieder zu sich kam.
Rogi wirkte verwirrt, dann flog deren Blick überrascht zu Ophelia. Sie versuchte halbherzig, sich zu befreien.
Währenddessen strich Ophelia sich das wirre Haar aus der Stirn und ließ sich mit einem schweren Seufzer neben Rogi auf den Dielen des Korridors nieder.
Ihr Kopf pochte dröhnend und die Haut neben ihrem linken Auge begann zu spannen.
Sie sah zu der gefesselten Kollegin hinab und jene erwiderte düster den Blick.
"Ich wusste mir nicht anders zu helfen... Meinst Du, dass Du dich bis zum Sonnenaufgang wieder soweit beruhigt hast, dass wir beide zur Arbeit gehen und so tun können, als wenn nichts geschehen wäre? Es sind nur noch wenige Stunden bis dahin und ich könnte mich hier zu Dir setzen. Wir könnten uns so lange unterhalten. Soll ich Dir vielleicht ein Kissen bringen und es Dir etwas gemütlicher einrichten?"
Rogi schwieg beharrlich, ließ sie aber nicht aus den Augen.
"Na gut. Dann eben kein Kissen. Mir soll es recht sein."
Sie schloss erschöpft die Augen und lehnte den Kopf zurück an die Wand.
'Gleich! Gleich hole ich ihr eines. Nur kurz sitzen. Ich bin so müde.'
"Du follteft dein Auge behandeln laffen..."
Rogis Stimmt hatte erstaunlich leise geklungen. Sie verzichtete auf ein Nicken und sagte nur, mit weiterhin geschlossenen Augen:
"Von Dir?"
Die Igorina antwortete noch leiser, als zuvor.
"If könnte ef verftehen, wenn Du mich nicht lofbinden wollen würdeft... Die Falbe gegen Blutergüffe findeft Du in meiner Umhängetafe, in dem breiten Feitenfach."
"Hm... Gut zu wissen. Ich hole sie mir gleich."
Rogi wirkte deutlich zurückhaltender und überlegter, als noch vor wenigen Minuten. Das bedeutete einen Moment des Innehaltens.
Die Anspannung fiel etwas von ihr ab und sie rollte ihren Kopf sacht von einer Seite zu anderen und spannte und löste die Schultermuskulatur.
'Ich werde sie losbinden müssen. Wie viel Zeit bleibt uns noch, bis wir wieder zur Arbeit müssen? Drei Stunden? Vier? Vielleicht wäre es sinnvoll, wenn sie Urlaub beantragen würde? Aber eines nach dem anderen.'
Sie ließ den Atem tief in ihre Lungen strömen, atmete danach langsam wieder aus.
"Ophelia?"
Ihre Augenlider waren so schwer.
"Hm?"
Rogi antwortete ihr leise. Es war irgendwie nett, deren gleichmäßige Stimme zu hören, auch wenn sie nicht so richtig verstand, was diese genau sagte.
'Ich könnte ihr Fragen stellen, um sie besser kennen zu lernen. Über ihre Kindheit zum Beispiel. Das wäre bestimmt interessant...'
Die freundliche Stimme wurde immer leiser und löste sich in dankbarem Vergessen auf.

Szene 29

Rogi Feinstich

Rogi trank einen Schluck aus der feinen Porzellantasse zwischen ihren Händen und ließ diese dann zurück in den Schoß ihres Schneidersitzes sinken. Sie stellte diese dort leicht ab und ignorierte das inzwischen permanente Zittern so gut es ging. Was nicht besonders gut gelang.
Es musste eben genügen.
Ihr gegenüber, an der anderen Korridorwand, lag die junge Kollegin und schlief tief und traumlos.
'Beneidenswert!'
Sie betrachtete Ophelia nachdenklich.
'Es hätte ihr nicht möglich sein dürfen, mich auszuschalten. Wäre es reines Glück gewesen, dann vielleicht. Aber nicht so! Nicht mit direktem Vorsatz und mit dieser Strategie. Sie verkörpert inzwischen so dermaßen viele unterschiedliche Rollen! Liegt das an ihrer Spezialisierung? Mir war bis jetzt nicht bewusst, wie sehr sie sich verändert hat. Als ich ihr das erste Mal begegnete war sie noch eine unbedarfte Rekrutin. So neugierig, so verträumt! Nicht absehbar, was aus ihr werden würde. Und jetzt? Sie hat Bregs auf eine falsche Spur gelockt - mit der Wahrheit! Sie macht all ihren Kollegen jeden Tag vor, dass sie wieder genesen sei, während es sie innerlich beinahe wegen dieses Vampirfluchs zerreißt. Sie lächelt und lächelt und sammelt währenddessen Informationen ohne Ende. Und sie macht mir mitten in einem Kampf mit allen Sinnen weiß, dass ich die uneingeschränkte Oberhand hätte, nur um mich eine Sekunde später zu überrumpeln! Dabei ist sie nicht einmal eine F.R.O.G.! Man sollte meinen, dass ihr die Praxis für solche Manöver fehlen würde.'
Sie betrachtete das unschuldige Gesicht der jungen Frau, im Schlaf so arglos, umrahmt von den roten Strähnen, die sich rund um ihr Kissen wie feines Wurzelwerk ausbreiteten.
'Sie ist berechnend geworden. Sie hat einen gutmütigen, umsorgenden Wesenskern aber sie hat sich zu einer Frau mit unzähligen Masken entwickelt und sie zögert nicht, diese auszutauschen, so wie sie es gerade für gut erachtet. Ich habe eine der wenigen Masken gesehen, die sie sonst nicht zeigt. Wir können von Glück sagen, dass sie ein herzensguter Mensch ist. Unter anderen Umständen wäre sie... gefährlich.'
Rogis Blick wanderte zu dem nahen Türrahmen, dorthin, wo bis vor Kurzem die hauchdünnen Scherben der Ampulle gelegen hatten.
'Es war das letzte Fläschchen in der Tasche. Ich muss unbedingt nachsehen, wieviel Vorrat noch in der Wache ist. Nicht, dass ein Notfall eintritt und ich keine Möglichkeit mehr habe, zu behandeln... wobei...' Ihr Blick wechselte zu der schlafenden Wächterin zurück. 'Vielleicht hat sie Recht und ich sollte heute Urlaub einreichen?'
Ophelia war nach der Konfrontation beinahe augenblicklich eingeschlafen.
Als sie sich dessen sicher gewesen war, hatte sie nicht länger damit gezögert, sich aus der Fesselung zu befreien. Etwas, was ihr nicht schwer fiel. Menschen hatten nur im Allgemeinen eine zu große Scheu davor, sich die Schultergelenke auszukugeln. Obwohl es das Prozedere erheblich vereinfachte.
Danach hatte sie ein Kissen und die Decke geholt und die Ermittlerin vorsichtig im Flur gebettet.
Ophelia war nicht einmal davon wach geworden, dass sie ihr die verfärbte Gesichtshälfte mit der Salbe bestrich! Sie hatte lediglich begonnen, im Schlaf zu sprechen. Als Rogi ihr mit spitzen Fingern das Haar aus dem Gesicht hielt, damit es nicht mit der Salbe verklebte, hatte Ophelia flüsternd davon gesprochen, dass sie Rogi gleich von den Verbänden befreien würde, nur einen kleinen Moment. Dass ihr das alles so leid täte und dass Rogi dringend Urlaub beantragen müsse. Skurril wurde es erst, als Ophelia Vorschläge zu unterbreiten begann, die mit Schwertern und ganzen Armeen zu Rogis Gunsten zusammenhingen, um den Urlaubsantrag zur Not mit Gewalt durchzubringen.
Da war sie peinlich berührt aufgestanden und hatte die Schlafende im Flur sich selbst überlassen und stattdessen damit begonnen, den Frühstückstisch zu decken.
Hauptsache sie war beschäftigt. An Schlaf war nicht zu denken.
Irgendwo, tief in sich drin, wusste sie, dass dies auch keine Lösung sein würde.
Dann wieder wurde ihr bewusst, dass sie schon seit vielen Stunden nicht mehr von dem Beruhigungsmittel genommen hatte. So lange! Und Ophelia hatte einen großen Anteil daran gehabt, sie bisher davon abzuhalten.
Das Licht wurde heller und außerhalb ihres gemeinsamen Domizils ging die Sonne auf.
Sie stellte die Tasse auf dem Boden neben sich ab, erhob sich in einer lautlosen Bewegung und ging in ihr Zimmer, um dort die Lampe zu löschen.
Als sie wieder kam und sich eben zur Tasse herab beugte, wurde Ophelia blinzelnd wach. Sie blickte müde zu ihr auf.
Rogi bemühte sich um ein Lächeln.
"Guten Morgen! Haft Du einigermafen gut geflafen?"
Ophelia antwortete verschlafen.
"Zu wenig. Aber in Anbetracht der Umstände nicht so schlecht, wie zu vermuten stand." Sie blickte sich kurz um und setzte sich dann schläfrig auf. "Und selber?"
"Fagen wir ef fo: Ich hatte eine intereffante Nacht." Sie ging weiteren Fragen aus dem Wege und in die Küche hinüber. Ohne sich umzudrehen sagte sie: "Wenn Du foweit bift, dann wartet daf Frühftück auf Dich."
Sie hörte hinter sich das Rascheln der Decke und kurz darauf das leise Tappen nackter Sohlen auf den Holzdielen.
Sie setzte sich an den schmalen Tisch und wartete auf Ophelia. Ab und an nippte sie an ihrem Kräutertee. Es war zwar keine Überwaldmischung aber trotzdem ganz in Ordnung.
Gegenüber dem Küchenfenster leuchtete die Häuserfassade in einem warmen Goldton, als die Sonne es endgültig über die Dachfirste schaffte.
Aus Ophelias Zimmer war ein schwerer Seufzer zu hören.
Rogi stellte die Tasse auf der Untertasse ab, erhob sich und ging hinüber. Sie klopfte am Türrahmen an, bevor sie resigniert hereingebeten wurde.
Die andere Wächterin stand voll bekleidet neben dem Raumteiler, als sie sich zu ihr umsah.
"Ich komme gleich. Einen kleinen Moment bitte noch."
Ophelia zog soeben die Gurte an dem Armgeschirr fest und ließ die Schnallen einrasten, dann wandte sie sich ihr wieder zu.
Rogi trat auf sie zu und griff entschlossen an ihr vorbei, zu der Ablagefläche am Spiegel. Sie nahm die Haarbürste zur Hand und deutete Ophelia an, sich wieder umzudrehen.
"Laff mich daf machen. Daf geht deutlich fneller und macht mehr Finn. Wenn ef Dir recht ift?"
Ophelia sah sie mit bewegtem Blick an. Es ließ sich nicht anders beschreiben. Als wenn ihr dieses Angebot unendlich viel bedeuten würde.
Bevor die Situation unangenehm rührseelig werden konnte, ging Rogi zu dem Schreibtisch, zog den dortigen Stuhl näher ans Fenster und dirigierte Ophelia stumm dorthin. Sie drückte sie an den Schultern herab, damit diese sich setzte und begann mit dem Prozedere, die Haarmassen strähnenweise zu glätten.
Ophelia schwieg lange Zeit. Die inzwischen vertraute, friedvolle Stille entstand wieder zwischen ihnen und ihrer beider Atemrhythmus gleichte sich nach und nach aneinander an.
"Du wirst es sehen, Rogi... alles wird gut werden. Wir schaffen das! Zusammen schaffen wir das! Neuer Tag - Neues Glück!"
'Sie ist so optimistisch! Wenn ich doch nur ebenso fest daran glauben könnte.'

Szene 30

Almuth Jahwohl

Sie hatte eine unangenehm kurze Nacht hinter sich. Und den noch wesentlich unangenehmeren Verdacht, sich mit den beiden Wächterinnen das falsche Klientel ins Haus geholt zu haben.
'Dieser Radau! Unmöglich! Ich beobachte das nicht lange tatenlos. Wenn sich das wiederholen sollte, dann werde ich mit Frau Kasta sprechen müssen. Palastangelegenheiten hin oder her, so wilde Frauenzimmer sind nicht förderlich für den bisher tadellosen Ruf meines Hauses!'
Sie kontrollierte ein letztes Mal ihre Frisur, als sie an dem Spiegel im Flur vorüber kam.
'Ja, so geht das.'
Sie griff nach der Türklinke.
Eine Etage höher konnte sie das schwere Aufschnappen der Wohnungstür hören, sowie das gut geölte, leise Schwingen selbiger. Die Stimmen der beiden Frauen waren im Aufgang zu hören und dann kamen ihre Schritte die Treppenstufen hinab.
'Hm, wie ungünstig. Nun wird es so aussehen, als wenn ich mich darum bemüht hätte, sie abzupassen. Wie eine dieser geschwätzigen Marktschreierinnen.' Ihre Hand schwebte unschlüssig über dem Metall. Doch dann griff sie beherzt zu. 'Unfug! Ich habe jedes Recht dazu, mich in meinem Haus frei zu bewegen.'
Sie öffnete ihre Türe, als die beiden Wächterinnen ihr schon auf halbem Absatz entgegen kamen.
Die Rothaarige ging voran. Sie war trotz der frühen Stunde geschminkt und mit einer komplizierten Hochsteckfrisur aufgetakelt. Das an der Frisur schräg aufgesetzte Schleierhütchen überschattete mit seinem dunklen Tüll einen Teil ihres Gesichtes. Sie lächelte etwas verkrampft, grüßte aber sonst, wie die Höflichkeit in Person.
"Guten Morgen, Frau Jahwohl! Schön, dass wir Dich noch vor dem Tagewerk treffen. Ich möchte mich in unser beider Namen ganz herzlich für die Mühe bedanken, die Du dir mit unseren Räumen gemacht hast, um uns einen so warmen Empfang zu bereiten! Wir wussten zu später Nachtstunde sehr zu schätzen, dass es nach dem Einräumen unserer Sachen Brot und Belag gab. Und heute morgen Tee. Und nicht zu vergessen, überall die frischen Blumen! Wirklich, vielen Dank! Nicht wahr, Rogi?"
Die schlanke Wächterin wandte sich halb zu ihrer Kollegin um, welche einige Stufen höher stehengeblieben war.
"Ja. Fehr nett. Danke!"
Die Beiden sahen ihr erwartungsvoll entgegen. Fräulein Ziegenberger nestelte in einer Verlegenheitsbewegung an dem kurzen Schleier herum, bevor sie sich dessen bewusst wurde und die Hand schnell wieder sinken ließ. Die Igorina sah beinahe schon lauernd zu ihr hinab. Almuth entschied sich neuerlich dafür, diese zu ignorieren und vor allem mit der Hauptmieterin zu sprechen.
Deren überschwengliche Begrüßung hatte sie etwas besänftigt.
Trotzdem!
"Waren die ersten Nächte im neuen Heim denn angenehm? Immerhin kam ich nicht umhin, zu erfahren, dass unter Stadtwächterinnen scheinbar andere Schlafenszeiten geläufig sind, denn unter normalen, menschlichen Durchschnittsbürgern."
In dem ansonsten regungslosen Flur war die Bewegung nicht zu übersehen, mit welcher die Igorina ihre zusammenzuckende Hand vom Geländer zog, um sie undamenhaft in der Hosentasche zu versenken.
Die beiden Frauen wechselten einen kurzen Blick miteinander und wieder war es das Fräulein Ziegenberger, welches antwortete. Sie räusperte sich dezent.
"Ich nehme an, Du spielst auch auf den Umstand an, dass es zu früher Morgenstunde bei uns etwas unruhiger wurde?"
Sie ließ es sich nicht nehmen, strengen Blickes würdevoll zu nicken.
Das Fräulein legte sich die Hand wie schützend an den Bauch und erklärte:
"Der Umzug kam doch recht unerwartet und wie es solche Ereignisse so an sich haben, war er zudem nervenaufreibend. So sind wir etwas erschöpft. Wenn dann noch unruhiger Schlaf dazu kommt, kann es schnell passieren, dass ungute Erinnerungen im Schlaf emporkommen, die man eigentlich bezwungen glaubte. Meine Kollegin... nun, sie kommt ursprünglich aus Überwald und wie Du vermutlich weißt, geht es dort noch längst nicht so zivilisiert wie in unserer schönen Stadt zu. Das Leben dort ist nicht einfach."
Die Igorina in der Männerkleidung beobachtete wie gebannt ihre Kollegin.
Der mitleidige Blick des Fräulein Ziegenbergers jedoch lenkte Almuth von der Igorina ab. Sie dachte instinktiv an all die ungeheuerlichen Schauergeschichten aus diesem Teil der Scheibe und begann zu verstehen.
"Du meinst... oh..."
Das Fräulein nickte bedeutungsschwer.
"Wir möchten damit keinesfalls irgendwem zur Last fallen. Jeder hat sein eigenes Päckchen zu tragen und auch Du wirst es an manchen Tagen nicht leicht haben, da bin ich mir sicher. Man sollte die Bürden der verschiedenen Menschen nicht miteinander zu vergleichen suchen. Es gibt eben Tage - oder Nächte - in denen nur eine warme Tasse Tee hilft. Wir sind Kummer gewohnt. Wenn die Aufregung sich etwas gesetzt und die beruhigende Atmosphäre deines wundervollen Hauses ihr Übriges getan haben wird, dann bin ich mir sicher, dass sich auch die schlimmen Erinnerungen, sowie das Schlafwandeln, gänzlich gelegt haben werden. Hoffentlich schon in der kommenden Nacht. Wir werden auf jeden Fall darauf achten, die Nachtruhe zu wahren und Dich keinesfalls ungebührlich zu stören, indem wir Dich in diese traurige Sache hineinzögen! Wir werden Mittel und Wege finden, um... naja... niemanden zu belästigen. Und wir sind Dir jetzt schon dankbar für dein Verständnis."
Die schonungslose Offenheit rührte sie und die unverkennbare Wahrheit in den Worten bewegte ihr mitfühlendes Herz. Etwas, das schon lange nicht mehr geschehen war.
'Die armen Kinder!' Ihr Blick ruhte mitleidvoll auf dem vernarbten Mädchen aus den rauhen Bergen Überwalds. 'Was sie den Kleinen dort auch nur antun! So eine schreckliche Kindheit und dann so mutig, hierher zu kommen und uns Städter zu schützen. Nachdem sie selber schon so viel durchgemacht haben muss...'
Die Wächterin stieg die letzten Stufen hinab und ging an ihr vorrüber, wobei sie ihr freundlich, in stummer Aufmunterung, den Unterarm drückte und ihr knapp zunickte.
Das arme, arme Mädchen von Außerhalb huschte schnell mit gesenktem Blick an ihr vorüber.
Sie sah den beiden hinterher, bis sich die Haustür mit einem leisen Klicken hinter ihnen geschlossen hatte.
'Sie haben es wirklich nicht leicht, unsere Stadtwächter! Merkwürdig, dass mir der Gedanke, welche Einzelschicksale hinter den schäbigen Wachemarken verborgen sein mögen, erst jetzt kommt... Ich werde heute auf dem Markt sehen, was ich den beiden Gutes tun kann. Vielleicht koche ich einen deftigen Gemüseeintopf, um sie etwas aufzupeppeln? Ja, das mache ich. Eine gute Idee. Das arme Ding!'

