Mit dem gerechtfertigten Entsetzen eines Rekruten, der seinen Ausbilder fürchtet, muss Fynn Düstergut feststellen, dass seine Dienstmarke spurlos verschwunden ist.Mit der Hilfe von Boris Machtnichts versucht er nun, die Spur der Diebe aufzunehmen, um unangenehmen Strafen zu entkommen, und gerät dabei vor so manchem Rätsel.(Diese Geschichte spielt in der Rekrutenzeit von Fynn Düstergut und Boris Machtnichts, mit Rogi Feinstich als Ausbilderin.)
Dafür vergebene Note: 10
Ohne wirklich darüber nachzudenken griff Boris Machtnichts nach der Dienstmarke, die seine Zugehörigkeit zur Wache Ankh-Morpork zeigte. Er zog sie mit einer instinktiven Feierlichkeit zu sich und hob sie vorsichtig hoch. Beinahe liebkosend strichen die Fingerkuppen über das alte Metall, ehe er es gut sichtbar an dem rechten Hemdsärmel befestigte. Sich das Haar vergeblich glattstreichend, zupfte er noch einmal an seiner Oberbekleidung, rückte den arg zerkratzten, weil oft polierten Brustharnisch zurecht und zog den Gürtel dann enger, mit den Füßen aufstampfend, um den Sitz der Stiefel zu prüfen. Dann schloss er seinen Spind, wandte sich ab und verließ die Umkleide der Rekruten.
Jedenfalls wollte er sie verlassen, doch sah er sich plötzlich einem Problem konfrontiert.
Das Problem war ein anderer junger Mann mit kurzen, dunkelblonden Haaren und blaugrauen Augen. Kleiner als Boris, vielleicht nur ein wenig schlanker als er, und nur ein Jahr jünger, war Fynn Düstergut nur kurz vor ihm in der Wache eingetreten und sozusagen Mitrekrut von Boris, und früherer Quälgeist seiner Kindheit. Gerade jedoch keuchte Fynn bloß, rang nach Luft, pumpte Sauerstoff in seine Lungen und schob sich dann an Boris vorbei. Dieser, überrascht ob dessen plötzlichem Erscheinen, reagierte nicht wirklich, sondern sah ihm bloß nach, ehe Neugierde sich regte und er dem jungen Mann zu den Spinden zurück folgte.
"Hallo, Fynn", grüßte er ihn, während der Angesprochene bloß seinen Spind aufriss und mit hektischen Bewegungen darin wühlte. Er schien ihn nicht wirklich gehört zu haben, denn keine Antwort kam, lediglich eine alte, löchrige Socke segelte an Boris Kopf vorbei, was ihn dazu veranlasste, sich ein wenig zu ducken und einen Schritt zur Seite zu tun.
"Äh... hallo, Fynn", wiederholte Boris mit einer Geduld, die manche beineideten und viele in den Wahnsinn trieb.
"Hallo Boris, keine Zeit, muss was suchen!", kam es dann endlich von Fynn, welcher nur kurz den Blick hob, um ihn gehetzt anzusehen. Etwas verwirrt nahm Boris diesen Blick zur Kenntnis.
"Hast Du was verloren?" Er kratzte sich am Kinn, ehe er leicht den Kopf zur Seite neigte, als der Gegenpart der Socke herangeflogen kam, um nur Zentimeter an seinem Ohr vorbeizuschwirren und auf Sebastianus' Spind zu landen. Überrascht hob Boris beide Augenbrauen, als Fynn laut auffluchte, aufsprang und seinen Spind wieder zu schlug, ohne sich um das Paar Socken zu kümmern, von denen die erste vor Iljas Spind lag.
"Das darf doch nicht wahr sein!", rief Fynn aus, sich die Haare raufend, ehe er sich zu Boris wandte und ihn an den Schultern packte. "Hast Du vielleicht meine Dienstmarke gesehen? Wenn mich die Feinstich ohne Dienstmarke sieht, wird sie mich wieder die Aborte schrubben lassen!"
"Du hast deine Dienstmarke verloren? Aber gestern hattest Du sie doch noch", sagte Boris, nicht ohne Mitleid. Selbst er mochte die Arbeit in den Wacheaborten nicht. Manche Rekruten waren wirklich Dreckspatzen, wenn er es vorsichtig ausdrückte. Man konnte auch von einer Scheißarbeit sprechen, wenn man es genau nahm.