Szene 31

Michael Machwas

Mortimer kam aufgeregt wedelnd mit einem Stück Speck in der Schnauze um die angelehnte Türkante geflitzt.
Michael wuschelte dem Hund über den Kopf.
"Du alter Schurke! Wo hast Du das denn wieder her? Ist ja ein ordentlicher Brummer. Nicht, dass Du mir die Piepenstengel auf den Hals hetzt, hm?"
Er griff nach der Jacke über der Stuhllehne. Es wurde Zeit für die Streife. Je weniger Personal in ihrer Abteilung verblieb, desto länger wurden die Schichten der Übrigen.
Es klopfte leise an der Tür zum S.E.A.L.S.-Bereitschaftsraum und Mortimer ließ mit aufgestellten Ohren den Speck vor seine Füße fallen.
"Ja?"
Die Tür öffnete sich richtig. Mortimer fand sich in der Zwickmühle wieder, entweder seine Beute zu bewachen oder aber den Neuankömmling gebührend zu begrüßen. Er entschied sich für ein Zwischending, hüpfte und trippelte nervös auf der Stelle und bellte die Frau im Rahmen einmal kräftig an.
"Ist ja gut, Mortimer. Mam?"
Die R.U.M.-lerin trat lächelnd ein und nickte ihm zu.
"Es ist gar nicht so einfach, Dich zu finden, Gefreiter. Gut, dass er sich bestechen lässt." Womit sie auf den immer noch ganz aufgeregten Hund und dessen Beute deutete.
Der Vektor schaute missbilligend auf seinen Gefährten.
"Daher hast Du es! Ich glaub' s ja nicht! Treulose Tomate!" Er sah wieder auf und zog sich bedächtig die Jacke an. "Ich bin in letzter Zeit viel außer Haus und für die Zivilstreifen eingeteilt. Muss auch gleich wieder los. Worum geht es?"
Die Kollegin schien froh darum, dass er schnell zur Sache kam, auch wenn sie sich dies nicht anmerken lassen wollte. Sie erklärte ihr Anliegen, wobei ihre Worte ihn schnell von ihrem merkwürdigen Make-up ablenkten.
"Du hattest Dich vor einigen Tagen über das Fratzenbuch dazu geäußert, dass heutzutage nicht mal mehr die Leichen sicher seien."
Die Anspannung war ganz plötzlich da.
'Habe ich etwas falsch gemacht? Oh, verdammt! Ettark hat sich letztens erst tierisch über die Ziegenberger aufgeregt und diese Gerüchte wiederholt. Das hätte mir gerade noch gefehlt, wegen irgendeines Verplapperers Ärger mit den Intörnals zu bekommen...'
Er streichelte Mortimer hektisch den Kopf, was dieser mit verwundertem Blick über sich ergehen ließ.
"Äh, ja, hatte ich. Warum?"
"Die anderen Nachrichten davor und danach legten den Schluss nahe, dass Du in den Schatten unterwegs gewesen warst. Ich habe derzeit Fälle zu bearbeiten, bei denen die Hinweise an den Opfern ähnlich gelagert sind. Ich habe daher bei Fähnrich Dubiata Einblick in den entsprechenden Bericht beantragt und auch erhalten. Trotzdem blieben einige Fragen unbeantwortet und ich hoffe, dass Du mir vielleicht mit Details weiterhelfen kannst."
Michael entspannte sich wieder und Mortimer zog den Kopf weg, um sich dem Speck zu widmen.
"Äh, ja klar. Kein Ding."
Sie nickte und ging einige Schritte weiter in den Raum, bevor sie sich ihm wieder zuwandte, den freien Arm hinter den Rücken gelegt.
"In dem Teil des Berichtes, den ich einsehen durfte, hast Du beschrieben, dass Du die lange Route 4 abgelaufen bist. Es wurde nicht genauer ausgeführt, an welcher Stelle Du dort, in den Schatten, auf die Leiche gestoßen bist."
Michael dachte ironisch 'Gestolpert wäre als Beschreibung wohl richtiger gewesen...'. Laut sagte er etwas anderes.
"Das war kurz vor der Passage zwischen Honigstraße und Schmugglergilde. Das vorletzte Hause steht etwa eine Armlänge vom letzten Haus der Straße entfernt, weswegen es zwischen ihnen eine sehr schmale Gasse gibt. Normalerweise wäre mir der Tote vielleicht nicht einmal aufgefallen. Die beiden Gebäude stehen aber so schief, also die oberen Stockwerke ragen schon ein ganzes Stück heraus, im Gegensatz zu der Fassade auf Bodenhöhe. Man geht dadurch automatisch weiter zur Straßenmitte hin. An dem Vormittag hatte es aber ziemlich geschüttet, weswegen das ein praktischer Regenschutz war. Und die Füße der Leiche ragten eben aus der Gasse hervor."
Die kleine Kollegin dachte angestrengt nach.
"Du hast die Leiche gefunden und kurz untersucht? Und was dann?"
Die Fragerei war ihm unangenehm. Es war nicht so, dass sie ihm absichtlich den Eindruck vermittelte, ihn auszuhorchen oder sein Verhalten im Nachhinein zu beurteilen. Und sein theoretisches Wissen über Verhandlung, Streit und Erpressungskultur signalisierte ganz klar, dass für ihn keine direkte Gefahr bestand. Aber man wusste nie so ganz genau, welches Ziel das Gegenüber wirklich verfolgte. Eine gewisse Zurückhaltung verhinderte, dass man allzuschnell wieder zurückrudern musste.
'Lass lieber sie reden. Antworte kurz und knapp und freundlich.'
Ettarks höhnische Lästereien lauerten in seinem Hinterkopf und ließen - objektiv betrachtet - keinen objektiven Standtpunkt ihr gegenüber mehr zu.
"Eigentlich haben 'wir' ihn gemeinsam gefunden - Boris war auch dabei. Boris Machtnichts. Wir liefen die Streife gemeinsam ab. Allein in den Schatten? Da könnte man auch gleich vom Kunstturm springen! Und was den Typen angeht... Der Kerl war tot. So richtig. Und das, nachdem er vorher untot gewesen war. Jedenfalls trug er einen schwarzen Schleifenanstecker und spitze Eckzähne. Die waren ganz gut zu erkennen, weil an ihnen ein Apfel aufgespießt hing. Weiß zwar nicht, wer auf so eine Idee kommt, heißt ja schließlich immer, dass es für solche Aktionen Zitrone bräuchte... aber ich denke mal, es wird wohl ein spontaner Einfall aus der Not heraus gewesen sein. Wenn man grad nichts anderes zur Hand hat, nicht?"
"Was hast Du als Todesursache angesehen?"
"Den Pflock in seiner Brust."
"Das allein hätte vielleicht nicht unbedingt genügt... Wäre es möglich, dass das Opfer von selbst wieder zu sich kam und den Ort des Geschehens verließ, während Du dich auf den Weg zur Kröselstraße gemacht hast, um einen Einsatztrupp zum Abtransport der Leiche zu ordern?"
Sie blickte ihm erwartungsvoll vom Fenster entgegen.
"Nur, wenn er sich selber am Schlawittchen aus der Gasse herausgezerrt hätte. Die Schleifspuren waren schon recht eindeutig, habe ich mir sagen lassen. Sie dachten erst, wir hätten ihn tiefer hineingezogen, um ihn vor neugierigen Passanten zu verstecken! Jedenfalls endeten die Spuren auf dem harten Kopfsteinpflaster. S.U.S.I. ging davon aus, dass er auf einen Karren aufgeladen und weggeschafft wurde. Meiner persönlichen Meinung nach etwas viel Aufwand für einen theoretischen Dieb, der sich die Gelegenheit zum Taschenentleeren nicht entgehen lassen wollte."
"Oder aber ein Igor bei der Arbeit."
Er konnte nicht verhindern, wie etwas in ihm mit einer Begeisterung auf das Thema ansprang, die die meisten Kollegen nicht teilen konnten.
"Ja, das wäre natürlich auch möglich. Stark genug sind diese jedenfalls, um eine potentielle Ersatzteilquelle beiseite zu schaffen. Und durch das miese Wetter war die Sicht nicht die beste. Ich hatte ehrlich gesagt auch schon an einen Igor gedacht, es dann aber wieder verworfen. Igors sind normalerweise sehr vorsichtig und haben ein Gespür für Gefahr. Und selbst ich war nach einem flüchtigen Blick lieber schnell weiter gegangen. Boris meinte, ihm wäre es da nicht anders ergangen. Wir hatten beide das Gefühl, als wenn uns einer lauernd im Nacken säße. Dass jeden Moment jemand zurückkommen und den Dschob beenden könnte." Seine Gedanken wanderten unaufhaltsam weiter in die eingeschlagene Richtung, fort von den konkreten Fragen der Ermittlerin, hin zu seiner früheren Leidenschaft mit all den schönen Erinnerungen. "Manchmal denke ich tatsächlich, dass der Reiz des Verbotenen sie in der Sache unvorsichtiger machen könnte. Die meisten Igors scheint es ungemein zu locken, sich in klassischer Manier auf dem Friedhof zu betätigen, anstatt zu Ollivander zu gehen. Soweit ich weiß, haben sie inzwischen sogar ein weiteres Blechschild am Tor des Chronontologen-Areals angebracht. Neben denen gegen Werwölfe und Kindern mit Eis - so einen Schattenriss mit Buckel. Was selbstredend stilisierter Unfug ist. Man braucht sich nur Rogi anschauen, um zu wissen, dass alle unterschiedlich aussehen."
Die Kollegin strich mit der Hand über die abgeschabte Tischplatte des einzigen Ablagemöbels im Bereitschaftsraum. Sie schien die Kratzer genau zu studieren und ihre Stimme klang zurückhaltend.
"Feldwebel Feinstich ist nicht unbedingt der Standard, wenn es um ihre Speziezugehörigkeit geht..."
Die Aussage brachte ihn zum Schmunzeln.
"Nein, das ist wohl wahr. Rogi ist außergewöhnlich und durch und durch große Klasse! Wir können wirklich froh sein, so eine kompetente Sanitäterin in der Wache zu haben. Ich habe ja eine Menge Profis bei der Arbeit beobachten dürfen aber mit ihr zusammenzuarbeiten... das ist was Besonderes. Ich würde ihr jederzeit mein Leben anvertrauen!"
Die Kollegin wirkte inmitten des spartanisch eingerichteten Raumes fast etwas verloren.
"Ja. Ich ebenfalls."
Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen und er atmete erschrocken ein.
"Oh, tut mir leid! Ich habe nicht daran gedacht, dass das für Dich nicht einfach nur so ein Spruch ist..."
Sein Blick blieb an ihrer Armschiene hängen.
'Bei den Göttern! Wie konnte ich so blöde sein? Das war schließlich das Gesprächsthema schlechthin und sooo lange ist es auch noch nicht her!'
Sie lächelte schief.
"Schon gut. Es ist ja nichts geschehen. Lass uns lieber noch den Vorfall in den Schatten zu Ende durchdenken. Du musst dann ja auch gleich los, so war es doch?"
Er nickte erleichtert.
"Ja. Was willst Du denn sonst noch wissen?"
Sie legte den Kopf leicht schräg und für einen Moment war ihr Gesicht so dermaßen ungünstig beleuchtet, dass es fast aussah, als wenn ihr jemand ein Blaues Auge geschlagen hätte.
'Jemand sollte ihr sagen, dass das keine gute Schminke ist. Aber glücklicherweise gehört das nicht zu meinen Aufgaben.'
"Gab es in der Umgebung der Leiche Hinweise, die vielleicht nicht eindeutig genug waren, um sie im Bericht zu erwähnen, die Dir aber dennoch auffielen? Manchmal kommt das ja vor und dann lässt es einem keine Ruhe mehr."
Sie wartete geduldig auf seine Antwort, als er erst überlegen musste.
"Nein. Da gab es nichts. Aber das Wetter war auch wirklich hundsmieserabel. Ich könnte nicht mal beschwören, dass der Kerl, nachdem er herumgezerrt wurde, nicht vielleicht doch noch zu Staub zerfiel und dann einfach im Rinnstein fortgespült wurde! Selbst wenn er nicht zu Asche geworden sein sollte... der Ankh liegt dort nur wenige Schritte entfernt und direkt unter den Brücken ist seine Konsistenz anders. Wegen der Fastströmungen..."
"Du gehst also davon aus, dass der Mord geplant war?"
'Uh-oh! Jetzt lehn' dich nicht zu weit aus dem Fenster. Spekulationen über den Tathergang sind nicht dein Metier.'
"Ähm... so genau kann ich das nicht sagen. Der Ort des Geschehens ist halt schon sehr praktisch gelegen, um alles anschließend zu vertuschen. Andererseits spricht die Sache mit dem Apfel ebenso dagegen, wie das spätere Verschwinden der Leiche. Das wirkt eher danach, als wenn der Typ zur falschen Zeit am falschen Ort war und jemand keine Skrupel hatte, drastisch zu reagieren."
Sie nickte langsam.
"Das ist exakt, was ich auch denke." Ein kleines Lächeln stahl sich in ihre Gesichtszüge und er entspannte sich sofort etwas. "Danke, dass Du dir die Zeit für meine Fragen genommen hast!" Sie durchquerte den Raum und nickte ihm noch ein letztes Mal zu. "Ich wünsche eine erfolgreiche Streife!"
Er grinste optimistisch.
"Wird schon schiefgehen!"

Szene 32

Breda Krulock

'Tja...', dachte Feldwebel Krulock, als sie die gefiederten Bestandteile des unglücklichen Boten - mit dem extra dafür angeschafften und geschliffenen Pfannenwender - von der Wand kratzte. 'Ich würde mal sagen, die Rekalibrierung wurde etwas übertrieben.'
Ihr Blick wanderte kurz in die Richtung, in der hinter den vielen Dächern das Hauptwachhaus lag.
'Vermutlich hat einer der Rekruten an den Einstellungen herumgepfuscht. Zwiebel wird es jedenfalls nicht gewesen sein. Das wird Rogi nicht gefallen.'
Sie warf die Überreste der Taube in den Eimer und machte sich auf den Weg hinunter, in ihr Büro. Dabei entrollte sie die Nachricht aus der Kapsel.

Von WH PP - CK O. Ziegenberger +++ An WH BR - Fw B. Krulock +++ Betreff: Rechercheanfrage +++ Hallo Breda! Ich hoffe, es geht Euch allen gut? Kam die Warnung vor dem Untoten Briefkasten am Perlendock zeitig genug, um sie in die Tagesplanungen deiner Huskys einzubeziehen? Meine neueste Frage betrifft, grob eingegrenzt, die gleiche Gegend der Schatten. Gab es in den letzten Tagen Aufzeichnungen über ungewöhnliche Vorkommnisse in Bezug auf die Schmugglergilde? Vielleicht eine besonders große Lieferung? Oder eine hohe Personalfluktuation? Irgend etwas, das aus dem Rahmen fiel? Ich wäre über jeden Hinweis dankbar. Ganz liebe Grüße! CK O. Ziegenberger

Die Abteilungsleiterin blieb kurz stehen.
'Wieder mal eine von diesen Anfragen. Es ist ja nicht so, als wenn wir Langeweile hätten! Erst zieht sie mir die Leute ab und dann soll ich ihr auch noch die Sucharbeit abnehmen? Warum fragt sie nicht Hatscha, immerhin war die vorher einer meiner Husky!'
Sie schloss nachdrücklich ihre Bürotür und warf den Zettel auf das große Bett. Dann trat sie ans Fenster. Ihre Gedanken umkreisten auf die eine oder andere Art allesamt ein Thema: Ophelia.
'Sie hätte es längst verstehen müssen, dass ich ihr aus dem Wege gehe und unsere kurze Phase der Freundschaft als beendet betrachte. Sie muss es einfach verstanden haben! Und trotzdem schreibt sie mir immer noch solche Nachrichten. Ich kann mir ihren sorgenvollen Blick förmlich vorstellen! Ich hoffe, es geht Euch allen gut... Mir ist schon klar, was sie damit wirklich erfragt. Kann sie meine Entscheidung nicht einfach akzeptieren? Es macht keinen Sinn... All der Aufwand für die paar Jahre ihrer Existenz? Ich bin damals ohnehin schon viel zu weit gegangen, mit meinem Bemühen, sie zu schützen und abzuschirmen.'
Breda blickte zu dem unscheinbaren Zettel zurück, der sich auf der Tagesdecke wieder zusammengerollt hatte.
'Es ist eine zufriedenstellende Fügung der Umstände, dass sie diesen Schutz nicht mehr benötigt. Sie hat R.U.M., Rogi, Mina, Romulus und noch einige mehr. Sollen diese sich um sie kümmern. Ich habe zu viele Menschen überdauert, als dass ich mir den hochemotionalen Aspekt rund um Ophelias zukünftigen Tod aus der Perspektive der trauernden Freundin antun müßte. Distanz schadet nicht.'
Ihr Blick haftete an dem Zettel aus der Nachrichtenkapsel.
'Sie ist zu weichherzig. Ihre ständige Sorge um Andere... Obendrein gehört das alles zu ihrer Masche. Genauso wie der Tee, das freundliche Gehabe, ihr achso vorbildlicher Diensteifer von Grauhaar gegenüber, ihr ständiges Glucken, wenn es um 'ihre' Neuen in der Abteilung geht.'
Sie begann die Wanderung durch das Büro mit einer dermaßen zackigen Bewegung, dass ihr hüftlanges Haar wie ein rabenschwarzer Umhang mit herumschwang.
'Ich könnte die Anfrage einfach ignorieren. Wir haben inzwischen wirklich zu wenig Personal, um alles sofort zu erledigen. Auskünfte wollen immer alle haben aber das mal jemand zum Helfen rübergeschickt würde... Oder ich könnte diese Aufgabe auf Eis legen. Oder zurückschreiben, dass die Frageparameter zu weit gefasst seien.'
Die grau gekleidete Vampirin blieb stehen und dachte über das Problem nach.
'Andererseits...' Ihre Mundwinkel verzogen sich resigniert, "...sie meint es ja wirklich gut. Ich könnte drauf wetten, dass sie sich bei der Hälfte der Dinge nicht einmal dessen bewusst ist, dass sie damit manipuliert. Wenn es möglich wäre, würde ich ebenfalls Mitglieder anderer Abteilungen abziehen. Bloß dass weder die Teemasche, noch das Zuckerpüppchen-Gehabe zu mir passen. Und immerhin hat sie mir tatsächlich die Warnung für Arwan, Wall und Zu-Arm zukommen lassen. Wer weiß, wofür das gut war?'
An der Tür klopfte es zaghaft.
"Herein!"
Ein Spalt öffnete sich und ihr Stellvertreter blickte sie besorgt an.
"Ich habe die Tür schlagen gehört und dachte mir... naja, alles klar?"
Sein zweifelnder Blick brachte sie augenblicklich dazu, alle überflüssigen Gedankengänge zu kappen.
'Ich wollte sowieso nicht mehr an sie denken...'
Sie nickte rigoros.
"Gut, dass Du da bist, Glum. Ich habe eine Aufgabe für Dich. Vom Pseudopolisplatz kam eine Rechercheanfrage seitens des Chief-Korporals Ziegenberger. Du darfst dich darum kümmern. Sieh nach, ob es bei den Schmugglern etwas Neues zu berichten gibt!"
"Aber die Gilden sind doch gar nicht mein Schwerp..."
Sie unterbrach ihn in der gewohnt knappen Art.
"Je schneller Du dich darum kümmerst, desto eher kannst Du dich wieder um dein eigentliches Betätigungsfeld kümmern. Und falls Du was finden solltest, kannst Du ihr gleich zurückschreiben, ohne deswegen nochmal bei mir reinzuschneien."
Sie sah dem Zwerg an, wie sehr es ihn zu einer Diskussion drängte, doch ein weiterer Blick ließ ihn verstummen und kurz darauf entfernten sich seine schweren Stiefelschritte vom 'Drüber und Drunter'.

Szene 33

Araghast Breguyar

'So, so! Rogi will also Urlaub haben?'
Er studierte den knapp formulierten Zettel ein weiteres Mal, den ihm Aaps heute morgen zielsicher in einer Pappröhre des Rohrpostsystems an den Kopf geschmissen hatte.
'Nein, selbst nach langem Nachdenken kann ich mich nicht daran erinnern, dass sie jemals Urlaub beantragt hätte! Ich könnte in ihrer Personalakte nachsehen... aber irgendwie ist mir das zu viel Aufwand für nichts. Immerhin weiß ich auch so ganz genau, dass sie sich den verdient hätte. Bloß... merkwürdig ist es schon. Vielleicht sollte ich mal bei ihr vorbeischauen und nachsehen, ob alles in Ordnung ist?'
Er drehte den Zettel um, doch auch von der unbeschrifteten Rückseite wurde er nicht schlauer. Innerlich die Achseln zuckend legte er den Antrag auf einen ganz bestimmten Stapel seiner Aktenablage. Es würde wohl kaum schaden, wenn er das noch einen Moment beiseite schob und überdachte. Bis dahin gab es andere Dinge, die eindeutig seiner Aufmerksamkeit bedurften.
'Ich komme wohl nicht drum herum...'
Er erhob sich schmunzelnd von seinem Stuhl. Die Tür fiel sacht und nahezu lautlos hinter ihm ins Schloss, als er sich auf den Weg den Gang hinunter machte.
'Mal sehen, was er dieses Mal Schönes macht.'
Er war selber gewiss nicht der Ordentlichste aber die exzessive Sammelleidenschaft seines Stellvertreters stellte alles in den Schatten, was er in der Richtung bereits hatte sehen dürfen. Das kleine Büro 212, in welchem Braggasch sowohl arbeitete, als auch wohnte, glich einem überquellenden Ersatzteillager. Alles, was sich auf unterschiedlichste Weise zum Bau technischer Apparaturen oder deren Reparatur eignete, sammelte sich dort haufenweise in Stapeln zu den Wänden hin aufgeschichtet, wie angespültes Strandgut. Und dazwischen der Zwerg, bei jedem seiner Besuche mit etwas faszinierend Neuem beschäftigt. Jedes einzelne seiner Bastelprojekte schien Potential zu etwas ganz Großem zu bergen.
Araghast schlenderte scheinbar zufällig an dem Treppenabsatz vorüber.
'Länger kann ich auf gar keinen Fall auf diese hochbrisante Akte warten!'
Das Schmunzeln vertiefte sich in seinen Mundwinkeln.
Er passierte die Türen mit den Beschriftungen "Kolumbini" und "von Grauhaar". Dann jedoch verlangsamte sich sein Schritt und er blieb eine Tür früher stehen, als eigentlich beabsichtigt: "Ziegenberger".
Araghast versenkte beide Hände unschlüssig in seinen Hosentaschen. Sein feines Gehör oder aber eine seiner Ahnungen, irgendetwas teilte ihm unzweifelhaft mit, dass sie hinter dieser Tür anwesend war.
'Ich habe sie seit unserem Gespräch nach dem Training nicht mehr gesehen. Ist das nun gut? Oder eher nicht?'
Der Duft frisch aufgebrühten Tees zog unter dem Türspalt hindurch auf den Gang.
'Sollte stattdessen ich sie ansprechen?'
Teile dessen, was sie ihm in dieser Nacht, während ihres gemeinsamen Spaziergangs durch die Straßen Ankh-Morporks erzählt hatte, gingen ihm wieder durch den Sinn und er senkte die Stirn.
'Das war ein Vertrauensbeweis. Wenn sie mir vertraut, dann darf ich nicht nur nachfragen, sondern dann bin ich dazu verpflichtet. Wer wüsste besser als ich, dass sie mit niemandem wirklich redet! Wenn sie es nun zumindest mit mir tut...'
Und ohne länger darüber nachzudenken, klopfte er an.
"Ja, bitte?"
Er trat ein. Die behagliche Atmosphäre ihres Büros umfing ihn.
Ophelia blickte sich, noch halb abgewandt, von ihrem Schreibtisch aus zu ihm um. Schnell erhob sie sich zur Begrüßung.
"Sör!"
Der obligatorische Knicks folgte ihren Worten im Reflex.
'Dass sie sich das nicht längst abgewöhnt hat...'
Etwas an ihrem Anblick irritierte ihn sofort. Erst dachte er, es handele sich um die Schminke. Sie trug sonst nie welche. Ein Umstand, der ihm positiv aufgefallen war. Aus seiner Sicht ähnelten diese weiblichen Kriegsbemalungen in Varianten den registrierten Narrengesichtern. Eine Analogie, die in mehr als nur einer Beziehung unheimlich anmutete. Doch dann nahm er ihre schlagartig anwachsende Nervosität wahr, wie sie sich geschickt darum bemühte, in einer selbstverständlich anmutenden Bewegung die linke Körperhälfte wieder dem Fenster zuzuwenden, wie sie den Kopf so neigte, dass ein bestimmter Winkel einen leichten Schatten hervorrufen sollte... kurzum: Seine abgrundtief misstrauische Wesensseite wies ihn anklagend darauf hin, dass die zusätzliche Farbe im Gesicht mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit ein Mittel zur Tarnung darstellte, welches die darunter liegende, tiefere Tönung vertuschen sollte!
"Hmmm...", brummte er kritisch. "Ich wollte mich nach deinem Befinden erkundigen. Wie mir scheint, hätte ich vielleicht nicht ganz so lange damit warten sollen. Auch wenn mir nicht so recht einfallen will, worin der Zusammenhang bestehen mag zwischen dem, worüber wir als Letztem sprachen und dem, was ich sehe."
Sie atmete tief ein, wie um sich in seiner Gegenwart bewusst zu entspannnen. Ein schiefes Lächeln legte sich über ihre Lippen.
"Du bist tatsächlich der erste, Sör, der mich direkt darauf anspricht. Entweder, ich habe mich doch nicht so ungeschickt angestellt, wie zu vermuten stand, oder ich sehe furchteinflößender aus, als gedacht."
Der humorvolle Unterton, den sie anschlug, beruhigte ihn etwas. Dann konnte nichts allzu Ernstes dahinter stecken. Vermutlich ein bloßes Ungeschick. Er machte sich eben doch zu viele Sorgen.
Mit einem Abwinken schob er ihre Bedenken beiseite.
"Keine Sorge! Es ist natürlich ungewohnt, dich so zu sehen, mit all der Farbe im Gesicht. Aber man sieht die durchschimmernden Schattierungen vermutlich nur, wenn man bereits nach ihnen Ausschau hält."
Er ließ es sich nicht nehmen, etwas näher zu treten und sich ihr Gesicht genauer zu betrachten.
"Wie ist das passiert?"
Sie lächelte beinahe etwas verkrampft. Die Sache war ihr unangenehm. Eine weiteres Mal atmete sie tief durch, dann grinste sie schelmisch. Ein Ausdruck, den er bei ihr noch nie beobachtet hatte, so ungewohnt, dass es ihn kurz aus dem Konzept brachte.
"Ich nehme an, Sör, dass ich mich gar nicht erst um eine heldenhafte Erklärung bemühen brauche?" Sie trat nun doch einen kleinen Schritt näher an den Schreibtisch heran, ihre unversehrte Seite ihm zugewandt. "Ich habe es gut gemeint und es dabei etwas übertrieben."
Er konnte dem Impuls, ihr sarkastisch zu antworten, nicht wiederstehen. "Soll ich also davon ausgehen, dass Du dich in den Zweikampf zweier Muttchen mit ihren geladenen Handtaschen geworfen und dabei etwas von deren Sperrfeuer abbekommen hast?"
Sie errötete und schüttelte den Kopf.
"Der Ansatz mit dem Zweikampf ist schon nicht schlecht, Sör. Allerdings kam er nicht unerwartet, ich habe mich freiwillig auf ihn eingelassen." Ihr Zögern war bereits nach einer Sekunde verflogen. "Du musst wissen, Sör, dass mir unser Training viel bedeutet. Du hast dir beim letzten Mal so viel Zeit für das püschologische Gespräch mit mir genommen. Das weiß ich auch sehr zu schätzen. Allerdings kamen dadurch die Übungen deutlich zu kurz und... naja... ehrlich gesagt hatte ich mir erhofft, mich besser bewähren und Dir damit beweisen zu können, schon deutliche Fortschritte gemacht zu haben. Aber mein Gegenüber war eben nicht Du und daher unberechenbar."
Sie lächelte.
Der Kommandeur spürte unwillkürlich Stolz auf seine Schülerin in sich aufwallen.
'Sie hat heimlich trainiert, um mich zu überraschen?'
Ihr Blaues Auge war schon fast vergessen. Aus reiner Neugier hakte er nach.
"Wer war denn dein schlagkräftiges Gegenüber?"
Sie erwiderte seinen Blick.
"Ein Kollege."
"Erinnere 'den Kollegen' beim nächsten Mal mit schönen Grüßen von mir daran, dass er seine Schläge gefälligst abzubremsen hat."
Sie nickte.
In Gedanken hatte er das schwammige 'Kollege' durch das wesentlich konkretere 'Jargon' ersetzt. Auch wenn Ophelia das vielleicht nicht ganz bewusst zu sein schien, es war inzwischen allgemein bekannt, dass sie ab und an gegen den älteren S.E.A.L.S. antrat.
'Dabei ist er so ein schmächtiges Hemd, der Bursche! Aber gut, man sieht es ja vielen nicht an, wozu sie imstande sind. Dafür wäre sogar ich selber ein gutes Beispiel.'
Araghast nickte zufrieden.
"Na gut. Dann bin ich ja beruhigt."
Das ungewohnt zufriedene Gefühl seinen ehrgeizigen Lehrling betreffend, wärmte ihn noch immer, als er kurz darauf den Nachbarraum betrat, um die filigranen Technik-Basteleien seines Stellvertreters auszukundschaften.

Szene 34

Hatscha al Nasa

Ihr neuer Tätigkeitsbereich bei R.U.M. gefiel ihr gut, ebenso wie die hiesigen Kollegen. Mit Inspäctor war sie zu Beginn des Sondereinsatzes um die Schneevater-Festzeit etwas aneinander geraten. Aber nachdem er sich von ihrer Kompetenz in Sachen Zeugenbefragung hatte überzeugen lassen müssen, hatte sich das schnell gelegt. Der Eindruck, dass er mit Frauen nicht besonders gut konnte, war verblieben. Da er aber normalerweise eigenbrödlerisch vor sich hin ermittelte und ihr auch nicht als offizieller Ansprechpartner zu irgendwelchen Ausbildungsfragen zugewiesen worden war, bewegten sich ihre Kontakte auf einem distanziert, freundlichen Minimum.
Nur selten spürte Hatscha so etwas wie Wehmut, wenn sie an die vielen Jahre bei D.O.G. zurückdachte.
Der soeben erreichte Punkt im Flußdelta der Zeit war solch ein Moment.
"Da steht jetzt zwar bisher nur meine Unterschrift auf der Sammelliste, Hatscha, aber Du weißt ja, dass wir auch alle so viel zu tun haben. Und jetzt noch mehr, ohne Dich! Und dass, wo wir so oder so schon nicht mehr viele sind. Das macht es schwieriger, sich überhaupt noch über den Weg zu laufen. Die Anderen denken natürlich auch dauernd an Dich und wollen Dich zurück haben! Also, es wäre halt toll, wenn Du dir das mit R.U.M. nochmal überlegen würdest..."
Glum Steinstiefel wedelte zum zwanzigsten Mal mit einem Blatt Papier vor ihrer Nase herum, auf dem außer einigen wackelig gezogenen Linien nicht viel stand.
Sie seufzte und beschloss, das Gespräch voranzubringen, indem sie den strittigen Punkt höflich überging.
"Weswegen bist Du denn eigentlich hergekommen? Außer wegen meiner gepunkteten Taschentücher. Und des Resultats der Unterschriftenaktion."
Der Zwerg begann mürrisch in seinen Kleiderschichten zu kramen, bis er einen Notizzettel heraus zog. Er glättete diesen ansatzweise, las ihn und steckte ihn dann wieder weg.
"Ach so, ja. Breda hatte mich damit beauftragt, Infos für deinen Stellvertreter rauszusuchen. Die hatte sich nach Aktivitäten in der Schmugglergilde erkundigt."
Hatscha merkte auf und zog überrascht die Brauen in die Höhe.
"Du hast etwas für Ophelia rausgesucht? Aber warum bist Du dann nicht gleich zu ihr gegangen? Ihr Büro liegt doch..." Seine unfreundlich zusammengekrausten Brauen waren ihr Antwort genug. "Schon gut! Ich verstehe..." Sie beschloss, nicht weiter auf seinen Unmut einzugehen und sich stattdessen um die Übermittlung der angefragten Informationen an ihre neue Vorgesetzte zu kümmern. "Soll ich ihr vielleicht etwas ausrichten?"
Glum nickte einmal kräftig und sammelte seine Gedanken.
"Also beim eingetragenen Gildenpersonal kam es zu keinen nennenswerten Änderungen. Und auch besonders umfangreiche Lieferaufträge waren in letzter Zeit nicht in den Listen vermerkt. Das einzige, was mir ein wenig merkwürdig vorkam, war eine Eintragung, die sich auf eine Lieferung zu heute Nachmittag bezog."
Hatschas Herz begann verräterisch schneller zu schlagen, als es um ihre ehemalige Spezialisierung ging.
'Eine Auffälligkeit bei den Schmugglern? Bei denen hat sich doch seit den Satzungsreformen vor vier Monaten nichts mehr getan. Obwohl... theoretisch müssten die neuen Kassenwart-Wahlen Ende des Monats anstehen. Vielleicht hat sich da ein gewisser Jemand weiter aus dem Fenster gelehnt, als es statthaft war? Eine gewagte Transaktion zugunsten des Kontostandes?'
"Was ist denn in den Listen vermerkt?"
Glum kramte noch einmal umständlich den Zettel hervor und ärgerte sich offensichtlich, dass er ihn nicht gleich in der Hand behalten hatte. Dann las er die Lieferkonditionen, insoweit deren Eckdaten öffentlich einsehbar gewesen waren, ab. Als er an der Eintragung anlangte, in welcher es um den zu handelnden Gegenstand ging, betonte er die seiner Meinung nach entscheidenden Worte.
"... 2 Kilo Heiz- und Lichtmittel, portioniert und geschützt verpackt!"
Die angehende R.U.M.-Kontakterin fühlte sofort ein leichtes Flattern im Magen. Sie verstand auch ohne weitere Erklärungen, was Glums Aufmerksamkeit erregt hatte. Da wollte jemand ordentlich einheizen! Sie sahen einander bedeutungsvoll an.
"Eine nutzlos geringfügige Menge Kohlen? Zwei Kilo Kerzen, einzeln eingewickelt, dann aber auch als 'Heizmittel' tituliert? Wohl kaum! Wobei ich den einen oder anderen Docht nicht ausschließen würde... nur etwas länger und mit wesentlich kürzerer Brenndauer. Denkst Du das Gleiche wie ich?"
Der Zwerg nickte langsam.
"Ja. Die F.R.O.G.s hatten schon länger keinen ganz großen Einsatz mehr, nicht wahr? Ungewöhnlich, für diese Stadt. Und überhaupt... Dann ist soweit ja alles in Ordnung. Hatte ich mir gleich gedacht! Dass Du die selbe Vermutung hast, beweist, dass ich recht habe. Siehst Du? Es klappt auch ohne dich!"
Hatscha umrundete bereits ihren Schreibtisch.
"Heute Nachmittag, sagst Du? Gibt es auch eine Uhrzeit?"
Er schüttelte frustriert den Kopf.
"Nein, ich hatte schon Schwierigkeiten genug, überhaupt hier heran zu kommen."
Sie liefen beide aus der Tür hinaus und auf direktem Wege zu dem Büro der Stellvertretenden von R.U.M.
Hatscha kaute besorgt auf ihrer Unterlippe.
"Warum auch immer Ophelia diese Information angefragt hat. Sie muss offensichtlich einen guten Grund gehabt haben."

Szene 35

Ettark Bergig

Der Hund blickte schwanzwedelnd zu ihm auf und die hochgezogenen Lefzen unterstrichen den humorvollen Eindruck, den dieser beim Hecheln und Nebenihmherhüpfen vermittelte.
Ettark seufzte.
'Es wäre einfacher, wenn er hören würde.'
"Michael!"
Der Kollege beeilte sich, etwas schneller zu gehen, um zu ihm aufzuschließen.
"Ja?"
Ettark deutete wortlos auf ihren vierbeinigen Begleiter und der Vektor senkte in einem beinahe vorwurfsvollen Tonfall die Stimme, als er auf das Tier einredete.
"Ksch! Mortimer, Du sollst doch zurück zum Wachhaus. Ab! Gehst Du wohl?"
Er schritt weiter aus und rollte, für den bemühten Kollegen unsichtbar, mit den Augen.
'Das bringt doch nichts. Toll! Wir werden die Töhle also die ganze Streife über mit uns im Schlepptau haben. Irgendwann erkennt uns noch jemand an diesem Schmarotzer.'
Nach einigen Minuten hatte Machwas es immerhin geschafft, dem Hund einen gewissen Abstand abzuringen. Mortimer lief nun knapp einen Straßenzug entfernt wie ein x-beliebiger Streuner hinter ihnen her und behielt sie dabei mit aufgestellten Ohren aufmerksam im Auge.
Irgendwann lief der Kollege schweigsam neben ihm her. Das war ungewöhnlich. Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen.
"Was ist los, Kleiner?"
Dass der Junge diese Anrede nicht ausstehen konnte, war Ettark gleichermaßen bewusst, wie gleichgültig. Die paar Jahre, die Michael älter war als er selber, und die paar Zentimeter, die er von ihm überragt wurde, hatten nichts zu bedeuten. Nicht, wenn es um Erfahrung im Dschob ging!
Machwas blickte schnell zu ihm hinüber, bevor er tief durchatmete. Er schien mit sich zu kämpfen, ob er etwas aussprechen sollte oder nicht.
"Na los! Spuck's schon aus!"
"Hm, na ja...", druckste dieser herum. "Ich weiß nicht, ob Du das hören willst. Nur weil es mir nicht aus dem Sinn geht, heißt das ja noch lange nicht, dass es Dich interessiert. Und obendrein bist Du nicht gut auf sie zu sprechen..."
Ein überaus zurückhaltender Blick streifte ihn vorsichtig. Die einzige 'sie', die ihm spontan einfiel, mit der er sich regelmäßig verkrachte, war seine Vorgesetzte.
"Hat die Hexe Dir Extraschichten aufgebrummt?", fragte er daher beinahe etwas mitfühlend.
Der Vektor sah ihn überrascht an.
"Fähnrich Dub... wie kommst Du denn jetzt auf sie?"
"Vergiss es! Wen meintest Du?"
"Chief-Korporal Ziegenberger."
Der Informantenkontakter kniff instinktiv etwas die Augen zusammen.
"Was ist mit der?"
Sein Kollege seufzte laut vernehmlich.
"Siehst Du! Jetzt bist Du genervt, nur weil ich sie erwähnt habe! Ich hätte es doch..."
"Was - ist - mit - ihr!"
Michael wich seinem Blick schnell aus und antwortete ohne weitere Verzögerungen, wobei er stur geradeaus sah.
"Ich war vor ein paar Tagen in den Schatten auf Streife, zusammen mit Boris. Es war ein Sauwetter und wir sind dabei über eine Leiche gestolpert. Eine Leiche, die abhanden kam, bevor die Susen mit ihrem Trupp eintreffen konnten. Der Chief-Korporal hat mich heute danach befragt und irgendwie... naja... es geht mir eben nicht mehr aus dem Sinn. Normalerweise verschwinden Leichen nicht. Selbst für die Schatten ist das ungewöhnlich. Und sie klang, als wenn meine Antworten irgendeine ihrer Theorien bestätigt hätten. Seitdem überlege ich die ganze Zeit, ob ich irgendwas übersehen habe." Er zuckte hilflos mit den Achseln.
Er platzte aufgebracht mit dem heraus, was ihm sofort dazu einfiel.
"Sie hat Dich gefunden, obwohl Du dich wirklich rar machst im Wachhaus? Nur um Dich auszuquetschen?"
Der Vektor steckte seine Hände tief in die Taschen seiner Jacke und nickte. Allerdings nur halbherzig. Mit seinen Gedanken war er woanders.
'Verräterisches Weibsbild! Jetzt spitzelt sie schon gezielt herum!'
Sie liefen ihre Route tief in Gedanken versunken ab und näherten sich dadurch dem Fluss. Und somit den Schatten. Die Blicke seines Kollegen ignorierten links den Hide Park und rechts die Auslagen der Geschäfte. Er bemerkte weder die herumlungernden Bälger am Galgen, noch das sich anbahnende Verkehrschaos an der Ecke zur Unvergleichlichen. Seine Augen richteten sich unbeirrt auf die Brücke, die sich weit entfernt mit einer sanften Wölbung über den Ankh spannte.
"Wo genau hattet Ihr die Leiche gefunden?"
Michael sah ihn überrascht an. Dann deutete er mit einem Nicken zur Ankh Brücke hinüber.
"Eine Straße hinter der Schmugglergilde. In dieser ganz engen Gasse, zwischen den vornüber gebeugten Straßenfronten."
Ein Blick gen Himmel überzeugte ihn davon, dass es noch früh genug war.
'Er ist nicht bei der Sache und bis er nicht noch einmal einen Blick riskiert hat, wird er es auch nicht sein. Wir können einmal reingehen, schnell nachsehen, feststellen, dass logischerweise längst nichts mehr zu sehen sein wird und wieder raus. Die Gilde liegt fast direkt an der Brücke. Wir müssen nicht tief rein. Und danach einfach zurück auf die richtige Seite des Flusses und die Streife beenden. Der kleine Umweg liegt auf der Alternativroute und wäre somit leicht zu rechtfertigen. Dann kann er sich wenigstens die Ziegenberger aus dem Kopf schlagen.'
"Na gut. Wir machen einen kleinen Abstecher. Und danach konzentrierst Du dich gefälligst wieder auf die heutige Streife, ist das klar?"
Die Erleichterung in den Augen des Vektors war nicht zu übersehen. Er beeilte sich zuzustimmen.
"Ja, in Ordnung. Gute Idee."
Er brummte missgelaunt vor sich hin.
'Von wegen! Eigentlich ist das eine Schnapsidee! Aber was tut man nicht alles für die lieben Kollegen...'
Kurz darauf näherten sie sich der Ankh Brücke, anstatt weiter der Route in die Stadtmitte zu folgen.
Als sie die abgenutzten Steine der Brücke betraten, die von hunderten Schuhen und Radwerk glatt gescheuert und fast rutschig waren, setzte das altbekannte Kribbeln auf seiner Haut ein. Sein Herzschlag legte leicht zu und seine Sinne schärften sich nochmal merklich.
Die Schatten waren eine Welt für sich. Mit eigenen Gesetzen. Und auch wenn er sich inzwischen regelmäßig in dieser aufhielt, würde er sich hüten, deswegen überheblich oder leichtsinnig zu werden. Sein Körper wusste das ebenso und schaltete auf 'Überleben'. Er war in den Schatten von Anfang an vorsichtig gewesen. Aber die jüngsten Ereignisse hatten ihm eine zusätzliche, schmerzliche Lektion erteilt, die er keinesfalls ignorieren würde.
Mit nahezu unbewegten Lippen teilte er Michael mit, wie er die Sache zu handhaben gedachte.
"Wir sehen uns die Stelle nur kurz an, laufen noch ein Stück weiter hinein, wechseln auf die andere Straßenseite und gehen zurück. Und danach konzentrierst Du dich gefälligst wieder, verstanden?"
Machwas nickte stumm.
Sie verließen die Brücke und Ettark setzte den ersten Fuß auf unheilvollen Boden.
Links huschte ein Passant mit einem Korb an ihnen vorüber, der groß genug für ein Dutzend Dolche war.
Mitten auf der Kreuzung fuhr ein Karren neuerlich an, dessen Ladung vielleicht erst vor wenigen Minuten von einem anderen Karren gefallen sein mochte.
Zwei Personen standen vor dem Gildenhaus und unterhielten sich scheinbar harmlos, was natürlich auch nur eine Täuschung sein und... Moment!
'Was macht der denn hier?'
Ettark war so überrascht, dass er beinahe einen Anfängerfehler begangen hätte und wie festgewurzelt mitten auf der Straße stehengeblieben wäre. Aber nur beinahe. Unauffällig wich er von der Straßenmitte zurück und schlug im Gehen den Mantelkragen hoch. Sein schmaler Metallschlägel am linken Unterarm saß noch exakt dort, wo er hingehörte, was ihn in diesem Augenblick beruhigte.
Leise wispernd sagte er, an den Vektor gewandt:
"Verschwinde! Ich muss hier alleine weitermachen. Geh Du zum Wachhaus zurück und beende dort die Streife. Na los! Worauf wartest Du noch?"
Michael sah ihn eindringlich an, dann zog es seinen Blick nahezu magisch zu den beiden Gestalten weit vor ihnen. Er setzte zu einer Frage oder einem Widerspruch an, holte schon Luft dafür, als Ettark ihn herrisch unterbrach.
"Nein!"
'Noch so ein Desaster, wie mit Miriel, lade ich nicht auf mich! Er wird gefälligst spuren oder aber es mit mir zu tun bekommen.'
Machwas klappte den Mund wieder zu. So etwas wie Kränkung ob des groben Tonfalls zeichnete sich auf seiner Miene ab und er zögerte trotz allem.
Der Informantenkontakter atmete entnervt ein und langsam wieder aus. Er bewahrte nur mit Mühe Ruhe, doch es war ihm wirklich wichtig, dass der große Trotzkopf ihn verstand und seinen Anweisungen Folge leistete. Also nahm er sich die kostbare Zeit, seinen Befehl ausnahmsweise zu erklären.
Er blieb stehen, wandte dem Gildenhaus, und den noch immer vertraulich plaudernden Personen vor diesem, den Rücken zu. Er sah den Kollegen eindringlich an.
"Hör zu! Ich weiß, dass Du neugierig bist. Und dass Dich die ganze Sache wurmt. Aber - nimm's mir nicht übel - für das hier bist Du noch nicht weit genug! Die Ziegenberger spitzelt bei allen möglichen Leuten rum. Einfach weil I.A.-Spione das so machen. Glaub mir, das hat nichts, rein gar nichts, mit deiner verschwundenen Leiche zu tun. Du hast alles richtig gemacht. In den Schatten passieren eben merkwürdige Sachen, die sonst nirgendwo passieren und da ist es das Klügste, manchmal nicht zu lange in Schussweite herumzulungern. Mach Dir da jetzt keinen Kopf drum. Der Kerl wird nicht auf sich aufgepasst haben, das ist alles und wenn Du es ihm nachmachen willst, bitteschön, dann aber ganz sicher nicht während meiner Schicht! Dass ich Streifen zu zweit gehe, heißt noch lange nicht, dass ich es mir leisten kann, dabei aufzufliegen. Weder für mich wäre das gut, noch für meine Informanten. Wenn ich Dir jetzt also sage, dass ich auf eine Sache gestoßen bin, um die ich mich alleine kümmern muss, dann schreib Dir das gefälligst - in aller Freundlichkeit - hinter die Ohren! Ich will, dass Du jetzt sofort auf dem Absatz kehrt machst, die Streife ab dem Park normal abläufst und dann einen schön friedlichen Feierabend am Pseudopolisplatz einlegst. Grüß die Kollegen und trink was auf mich! Aber hier und jetzt... verschwinde, Großer! Ich kann für nichts garantieren und ich will Dir ganz klar sagen, dass ich keinesfalls die Verantwortung für gebrochene Rippen oder Schlimmeres übernehmen würde, wenn Du ihm da vorne auffallen solltest! Geschweige denn, dass ich mich zu erkennen geben und Dir helfen könnte. Klar soweit?"
Der Vektor sah gekränkt auf ihn hinab und kniff seine Lippen fest aufeinander. Dann drehte er sich grußlos auf der Stelle um und ging den abgelaufenen Weg zurück.
Ettark sah ihm lange genug nach, bis er in dem Gewühl von Menschen, Karren, Eseln, Pferden, dem Troll und der hoch aufgetürmten Ladung alter Stühle auf einem vorüber gezogenen Handwagen verschwunden war. Er nickte sich innerlich in grimmiger Zufriedenheit selber zu.
'Gut! Eine Sorge weniger. Dann wollen wir doch mal sehen.'
Er drehte sich um und ging weiter die Straße hinauf. Dabei nahm er die übliche wachsam-misstrauisch-unschuldig-verschlagene Körperhaltung eines Schatten-Läufers an. Er passierte die beiden Zielobjekte auf der anderen Seite der Straße und suchte sich dann erst einen geeigneten Beobachtungspunkt.
'Mal sehen, mit wem einer der unsäglichen Joram-Zwillinge sich heute so trifft.'
Ettark versuchte, das Gegenüber des Bandenschlägers zu erkennen und wirklich sagte ihm dessen Gesicht etwas. Auch wenn er wie üblich Schwierigkeiten damit hatte, dem Bild einen Namen zuzuordnen.
'Was für ein Zufall! Ich würde sagen, das ist der, wie heißt er noch gleich? Der Typ, der immer mit dem Gildensekretär zusammen rumhängt. Verflixt! Ich komm nicht auf den Namen. Na jedenfalls ergibt das dann wohl eine direkte Verbindung zu den Finanzen. Ob das seine Kumpels wissen?'
Der Schlägerzwilling sah auf seine Uhr und nach einem letzten kurzen Wortwechsel machten die beiden Männer sich gemeinsam auf den Weg. Sie schlugen die Richtung zum Fluss ein, überquerten dabei aber die Straße. Ettark ahnte sofort, wohin der Weg sie führen würde: In das Revier der Joram-Bande, zum Perlendock.
Ein ungutes Gefühl lag ihm im Magen.
'Das ist nicht gut. Gar nicht gut. Soll ich diese Gelegenheit sausen lassen? Oder soll ich sie nutzen? Einerseits ist es besser, zu wissen, was hier vor sich geht. Selbst wenn ich nichts unternähme, gäbe mir das Wissen um das Wie, Wann, Wo und Warum einen strategischen Vorteil. Andererseits führt der Weg auch in mein Revier. Je häufiger ich dort anzutreffen bin, desto gefährlicher kann das werden. Ich habe in der Gegend nicht nur einen Ruf zu verlieren. Meine Kontakte könnten auch sehr, sehr nervös werden, wenn ich zu häufig in ihrer Nähe auftauche. Und nervöse Kontakte neigen dazu, Dummheiten zu machen...'
Er gab sich einen Ruck, verließ die Deckung und reihte sich nahtlos in den Strom der Menschen ein, um den beiden Männern unauffällig zu folgen.
'Es ist mein Dschob, Informationen zu sammeln. Also folge ich ihnen. Aber ich werde vorsichtig sein und mich nicht zeigen. Abstand schadet nicht; ich weiß ja im Großen und Ganzen bereits, wo es hingehen soll. Vielleicht kann ich sie sogar überholen und von der dahinter liegenden Seite des Docks aus beobachten? Da gibt es einige gute Verstecke bei den Lagerhausruinen. Muss ich nur aufpassen, keinem der Straßenkids in den Weg zu rennen.''
Der Informantenkontakter gab Tempo, so dass er schon bald einen guten Vorsprung herausgearbeitet hatte und es für ihn immer schwieriger wurde, unauffällig einen Blick hinter sich zu werfen.
Schnell kamen die veralteten Hafenanlagen in Sicht.
Ettark kannte die Häuser nahe dem heruntergekommenen Dock, welche den Männern rund um die Joram-Brüder als Unterschlupf dienten. Er mied diese Gegend beinahe schon instinktiv, gleichgültig wie oft es ihn in den Hafen verschlug. In solchen Arealen gab es nicht viel für ihn zu holen - außer selbstverschuldeten Verletzungen. Die Männer waren miteinander verschworen, Frauen gab es keine, die sich auf einen Plausch mit ihm hätten einlassen können und die nächsten Einzelgänger, die finanziellen Argumenten zugänglich gewesen wären, hielten ebenfalls Abstand.
Er überschlug die Möglichkeiten im Kopf und hielt nach einem geeigneten Aussichtspunkt Ausschau.
'Da!'
Von seinem Standtpunkt aus war schräg über die Kaianlagen ein windschiefes Haus auszumachen, welches etwas vorgerückt, gefährlich dicht bei den bereits eingebrochenen Anlegern stand. Es ragte nicht nur merkwürdig in den Hafen hinein, sondern auch ein oder zwei wackelige Etagen höher, als die Dächer der umliegenden Ruinen.
Es würde einen wunderbar erhöhten Aussichtspunkt abgeben.
Ettark lief zielstrebig darauf zu.
'Hmmm... Türen und Fenster sorgfältig verrammelt. Das vorgenagelte Holz scheint mir etwas zu hochwertig für diese Gegend...' Er runzelte die Stirn. 'Wird wohl häufiger genutzt. Ich kann nur hoffen, dass nicht ausgerechnet heute einer nach dem Rechten sehen will. Aber selbst wenn... ich hab nicht vor, einzubrechen.'
Er erreichte das Haus und lief sofort auf der Suche nach einer Möglichkeit, es zu umrunden, um dessen Ecke.
"Na, wer sagt's denn!"
Ein etwa halber Meter breiter Spalt trennte es von dem Nachbargebäude, so dass ein schlanker Mann seitwärts zwischen den Häusern hindurch gelangen und so die Rückseite erreichen konnte, ohne den Umweg der gesamten Häuserfront in Kauf zu nehmen.
Die Passage war eng und er wollte nicht wissen, wie sein Mantel danach aussah.
Die Rückseite des Hauses bot nicht viel mehr Platz, da sie beinahe sofort auf die gegenüberliegende Rückwand eines anderen Gebäudes stieß. In diesem Fall jedoch hätte er sich nichts Besseres wünschen können. Er rieb sich grinsend die Hände und schlug den Mantel zurück.
'Dann wollen wir mal!'
Mit den Händen an der einen und den Füßen rückwärts tretend an der anderen Mauer, stemmte er sich Stück für Stück zwischen ihnen empor. Der Boden rückte von ihm ab, während er sich dem Himmel und dem Licht näherte. Der Putz bröckelte stetig unter seinen Fingern weg und seine Sohlen fanden zwar viel Halt, rutschten aber mindestens ebenso häufig ab, wenn selbiger knirschend in der Tiefe verschwand. Er atmete konzentriert durch die zusammengebissenen Zähne, spannte ein weiteres Mal die Muskeln, um als nächstes den rechten Arm zu entlasten und höher zu greifen.
Kurz darauf erreichte er die Mauerkrone. Eine Sekunde gönnte er sich, um Atem zu schöpfen. Dann stieß er sich mit den fast gestreckten Beinen ab, griff nach und zog sich ruckartig hinüber. Die Steinumrandung war nahe daran, dem Ruck nachzugeben. Schnell stemmte er sich in die Höhe und hiefte den Oberkörper über die Kante, während er bereits mit den Stiefeln hastig an der Wand langschabte, um auch den Rest des Körpers nachzuschieben. Kurz darauf lag er schwer atmend bäuchlings auf dem schiefen Flachdach und rollte sich grinsend auf den Rücken.
'Geschafft!'
Sein Blick streifte einen Schuppen - und dessen merkwürdigen Aufbau.
Ettark zog beide Brauen überrascht in die Höhe und rappelte sich neugierig auf.
'Sieh mal einer an! Das erklärt natürlich die Barrikaden an Fenster und Türen. Möchte mal wissen, wem das Schätzchen gehört...'
Er löste eines der Wickelbänder und sah unter die hastig übergeworfene Plane, nur um seine Vermutung bestätigt zu finden: Hinter einer provisorischen Holzblende zur Hafenseite hin wartete hier ein Klacker geduldig darauf, zum Einsatz zu kommen und Nachrichten zu versenden. Das Modell war uralt und alles andere als komfortabel. Vermutlich ließen sich die Spiegel nicht einmal neu ausrichten, so dass nur ein einziger Klacker im Umkreis erreicht werden konnte?
Der Informantenkontakter betrachtete die Aufstellung des Moduls und nickte wissend.
'Die kleine Relaisstation an der Hüpf-Schnell-Straße. Wenn eine Nachricht von hier aus an den Großen Strang rausgehen sollte, müsste sie mindestens noch über drei oder vier Nebenstellen weitergeleitet werden. Vermutlich auch über den großen Privatklacker in der Morporkstraße und dann ans Latschende Tor. Etwas umständlich. Aber immerhin. Der Ausflug hat sich schon gelohnt. Dieses vermutlich unregistrierte Kleinod werd' ich mir auf jeden Fall merken.'
Seine Aufmerksamkeit kehrte zur aktuellen Problematik zurück. Er eilte zu dem Dachrand, der auf das Perlendock hinunterwies und hielt Ausschau, nach den beiden Männern, die ihm unbewusst gefolgt waren.
Was er stattdessen entdeckte, ließ ihm beinahe das Blut in den Adern gefrieren.
Joram stand mit seinem Geschäftspartner der Schmugglergilde am Rand des Hafenbeckens. Bis eben schienen sie auf das Wasser hinaus gesehen und die Ankunft eines Bootes erwartet zu haben. Oder besser gesagt die Ankunft einer Lieferung. Worum auch immer es sich bei dieser handeln mochte.
Just in dem Moment jedoch, in dem Ettark über den Dachrand hinunter sah, wurden sie von etwas abgelenkt.
Von einem freudig herumhüpfenden Hund!
"Verdammt, Mortimer... Dann ist Machwas nicht weit..."
Die beiden Männer tauschten knappe Worte und schienen zu dem gleichen Schluss zu kommen. Das Tier war eindeutig kein normaler Streuner, dafür sah es viel zu gepflegt aus. Es gab also mit hoher Wahrscheinlichkeit einen verborgenen Zeugen ihrer anstehenden Transaktion.
Sie verständigten sich wortlos mit Gesten und gingen dem Hund nach, als dieser sie arglos zu seinem Herrchen zu führen begann.
"Elender Ausfluß eines beulenübersäten Sklaventreibers... was hat er sich dabei gedacht? Noch deutlicher hätte ich doch nicht werden können! Er sollte verschwinden! Wenn ich den erwische... Ich bring diesen dreimal Gerberbottich-getunkten Sohn einer Kamelzüchterin um!"
Sein Blick folgte den Ereignissen auf der verlängerten Hafenseite des morporkischen Stadtteils, wo der Joram-Bruder soeben einen merkwürdig geformten Gegenstand aus seinem rückwärtigen Hosenbund zog, und mit bösen Ahnungen fügte er gedanklich hinzu:
'Wenn die mir nicht zuvor kommen...'
Als Ettark erkannte, was genau der Schläger mit routinierten Handgriffen auseinanderzuklappen, einzurasten und zu laden begann, stand er regelrecht unter Strom.
'Eine Klapp-Pistolenarmbrust! Der Kerl führt eins von diesem ultramodernen Dingern mit sich herum! Ich fass es nicht!'
Er ballte beide Hände hilflos zu Fäusten und versuchte, sich an der Hoffnung festzuklammern, dass sein Kollege sich den Anweisungen gefügt hatte. Vielleicht war nur Mortimer stattdessen seiner Duftspur gefolgt?
Doch das Hoffen war ebenso wenig sein Metier, wie es das Beten zu den verschiedenen Gottheiten jemals gewesen war und so versagte die Lady ihm ihre Gunst - ihnen beiden!
Der Bandenboss richtete seine schnittige Waffe auf eine Ansammlung alter Bretter und Kartons, im Schatten einer Häuserwand. Er fühlte sich ganz klar im Vorteil, denn er hielt die Waffe lässig in einer Hand, so dass deren Lauf unweigerlich etwas schwanken musste. Der Gildenvertreter hingegen drehte sich immer wieder nach allen Seiten um, während er mehr als nur unglücklich wirkte. Er vergaß allerdings, auch die Dächer ringsum mit Blicken abzusichern, so dass Ettark unbemerkt weiter beobachten konnte, was dort unten geschah.
Mortimer trippelte an einer Kiste vor und zurück, während der Joram-Zwilling ihm mit falschem Grinsen zuredete.
'Dieses verfluchte, ankh-besudelte Warzenschwein! Macht er dem Vieh etwa weiß, dass das ein harmloses Versteckspiel sei?'
Seine Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in die Handballen und er bemerkte nicht, wie seine Kiefermuskeln zu mahlen und seine Zähne vor Wut zu knirschen begannen.
'Und ich kann nichts machen. Nichts! Ich kann nicht da runter gehen und wie Ankh-Mann zur Rettung eines Unvorsichtigen anstürmen. Es geht nicht! Zu viele Kontakte, die auf mich angewiesen sind!'
Inzwischen gestikulierte der Kumpel des Kassenwarts beschwichtigend und Mortimer blickte mit geduckten Hinterläufen und eingezogener Rute zwischen dem Schmuggler und dem Mann mit der Waffe hin und her. Dieser wurde langsam ungehalten und als er seinem Unmut Luft machte, waren einzelne Wortfetzen annähernd zu verstehen, so gut trug es sie über das beinahe fließende Gewässer und an der bröckeligen Fassade in den Himmel empor.
"...mach das wie ich das will... komm mir nicht d... raus, sonst..."
Die Kartons schoben sich widerwillig auseinander und der große S.E.A.L.S. begann, sich mit erhobenen Händen zu entfalten und aufzustehen. Doch er kam nicht weit.
Joram drückte ab.
Der Haken löste sich von der gespannten Sehne und der kleine Bolzen traf Michael Machwas völlig unvorbereitet in der Brust. Der fliegende Bolzen war vom Beobachtungspunkt aus nicht einmal zu sehen gewesen, ebenso wenig, wie der eigentliche Treffer. Aber Joram hob zufrieden lächelnd die abgefeuerte Waffe und wandte sich dem nun hysterisch gestikulierenden Partner zu, während Michael mit ausdruckslosem Gesicht an sich herab sah - und zusammenbrach.
Mortimer zuckte am ganzen Körper zusammen und starrte sein Herrchen mit fasziniert aufgestellten Ohren an, als wenn er überlegen müsste, was für ein Spiel das nun wieder sei.
Ettark schlug sich entsetzt eine Hand vor den Mund, um sich nicht versehentlich durch einen Schrei reiner Agression zu verraten. Seine Muskeln waren zum Zerreißen gespannt.
'Was mach ich nur? Was mach ich nur? Was soll ich nur tun?'
Der Vektor lag reglos inmitten der Kartons und sein Hund näherte sich schnüffelnd den herausragenden Füßen.
Joram und der andere Kerl hingegen waren nun in einen Streit vertieft.
Welcher unerwartet vom Eintreffen eines Gildenbootes unterbrochen wurde - das stolze Wappen an dessen Seite ließ keinen Zweifel. Joram trat noch einmal verächtlich gegen den bewegungslosen Körper im Müllhaufen, klappte sodann seine Handfeuerwaffe mit wenigen Handgriffen wieder zusammen und ignorierte das zittrige Gildenmitglied, als er mit weit ausholenden Schritten auf die Unterkunft seiner Bande zusteuerte. Er klopfte einen Rhythmus an die stabile Tür und sofort steckte ein hagerer Mann sein Gesicht heraus.
Ettark merkte sich den Code vorsichtshalber. Man wusste nie...
Der Zwilling wechselte ein paar Worte mit seinem Untergebenen, wobei er fast beiläufig auf die Mauer mit dem Gerümpelberg wies und der dürre Kerl nickte bloß, bevor er wieder im Haus verschwand. Mit zufriedenem Gesichtsausdruck wandte der Boss sich dem Anleger zu.
Inzwischen war es dem Informantenkontakter gleichgültig, was dort den Besitzer wechseln sollte. Er wusste nur, dass es irgendeinen Weg geben musste, um Michael zu helfen, ohne seine eigene Identität zu gefährden. Es musste! Eine Entscheidung zwischen Michael oder den Kontakten war ausgeschlossen. Seine Leute vertrauten ihm wortwörtlich mit ihrem Leben, selbst wenn es einige unter diesen gab, denen er dabei keine Wahl gelassen hatte.
'Alleine kann ich da nicht runter gehen. Das wäre Selbstmord und Schlimmeres. Mitten ins Gebiet der Jorams kann eigentlich nur noch ein F.R.O.G.-Einsatztrupp. Aber wie sollte ich die schnell genug informie...'
Sein Blick schnellte zu der Abdeckplane hinüber.
'Eine Chance von eins zu einer Million, dass sie schnell genug mobil wären. Aber eine Chance!'
Er hastete auf allen Vieren zu der Blende hinüber und erhob sich erst dort, im Sichtschutz. Seine Finger zitterten vor Aufregung und Wut, als er die wenigen Bänder löste, welche die Plane gegen Wind und Regen an Ort und Stelle gehalten hatten. Dann riss er sie beiseite und prüfte schnell die Einstellungen.
'Wie ich es mir gedacht habe. Daran lässt sich nichts verändern.'
Er griff nach dem in das Gerät abgelegten Feuerstein und entzündete ungeschickt den Docht der Signallampe, bevor er diesen höher drehte und die Lampe hinter dem Glas platzierte. Er schloss den Kasten und öffnete die Signalabdeckung. Die Startflagge flog in die Höhe. Ein leises Rattern setzte ein, als innerhalb des Kastens eine Karte vor das Licht geschoben und dort von dem automatischen Aufziehmechanismus um ihre waagerechte Achse rotiert wurde. Die Spannung der Metallfeder lief aus und die Karte sprang zurück in die Abdeckung.
Er wartete auf eine Bestätigung irgendwo in Sichtweite über den unzähligen Dächern, die sich vor ihm wie ein gezacktes Meer inmitten rauchender Schornsteine erstreckten.
Das Warten war ein Märtyrium und mehr als einmal wäre er beinahe zum Dachrand zurück gelaufen, um nach dem reglosen Körper des Kollegen Ausschau zu halten. Doch er hielt dem Drang stand und die Augen offen. Nach einigen Sekunden, senkte sich so etwas wie kaltblütige Ruhe über ihn und das Zittern in seinen Händen ließ nach.
'Damit kommt ihr mir nicht durch, ihr Arschlöcher! Ich werde dafür sorgen, dass das hier anders endet, als Du es gerne hättest, Joram!'
Inmitten der Rauchfahnen blinkte eine farbige Lampe in hektischem Stakkato auf und verstummte dann in abwartender Ruhestellung.
'Endlich!'
Und dann begannen Ettarks Hände damit, beinahe unabhängig von seinem Kopf, dem alten Klacker einen Text zu diktieren und diesen in die Welt dort draußen zu senden. Einen Text, der keinen Wächter in dieser Stadt auf dem Stuhl halten würde.
"Fon eim anonüm Hinwaisgäba - Eina öia Kollegen wurde grad am Perlendock niedageschossn - hier wimmelts von Bewaffnetän - irgentein Schmuggelgeschäft mit Boot - villaicht ist dea Wächta noch am Leben - Bolzen in dea Brust - bewusstlos - liegt mitten an dea Hafenmaua - sonst von den Jorams in das Lagahaus weg geschafft - beailt euch - dringend!"