"Ich weiß doch! Ich habe sie auch wie immer in den Spind gelegt, aber als Ich mich vor einer halben Stunde umgezogen habe, konnte Ich sie nicht finden. Sie ist weg! Und ausgerechnet
heute, wo sie doch schon eh schlechte Laune hat!" Fynn stöhnte auf und wischte sich mit der rechten Hand über die Augen, und auch hier konnte Boris den jungen Mann und, in seinen Augen, guten Jugendfreund
[1] verstehen. Feldwebel Rogi Feinstich, Ausbilderin der Rekruten in GRUND, war für ihre regide Handhabung der angehenden Wächter bekannt. Wo man schon nicht erwarten konnte, dass Helm und Harnisch glänzten
[2], so hatte doch wenigstens alles an seinem Platz zu sein und ordentlich auszusehen. Und wer schlampig war... Nun, dann gab es die Aborte, denn die hatten immer eine Reinigung nötig, oder die Archive, die zwar sauberer, dafür staubiger und ungleich langweiliger waren, und damit bei den Rekruten genauso beliebt wie ein juckender Hautausschlag.
"Ich kann dir ja suchen helfen", bot er deswegen auch sogleich an, denn die Dienstmarke, so seine Überlegung, musste ja noch irgendwo im Wachhaus in der Kröselstraße sein. Wo denn sonst? Soweit er wusste, schlief Fynn hier. Boris selbst lebte noch bei seiner Mutter, auch wenn jene das lange Schweigen zwischen ihnen nur einmal mit den Worten unterbrochen hatte. Und da sagte sie, dass sie ihn hinauswerfen würde, sollte er auch nur einmal die Wache erwähnen, oder wie ein Tag in der Wache war, oder wie die Wächter waren und wie schön das Leben als Rekrut doch war.
"Ja, das kannst Du machen. Aber wir müssen uns beeilen, bevor gleich der Unterricht anfängt."
"Wie lange haben wir?"
"Noch etwa eine halbe Stunde, dann müssen wir da sein."
Beide jungen Männer sahen sich an, dann nickten beide und begangen, den gesamten Umkleideraum der Rekruten nach der Dienstmarke von Fynn zu durchsuchen. Selbst den eigenen Spind kramte Boris durch, auch wenn er diesen immer aufgeräumt hatte und sich ganz sicher war, das die Dienstmarke dort nicht drin sein konnte. Sie sahen in den Ecken nach, schoben die Spinde beiseite, um dahinter zu suchen, tasteten über den Spinden ab, wo sie nichts weiter fanden als Fynns alte Socke, doch sie fanden nichts. Gar nichts außer Wollmäusen und kleinen Spinnen. Letztendlich lehnten beide gegenüber an den Spinden, Fynn mit einem blassen Gesicht, Boris mit einem hochroten. Letzterer hob die Schultern, um sie dann wieder niedersacken zu lassen.
"Ich glaube, hier ist sie nicht", wagte er dann zu vermuten, was ein Stöhnen von Fynn auslöste, der sich die Hände vor das Gesicht legte und den Kopf schüttelte.
"Und wir müssen auch langsam los, sonst kommen wir zu spät", fügte Boris hinzu. Sein Gegenüber nahm die Hände fort und sah ihn entsetzt an.
"Sag dem Feldwebel doch einfach, Du hättest sie... irgendwo vergessen?", bot Boris als Ausweg an, doch Fynn schien nicht begeistert von diesem Vorschlag.
"Und wo soll Ich sie vergessen haben? Wenn Ich irgendein Lokal nenne, wird sie mir vorwerfen, dass sie schon lange gestohlen wurde. Sie wird mir nicht glauben, oder noch schlimmer, sie
wird mir glauben und mich drei Wochen lang die Aborte reinigen lassen!", klagte der junge Mann, schlug mit dem Hinterkopf gegen Weons Spind und sackte leicht zusammen. Dann aber straffte er die Schultern und schüttelte den Kopf. "Es bringt nichts, Ich
muss es ihr sagen." Er klang wenig hoffnungsvoll auf plötzliche Gnade oder Verständnis seitens der Igorina, und Boris konnte nichts anderes tun, als mitleidig zu nicken.
Der eine ging mit geknicktem Haupt, die Hände tief in den Taschen vergraben und das Gesicht voll von dunklen Vorahnungen verhangen, der andere mit hängenden Schultern, auch wenn dies Normalzustand bei ihm war. Die Treppe hinauf, schlurften sie den kurzen Gang hinunter bis zur Tür des Unterrichtsraumes, die noch offen stand. Wenigstens waren Fynn und Boris ob ihrer Suche nicht zu spät gekommen, und sie waren nicht einmal die Letzten.
"Ich hoffe, die Feinstich macht heute nicht den Unterricht...", flüsterte Fynn Boris zu, ehe er auf den Platz links neben Sebastianus Maxima zuging und sich sogleich auf den Stuhl setzte. Boris konnte nur zustimmen, ehe er sich in die Reihe dahinter zwischen Ron Wanderdüne und Agness Rotmantel begab. Kaum saß er, trafen auch schon die letzten zwei Rekruten ein. Kurz darauf schloss sich die Tür hinter Rogi Feinstich, die einen kurzen, prüfenden Blick umher warf und dann zum Tisch am Kopfende des Raumes ging, um sich dort hinzusetzen. Ein Klappern ertönte, als die Rekruten die kleinen Klapptische, die an den Stühlen befestigt waren, ausklappten, und dann ein Rascheln, als man Papier und Stift darauf ablegte.