Szene 36

Valdimier van Varwald

"FROOOGS! Angetreten!"
Der Alarmruf des Kommandeurs donnerte mit einer Lautstärke durchs Wachhaus, dass selbst die Insassen der Kelleretage danach mit Sicherheit wussten, dass Etwas vor sich ging.
Valdimier war augenblicklich von seinem Schreibtisch aufgesprungen, hatte die Akten dort Akten sein lassen, sich seine beiden Pistolenarmbrüste unter den Umhang geschnallt und die Ermeni-Brille aufgesetzt. Er war aus dem Büro gestürmt, obgleich sein Weg zum Bereitschaftsraum der F.R.O.G. der kürzeste unter denen der Kollegen war - einfach nur gegenüber wieder zur Tür hinein.
Er sah den Gang zur Linken hinunter.
Dort stand Bregs im geöffneten Zugang seines Büros und wechselte einige Worte mit Ophelia. Diese nickte besorgt. Als sie sich abwandte, bemerkte sie ihn.
Ihr angedeutetes Nicken in seine Richtung fiel sehr knapp aus, ihr Lächeln wirkte verkrampft. Dann verschwand sie um die Ecke, in Richtung ihres Büros.
Bregs sah ebenfalls zu ihm hinüber und winkte leicht ab.
"Geh' schon mal vor, ich komme gleich nach. Ist nur Bereitschaft, also kommt es auf die Sekunde nicht an."
Valdimier tat, wie ihm geheißen und wartete kurz darauf im Bereitschaftsraum auf die Kollegen.
Diese trudelten dann auch im Sekundentakt ein. Als letztes betrat Rogi den Raum.
'Der Weg vom Keller herauf hat sie bisher nie davon abgehalten, als eine der ersten anzukommen...'
Sie schlängelte sich an der debattierenden Nyvania vorbei und stellte sich so unauffällig in den Hintergrund des Raumes, dass sie beinahe mit dem Anstrich zu verschmelzen schien.
Er konnte nicht umhin, sie verschärft im Auge zu behalten. Sie war eine ausgesprochen kompetente Kollegin und auf gewisse Weise mochte er sie sogar. Zum Teil sicherlich auch Instinkt bedingt. Ihre bloße Anwesenheit als Igor in seiner Nähe war... richtig. Aber seit ihrer beider Aufeinandertreffen bei Ollivander und Rogis allzu schuldbewusster Reaktion darauf, war er misstrauisch geworden. Er hatte nachgefragt und eine beunruhigende Antwort seitens des Ladenbesitzers erhalten. In manchen Kreisen zahlten sich alte Namen eben doch noch aus, selbst wenn hinter diesen kein Geld mehr zu finden war. Es gab schließlich so etwas wie Tradition!
Seitdem hatte er sie beobachtet. Und die Ohren offen gehalten.
Es gab Ungereimtheiten. Allerdings hatte er sich noch nicht entschieden, wie er mit diesen umgehen und sich notfalls Gewissheit verschaffen sollte.
'Es ist noch zu früh, um irgendwas zu entscheiden. Und sie kommt ihren Aufgaben ja auch sorgfältig nach...'
Rogi mied die Blicke der anderen, was diesen aber nicht weiter auffiel. Nahezu jeder war mit den eigenen Gedanken und der unausweichlichen Aufregung vor einem Einsatz beschäftigt. Sie sah abwechselnd aus dem Fenster oder zu Boden, wühlte hektisch in ihrer Tasche herum und benahm sich auch sonst merkwürdig.
'Was soll denn dieses Gekrame? Das bringt doch ihre Sortierung bei den Instrumenten durcheinander! Sonst ist sie damit immer so heikel, um im Ernstfall nicht lange suchen zu müssen, und jetzt das?'
Die Tür öffnete sich und Bregs betrat den Aufenthaltsraum.
Rogi sah auf und begegnete seinem Blick.
Valdimier erwiderte ihn regungslos.
Sie erstarrte in der Bewegung und die Tasche entglitt ihren Händen. Da sie den Tragegurt quer über die Schulter trug machte das zwar nichts, die Tasche plumpste nur schwer an ihre Seite und baumelte dort etwas, ihre Augen jedoch... ein gehetzter Ausdruck lauerte darin. Und mit so etwas kannte er sich gut aus!
Sie sah schnell weg, zu dem eingetretenen Kommandeur hinüber und starrte diesen konzentriert an. Ihre Fingerknöchel krampften sich weiß um den Gurt der Umhängetasche. Und zitterten deutlich sichtbar!
'Was in aller...'
Nur weiter kam er nicht mit seinen Gedanken. Wichtigeres stand an. Und seine Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wurde in genau diesem Moment von der höchsten Wacheautorität eingefordert.
Die Truppe war verstummt. Sie lauschte Breguyars Worten.
"Ab sofort gilt bis auf Weiteres für alle Anwesenden Bereitschaft!" Der Kommandeur hob zur Verdeutlichung seiner folgenden Worte eine ausgesprochen umfangreiche Akte empor. "Wir haben seitens R.U.M. eine Beweiskette vorgelegt bekommen, die darauf hindeutet, dass die terroristische Vereinigung HIRN in den letzten Monaten wieder reaktiviert wurde und für inzwischen mindestens 20 aktenkundige unlizensierte Morde verantwortlich zeichnet."
Valdimier sog zischend Luft ein. Sein Blick streifte in Sekunden diejenigen Wächter unter den Anwesenden, die gemeinsam mit ihm auf dem Konzert der Untoten Socken im Einsatz gewesen waren, als sie das letzte Mal mit dieser gewaltbereiten Gruppierung in Kontakt geraten waren: Bregs und Rogi.
Nyvania bemerkte die bedeutungsschwangeren Blicke und fragte in ihrer gewohnt trockenen Art nach.
"Ihr hattet schon mal das Vergnügen? Was ist das für eine Truppe?"
Valdimier folgte dem nonverbalen Hinweis seines Chefs und erklärte es:
"HIRN steht als Abkürzung für den Namen 'Heimliche Infragesteller Rücksichtsvoller Neuordnung'. Wir haben damals, als sie ein Konzert in die Luft jagen wollten, einen ihrer Kumpanen nur noch als Leiche ins Wachhaus bringen können. So gehen sie gegen Aussteiger und Unvorsichtige in ihren eigenen Reihen vor. Aussenstehende werden noch weniger zartfühlend behandelt. Die Leute von HIRN kennen keine Skrupel. Ihr erklärtes Hauptziel ist es, die Gesellschaft von Untoten zu... 'reinigen'. Und darunter fallen deren Meinung nach so ziemlich alle Personen, die auch nur ansatzweise vom menschlichen Durchschnitt abweichen."
Breguyar ließ die fette Akte mit einem satten Knall auf den Besprechungstisch fallen.
"Richtig! Chief-Korporal Ziegenberger hat nun in einer gut nachvollziehbaren Argumentation aufgezeigt, dass diverse Morde in den Schatten miteinander - und vor allem mit HIRN - in Zusammenhang zu stehen scheinen. Teilweise übereinstimmende Tatwaffen, sich gegenseitig überschneidende Indizien... Es scheint, als wenn die Mitglieder der Gruppierung außer Kontrolle geraten und ihren Überzeugungen inzwischen ganz spontan Ausdruck verleihen, wo es ihnen gerade in den Sinn kommt. Darüber hinaus jedoch..." Er rieb sich kurz die Stirn, bevor er sich vorbeugte und mit aufgestemmten Armen an der Tischkante aufstützte, den Blick wachsam in die Runde gerichtet. "Es gibt den dringenden Verdacht, dass in den nächsten Stunden ein nicht autorisierter Schmuggel zugunsten von HIRN stattfinden wird, welcher größere Mengen Sprengstoff beinhaltet. Wir wissen, was das bedeuten würde!"
Die Anspannung im Raum stieg spürbar.
Rogi sagte mit kratziger Stimme:
"Beim letften Mal konnten wir fie geradefo aufhalten. Diefmal wüfften wir nicht einmal, welchem Objekt der Anflag gelten würde..."
Breguyar nickte grimmig.
"Wir müssen ihnen zuvor kommen und wenn möglich die Übergabe verhindern. Ich habe eine Expressanfrage bei der Schmugglergilde beauftragt. Die D.O.G.s kümmern sich in diesem Moment darum, über den offiziellen Weg an die Details des Kontraktes heranzukommen. Vor allem müssen wir das Was, das Wo und das genaue Wann erfahren. Bis dahin erwarte ich hundertprozentige Abrufbereitschaft. Vorsichtshalber sind derzeit ein paar Rekruten schon damit beschäftigt, Schusi anzuspannen. Ich will auf alles vorbereitet s..."

Die Tür des Bereitschaftsraums flog ohne weitere Vorwarnung auf und offenbarte einen zerzausten Rotschopf mit extrem blassem Gesicht. Der Rekrut sah sich eine Sekunde lang um und lief dann schnurstracks auf den einäugigen Vorgesetzten zu. Sein schneller Atem zeugte davon, dass er die Treppen hinauf oder hinab gerannt war.
"Ihr seid noch da, was für ein Glück..." Er nötigte dem Kommandeur förmlich die Abschrift einer kurzen Klackernachricht auf, indem er sie ihm in die Hand drückte. "Das kam grad rein. Zweimal! Ich glaub, es lief über verschiedene Wege und ist parallel auch noch von der Kröselstraße aus angekommen, die haben es wohl weitergeleitet. Keine Ahnung, ob die nun auch schon los sind aber..."
Araghast las die kurzen, handschriftlichen Zeilen. Sein Blick flog irritiert zu der Akte und wieder zurück zu dem Zettel. Dann richtete er sich ruckartig auf und traf eine Entscheidung.
"Es sieht so aus, als wenn unsere Kollegen den Übergabeort des Sprengstoffs gefunden hätten. Am Perlendock. Und der Zeitpunkt ist genau jetzt. F.R.O.G.s... wir haben einen angeschossenen Kollegen und brechen sofort auf!"
Die Eingreiftruppe strömte bereits um den erschrockenen Rekruten herum auf das Fenster zu, während dieser nur noch stotterte.
"Spreng... wieso... aber..."

Valdimier drängte der Rutschstange im Innenhof ebenso entgegen, wie alle anderen Kollegen um ihn herum. Er näherte sich dem Ausstieg und seine Gedanken galten schon dem vor ihnen liegenden Einsatz. Trotzdem hörte er hinter sich, wie der Kommandeur Rogi aufhielt.
"Ich habe deinen Antrag registriert aber ich denke, Du wirst Verständnis dafür haben, dass das unter diesen Umständen noch einmal warten muss, richtig?"
Er hörte Rogis Antwort kaum noch, da er bereits mit beiden Beinen die Stange vor dem Fenster umklammerte und die zwei Etagen hinunter zu fallen schien. Die schnell vorüberziehende Luft zog die einzelnen Wort fort. Doch es beruhigte ihn irgendwie, dass Rogis Antwort fest und selbstsicher klang, so ganz entgegen seinem letzten visuellen Eindruck von ihr.
"Felbftverftändlich, För! Ich bin einfatffähig."

Szene 37

Sebastian 'Basti' Joram

Das Verhör dauerte schon eine ganze Weile an und es langweilte ihn mächtig.
'Zeitverschwendung. Ihr kriegt mich eh nich dran, ihr verfluchten Bastarde.'
Seine Augen hielt er gegen das Licht geschlossen, so dass er sich mit etwas Mühe vorstellen konnte, dass es die Sonne wäre, die da gezielt auf ihn ausgerichtet worden war. Immerhin war es im Wachhaus warm genug und manchmal gab es nichts Angenehmeres, als ein Weilchen zu sitzen, wenn man sich den ganzen Tag damit abgemüht hatte, das Kroppzeuch von Hilfsarbeitern zu beaufsichtigen und anzutreiben. Bloß seine Zigaretten vermisste er wieder mal.
'Ich hätt mir das wirklich abgewöhn solln nach dem letzten Verhör. Der Frust, auf den nächstn Glimmstängel wartn zu müssn, bis die sich ausgemotzt habn, is jedes Mal so ne lästige Sache.'
Der penetrante Wächter wiederholte dessen Frage zum zehnten Mal. Oder zwölften? So genau hatte er nicht mitgezählt.
"Für wen war die Lieferung?"
Basti Joram seufzte theatralisch. Dann öffnete er blinzelnd die Augen und nickte andeutungsweise nach rechts, an die Wand mit der Größenskala.
"Is das Verhörzimmer nebenan besetzt? Irgendwie wars da netter, so ohne Spiegel. Und ich fand auch die Wanddeko witzig. Hätt mir gern mal nen paar der Schlüssel dort vom Brett genommen. Man weiß ja nie, wann man so ein brauchen könnt."
Der hagere Typ ihm gegenüber schlug gefrustet mit der flachen Hand auf die Tischplatte und ließ sich an die Stuhllehne zurückfallen.
Basti nahm es wohlwollend zur Kenntnis und ließ ihn dies, mithilfe eines genüsslich auf seinen Lippen erblühenden Lächelns, wissen.
Die große Frau mit dem nahezu steinernen Gesichtsausdruck, die bisher emotionslos wie eine Statue hinter ihrem Chef gestanden hatte, trat einen Schritt vor.
"Sör?"
Der Einäugige blickte zu ihr auf und sie einigten sich wortlos darauf, den Platz zu wechseln.
Seine humorvolle Anwandlung verflog völlig und wich der bei ihm stets unterschwellig präsenten Aggression.
'Na herrlich! Jetzt lassn se auch noch so ne Schnitte den Männer-Dschob machn! Ich lass mich garantiert nich von so ner pissigen Bachstelze ausquetschn!'
"Hör ma Schätzchen! Ich kürz das ab. Euer komischer Narrenaufzug is in unser Gebiet geplatzt, hat alles auf den Kopf gestellt und dabei zufällig den krepiernden Typen endeckt. Is logisch, wenn ihr mir in unserm Gebiet über den Weg lauft. Bei Offler! Ich wohn da nu ma! Wenn ich in euer schickes Wachhäusschen gestürmt wär, wie ihr in unser Hauptquartier, dann hätt ich gleich ne Wagenladung Verdächtiger auf einen Haufen gehabt, oder wie? Ich hab nichts mit eurem toten Kumpel am Hut. Jeder weiß, dass es inne Schatten gefährlich is, also was hat er sich auch da herumgetrieben? Ihr habt keine Beweise nich gegen mich - nich einen! Der Bolzen in der Leiche passt ja nich mal zu meiner Waffe, sonst hättet ihr mich längst deswegen festgenagelt. Kenn euch doch!"
Das Argument saß garantiert - dafür hatte er schließlich gesorgt! Der erste Bolzen, den er jeweils in seine Waffe einlegte, war immer ein Einzelstück. Alle Bolzen, die man sonst in seinen Taschen finden würde, gehörten einer anderen Marke an. Er handhabte das seit Monaten schon so. Genau für solche Fälle. Der erste Schuss musste eben sitzen. Wenn es zu einem ausgiebigen Schusswechsel kommen sollte, dann war es sowieso egal, was für Bolzen herumlagen, weil er dann nicht der einzige Verdächtige wäre. Aber bei einem Verhör, wegen eines glatt flachgelegten Idioten, für den er nur einen Schuss benötigt hatte, verschaffte es ihm erst mal einen schön sattelfesten Stand, wenn die Wächter ein kleines Zuordnungsproblem hatten.
"Und obendrein könnt ihr nich mal mit Sicherheit sagen, dass wirklich ich am Tatort gesehn wurde, anstelle meines Bruders Sebi. Was weiß ich, was der wieder angestellt hat? Könnt ihn ja verhörn! Aber mich?" Er breitete in einer Unschuld bezeugenden Geste beide Hände vor sich aus, deren blau verfärbte Fingerspitzen gar nicht unschuldig von der Abnahme seiner Fingerabdrücke kündeten, bevor er sich vertraulich zu ihr vorbeugte. "Ihr macht euch lächerlich! Das hatten wir nu echt schon tausend Mal, das Spielchen. Fällt euch nichts Neuet ein?"
Die Frau ignorierte seine kleine Rede und stellte ihm lediglich die gleichen Fragen weiter, wie ihr Kollege es zuvor getan hatte.
"Wie genau lautete der Kontrakt mit der Gilde für die Lieferung?"
Er warf entnervt die Hände in die Höhe.
"Ich weiß es nich, ich war nich dabei, ich hatte nichts damit zu tun, verdammt nochma!"
"Du hast die Lieferung in Empfang genommen und sogar unterzeichnet, Herr."
"Wir wissen beide, dass mein Bruder und ich denselben Namen tragn. Beweist mir erstmal, dass ich es war, bevor ihr mich beschuldigt!"
"Giller Niemandsfreund hat ausgesagt, dass er mit Dir in Verhandlungen stand, Herr."
"Giller würd jeden inne Pfanne haun, wenn er keinen Ausweg mehr aus dem Dreck sieht, in den er sich selbst manövriert hat. Der Mistkerl ist ein kleiner Scheißer und Kriecher und für Geld würd er sogar seine eigene Großmutter verkaufn - wenn er noch eine hätt."
"Du standest also mit ihm in Kontakt, Herr?"
"Das brauchste nich, um so über Giller reden zu können. Jeder weiß das über ihn!"
Die Frau wechselte einen kurzen Blick mit dem drahtigen Wächterkollegen, der zwischenzeitlich damit begonnen hatte, neben dem Tisch auf und ab zu laufen. Trotz des blendenden Lichtes konnte er erkennen, wie dieser leicht nickte.
Sie blickte wieder ungerührt zurück und sagte:
"Der angeschossene Zeuge hat ausgesagt, dass es kurz vor dem Schuss zu einem Streit zwischen Dir und Herrn Niemandsfreund gekommen ist. Dabei hat dieser Dich mit 'Basti' angesprochen und Du hast ihm darauf ohne Widerspruch geantwortet."
Er war mit einem Schlag hellwach und misstrauisch.
'Sie hat absichtlich 'angeschossen' gesagt. Nicht 'erschossen'! Und er hat eine Aussage gemacht? Verdammt! Hab ich nich genau genug getroffn?'
Er antwortete in gedehntem Tonfall, während sein Blick schnell zwischen der Schnitte und dem Einäugigen wechselte.
"Ach! Dann is er gar nicht tot, der Typ?"
Die beiden Wächter sahen einander nicht an, sondern konzentrierten sich stumm auf ihn.
Er versuchte zu rekapitulieren, was er am Kai gesagt hatte, doch alles, woran er sich erinnern konnte, war seine rotglühende Wut auf den kleinen Schisser Giller. Der Müllhaufen-Kerl hatte das zufällige Pech, ihm in die Quere zu kommen, als er am miesesten drauf war. Sonst hätten die Chancen gut gestanden, dass es stattdessen Giller erwischt hätte. Wie auch immer... die Aussage konnte ihm noch nicht richtig gefährlich werden. Er musste nur besser aufpassen.
"Wie gesacht... ich war nich dabei. Ich kann das nich beurteilen, was Sebi da gesagt hat oder nich. Kann schon sein, dass er sich als mich ausgegeben hat, der Scherzkeks. Macht er öfter mal, genauso, wie er gern meine Klamottn anzieht. Und ich seine. Beweist gar nichts!"
Es klopfte an der Tür, der Kerl öffnete diese einen Spalt weit und eine dünne Kladde wurde flüsternd hereingereicht. Er bedankte sich, blätterte sie schnell durch und blickte triumphierend auf. Er reichte sie seiner Kollegin und stützte beide Hände mit gespreizten Fingern auf dem Tisch zwischen ihnen ab. Er starrte ihn herausfordernd an.
"Deine Fingerabdrücke stimmen zu hundert Prozent mit denen auf dem Bolzen überein! Und Du kannst mir nicht erzählen, jemand anderer hätte Dir die Waffe gespannt, Mistkerl!"
'Scheiße! Die Handschuhe!'
Der Zwilling presste die Lippen fest aufeinander und schätzte seine Chancen neu ein.
Normalerweise trug er seine dünnen Lederhandschuhe, wenn er sich an der Waffe zu schaffen machte. An diesem Morgen jedoch war es ziemlich kalt gewesen und er hatte auch nicht geplant gehabt, sich mit irgendwem anzulegen. Er hatte stattdessen richtige Winterhandschuhe getragen. Und diese kurz vor dem Treffen mit Giller ausgezogen, um nicht zu weibisch zu wirken. Dadurch hatte er im Gegensatz zu sonst ausnahmsweise gar keine mehr getragen, ein Fakt, den er in seiner ungeduldigen Wut vergessen hatte.
'Verdammt! Was mach ich jetz? Reicht das, um mich einzubuchtn?'
Er überflog die Möglichkeiten, wurde dabei aber unfreundlichst von dem Wächter unterbrochen, der nun wie ein Bluthund ansprang.
"Wir wissen, dass Ihr gemeinsame Sache mit HIRN macht. Wer ist dort Euer Ansprechpartner?"
Basti versuchte den penetranten Kerl auszublenden und sich eine angepasste Strategie auszudenken.
'Ich muss mir was einfalln lassn - schnell. Sonst kriegen se mich wegen Mordversuch dran und dann isses aus...'
Der Wächter rückte ihm im übertragenen Sinne auf die Pelle und ließ ihn zu keinem klaren Gedanken kommen.
"Wo sollte der nächste Anschlag stattfinden? Wenn Du jetzt redest, hängst Du wenigstens nicht alleine - überleg's Dir gut, ob deine Auftraggeber ungeschoren davon kommen sollen!"
Eine verzweifelte Idee entstand in seinem Kopf und ehe er sie logisch vollständig durchdenken konnte, platzte es schon frustriert und wütend aus ihm heraus.
"Giller wars! Ja, das ist meine Waffe, klar. Und ich hatte sie auch geladen. Aber nur, weil ich mich damit vor ihm und seinen wahnsinnigen Kumpel schützen wollt! Die beiden haben zusammen gearbeitet! Und wenn er jetz was andres behauptet, euer Zeuge, dann nur, weil er Schiss davor hat, dass Giller ihm noch im Nachhinein den Garaus machen könnte. Giller hatte den Typen als Zeugen mitgenommen. Aber die warn sich irgendwie nicht mehr einig, wieviel für wen bei der Sache rausspringen tun sollte, also haben sie heftich debattiert, mitten inner heißen Phase! Ich wollt mich nur verteidign, weil die echt übel aufnander los sind. Und auf einmal hat Giller mir meine Waffe aus der Hand gerissen! Er war so dermaßn ausser sich, ich glaub, er hat nich drüber nachgedacht. Aber dann wollte er alles mir inne Schuhe schieben!"
Der Wächter verschränkte humorlos grinsend die Arme vor dem Körper.
"Oh! Ich nehme erfreut zur Kenntnis, dass Du deine bisherige Aussage revidiert hast. Du bist nun doch zu dem Schluss gekommen, dass Du am Dock anwesend warst? Und dass Du eine geladene Waffe im Anschlag hieltest? Sehr schön! Auf wen man damit zielt, ist ja schon beinahe nebensächlich, nicht wahr? Zumal unser Zeuge etwas anderes ausgesagt hat, als Du. Er hat gesagt, Giller hätte Dich aufhalten wollen. Schon ein wenig ärgerlich, so eine feige Schmeißfliege an der Backe zu haben, was? Und nun kommt der womöglich auch noch ungeschoren davon, während man Dich wegen Mordes hängen wird. Dumm gelaufen, Joram."
"Die haben aber doch beide gemeinsame Sache gemacht, hab ich doch schon gesacht! Da könnt ihr dem doch nicht mehr glauben, als mir! Und überhaupt... wieso wegn Mord? Er ist doch nicht krepiert, habt ihr gesacht."
Die Mimik des Wächters verfinsterte sich augenblicklich und auch wenn Basti kein ängstlicher Mensch war, etwas an dem Kerl ließ ihn sich voller Missbehagen zurücklehnen, den Abstand zu ihm vergrößern.
"Wir haben noch eine Zeugenaussage von ihm bekommen, das ist richtig. Er ist aber trotzdem an seinen Verletzungen verstorben. Für Dich geht es hier also um nicht weniger, als deinen dreckigen Hals!"
Basti brummte das Erstbeste, was ihm dazu einfiel, leise vor sich hin.
"Lieber tot, als untot!"
Von der linken Seite des Raumes erklang ein dreifaches Klopfen gegen die reflektierende Scheibe.
'Da sitzt noch jemand und verfolgt mein Verhör? Warum versteckt? Ein weiterer Zeuge, den ich bloß nich erkennen soll, um ihn nich durch die Magel zu drehn? Oder...' Er kniff beide Augen etwas zusammen, doch auch mit allergrößter Mühe gelang es ihm nicht, durch die Scheibe hindurch zu sehen.
Der Wächter mit der Augenklappe wandte sich mit scharfem Tonfall der Wand zu.
"Ja?"
Eine Art Schiebeklappe schabte beiseite - Basti konnte sie zwar nicht sehen aber hören.
Und dann sagte eine zurückhaltende Frauenstimme:
"Wenn ich etwas anfügen darf, Sör? Die Aussage des Herrn Joram zitiert eins zu eins die neuesten Parolen der vorliegenden, bedrohlichen Gruppierung. Diese sind zur Zeit an zahlreichen Hausfassaden in Ankh zu finden, also außerhalb seines üblichen Einflussgebietes. Es ist somit mehr als naheliegend, dass er sie ganz aktuell aus erster Hand kennt, was seine Verbindung zu der Gruppierung bestätigen würde."
'Eindeutich besser gestellt, wenn nich sogar eine von den feinen Damen, mit ordenlich Schotta. Und Wächterin! Beides gleichzeitich? Das is ungewöhnlich! Sollte mit genug Zeit hier im Wachhaus zu finden sein, wenn mans unter Beobachtung stellen würd. Sie kennt sich in Ankh aus, also bräuchte man nur jemanden an die Schlechte Brücke postiern und wartn... Warum versteckt sie sich hinter der Scheibe? Isse vielleicht eine von diesen Spionen, von der Wache? Hab noch keinen von denen auf frischer Tat ertappt aber gehört hab ich schon von ihnen, nich? Na warte!'
"Biste so hässlich, Schätzelchen, dass de dich vor mir verstecken musst?"
Die Unbekannte schwieg, was darauf hindeutete, dass sie entweder sehr ängstlich oder aber lange genug dabei war, um sich nicht sofort provozieren zu lassen. Ihre Stimme jedoch hatte nicht verängstigt geklungen. Höchstens ungeduldig?
Der Wächter neben ihm straffte seine Gestalt und holte bereits Luft, um die Situation wieder zu dominieren. Doch er kam ihm darin zuvor, indem er ihn nicht nur völlig ignorierte, sondern indem er der verborgenen Wächterin einen fetten Köder vorwarf.
"Ne, nich? Ich würd darauf wetten, dass du stattdessn eins von den Weibsbildern bist, die sie einem unterzuschmuggeln versuchen. Bist einer von den Spitzeln, stimmts? Haste uns auszukundschaften versucht? War bestimmt nich so leicht, wie gedacht, hm? Wo wir keine Weiber bei uns reinlassen..."
Von der Längsseite des Raumes schlug ihm Schweigen entgegen.
Der Kerl neben ihm stand merklich unter Anspannung und begann irgendwas zu labern, um ihn abzulenken.
Aber seine Aufmerksamkeit galt dem feinen Geräusch, welches ausblieb: das neuerliche Schieben der Klappe.
'Bingo! Ich hab sie am Haken! Ich bin nich so dämlich, wie ihr immer denkt. Ich kann eins und eins zusammenzähln und wenn dabei drei rauskommt, dann denk ich mir meinen Teil. Also gut... lass man sehn... sie is also wahrscheinlich wirklich so eine. Bei uns kann sie nichts mitbekommen haben, soviel steht ma fest. Aber was, wenn sie sich inne Gruppe vom Chef eingeschleust hat? Der ist unvorsichtiger, als wir es sind. Der nimmt jeden, Hauptsache man hat Hass auf die unnatürlichen Missgeburtn von Nachtschwärmern. Und wenn es so wäre, hätte er es vermutlich nich mal gemerckt. Der steht auf Kohle, auf einflussreiche Lackaffen, auf dunkle Keller als Treffpunkt und auf Kapuzzenkuttn.'
Es konnte nicht schaden, dem Chef der HIRN einen kleinen Dienst zu erweisen, jetzt, wo sich die Gelegenheit dazu bot und es so aussah, als wenn er echte Probleme bekommen könnte. Der Kerl hatte Einfluss, mehr als man vor einigen Monaten noch gedacht hatte. Es gab eine ganze Menge Menschen, in der überheblichen Riege des alten Adels, welche besondere Projekte, in denen der unfair langlebige Anteil des Adels dezimiert werden sollte, gerne finanziell unterstützten. Und in den unteren Gesellschaftsklassen gab es umso mehr Freiwillige für die Drecksarbeit.
Der Typ neben ihm blubberte noch immer belangloses Zeug, als er ihn schlichtweg unterbrach, weiterhin nur mit der Unsichtbaren redend.
"...daran gedacht, dass es auch einen deiner Männer erwisch..."
"Du kannst dich gewählt ausdrücken, hm? Und es is nich sonderlich schwer, so zu tun, als wenn man die Vamps hasst. Haben se dir eine Bisswunde angemalt, um es realistischer aussehn zu lassn?"
Basti behielt ganz genau die Scheibe im Blick, so dass ihm Zweierlei nicht entging. Zum einen zeichnete sich als Reaktion auf seine Worte ganz am Rand der gläsernen Fläche, kaum sichtbar, eine schmale Handfläche ab.
'Treffer und versenkt! Sie is geschockt. Sonst müsst se sich nich mit einer Hand abstützen.'
Und zum Anderen sah er die Gesichtsausdrücke der beiden Wächter hinter ihm, in der Fläche reflektiert. Die stoische Frau blickte den Kerl bedeutungsvoll an, wobei allein dadurch noch nicht erkennbar wurde, was genau sie empfinden mochte. Doch bei ihm sah das ganz anders aus! Der hagere Mann hatte den schmalen Schatten am Rand der Scheibe ebenfalls wahrgenommen und schien zu dem gleichen Schluss zu kommen, wie er. Sein sichtbares Auge funkelte geradezu feurig, als er den Tisch umrundete, zu der Scheibe stürmte und dort vorwurfsvoll dagegen schlug.
"Klappen zu - beide! Du hältst Dich ab jetzt gefälligst zurück!"
Das bisher ausgebliebene, schabende Geräusch erfolgte sofort. Sogar zwei Mal hintereinander.
Basti konnte sich ein böses Grinsen nicht verkneifen. Deutlicher hätte die Reaktion nicht ausfallen können.
'So, so! Eine Spionin also. Ein schwarzes Schaf in seiner geliebten Organisation wird den Chef sicher intressiern. Damit hätt ich ja wohl definitiv was gut bei ihm.'
Der Wächter kam zu ihm zurück und beugte sich auf bedrohliche Art und Weise über den Tisch vor.
"Ich werde Dir jetzt etwas erklären, Du Ratte, was Dir den Ernst der Situation hoffentlich klar macht! Der große Kerl, den Du erschossen hast, das kann gar nicht Gillers Komplize gewesen sein. Der Typ war nämlich einer unserer Kollegen. Was auf einen Schlag auch deine zweite Aussage als Lüge ad acta legt. Du hast einen Wächter erschossen, Du Idiot! Mal sehen ob diese Information etwas in deinem bockigen Verhalten ändert."
Basti war wie vor den Kopf geschlagen.
'Der Müll-Mann war nen Wächter? Scheiße! Ich hab nen Wächter erschossen? Da kann ich mich ja gleich einsargen lassen!'
Er sah von dem zornigen Einäugigen zur emotionslosen Frau hinüber und wieder zu ihm zurück.
'Wenn sie mich inne Zelle steckn, bin ich so gut wie tot. Nur schlimmer. Sie werdn sich die Gelegenheit kaum entgehn lassn, einen, der ihrn Kumpel aufn Gewissen hat, tüchtig zuzusetzen...'
"Und? Immer noch der Meinung, dass Du dich aus der Sache ungeschoren herauslügen kannst? Und glaube ja nicht, dass wir irgendwen noch bis zu Dir vorlassen werden!"
Der Schläger sah seine Felle davonschwimmen. Wenn er das Wissen über die Spionin nicht weitergeben können würde, dann nutzte es ihm auch nichts. Wenn bekannt würde, dass ohnehin niemand mehr an ihn rankäme, außer den Bullen, dann würde er keine Gefallen einfordern können. Stattdessen aber würde er als erhöhtes Risiko eingestuft werden. Tag und Nacht von Wächtern umgeben, die auf Rache für ihren erschossenen Kollegen aus waren? Jeder, wirklich jeder, seiner Partner würde davon ausgehen, dass er in der Zelle die schlimmsten Qualen erdulden und reden würde.
Basti spürte den inneren Drang, einen stillen Ort aufzusuchen, an dem er sich nicht nur erleichtern, sondern auch versteckt halten könnte.
'Sie werden mich so oder so hängen. Da komme ich nicht mehr lebend raus...'
Dieser Schluss war logisch. Er empfand keinerlei Schuldgefühl, doch auch sein sonst so impulsives Gemüt ließ ihn im Stich. Das Seil war schon für ihn reserviert und Widerstand sinnlos. Die Endgültigkeit dieses Gedankens ließ ihn frieren.
Der Wächter ihm gegenüber begann grimmig zu lächeln.
Und auf einmal war der Gedanke, freiwillig zu reden, unwahrscheinlich naheliegend.
Der sehnige Wächter vor ihm wusste exakt, welche Worte es nun zu wählen galt.
"Glaubst Du, Joram? Denn genau in diesem Moment bietet sich Dir die einzigartige Gelegenheit, eine Beichte abzulegen. Und zwar eine, die nicht ungehört in den leeren Raum gehen wird, sondern eine Beichte, die zu Veränderungen und Machtverschiebungen führen könnte."
Sebastian Joram hatte längst die Fensterscheibe und die geheimnissvolle Spionin dahinter vergessen, als er im übertragenen Sinne zu singen begann.
"Ich weiß wirklich nich, wie er heißt. Alle nennen ihn nur Chef. Aber er is der, der was zu sagn hat, bei der HIRN. Die Lieferung war für ihn bestimmt. Er plant einen großen Anschlag auf irgend so ein Restaurant oder so, das "Die Bahre" heißt. Er will die verdammten Zombis und so in die Luft sprengen, in möglichst viele Stückn, damit se nich wieder zusammengesetzt werdn könn..."

Szene 38

Ophelia Ziegenberger

'Ich hätte mich nicht in das Verhör einmischen dürfen. Nicht mit einer so relativ unbedeutenden Information! Nyvania und Breguyar kommen eindeutig ohne solche Hinweise aus, während ich damit nur meine Tarnung in Gefahr gebracht habe.'
Sie drehte auf dem Absatz um und machte kehrt, um den dunklen Raum ein weiteres Mal mit ihren Schritten abzumessen. Ihr Blick glitt unbeteiligt über die durchsichtige Scheibe, durch die helles Licht aus dem Nebenraum hereinfiel. Hinter dieser vernahmen ihre Kollegen den inzwischen sehr gesprächigen Kriminellen. Hören konnte sie davon jedoch nichts mehr. Breguyar hatte ihr bewusst befohlen, beide Klappen zu schließen, um genau das zu erreichen.
Sie machte kehrt und nahm den gleichen Weg zurück.
'Alles nur wegen meiner Ungeduld! Ich habe mich erdreistet, es besser zu wissen, nur um sie anzutreiben. Das war so dumm von mir!'
Sie blieb ruckartig inmitten des Zimmers stehen und starrte blind auf die Szene ihr gegenüber. Hätte sie diese wirklich wahrgenommen, dann wäre ihr gewiss aufgefallen, dass Nyvania mit fliegendem Stift die Aussage des Mannes notierte und dass Breguyar ausgesprochen zufrieden wirkte, fast wie eine Katze, die sich schnurrend die blutigen Krallen leckte. Doch sie sah nichts von alldem.
Stattdessen hörte sie eine imaginäre Uhr erbarmungslos die Sekunden herunterticken. Angst hatte sich in ihre Eingeweide verbissen, wie eine bösartige Ratte und nur ein einzelner Gedanke schlug immer und immer wieder gegen ihre Stirn.
Rogi!
Die F.R.O.G.s waren erst nach Stunden von dem Einsatz zurückgekehrt!
Erst hatte sie mit ihren Vermutungen gehadert und war sich nicht einmal sicher gewesen, ob sie die gesammelten Informationen jetzt schon an Breguyar hatte weitergeben sollen. Sie hatte sich von Hatscha und Glum davon überzeugen lassen, dass die Argumentationskette eng genug geknüpft war, dass die unzähligen Akten in ihrem Büro eine Sprache für sich sprachen und dass eine daraus resultierende Entscheidung letztendlich sowieso dem Kommandeur zustand. Dass dieser aber erst davon erfahren müsse, ehe er sie beruhigen und den Fall als "noch recherchebedürftig" beiseite legen könne.
Was er aber nicht getan hatte! Und dann war alles so schnell gegangen...
'Ich muss sofort zu ihr!'

Der Eingreiftrupp hatte sich in bedrückter Stimmung ins Wachhaus zurückgeschleppt und gerade als sie davon erfahren hatte, dass bei dem Einsatz ein Kollege sein Leben verloren hatte und - was noch schlimmer war - dass er Rogi bei einer Notoperation unter den Händen weggestorben war, lief Araghast ihr über den Weg. Sie wisse besser als jeder andere im Wachhaus über die Hintergründe der verschiedenen Fälle Bescheid, die ja offenbar zusammenhingen. Sie müsse während der Verhöre im Nebenraum sitzen bleiben, um die Logiklücken in den Aussagen aufzuspüren und ihn anschließend auf diese aufmerksam zu machen.
So war sie ihm in die untere Etage gefolgt, ihr Augenmerk mit beinahe fiebriger Intensität auf die Tür zwei Räume weiter gerichtet. Auf die Tür zu Rogis Büro. Jene Tür, die fast immer offenstand.
In dieser Nacht jedoch nicht!

'Ich verschwende kostbare Zeit! Sie konnte noch nie damit umgehen, wenn einer ihrer Patienten gestorben ist. Aber gerade jetzt, wo sie das Beruhigungsmittel lange nicht mehr genommen hat... Bei Anoia! Was tue ich nur? Es ist absolut sinnlos, in diesem Raum eingesperrt zu bleiben...'
Doch Bregyar hatte ihr einen eindeutigen Befehl erteilt und sie hielt schon jetzt viel zu viel vor ihm geheim. Dabei vertraute er ihr!
'Nur noch einige Minuten... Es muss bald vorbei sein! Dann kann ich schnell zu ihr hinüber gehen. Das wird ganz sicher eine lange Nacht werden. Ich werde gut aufpassen müssen, dass sie keine der Ampullen mit nach Hause nimmt. Vielleicht schicke ich sogar lieber eine Nachricht an Roger?'
Die Verhöre begannen, während ihre Nerven blank lagen.
Erst wurde Giller Niemandsfreund in den Raum nebenan geführt. Der Freund des Gilden-Kassenwarts war von eher ängstlicher Natur und schon bald breitete er das Wenige, was ihm zur Durchführung der Transaktion anvertraut worden war, vor seinen Fragestellern aus.
Unter anderem war der Gilde zugesagt worden, dass keine Eingriffe der Wache zu erwarten seien, da man sämtliche unterschwelligen Aktivitäten in der Gegend gezielt unterbunden hätte.
An dieser Stelle des Verhörs hatte sie für einen Moment Interesse verspürt, da ihr Minas Informationen einfielen: Es war also kein Zufall gewesen, dass der Untote Briefkasten in der Hafengegend unbrauchbar geworden war! Sie würde in den nächsten Tagen noch einmal in Ruhe überdenken müssen, was das wirklich bedeutete.
Der Gedanke verflog jedoch fast augenblicklich wieder, als sie an den Umstand dachte, dass die Igorina die Tür versperrt hatte und niemanden an sich heranließ.
Breguyar hatte im Gespräch zu Nyvania, bevor der zweite Verdächtige hereingeführt wurde, angedeutet, dass sie Rogi morgen näher dazu befragen würden, was Michael vielleicht noch zu ihr gesagt haben mochte. Vorerst solle sie in Ruhe gelassen werden. Es sei so oder so besser für alle, wenn Rogi erst einmal nicht erführe, wer der Schütze gewesen war und dass dieser bereits in einer "ihrer" Zellen einsaß!
Und dann wurde Sebastian Joram hereingeführt und stritt mit kaltblütigem Selbstverständnis alle Anschuldigungen ab!
Als Breguyar allmählich ungeduldig wurde, war Ophelia schon lange unfähig, ihre Frustration zu bändigen. Ihre Selbstbeherrschung war in den vergangenen zwei Stunden Stück für Stück, wie unterspülte Sandstein-Steilküste, weggebrochen und ihre Angst davor, dass Rogi nur wenige, unendlich weite Meter von ihr entfernt womöglich in eben diesem Augenblick gegen einen Rückfall ankämpfen und dabei nicht mehr auf ihre zugesagte Hilfe zugreifen konnte, war unerträglich. Sie hatte ihn zum Reden bringen wollen, mit allen Mitteln, damit diese Sache ein Ende hätte und sie ihr Versprechen Rogi gegenüber einlösen könnte.
Stattdessen hatte sie einen übereilten Fehler begangen.
Im hell erleuchteten Verhörraum nahm der Kommandeur das oberste Blatt des Protokolls von Nyvanias Stapel und reichte es, zusammen mit einem Stift, dem Angeklagten.
Ophelia starrte hinüber und konnte es kaum abwarten, zur Tür zu stürmen und diese aufzureißen, um den Gang hinunter zu rennen.
Joram unterschrieb das Schriftstück, ohne es auch nur eines zweiten Blickes zu würdigen.
Die Kollegen, die zur Türwache abkommandiert worden waren, führten ihn zu den Zellen und kurz darauf verließen auch Nyvania und Bregs den Verhörraum, löschten die Lampen und schlossen die Tür.

Ophelia stand in tiefster Schwärze. Sie hörte ihr Herz laut klopfen.
Dann öffnete sich die Tür zu ihrem Raum. Licht fiel herein und der Schattenriss des Kommandeurs stand im Rahmen. Seine Stimme klang besorgt. Das Geständnis schien jegliche, eventuell auf sie harrende Vorwürfe, erst einmal verdrängt zu haben.
"Ophelia?"
Er entdeckte ihren dunklen Schemen.
"Alles in Ordnung?"
Sie riss sich zusammen, um ihre Stimme wenigstens annähernd unter Kontrolle zu bringen, bevor sie antwortete.
"Ja, Sör. Ich komme gleich nach. Vermutlich möchtest Du noch Einiges durchsprechen? Nur einen Moment bitte. Ich muss mich kurz sammeln."
Die Szene in Konfrontation mit dem scharfsinnigen Verbrecher schien ihm wieder einzufallen und als Erklärung zu genügen. Er nickte.
"Ja, natürlich. Nimm Dir soviel Zeit, wie Du benötigst! Ich bin in meinem Büro."
Er ging, ließ die Tür aber einen Spalt offenstehen, so dass das hereinfallende Licht fast bis an ihre Schuhspitzen reichte.
Sie atmete tief durch.

Und dann betrat sie den Lichtbalken.
Sie ging auf die Tür zu, den leeren Gang mit den verschlossenen Zellen der beiden Verhörten hinunter. Sie blieb vor Rogis Tür stehen.
Sie klopfte zaghaft an.
"Rogi? Ich bin es, Ophelia."
Die atemlose Stille hinter der Tür schien darauf zu warten, dass sie wieder ginge.
Aber das konnte sie nicht.
Sie drückte in einem nutzlosen Versuch die Klinke herab, doch wie erwartet war die Tür versperrt und der Öffnungsmechanismus befand sich nach Rogis Basteleien ebenso auf der Türinnenseite, wie die Sichtklappe.
"Rogi, ich weiß, dass Du da drin bist. Jeder weiß das. Nur im Gegensatz zu den Anderen werde ich nicht einfach wieder gehen, nur weil Du eine Antwort verweigerst."
Und in dem festen Wissen, dass Rogis ausgezeichnetes Gehör sie auch so verstehen würde, flüsterte sie, den Kopf erschöpft an die Tür gelehnt:
"Wir wissen beide, dass ich Dich jetzt nicht allein lassen kann. Selbst, wenn Du mich nochmals schlagen würdest..."
"Du bift fu fpät!"
Ihr Kopf ruckte nach oben und sie hielt die Luft an.
"Roger? Bist Du das? Wieso sagst Du so etwas? Schläft sie? Hast Du ihr etwa doch von dem Beruhigungsmittel gegeben? Ich konnte nicht früher kommen, wirklich! Ich habe es versucht aber..."
Der Zellenriegel wurde innen mit Schwung beiseite gezogen und die Tür öffnete sich so plötzlich, dass sie zurückspringen musste, um ihr auszuweichen.
Im niedrigen Türrahmen stand der Igor. Es war noch zu erkennen, dass er die selbe Kleidung trug, die er üblicherweise bei der Arbeit im Restaurant anhaben musste. Ein weißes Hemd und eine schwarze Hose. Doch diese Information fiel bedeutungslos in ihren erstarrten Sinn - und durch diesen hindurch.
Rogers Kleidung war blutbesudelt. Seine Hände wirkten wie rohes Fleisch und selbst über seine Stirn und Wangen zogen sich vereinzelt angetrocknete Schmierer der geronnenen Flüssigkeit. Tränenspuren furchten das rostrote Schlachtfeld seines Gesichts. Doch der Ausdruck seiner Augen entbehrte jeglichen Mitgefühls. Und in seiner einen Hand, hielt er eine Knochensäge.
Sie konnte nicht atmen, sie konnte nicht sprechen. Sie konnte ihn nur ungläubig anstarren.
Er hingegen packte sie grob am Arm und zerrte sie in den Raum hinein.
"Du bift defwegen fu fpät. Weil fie tot ift! Und Du bift Fuld daran! Du und deine hirnriffige Idee mit dem Entfug!"
Er hielt sie unbarmherzig im Genick festgekrallt und schubste sie so schnell vor sich her in den Raum, dass sie über ihre eigenen Füße stolperte. Doch auch das hielt ihn nicht auf. Seine übermenschlich starken Muskeln schleiften sie einfach vorwärts, hin zu dem Bild reinen Entsetzens, welches sich ihr auf dem Schreibtisch der Igorina darbot. Sie wollte die Augen verschließen, doch selbst das ging nicht mehr. Sie hing wehrlos in seinem schmerzhaften Griff und hörte wie aus weiter Ferne die zornige Stimme.
"If hatte Dif gewarnt, daff ihr Herf daf nift mitmachen würde aber Du wuffteft ef ja beffer!" Seine Stimme wurde tiefer, hart wie Diamant. "If habe dif auch davor gewarnt gehabt, daff Du die Konfequenfen tragen würdeft. If werde nift fulaffen, daff fie für deine Fturheit fahlen muff..."
Der Anblick war... irreal. Rogis Schreibtisch war - wie schon oft zuvor - zum Operationstisch umfunktioniert worden. Und auf dieser freien Fläche lag ein Körper.
Roger ließ sie ohne Vorwarnung los, so dass sie in sich zusammensackte und auf den Tisch zustolperte. Ihre Beine drohten nachzugeben, doch sie fing sich im letzten Moment ab, indem ihre gesunde Hand die Tischkante zu fassen bekam und sie sich daran festklammerte. Die klebrige dunkle Flüssigkeit, in die sie dabei griff, blendete ihr Bewusstsein aus.
Roger befand sich irgendwo hinter ihr. Sie hörte das schwere Schlagen der Zellentür und das wuchtige Einrasten des Schieberiegels in dessen Wandlöcher. Außerdem hörte sie irgendwo in der Nähe der Tür das leise Fiepen eines Hundes. Doch sie maß all dem keine Bedeutung bei.
Der zerschnittene Körper lag reglos nahe ihren Fingern. Ihr Blick streifte vorsichtig die tiefe Wunde, die den gesamten Körper durchmaß. Von den Schlüsselbeinen bis zu der unaussprechlichen Körperregion hinab. Das geöffnete Innere lag nackt und bloß vor ihren Blicken. Die Haut war mit Klammern beiseitegehalten, so dass der Körper wie eine riesige, an den Rändern aufgebogene Schale da lag, welche ihren Inhalt zum Zugreifen präsentierte. Nachgiebig wirkende Masse, rosiges festes Fleisch, dunkles Fleisch, zart elfenbeinfarbene Knochen, die das zähflüssige rubinrot der dümpelnden Flüssigkeit durchschimmerten, durchsetzt von gefrorenen Eisstückchen, wie Rogi selbst sie immer in ihrer Truhe lagerte, zum Aufbewahren frischer Körperteile.
Ihr Blick wanderte unaufhaltsam nach oben und kam dort, auf den glatten Gesichtszügen des Körpers, zur Ruhe.
'Sie hat die Augen zu... aber... sie ist es.'
Ein Schattenbild überlagerte die Realität und sie meinte, wieder Rogis beruhigenden Druck auf ihren Unterarm zu spüren. War es kurz vor dem Einsatz?
Sie hörte Rogis feste Stimme und diese schien ihren Kopf auszufüllen.
"Wir fehen unf heute Abend."
Rogi wandte sich zum Gehen und lief den Gang hinunter, fort von ihr - sie sah nicht zurück.
Das Bild verblasste und hinterließ die reglose Igorina auf dem Operationstisch.
Ophelia hob ihre Hand und strich Rogi vorsichtig das Haar beiseite. Sie mied die aufgeschnittene Stirn, dennoch landete sie mit den Fingerspitzen unbeabsichtigt in der leeren Kopfhöhle. Sie spürte Knochenplatte und etwas Glibberiges.
'Ja, ihr Gehirn ist wohl weg...'
Als sie die Finger zitternd zurückzog, rastete irgendetwas in ihrem Sinn aus.
Gleichzeitig erfüllte die Welt ein lautes Krachen, ein metallenes Scheppern.
Es war ein befreiendes Gefühl, als wenn sie ein Vogel wäre, der endlich der Schwerkraft abgeschworen hatte und mit den Füßen den Boden verließ, ungeahnten Weiten entgegen.
Sie dachte ihr Entsetzen mit einem einfachen, klaren Satz in diese grenzenlose Unendlichkeit hinein.
'Sie ist tot...'
Und dann kehrte die Unendlichkeit in einer einzigen, ungeheuer riesigen Brandungswelle zu ihr zurück und stürzte mit unterschiedlichsten Stimmen über ihr zusammen.
'Was zum... Ophelia? Was machst Du in meinem Kopf? Und wer verdammt nochmal ist tot?'
'Das ist unmöglich! Ich kann doch nicht mal Gedanken lesen, wie kann sie mir da ein dermaßen heftiges Gefühl übermitteln? Solche Fassungslosigkeit! Hilflosigkeit! Egal... Irgendwas ist passiert. Ich muss sie sofort suchen!'
'Hm... keine Ahnung warum aber... ich fühl mich grad total unwohl... was geht hier vor? Besser ich schaue mich mal um...'
'Aua! Bei Om! Was sind das denn für Kopfschmerzen... aaaaahrrrr... Da hätte ich lieber daheim bleiben sollen, als eine Frühschicht in der Pathologie einzulegen... Aua! Hatte ich nicht noch irgendwo den Birkenrindentee?'
'Ophelia? Was auch immer geschehen ist: Ich bin auf dem Weg! Ich beeile mich und gleichgültig was dieser engstirnige Kommandeur sagen wird, ich werde das Wachhaus betreten und Dich vor dem Grauen beschützen, das dort anscheinend übermächtig deiner harrt!'
Eine einzelne Stimme erhob sich über diejenigen der anderen, ruhig und bestimmt.
'Man hat niemals Ruhe vor deinen emotionalen Eskapaden, nicht wahr? Dabei hatte ich Dich erst vor Kurzem darauf hingewiesen, wie nützlich es für uns beide wäre, wenn Du etwas mehr für deine Selbstbeherrschung tun würdest. Was ist es diesmal? Ah, ich sehe... deine Mitbewohnerin wird für die Igor-Lotterie vorbereitet? Nun gut, das ist natürlich unschön. Dennoch! Von diesem zwangsläufig geteilten Stimmenchaos in deinem Sinn werde ich ganz unkonzentriert. Und mir scheint, dass dein geistiger Zustand aktuell nicht als sonderlich ausgeglichen bezeichnet werden kann. Es wird also vermutlich das Klügste sein, Dich zu beruhigen. Du verzeihst?'
Und damit wurde Ophelia von einer Sekunde auf die andere von dem in ihr aufsteigenden Wissen befreit, dass Roger Recht haben musste: Sie selber war der Auslöser für all dies Unglück, sie war Schuld an Rogis Tod!

Szene 39

Jargon Schneidgut

Das Gefühl von Gefahr für Leib und Leben, dieses allesumfassende Kribbeln von Kopf bis Fuß, war so schnell und so intensiv in ihm aufgeflammt, dass er sich nahezu sicher war, dass es nicht natürlichen Ursprungs sein konnte.
'Hm... nein, mir geht es immer noch so komisch, auch wenn ich darüber nachdenke und mich umsehe, es will mir nichts auffallen, was anders als sonst zu sein scheint. Vielleicht geht draußen etwas vor sich? Also... dann wäre es bestimmt besser, wenn ich jetzt nachschaue...'
Er öffnete die Tür und zeitgleich hörte er von einer Etage höher laute Stimmen und hektisches Türenschlagen.
'Tatsächlich... irgendwas geht hier vor sich... hmm...'
Der Impuls etwas zu unternehmen, irgendetwas anzupacken, fortzuschaffen, aufzuklären... was auch immer, Hauptsache aktiv zu werden, wurde fast übermächtig, so dass er sich der Haupttreppe zwischen den Wachhausetagen näherte.
Die aufgeregten Stimmen wurden schnell lauter und schon rannten der Kommandeur, die R.U.M.-Vampirin von Nachtschatten und der F.R.O.G.-Schütze van Varwald an ihm vorbei, so eilig, dass sie jeweils zwei oder drei Stufen auf einmal nahmen. Der Kommandeur rief mit schneidend scharfer Stimme zu den hinter ihm her hastenden Wächtern:
"...darum, weil sie nicht weit gekommen sein kann in der kurzen Zeit! Ich hatte ja eben erst mein Büro betreten. Sie muss noch dort unten sein!"
Ohne lange über das Warum nachzudenken, gab Jargon sich einen Ruck und rannte ihnen hinterher. Es schien das Richtige zu sein.
Mina von Nachtschatten war ebenso besorgt, wie die anderen beiden. Sie suchte nach einer Erklärung.
"Sind neue Leichen in die Pathologie eingeliefert worden? Vielleicht ist sie nach dem Verhör dorthin gegangen und hat eine Bekannte wiedererkannt, wenn Du sagst, sie hätte etwas von einer Toten gesagt, Sör?"
Der Umhang des F.R.O.G.-Vampirs flatterte vor Jargons Gesicht, als sie das Erdgeschoss passierten und ohne langsamer zu werden in den Keller rannten. Er presste zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor:
"Wir werden es gleich wissen..."
Der Kommandeur kam schlitternd im Gang zum Stehen und breitete beidseitig die Arme aus, um seine Verfolger davon abzuhalten, vorzupreschen. Die Vampire unter ihnen unterließen es zu atmen und Jargon kam sich fast etwas unzureichend vor, als sein Atemgeräusch als einziges deutlich zu hören war.
Die R.U.M.-Kollegin drehte sich überrascht zu ihm um und fragte ihn flüsternd:
"Schneidgut? Was machst Du denn hier?"
"Ähm... ich weiß nicht... ich hatte so ein... so ein Gefühl von Gefahr und..."
Der Kommandeur riss genervt eine Hand in die Höhe und sie schwiegen und lauschten.
Der Gang lag mucksmäuschenstill vor ihnen.
Dann jedoch schepperte am Ende des Ganges etwas, als es zu Boden fiel. Ein Gegenstand aus Metall. Irgendwo hinter einer der Türen.
Van Varwald und Breguyar sahen sich in stillschweigendem Einvernehmen an und schlichen gemeinsam den Gang hinunter. Eine nach der anderen rissen sie so schnell die Türen auf, dass diesen nicht einmal die Zeit zum protestierenden Quietschen blieb. Der Kommandeur und der Vampir wechselten sich darin ab, die Tür zu öffnen und geduckt hinein zu hasten. Doch jedes Mal kam der, der reingegangen war, unverrichteter Dinge und mit finsterem Blick wieder heraus. Bis sie beinahe schon am Ende des Ganges angekommen waren und sowohl die leeren Zellen zur Linken, als auch die im Dunkeln verweist liegenden Verhörräume zur Rechten hinter sich gelassen hatten.
Die Sichtfenster der beiden belegten Zellen prüften sie nur flüchtig und schlossen sie dann wieder. Der schmale Kerl in der einen wirkte überaus nervös. Der stämmige in der anderen aber sah ihnen mit verschlagenem Grinsen entgegen.
'Hat er etwas mitbekommen?'
Die Tür zu Rogis Zelle ließ sich nicht öffnen, sondern war von innen verriegelt.
Van Varwald zog grimmig die Brauen zusammen und deutete auf die verschlossene Tür. Er flüsterte:
"Ich rieche Blut, Bregs. Viel Blut!"
"Kann es noch Michaels sein? Sie war nach dem Einsatz voll davon..."
Der Vampir schüttelte den Kopf und antwortete noch immer flüsternd.
"Frischer. Und viel mehr."
Breguyar nickte unheilvoll, winkte van Varwald aber trotzdem noch zum letzten Raum. Als sie diesen sicherheitshalber ebenfalls kontrolliert und für leer befunden hatten, kehrten sie zu dem Büro der Igorina zurück.
Mina näherte sich den beiden Vorgesetzten und er tat es ihr nach.
'Das ist Feldwebel Feinstichs Büro... ich hoffe, ihr ist nichts passiert... sie war immerhin meine Ausbilderin und... und... überhaupt...'
Breguyar deutete dem F.R.O.G.-Kollegen mit einer stummen Geste, dass er an der Tür lauschen solle.
In diesem Moment verließ Jargon das übermächtige Gefühl von Gefahr, das ihm bis eben beinahe den Atem abgeschnürt hatte!
Auch die Kollegen schienen eine Veränderung zu spüren, denn sie richteten sich instinktiv etwas mehr auf, entspannten die Schultern und atmeten fast synchron ein.

Hinter der Tür fiel etwas Schweres dumpf zu Boden. Dann hörten sie leise ein schnelles Schlurfen.
Der Kommandeur hielt sich nicht mit Zweifeln auf. Er blickte nur kurz in die Runde und sie waren sich auch ohne Worte alle darin einig, dass das kein Zufall war.
Er begann vehement auf die massive Zellentür einzuschlagen.
"Heda! Öffnen! Sofort! Rogi? Das gilt für jeden, der da drin ist. Hier spricht der Kommandeur der Stadtwache und ich verlange, dass mir sofort geöffnet wird!"
Nun bekam er es doch mit der Angst zu tun.
'Es ist etwas Schlimmes passiert... bestimmt...'
Stattdessen flog die Tür rechts von Rogis Büro auf und ein riesiger Troll bückte sich in den Gang. Er war offensichtlich als Zellenwache eingeteilt gewesen und hatte seine Schicht im dafür vorgesehenen Aufenthaltsraum absitzen wollen.
Jargon wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Der Gang wirkte nun klaustrophobisch eng.
Der Kommandeur blickte triumphierend und befahl dem steinernen Rekruten:
"Brich die Tür zum Büro von Feldwebel Feinstich auf!"
Jargon bemerkte, wie van Varwald eine kleine Handfeuerwaffe zog und deren Sehne spannte, um den Bolzen aufzulegen.
'Natürlich... sie waren ja eben erst aus dem Einsatz zurück...'
Er wünschte sich ebenfalls eine Waffe - irgendeine!
'Hätte ich doch mein Schwert von oben mitgenommen...'
Der Troll trat vor die Tür. Dann blickte er zu Breguyar hinab und knirschte:
"Tür werden kaputt gehen. Opal nichts kaputt machen soll."
Ihrer aller Vorgesetzter setzte zu einem Fluch an, unterbrach sich dann jedoch und brachte unter größter Anstrengung hervor:
"Tu es! Sofort!"
Rekrut Opal hob seine Faust und streckte diese zielsicher vor.
Die Tür explodierte!
Eine Wolke großer und kleiner Holzteile ging gleich einem dichten Regenschauer in den dahinter liegenden Raum hinein nieder. Dann legte sich allmählich auch der Dunst aus kleineren Spänen und Partikeln.
Der Kommandeur und dessen Abteilungskollege standen im Zugang und selbst die R.U.M.-Vampirin stand Jargon im Wege. Sie alle schienen in der Zeit gefangen und erstarrt.
Er trat vorsichtig näher und blickte zwischen ihren Schultern hindurch.
Die ehemalige Zelle war von der Sanitäterin zu einem Büro umfunktioniert worden. Doch jetzt glich der Raum einer verwüsteten Schlachterei.
Der über Jahre sorgsam von der Igorina verteilte Staub senkte sich als letztes auf das schaurige Bild herab und trübte zumindest ein wenig das viele rot und rostbraun. Es bestand nicht der geringste Zweifel, wessen Leiche auf dem Schreibtisch geöffnet worden war, so klar und scharfgeschnitten zeichnete sich das Profil des Feldwebels im Hintergrund ab.
Er keuchte vor Schock laut auf.
Und vor dieser makaberen Bahre stand gekrümmt ein wahnsinniger Igor, blutbeschmiert, die Augen weit aufgerissen und in seinen Armen hing, bewusst- und willenlos wie ein Spielzeug, Ophelia!
'Er wird sie umbringen!'
Der Fremde verzerrte sein Gesicht zu einer unleserlichen Fratze. Er stöhnte in schaurigem Tonfall:
"Ef ift nicht fo wie ef auffieht!"
Valdimier hob die gespannte Handfeuerwaffe und richtete sie auf den Igor aus. Seine Hand war dabei ruhig, ohne das geringste Zittern, und Jargon beneidete ihn darum.
Der Kommandeur sagte mit ätzender Ironie:
"Nein, natürlich nicht. Das ist es ja nie!"
Der Igor sah beinahe verzweifelt auf die Frau in seinem Arm hinab. Gleichzeitig schien er darum bemüht, ihren schlagkräftigen Trupp nicht aus den Augen zu lassen. Er blinzelte und presste die Lippen aufeinander.
Araghast Breguyar betrat langsam den Raum. Seine Stimme klang eiskalt.
"Leg sie langsam und vorsichtig zu Boden! Keine hastigen Bewegungen!"
Der Igor zögerte.
'Es muss ihm einfach klar sein, dass Breguyar nur darauf wartet, freies Schussfeld für van Varwald zu bekommen.'
"Runterlassen, habe ich gesagt!"
Der blutbesudelte Fremde krampfte seine Hand um den Chief-Korporal, doch ganz allmählich ging er mit ihr in die Knie und streckte seine Arme weit vor, um sie sachte abzulegen. Sein Blick klebte dabei regelrecht an der auf ihn ausgerichteten Waffe und sobald seine Hände sich von ihr gelöst hatten, hob er diese, ohne zusätzlich benötigte Aufforderung dazu, in die allgemein gültige Unterwerfungsgeste der Verbrecherwelt.
'Jetzt!'
Der Kommandeur war mit einem Sprung bei dem Igor, packte ihn am Kragen, stieß ihn rückwärts durch das Zimmer und rammte ihn in weißglühender Rachlust an die linke Wand des Raumes. Es war selbst von Jargons Standpunkt aus gut zu sehen, wie tief die kantigen Fäuste des Kommandeurs sich in den dünnen Hemdstoff bohrten und dass es ihm nicht ausschließlich darum ging, die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Der Mann mit der größten Weisungsbefugnis innerhalb dieses Gebäudes ließ seiner Wut ob einer toten und einer bewusstlosen Kollegin freien Lauf.
Und der Verdächtige wehrte sich nicht!
Jargons Gefühle waren hin und her gerissen zwischen seinem vollen Verständnis für den Kommandeur und seinem felsenfesten Faktenwissen, wenn es um bestimmte Passagen der zutreffenden Gesetzestexte ging.
Dann wieder wanderte sein Blick hilflos zu der ehemaligen Ausbilderin und seine Gedanken irrlichterten zwischen unterschiedlichen Erinnerungen an sie. Wie sie ihm freundlich und geduldig beigebracht hatte, einen Verband ordentlich anzulegen. Wie sie ihm das alte Skalpell geschenkt hatte, ihm, dem sonst nie etwas geschenkt wurde!
Breguyars letzter Schwinger in die Magengrube des Igors ließ diesen lautlos keuchen und bereits halb an der Wand zusammensacken. Doch bevor er am Boden ankommen konnte, griff der Kommandeur nach seinem Arm, zerrte den leicht orientierungslosen Mann daran von der Wand fort und in die Raummitte zurück, wo er ihn mit demselben Schwung zu Boden warf. Der Igor landete schmerzhaft auf dem dortigen Schutt, was ihm die letzte Luft aus der Lunge schlug. Er versuchte, sich aufzustützen, doch Araghast Breguyar hielt noch immer seinen Arm fest - und verdrehte diesen unverhältnismäßig weit auf den Rücken.
Der Gefangene wimmerte hörbar auf.
Und Jargon spürte die gleiche Wut über den Schlächter in seinen eigenen Eingeweiden rumoren, sah den beherrschten Teil seiner Gefühle in dem rücksichtslosen Vorgehen des älteren Wächters gespiegelt.
'Rogi Feinstich ist tot... eine so hilfsbereite Igorina... Breguyar wird dafür sorgen, dass er nicht ungeschoren davon kommt! Was ist hier nur passiert?'
Der einäugige F.R.O.G. setzte sich breitbeinig auf seine Beute, noch immer deren Arm bis zum Anschlag angewinkelt.
Breguyars Stimme zischte wie eine angriffslustige Schlange durch den Raum und echote damit Jargons Gedanken.
"Was ist hier passiert?"
Der Igor keuchte und würgte. Er lag so im Dreck, dass er Ophelia im Blick hatte, deren leeren Gesichtsausdruck nur Zentimeter entfernt.
Breguyar hatte keine Geduldreserve mehr über. Das Schweigen des Verdächtigen quittierte er dadurch, dass er wortlos ausholte und diesem einen kräftigen Schlag gegen den Kopf verpasste.
Der Igor keuchte: "If... if fage nifts, aufer fu ihr!", und bei diesen Worten richtete sich sein unsteter Blick wieder auf Ophelia.
Jetzt endlich löste Jargon sich aus seiner Schockstarre. Er ignorierte den Wahnsinnigen. Und auch die Leiche der Sanitäterin. Für Rogi kam eindeutig jede Hilfe zu spät. Stattdessen rannte er, gemeinsam mit von Nachtschatten, zu Ophelia hinüber und vergewisserte sich, dass zumindest diese noch lebte.
Die Vampirin flüsterte mehr zu sich selbst, als zu ihm:
"Puls langsam aber gleichmäßig, Atmung etwas zu flach... aber im Rahmen. Aber warum kann ich sie nicht mehr spüren? Es ist, als wenn ihr Körper ein leeres Zimmer wäre. Keine Präsenz... das ist keine normale Bewusstlosigkeit."
Aus den Augenwinkeln sah Jargon, wie der Kommandeur die leisen Worte der Kollegin hörte und als Reaktion seine freie Hand schwer auf den Kopf des Liegenden stützte. Sein Gesichtsausdruck war mörderisch. Er blickte zu dem Troll, der seit seinem Einsatz gegen die Tür tatenlos auf dem Gang stehen geblieben war.
"Rekrut, deine Handschellen. Sofort!"
Der Troll betrat so behutsam wie möglich den Schauplatz des Verbrechens und reichte das Gewünschte.
Breguyar legte die eisernen Fesseln routiniert an und schon war das Einrasten des Schließmechanismus zu hören.
Der Vampir-Kollege an der Tür deutete mit seinem Kinn auf den Schreibtisch und dessen tragische Last.
"Jemand sollte Magane Bescheid sagen. Der Igor hat damit begonnen, sie transportfertig zu machen. Wir können sie nicht so offen liegen lassen. Sie muss in die Pathologie, in eines der Kühlfächer."
Der fremde Igor reagierte auf den Hinweis des Armbrustschützen mit einem erleichterten Einatmen. Zumindest versuchte er es. Stattdessen gerieten ihm Staub und Dreck vom Boden in die Atemwege. Er hustete und würgte, nur noch halb bei Sinnen, bis sein Körper völlig erschlaffte.
Der Kommandeur nickte zufrieden und erhob sich aus der unbequemen Haltung. Er wartete einen Moment, bis der Verdächtige sich wieder zu regen begann und riss ihn dann am Kragen halb in die Höhe. Der Igor versuchte, der nonverbalen Aufforderung Folge zu leisten und seine Beine davon zu überzeugen, ihn wieder zu tragen. Der Erfolg seiner Bemühungen verzögerte sich jedoch leicht, durch den gezielten Ellenbogenhieb des Kommandeurs in die ohnehin schon reichlich bearbeitete Magenregion.
Jargon konnte nicht verhindern, dass ihm bei dem Anblick des geschundenen Gefangenen ganz bestimmte Worte durch den Kopf gingen.
"...Verboten ist das absichtliche Zufügen von Wunden, Prellungen oder Schmerzen im Allgemeinen, sofern dies gegen den Willen des Betroffenen geschieht...
Und der Igor sah tatsächlich nicht so aus, als wenn ihm die gebotene Prozedur in diesem Moment zusagen würde. Da aber auch keiner der Kollegen Bedenken äußerte, hütete Jargon sich, einzugreifen.
'Und... es gibt ja auch ganz viele Texte, die dem widersprechen würden... so von wegen Verdacht und Verhältnismäßigkeit und so...'
Der Kommandeur sah ihn direkt an.
"Obergefreiter, lies ihm seine Rechte vor!"
Jargon zuckte wie ertappt zusammen, trat dann aber gefasst vor. Er hätte gedacht, stottern zu müssen. Doch wenn es um das Zitieren von Gesetzen und Verordnungen ging, dann befand er sich in seinem Element.
"Also ich gehe mal davon aus, dass Du hiermit festgenommen bist, Herr. Dann würde das Allgemeine Gesetzbuch nämlich für Dich gelten und dadurch auch alles, was im Paragraphen 75 vorkommt. Absatz 2 besonders, die 'Rechte des Inhaftierten'... ähm... also für den Unterpunkt 1 ist es jetzt schon zu spät, deswegen lasse ich den weg, ja? Aber es gibt ja noch weitere. Also fangen wir mal bei Punkt 2.2 an: Alles was ein Inhaftierter während des Verhörs sagt, kann gegen ihn verwendet werden. Punkt 2.3: Alles was ein Inhaftierter während des Verhörs nicht sagt, kann gegen ihn verwendet werden. Punkt 2.4: Der Inhaftierte hat das Recht mit den Resten des Kantinenessens der Stadtwache verpflegt zu werden. Punkt 2.5: Der Inhaftierte hat das Recht auf a) eine Tasse Tee b) einen Keks c) ein Stück Gebäck aus der Gebäckmischung-für-die-Teestunde... aber das gilt gemäß dem Folgeunterpunkt nur, wenn die Mischung im Wachhaus vorrätig ist. Da müsste ich dann erst nachsehen..."
Der Igor mühte sich schwer atmend damit ab, seinen Kopf zu heben und ihn anzuschauen.
Jargon geriet kurzzeitig ins Stocken, als er in dem verschmierten Gesicht des Gegenübers abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit erkannte. Er brach den Blickkontakt und beeilte sich, die noch ausstehenden Paragraphen schnell hinter sich zu bringen.
"Punkt 2.6: Der Inhaftierte ist verpflichtet seine Schuld umgehend zuzugeben um der Stadt unnötige Kosten zu ersparen..."

Szene 40

Ayami Vetinari

Die Sonne war lange schon untergegangen, die Nacht jedoch noch jung.
Die beste Zeit, um Entscheidungen zu treffen, wie sie fand.
Die Vampirin stand, seit ihrem Erwachen an diesem Abend und den kurz darauf zugetragenen Informationen, reglos am Fenster. Die Sterne zogen funkelnd ihrer Bahn und von dem riesigen Bleiglasfenster ihres Gemaches aus, überblickte sie ein gut Teil der Burganlage unter sich, sowie der urwüchsigen Wälder, die sich daran anschlossen. In diesen Tagen war Lady Margolotta zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz geworden. Doch von dieser abgesehen, gab es in Überwald niemanden, der sich der Königin der Nacht entgegengestellt hätte.
Ihre Gedanken kehrten zu dem Ärgernis dieses Abends zurück.
'Nicht nur dieses einen Abends. Eine unschöne Situation. Sie hat meine Pläne durchkreuzt und sich unwillig gezeigt. Sie stand in meiner Schuld und hat sich dieser feige entzogen!'
Die ebenmäßigen Gesichtszüge der Königin bildeten schärfere Konturen aus.
'Ein Untertan ihrer Spezies hätte meinen Erwartungen zuvorkommen müssen, anstatt ihnen ständig auszuweichen. Ihre Mutter war dem Stande entsprechend willfähriger. Hätte Igorina nur etwas mehr Zeit gehabt, um das Kind zu formen! Der Mob kam einfach zu früh ins Spiel. Und ihre Verwandschaft war eine nur ungenügende Alternative.'
Wenn sich alles wie geplant gefügt und das Kind eine klassische Ausbildung bei der Mutter erfahren hätte, dann wäre mit einem ausgeglicheneren Gemüt zu rechnen gewesen. Mit einer Konstante. So aber... aus der Igorina war ein freidenkender, spröder Schatten seiner selbst geworden, ein unausgegorener Geist, zerrissen zwischen traditionellem Gedankengut und modernen Instinkten, kaum belastbar. Ihr besonderes Talent hatte sich ungünstig mit den Einflüssen der männlichen Verwandschaft verwoben.
Aufgrund der Umstände hatte die Königin die junge Frau zu lange aus den Augen verloren, um ihren eigenen Einfluss geltend zu machen und als sie sie endlich, nach langen Jahren der Suche und unnützer Korrespondenz mit 'Wir sind Igors', zu fassen bekam, war es zu spät gewesen. Sicher, die Dienstleistung, nach der es sie in all der Zeit am meisten gedürstet hatte, konnte die Igorina glücklicherweise aufbieten. Eine Formung des Charakters jedoch stellte sich als beinahe unmöglich heraus, wenn sie diesen nicht brechen wollte. Der erste zubereitete Becher Kräuterblut, welchen ihr die damals so verunsicherte Igorina kredenzte, war berauschend gewesen. Er hatte jegliche Wartezeit bis dato gerechtfertigt. Dies war der erlösende Moment gewesen, in welchem sie mit äußerster Zufriedenheit schlussfolgerte, dass die Zutat, die Mischung und die Zubereitung ihres Lieblingsgetränks mit dieser letzten direkten Verwandten der Linie noch im Umlauf war. Seit dem hatte Sie ihr Bestes gegeben, diesen Joker im Spiel zu halten. Sogar entgegen den steten Bemühungen des Igorclans. Ob Tante und Onkel der jungen Frau sich über die Jahre hinweg ebenso hartnäckig für den Einsatz der Igorina fernab des Schlosses eingesetzt hätten, wenn sie davon gewusst hätten, wie nachteilig sich deren Trennung von ihrer Meisterin auswirkte? Igorina hatte es im Schloss, nahe bei ihr, gut gehabt. Es hatte ihr an nichts gemangelt. Bis ihr Onkel aufgetaucht war und damit alles verändert hatte.
Die Vampirin schloss kurz die Augen und dachte an Vergangenes.
Sie war einen Handel mit dem Onkel der Igorina eingegangen, eine Übereinkunft, die mit dem Fehlen ihres Pfands in der Zwillingsstadt nun mit Sicherheit hinfällig werden würde.
Sie runzelte unwillig die Stirn.
'Wie ägerlich! Sie hat nicht nur ihre Verpflichtung mir gegenüber geleugnet, sondern außerdem die beiden letzten, mir verbliebenen Versorgungswege gekappt! Igor wird die Bedingungen als nichtig ansehen und nicht mehr liefern.'
Sie überschlug gedanklich die Menge der eingelagerten Flaschen im Keller. Doch auf lange Sicht - und sie gedachte, ihren Einfluss noch sehr lange geltend zu machen - würde irgendwann immer der Punkt erreicht sein, an dem sich Vorräte dem Ende zuneigten, so sie nicht aufgefüllt würden.
Ein zweiter Gedanke folgte dieser Erkenntnis dichtauf und war kein bisschen angenehmer.
'Möglicherweise werden sie mir ihren Tod zur Last legen wollen. Das könnte unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen. Der Clan hat überall Beziehungen und gerade diese Tante der Igorina scheint es sich in den Kopf gesetzt zu haben, in mir eine willkommene Zielscheibe ihrer Agressionen zu sehen.'
Die Erinnerungen an den letzten professionellen Auftragsangriff bei Tageslicht dämmerten in ihr herauf, konfrontierten die unsterbliche Königin mit hastigen Eindrücken. Der Vampirjäger, der Igor, wie die Vorhänge mit einem kräftigen Ruck fielen und sie in gleißendem Sonnenlicht erwachte, wie sie instinktiv die feindliche Hand mit dem Pflock im unnachgiebigen Klammergriff hielt... die strahlend blauen Augen des Jägers, so leuchtend, so erschrocken.
Doch diesen Luxus gestattete sie sich nicht lange. Die Bilder verblassten und sie öffnete ihre Augen. Ihr Blick schärfte sich in der vertrauten Dunkelheit.
'Letztendlich hat sie sich nicht gefügt. Sie hätte meinen Anweisungen folgen, den Kodex wahren und das Spiel nicht von sich aus beenden dürfen!'
Vor der schweren Tür zu ihren Gemächern nahte einer der menschlichen Bediensteten und kurz darauf klopfte es verhalten an.
Sie hieß ihn einzutreten.
Der ältere Mann mit den ergrauten Schläfen durchquerte das dunkle Büro beinahe ebenso lautlos, wie sie selbst es zu tun pflegte. Er reichte ihr mit einer respektvollen Neigung des Kopfes das Silbertablett mit einer darauf liegenden Nachricht.
"Hoheit... ein weiteres Schreiben aus Ankh-Morpork. Der Absender ist nicht genannt. Es erreichte uns allerdings per Boten, anstelle der Klacker. Dieser ritt unverzüglich wieder fort mit dem Hinweis, dass keine umgehende Antwort erwartet würde."
Sie sah auf den schlichten Umschlag hinab.
'Nein... nicht schlicht. Zurückhaltend.'
Sie nahm das Schreiben entgegen.
"Danke, Marridad!"
Als sie wieder allein war, betrachtete sie es genauer.
'Teures Papier. Darauf zwar nur ein reines Schmucksiegel, ohne Emblem, die Qualität des Wachses spricht jedoch ebenfalls für viel Geld im Hintergrund. Eine unerwartete Nachricht aus der Stadt, gerade zu diesem Zeitpunkt? Welchen Zusammenhang soll ich vermuten?'
Sie zog bedächtig eine ihrer eleganten Augenbrauen in die Höhe.
'Havelock womöglich? Nein. Der Junge würde keinen Hehl aus seiner Identität machen.'
Sie zögerte noch kurz, dann siegte ihre Neugier.
Das Siegel brach und das Schreiben entfaltete sich in ihren Händen.
Sie registrierte selbst in dem wenigen Licht auf den ersten Blick, dass die Tinte verdächtig nach Blut aussah. Sie war es nicht, ansonsten hätten ihre Sinne bereits angesprochen gehabt. Aber solch eine Mischung war kostspielig. Die Wirkung des ersten Eindrucks unterstrich die Annahme, dass sie es mit einem ausgesprochen wohlhabenden Absender zu tun haben musste. Der dunkle Rotton der scharfkantigen, sehr schräglastigen Schrift mit den vielen Oberlängen, übermittelte ihr aber noch eine andere Botschaft.
Sie atmete tief ein und ihr durch die Jagd trainierter Körper ließ unter der Haut die Muskeln spielen.
Ihr anonymes Gegenüber war mit hoher Wahrscheinlichkeit entweder ebenfalls ein Vampir - oder ein Vampirjäger! Niemand sonst liebte solche Spielereien, wenn es um die offizielle Korrespondenz mit ihr ging.
Ihr Interesse war geweckt. Sie begann den Brief zu lesen.

Majestät, ich schreibe aus aktuellem Anlass. Die hiesigen Entwicklungen werden Dir inzwischen zugetragen worden sein. Ich habe Verständnis für solcherlei Experimente. Wir waren schließlich alle einmal jung. Dennoch sehe ich mich dazu gezwungen, Dir den Hinweis zukommen zu lassen, dass es nicht vorausschauend ist, erst dein Spielzeug zu zerstören und es alsdann im Wege liegen zu lassen, wo jeder darüber stolpern könnte. Es gibt Kontakte im Umfeld, die empfindlich auf die neue Situation reagieren und ich sehe es unter anderem als meine Aufgabe, das gestörte Gleichgewicht soweit wiederherzustellen, wie es von Nöten sein wird. Einmischungen kämen ungelegen und sind zu meiden. Mit überaus freundlichen Grüßen, Racul Alexeij Sargolan Pada Ivanowitsch der Dritte von Ankh

Die Königin der Nacht faltete das Schreiben in kalter Präzision zusammen und legte es zu oberst in das geheime Fach ihres Schreibtisches. Dessen Schloß klackte leise beim Einrasten.
Sie griff gedankenvoll zu dem Stilett, welches als Brieföffner auf der Schreibtischfläche bereitlag. Seine geschärfte Klinge begann sachte reflektierend in ihren Händen zu rotieren.
'So, so... Ivanowitsch also. Der "Graue Schatten von Ankh", der "Tausendjährige", die "Lautlose Klinge" oder wie die sonstigen, ihm zugeschriebenen Namen lauten mögen. Muss ich das jetzt als Ehre ansehen, dass er mich herausfordert? Warum mischt er sich überhaupt ein, wenn doch sonst das Gerücht geht, dass er sich komplett zurückgezogen und keinerlei Interesse mehr an der Hohen Politik hat? Wobei... sein Name fiel bereits einmal vor längerer Zeit im Kontext mit der Wache. Während der Belagerung. Er war einer der Stadtpaten, der die geistige Liason mit einem Wächter einging. Nein, moment! Mit einer Wächterin, nicht wahr? Also interessiert er sich tatsächlich seitdem ununterbrochen für die Wache? Hmmm...'
Ein Lächeln verzog ihre Lippen und inwendig begann sie bereits, ihr weiteres Vorgehen zu durchdenken.
Sie traf eine Entscheidung. Eine Entscheidung, die sich, trotz der vielen Möglichkeiten an diesem Scheideweg, ohnehin abgezeichnet hatte. Eine Entscheidung, die ihr nun aber umso leichter fiel, da dieser Weg plötzlich obendrein mit dem Reiz des Verbotenen lockte.
'Ivanowitsch, ich habe mir noch nie von anderen etwas vorschreiben lassen.'
Jeder, der sich ihr bisher in den Weg gestellt hatte, war letztlich vor ihr zurückgewichen. Sie alle hatten sie unterschätzt. Bei ihm würde es nicht anders sein. Sie würde Erkundigungen über ihn einziehen müssen.
Aber als erstes würde sie persönlich nach dem Rechten sehen. Und die Weichen neu stellen.
''So leicht kommst Du mir nicht davon, Igorina! Die Wache hat doch diesen Igor festgenommen... Ich bin mir sicher, dass er gewissen Argumenten zugänglich sein wird."

Szene 41

Ophelia Ziegenberger

Die gnädige Schwärze dauerte nur wenige Sekunden an, dann lösten sich die weichen Schichten um ihr Bewusstsein und fielen von ihr ab. Das Bild von Rogis Leiche stand ihr klar und präzise vor Augen. Unmöglich, es zu verbannen, zu verdrängen oder anderweitig ungeschehen zu machen.
Und mit der bildlichen Erinnerung wurde ihr auch der letzte Gedanke wieder gewahr, den sie in der bitteren Realität zurückgelassen geglaubt hatte.
'Ich bin schuld!'
Das Eingeständnis tat so dermaßen weh, als wenn es ihr das Herz zerreißen wollte. Wasser rann an ihrem Gesicht hinab, wie Sommerregen, doch sie weigerte sich, bereits die Augen zu öffnen. Sollte die Scheibe sich ohne sie weiterbewegen. Es würde keinen Unterschied mehr machen. Die theoretische Idee, trotz dieser Schuld weiterzuleben, erschien ihr absurd.
'Hrrrmphm!'
Das Räuspern erklang mitten in ihrem Sinn. Sie wollte ihn ignorieren, doch das war unmöglich. Racul hielt sich nur kurz mit der Höflichkeit des geistigen Anklopfens auf, bevor seine vertraut kalte Persönlichkeit ihre Wahrnehmung flutete. Er wartete einen Moment in Schweigen gehüllt darauf, dass sie sich ihrer guten Manieren entsann.
Ophelia ergab sich seinen Erwartungen.
'Was ist es, das ich tun soll?'
Seine Stimme klang gereizt und ungeduldig.
'Dich zusammenreißen!'
Sie fühlte sich zu schwach, ihm Paroli zu bieten und stimmte daher nur folgsam zu. Sie würde ihm einfach alles versprechen, was er wollte. Hauptsache, er ließe sie im Austausch dafür in Ruhe.
Er schien nicht zufrieden damit.
'Ein verlockendes Angebot aber nein danke. Die Situation ist ungünstig. Du würdest es später womöglich argumentativ gegen mich verwenden und mir einen verkommenen Charakter unterstellen, so ich Dich jetzt beim Wort nähme. Außerdem ist etwas Anderes zur Zeit sehr viel wichtiger. Und Du zwingst mich dazu, es auszusprechen: Ich erwarte von Dir, dass Du zu deinen Aufgaben und deinen Routinen zurückkehrst, dass Du deine Freundschaften pflegst, deine sterbliche Familie beruhigst und insgesamt ein aktives und positives Mitglied der Gesellschaft bist, bis dass ich eine Möglichkeit finde, unsere geistige Verbindung ohne unerwünschte Nebenwirkungen aufzuheben.'
Sie schlussfolgerte emotionslos:
'Es geht Dir dabei nur um Dich, Herr...'
'Sagt die Sterbliche, die bei der ersten Konfrontation mit einem persönlichen Verlust am Leben verzweifelt und deswegen alle Bindungen um sich herum verleugnet! Du willst Dich umbringen? Meiner Meinung nach wäre das eine sinnlose Verschwendung! Aber es wäre auch zweifelsohne deine Entscheidungsfreiheit. Wer könnte Dich schon aufhalten, wenn es Dir damit ernst wäre? Schließlich ist es nicht möglich, rund um die Uhr auf jemanden aufzupassen, der dies nicht möchte... Allerdings gebe ich zu bedenken, dass Du damit zwar deinem persönlichen Schmerz aus dem Wege gehen würdest, Du aber gleichzeitig beispielsweise deinen Eltern damit ebensolchen zufügen würdest. Ebenso deiner Schwester. Deinen Kollegen, zumindest teilweise... Es gibt Personen, die ihre Gefühle auf Dich projizieren und sie mit deinem Sein verbunden haben. Personen, die sich auf dich verlassen. Der Begriff Verantwortung sagt Dir etwas? Oder wie wäre es mit dem Begriff der Pflicht?'
Darauf konnte sie nichts erwidern. Der Gedanke gab ihr einen Stich, dort wo sie keine Empfindsamkeit mehr vermutet hätte.
Sie wusste nicht viel über den Vampir, mit dem sie damals über einen Mittler, zur Verteidigung der Stadtmauern, verbunden worden war. Aber was sie von ihm wusste, das war seine verhältnismäßig lange Existenz. Es war ihr gesagt worden, dass er ewig nicht mehr gesehen worden sei, zurückgezogen residiere, ein Treffen mit ihm ausgeschlossen und er einer der wenigen Alten sei, die sie als unbedeutender Mensch vermutlich nie zu Gesicht bekommen würde. Eine Aussage, die sich bisher als völlig gerechtfertigt herausgestellt hatte. Glücklicherweise! In diesem Zusammenhang betrachtet bekamen seine Worte aber eine neue Bedeutung. Wer so lange gelebt, oder zumindest existiert hatte, der war ganz sicher nicht davon verschont geblieben, auch besonders geschätzte Weggefährten irgendwann zwangsläufig hinter sich lassen zu müssen!
'Aber das hier ist etwas anderes! Du hast nicht solch eine Schuld auf Dich ge...'
'Glaubst Du das wirklich, Kind? Bei einem Vampir?'
Ihre Erinnerungen waren so verlustfrei und exakt gerändert, dass sie selbst die warme Haut um Rogers knochigen Griff in ihrem Nacken spürte, den staubig-kupfernen Geruch im Raum wahrnahm. Sie sah den Winkel, in dem der Schatten im zersägten Knochenkäfig fiel, dort wo die Rippen vormals als Schutz über einem ach so schwachen Herzen geschlossen gewesen waren. Und sie hörte wieder die grenzenlose Wut in seiner Stimme, als er ihr offenbarte: ...Du bift Fuld daran! Du und deine hirnriffige Idee mit dem Entfug... If hatte Dif gewarnt, daff ihr Herf daf nift mitmachen würde aber Du wuffteft ef ja beffer!...
Rogi musste daran zugrunde gegangen sein, dass sie Michael nicht hatte retten können! Die Trauer war ihr zu nahe gegangen, hatte dem Körper das Letzte abverlangt. Und es war Ophelias Idee des kompletten Entzugs gewesen, die das alles beschleunigt und Rogis Herz hatte kapitulieren lassen!
Racul seufzte demonstrativ.
Die Verbindung zwischen ihnen verlief in beide Richtungen, so dass Ophelia mit seinen wahren Motiven vertraut war, selbst wenn ihm dies wiederum nicht ganz behagen mochte.
Es lag ihm viel daran, sie davon zu überzeugen, dass der Freitod für sie keine Option darstellte - und sei es nur aus dem Grunde, dass er ihn ihr verbot. Er hatte nicht so lange überdauert und war jedem der bisherigen Anschläge auf sich erfolgreich entgangen, um jetzt womöglich an den Nebenwirkungen dieser ungewollten Liason mit einem melodramatischen Menschen zu scheitern! Er würde sämtliche Register ziehen, um sie am Leben zu erhalten! Mit Gefühlen hatte das nichts zu tun. Es würde ihm genügen, wenn sie funktionierte. Vielleicht würden mit dem Versiegen ihres Enthusiasmus' generell auch die ennervierenden Emotionsschübe nachlassen? Das alles konnte noch von Vorteil für ihn sein. Wenn... ja, wenn sie sich seiner Leitung unterordnen und einsehen würde, das er an ihrer Stelle genau wusste, was das Beste für sie wäre!
Sie drehte seinen Gedanken im übertragenen Sinne zwischen ihren Händen, um ihn zu betrachten.
'Parsival würde ganz genau das Gleiche sagen, wenn er meiner habhaft werden könnte.'
Und wieder tat ihr der pumpende Muskelklumpen im Oberkörper weh, als wenn er tatsächlich so etwas wie die Heimat der Gefühle darstellen würde.
Racul war eindeutig in seiner Ehre getroffen.
'Du vergleichst mich mit diesem kümmerlichen Puppensammler?'
Ophelia war abgelenkt, als sie sich an die letzten wachen Minuten zurückerinnerte.
'Er hatte gesagt, dass er mich holen wollte. Hoffentlich hat er den Kollegen keinen Ärger beschert.'
Der ältere Vampir verneinte selbstzufrieden.
'Ich habe ihm die Gelegenheit dazu versagt. Meine Untergebenen haben sich um ihn gekümmert und er wird einige Zeit brauchen, um sich von dieser Intervention zu erholen.'
Sie nahm diese Information möglichst gelassen zur Kenntnis.
'Keine Sorge, Unkraut wie er vergeht nicht. Da mache ich mir um Dich mehr Sorgen.'
Unter echter Besorgnis verstand sie zwar etwas anderes aber sie würde nicht mit ihm debattieren.
Er zog bewusst ein letztes Ass aus dem Ärmel.
'Was ist mit Frän? Empfindest Du die Wertschätzung für ihren Tribut plötzlich nicht mehr?'
Ein argumentativer Schlag unter die Gürtellinie. Aber er hatte Recht, nicht wahr? Sie hatte diese Entscheidung schon einmal getroffen, wenn auch unter gänzlich anderen Vorzeichen. Und es hatte sich nichts daran geändert. Oder? Sie hatte geschworen, nicht nur zu überleben, als Dankesbezeugung, sondern wirklich zu leben!
Die Trauer um Rogi saß tief in ihr verankert und machte das Atmen schwer. Doch sie gestand sich ein, dass allein das Gespräch mit ihrem Mentor, dazu führte, sich wieder dem Leben und dessen alltäglichen Sorgen anzunähern.
'Moment! Mentor? Wie konnte es dazu kommen, dass ich diesen Begriff völlig vorbehaltlos auf ihn anw...'
Seine Stimme klang nun ausgesprochen selbstgerecht.
'Eine natürliche Reaktion auf den überlegeneren Geist. Ich werde die mir anvertraute Autorität nicht übermäßig ausreizen.'
Seine Aussage verschlug ihr die Sprache - eine Gelegenheit, die er nicht ungenutzt verstreichen ließ.
'Und wenn wir schon mal dabei sind... eine der ersten Lektionen sollte wirklich dringend darin bestehen, deine geistigen Fähigkeiten unter Kontrolle zu bekommen. Es wäre nicht von Vorteil, wenn es Dir zur Gewohnheit würde, deine Gedanken und Gefühle mit dem ganzen Wachhaus zu teilen. Oder schlimmer!'

Von außerhalb ihres Körpers erklang eine besorgte Stimme. Es war diejenige Aglarannas, der Näherin, deren Korrekturhilfebüro eine Ebene über ihrem Büro gelegen war.
"Ophelia?"
Ein weiches Taschentuch fuhr ihr sanft über die Wangen.
"Ich sage das nur ungern, zumal ich Dir wirklich lieber noch Ruhe zugestehen würde. Wo alles hier so schrecklich und in Aufruhr ist... Aber der Kommandeur hat mir ganz klar gesagt, dass ich Dich sofort in den Verhörraum bringen soll, wenn Du wieder zu Dir kommen solltest... Geht es wieder? Bitte... sie bekommen keine Antworten aus ihm heraus. Er weigert sich, zu reden. Also der Igor. Er will nur mit Dir reden."
Roger!
Sie versuchte das Zittern in ihrem Körper zu unterdrücken.
Er war zu nah an der Sache dran gewesen. Er kannte Rogi besser als sie selber. Er, der sie vor dieser Katastrophe gewarnt hatte, er wollte nun nur mit ihr reden? Warum? Um ihr noch mehr Vorwürfe zu machen? Wie sollte sie das ertragen?
"Ophelia? Bitte!"
Sie öffnete langsam die Augen und blickte die mitfühlende Näherin an.
Raculs Stimme forderte sie heraus: 'Reiß Dich zusammen! Du weißt, was ich von Dir erwarte!'
Das wusste sie, in der Tat.
Sie streckte Aglaranna eine Hand entgegen und diese half ihr sofort dabei, von der Liege aufzustehen.
Sie sah sich um und erkannte das Lazarett.
Aglaranna fragte: "Geht es?"
Ophelia nickte. "In welchem Raum sind sie?"
Die Näherin blickte mit ernster Miene voraus. "In der Fünf..."
Der Weg den kurzen Korridor entlang, an dem Bereitschaftsraum der S.E.A.L.s vorbei, war wie ein Spießrutenlauf. Wer auch immer ihr entgegen kam, blickte sie mit einer Mischung aus Entsetzen, Trauer und hilfloser Neugier an. Die Neuigkeiten hatten sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Sie konnte nicht anders, als den Blick auf ihre Füße gesenkt zu halten. Sie erreichten die Treppen in das Kellergeschoss hinab und kurz bevor sie die Tür öffneten, traf Ophelia eine Entscheidung.
'Ich werde, soweit irgend möglich, die Wahrheit sagen. Aber ich werde ganz sicher nicht Rogis Andenken in den Schmutz ziehen. Das hat sie nicht verdient.'
Dann betraten sie das Verhörzimmer und obgleich sich sofort der fragende Blick des Kommandeurs von der Seite her auf sie richtete, hatte sie nur für eine Person Augen.
Roger hob den Kopf und sah ihr entgegen.

~~~ ENDE ~~~













Und für die Neugierigen hier die kleine Liste der Musikstücke, die maßgeblich zur Atmosphäre während des Schreibens dieser Single beitrugen; sozusagen der Soundtrack. Einfach den folgenden Bereich markieren und dadurch sichtbar machen.


- Christina Perri "Jar Of Hearts"
- Kelly Clarkson "Save You"
- Within Temptation "Lost"
- Rosenstolz "Wir sind am Leben"
- The Fray "How To Save A Life"
- Maria Mena "Homeless"
- Kelly Clarkson "Dark Side"
- Sky And Sand feat. Happy Ending
- Charlie Chaplin "Smile"









Ich bedanke mich ganz besonders für die außergewöhnlich enge Zusammenarbeit der letzten Monate mit Rogi, ohne deren enthusiastischer Einwilligung es nicht möglich gewesen wäre, diese Single zu schreiben. Es war mir eine Ehre und ein Vergnügen, deinen Charakter in diese spezielle Hölle zu schicken! ^^

Außerdem danke ich Bregs für ihre herrlich zynischen Kommentare über die gleiche Zeitspanne hinweg, welche das Schreiben allabendlich versüßten. Ebenso wie für ihre Erlaubnis, ihren Charakter in gefährliches Fahrwasser zu manövrieren. Thihihihi... ich mag ihn trotzdem. Wirklich! *g*

Und ein großes Dankeschön geht an Mina, für das stets zuverlässige, perfekte Korrekturlesen. Was Du nicht findest, existiert nicht. Deinen präzisen Definitionen und Einwänden, kann kein Duden beikommen! :-)



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Feedback:

Von Rogi Feinstich

26.04.2012 22:09

Nanü kein Feedback? Na was soll man dazu auch sagen nicht? Ein verdientes goldenes Ribbon :)

Die Zusammenarbeit hat mir auf jedenfall sehr viel Spaß gemacht und ich freue mich schon auf die nächsten Projekte ;)

Von Glum Steinstiefel

26.04.2012 22:43

Ich kann auch gerne noch einmal schriftlich festhalten, was ich Ophelia bereits ausführlich bekundete, so sie es sich wünschen sollte :D

Von Magane

26.04.2012 22:53

Großartig, das Warten hat sich gelohnt... alles andere ist gesagt ;)

Von Braggasch Goldwart

27.04.2012 11:46

Aaargh! Viel zu wenig Bewertungszeit für so einen Roman! :D - Werde meine Bewertung nachreichen, wenn ich endlich die drei Tage am Stück gefunden habe sie erfreut zu ende zu lesen. Ein gemütlicher Abend hat hierfür sowas von ncih ausgereicht... :D :P

Von Ophelia Ziegenberger

27.04.2012 13:44

Tatsächlich würde ich mich über Rückmeldungen freuen. Die Fortsetzungs-Single zu "Funktionsstörung" ist ja bereits in Arbeit und es gäbe einige Punkte, bei denen ich nicht nur meine eigene Ansicht dazu wissen, sondern auch die Lesermeinung erfahren möchte. Eine schlichte Notenvergabe mit einem Klick hilft mir dabei wenig...



Beispielsweise steckt Ophelias mentale 'Gabe' noch in den Kinderschuhen und natürlich gefällt sie mir - sonst hätte ich sie nicht eingebracht. Ich war mir trotzdem nicht ganz sicher darin, wie weit ich damit gehen möchte. Ophelia wird (vermutlich) nie eine Heldin im klassischen Sinne werden, die über schwindelerregende Kräfte gebieten könnte, denn dann fiele ihr alles zu leicht, als dass es noch Spaß machen würde, sie zu schreiben. Dennoch... war die Idee mit dem mentalen Kurzschluss Eurer Meinung nach schlüssig genug dargelegt, um innerhalb des Scheibenwelt-Settings geschluckt zu werden? Oder hat bis jetzt nur deswegen niemand widersprochen, weil sonst alles so schön fluffig rosa und gemütlich war beim Lesen?



Das ist nur einer der Punkte, die mich zur Zeit beschäftigen, die ich aber ohne Feedback nicht klären kann. Und wie gesagt... ich schreibe ja bereits weiter. Es macht es schwieriger, den Faden weiterzuspinnen, wenn kein Widerspruch oder keine Hinweise kommen, wie "Mein Chara hätte aber ganz anders..." oder "Hast Du eigentlich auch daran gedacht, was passieren könnte, wenn..." Ophelia steht nicht allein für sich, sie wird auch weiter andere Figuren um sich herum beeinflussen und wer weiß, ob es in der nächsten Single nicht ausgerechnet Dich trifft? Bist Du dann auch noch einverstanden, mit dem Rahmen? :evilgrin:



Also... ich wäre wirklich dankbar für inhaltliche Hinweise! :)

Von Magane

27.04.2012 14:49

Okay, zur mentalen Gabe habe ich tatsächlich eine Meinung...

Egal wie toll sie ist, übertreibs nicht.

Sowas stelle ich mir als sehr schwer kontrollierbar vor, deswegen sollte es noch eine ganze Weile dauern bis Ophelia sie auch nur ansatzweise beherrscht. Außerdem gibt es ja auch niemanden, der wirklich helfen könnte - abgesehen von den Vampiren, denen man bekanntlich nicht trauen kann - deswegen könnte ich mir vorstellen, dass der Weg nicht so ganz leicht wird.

Die Entwicklung dieser Gabe halte ich für eine logische Folge aus dem Kontakt zu den diversen Vampiren und halte sie für absolut mit der Welt vereinbar.



Meinen Char fand ich schön dargestellt und ich war dir sehr dankbar für die Einbindung in den Schreibprozess ohne dabei großartig zu spoilern. Bin gerne wieder dabei ;)

Von Ophelia Ziegenberger

27.04.2012 15:12

:) Vielen Dank für deine ausformulierte Rückmeldung, Maggie! Ich weiß, dass Du nun ausgerechnet sonst aus Prinzip nicht in dieser Art schreibst und weiß das sehr zu schätzen. Darüber hinaus ist deine Antwort obendrein sehr hilfreich. :)

Von Magane

27.04.2012 15:21

Genau, ich hasse es Kritik schriftlich zu zementieren ;)

Nochwas: Meditationstechniken wären bestimmt hilfreich, um die Stimmen auszusperren bzw. einzelne zuzulassen. Und falls Ophelia reden möchte kann sie gerne rederzeit auf einen Tee vorbei kommen (also oben, im Keller gibts keinen Tee).

Von Ophelia Ziegenberger

27.04.2012 15:23

:D Die Idee gefällt mir... müsste sich nur eine Überschneidung des Wissens darum finden/konstruieren lassen, weswegen Ophelia ausgerechnet mit Maggie darüber reden wollen sollte - wo sie Bregs schon verzweifelt aus dem Wege geht, der das gleiche versucht. ;-) Aber das können wir ja auch gerne per AIM ausführen. ^^

Von Mina von Nachtschatten

27.04.2012 17:35

Vielleicht noch als Ergänzung zu dem, was Maggie schon geschrieben hat: Dadurch, dass Ophelias Entwicklung nicht nur aus den einzelnen Singles für sich bekannt ist, sondern du die Geschichten auch immer so gut untereinander verknüpfst, wird der ganze mentale Aspekt an sich sehr schlüssig. Ich bin beim lesen auch gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass das irgendwie nicht zum Scheibenwelthintergrund passen könnte.



Ansonsten hast du mein feedback ja schon und mir ist auch beim besten Willen nichts eingefallen, was ich dem noch hätte hinzufügen können. Aber wenn du für dich noch ganz konkrete Fragen zu einzelnen Punkten hast, dann stell sie doch einfach auf der Spielwiese zur Debatte oder, wenn es für die Weiterentwicklung nicht zu sehr spoilern sollte, irgendwo hier ins Forum. Mir zumindest würde das auf jeden Fall helfen, dir nochmal eine konstruktive Rückmeldung zu Einzelheiten zu geben, die einem als Leser vielleicht gar nicht als "diskussionsbedürftig" (blödes Wort, aber du weißt bestimmt, was ich meine) erschienen sind. Denn noch unter dem Eindruck dieses 15-Punkte-Epos - was soll man da noch weiter sagen als: Tolle Single - beide Daumen hoch! :doppeld:

Von Braggasch Goldwart

28.04.2012 12:46

Hmpf... da hab ich so groß Töne gespukt und eigentlich ist alles, was ich sagen kann: Episch. Und: Seine 15 Punkte wert, hätts nich anders vergeben. ^^



Aber viel hilft dir das nicht, deshalb versuche ich es mal mit Kritik indem ich nicht all die vielen Punkte aufzähle, die mir gefallen haben, sondern die paar wenigen, die nicht ganz so meinem Geschmack entsprachen.

Manche Dinge hätte man tatsächlich kürzer gestalten können. Zwar war es in vielen Bereichen angenehm, dass Gedanken, gefühle und Situationen von mehreren Seiten beleuchtet wurden, doch hin und wieder wäre weniger mehr gewesen. Wenn man es auf elegante Weise schafft, die Dinge kurz zu halten, sind sie einprägsamer und beeindruckender, so meine Erfahrung.

Die Mentalen "Fähigkeiten", wie du sie nennst, hätten meiner Meinung nach nicht sein müssen. Sie passen in die Welt und passen auch in die Geschichte, aber ich fand Ophelias Charakter gerade dadurch, dass sie nicht über solche Dinge verfügt, sehr viel sympatischer.



Tja... hmm... ich fürchte mehr Negativ kann ich wirklich nicht sagen...

Von Ophelia Ziegenberger

28.04.2012 13:17

Danke auch Euch beiden! :)



@ Mina: Vielleicht sind diese einzelnen Punkte, die noch verbleiben, wirklich besser im direkten Gespräch/als Spielewiesendiskussion aufgehoben. So, wie es Euch schwerfällt, etwas als Kritik herauszuheben, so fällt es mir schwer, die richtigen Fragen zu stellen. Was mir noch einfiele, wäre nur auch wieder so schwammig, wie z. B. ob es mir gelungen ist, die anwachsende Diskrepanz und die Veränderungen innerhalb Ophelias herauszuarbeiten, die durch ihre Spezialisierung entstehen? Dass sie zwar der Gutmensch bleibt, der sie von jeher war, dass das Spiel mit ihren Rollen aber dennoch zunehmend ihre Integrität unterwandert? Wobei Integrität da auch der falsche Begriff ist... schwierig... :zombie:



@ Braggasch: ^^ Wie gesagt, die Idee gefiel mir so gut und schien mir selber auch nachvollziehbar genug hergeleitet, um sie umzusetzen. Aber Du hast Recht, wenn Du sagst, dass das nicht hätte sein müssen und Du bist nicht allein mit deinen Zweifeln. ;-) Für mich selber war das auch bisher das Besondere an Ophelia, dass sie eben keinerlei Sonderfähigkeiten besaß. Aber irgendwie... ich hatte einfach immer mehr Lust darauf, etwas zu verändern. Vielleicht wird ihr diese Fähigkeit in weiter Zukunft einmal nutzen. Aber erst einmal bedeutet sie in allen meinen Planungen nur zusätzliche Schwierigkeiten, denn ich sehe das genauso wie Maggie, wenn sie denkt, dass so etwas ohne Hilfe in absehbarer Zeit fast unkontrollierbar sein müsste. ;-)



Dein Einwand, dass manche Dinge kürzer gefasst mehr hätten wirken können, ist eigentlich das, worauf ich gewartet hätte. Tatsächlich ist das von jeher meine größte Schreibschwäche und ich habe etliche Szenen drastisch gekürzt, bevor die Single online ging. ^^ Was denkst Du, wie ich jetzt schon am Verzweifeln darüber bin, dass allein die Timeline für die Fortsetzung danach aussieht, als wenn diese doppelt so lang werden müsste?!?!? :ugly: Ich bin für jeden Tipp dankbar, wie man sich effektiv kurz fasst! :love:

Von Braggasch Goldwart

29.04.2012 18:41

Tipps wie man kurz fasst? Habe ich leider keine...



Allerdings habe ich so meine Erfahrungen im Skriptkürzen - und da mach ich auch nicht vor Lessing, Sartre oder Shakespear halt. ;) Was ich also anbieten könnte, wäre, dass du mir manche Stellen vor Abgabe zum drüberschauen freistellst und ich sie so radikal kürze, dass selbst die von dir nach einem Schreikrampf wieder vorgenommenen Verlängerungen es nicht bis über die Hälfte der ursprüngliches Textmasse schaffen... :bete:

Von Ophelia Ziegenberger

29.04.2012 19:24

:doppeld: *LOL* Also... äh... jain? Ich weiß nicht... ähm... vielen Dank für das Angebot und so? *räusper* Ich werde dieses überaus großzügige Angebot... wohlwollend in Erwägung ziehen. Wenn es soweit ist...



...und ich keinen anderen Ausweg mehr aus der hoffnungslosen Textfalle finden kann. :evilgrin:



EDIT: Wobei... vielleicht wäre es tatsächlich mal eine gute Übung. In Geduld bin ich ja spätestens nach der letzten Single gut im Training. Selbstbeherrschung stünde noch aus. ^^



*sieht sich wirklich schon beim Schreikrampf* :D

Von Magane

29.04.2012 22:04

Das wäre auf jeden Fall für die Pokey zu überlegen ;)

Von Sebulon, Sohn des Samax

26.07.2012 13:09

Ich bin tendenziell auf Braggaschs Linie: Du hast über weite Strecken kleinschrittig erzählt, fast schon im Jane-Austen-Stil. Ich musste mich durch die Geschichte durchkämpfen, weil sie mich erst spät gepackt bekam. Insofern ist es schon gut, dass ich nicht zum mitbewerten kam, als sie online stand. Ich hätte mir damit nicht leicht getan. (Für meinen Geschmack gibt es beispielsweise zu viele Frisuren & Falten in Kleidern, zu viele dem Leser noch einmal erzählte Gedanken, und zu wenig vorantreibende Handlung.) Spannend wurde sie für mich ab den 80er Seiten, dann aber richtig.

Lieblingsszene: 2 Kilo Heiz- und Lichtmittel, portioniert und geschützt verpackt! *g*

Was die Gedankensprech-Fähigkeit anbelangt, ... ich hab damit kein Problem, sehe sie eher als zusätzliches Handicap für Ophelia, darum ist sie für mich völlig ok. Wenn sie in Richtung Allwissenheit driften würde, was ich nicht befürchte, tja dann ...



Die Geschichte fertig zu lesen hat übrigens, das wird dich überraschen, in mir einen Schreibstau gelöst. Demnächst gibt es also eine kurze Geschichte, wenig Gedanken und viel Dialog (wie so häufig aus meiner Tastatur zu lesen). ^^

Dafür noch einmal ausdrücklichen Dank, Ophelia! :)

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