"Guten Morgen, Rekruten!"
"Guten Morgen, Mä'äm!"
Mehr oder minder im Gleichklang erschallte der Gruß aus den Mündern der jungen Männer und der Frau. Nur zwei fielen aus der Reihe: Fynn, welcher den Gruß nur leise brummte und sich dann zu Sebastianus beugte, um ihm hektisch etwas in sein Ohr zu flüstern, und Boris, der wie immer etwas verspätet reagierte und dessen "Guten Morgen, Mä'äm!" wenige Momente später erklang, als die anderen Rekruten schon verstummt waren. Rogi hob ihre blonde Augenbraue, ehe sie Beide zusammenzog, die Augen schmälerte und mit einem Instinkt, den man wohl allen Feldwebeln und vor allem den Ausbildern zusprechen konnte, umherblickte.
"Alle find da?"
"Ja, Mä'äm!"
"Gut! Heute haben wir daf Thema Recht im Bereich der Durchfuchung, Beflagnahme und Feftnahme. Ftift und Papier da?" Erneut wurde der inspizierende Blick umhergeschickt, ehe Feinstich nickte und sich erhob, um mit einem Stück Kreide an der Tafel zu schreiben. Es kratzte leicht, und außer den üblichen Hintergrundgeräuschen
[3] blieb es auch still, bis die ausgesprochenen Worte schließlich auf der Tafel standen. Sich umdrehend, hob der Feldwebel das Kreidestück und deutete auf die Rekruten.
"Weif einer von euch, waf die Wächter von Ankh-Morpork bei Durchfuchungen, Beflagnahmungen und Feftnahmen tun dürfen und waf nicht?"
Erst, nachdem sie sich deutlich geräuspert hatte, hoben sich zögerlich die ersten Hände.
"Rekrut Machtnichtf?"
"Mä'äm, wir dürfen Dinge durchsuchen und Dinge beschlagnahmen und Leute festnehmen, Mä'äm!"
Feinstich sah sich schnell nach einer anderen Hand um, ohne mit der Wimper zu zucken.
"Ja, Rekrutin Rotmantel?"
"Wir dürfen bei dringendem Tatverdacht ein Haus, einen Karren, eine Tasche und überhaupt die privaten Besitztümer des Verdächtigen durchsuchen, Mä'äm!" Agness ließ die Hand sinken, nachdem sie geantwortet hatte, und lächelte breit, als Rogi nickte.
"Daf ift richtig. Und wann dürfen wir etwaf beflaknahmen?"
Erneut hoben sich nur wenige Hände. Rogi blickte umher, ehe sie bemerkte, dass Fynn noch immer mit Sebastianus tuschelte.
"Rekrut Düftergut, haft Du unf etwaf fu fagen? Wenn ja, dann teile ef unf bitte allen mit, wenn Du fo gütig wärft."
Fynn schreckte hoch, blickte Rogi erschrocken an und schluckte schwer. "Es... es ist nichts wichtiges, Mä'äm", haspelte er, ehe er auf seinem Stuhl zusammen schrumpfte und den Abort schon näher kommen sah.
Feldwebel Feinstich jedoch sagte zuerst nichts, nur ein strenger Blick traf Fynn, ehe sie sich wieder der gesamten Klasse zuwendete. "Alfo, Rekruten, wann dürfen wir etwaf..." Sie unterbrach sich und blickte erneut zu Fynn. Musterte ihn. Betrachtete ihn. Dann näherte sie sich ihm mit langsamen Schritten, während Fynn immer kleiner wurde. "Rekrut Düftergut, wo ift deine Dienftmarke?", kam dann die lauernde Frage aus dem Mund der Igorina.
"Äh..." Fynn sah sich kurz hilfesuchend um, ehe er dem Blick der verschieden farbigen Augen begegnete. Schwer schluckend, setzte er sich tapfer auf und holte dann tief Luft. "Ich habe meine... äh, Dienstmarke im Eimer vergessen, Mä'äm", log er, ohne Rot zu werden. Dass seine Sprechweise dabei stark an einen bestimmten Korporal der Wache erinnerte, war wohl eher Nebensache, denn dies passierte oft, wenn Feldwebel Feinstich jemanden mit einem von
diesen Blicken bedachte.
"Intereffant. Und wann genau haft Du deine Marke dort vergeffen?"
"Äh... Gestern nach meinem, äh, Tresendienst, Mä'äm."
Ein merkwürdiges Geräusch erklang. Es hörte sich an wie ein verschnupfter Klammerbär. Die Ursache erwies sich als Boris, welcher angestrengt und mit hochrotem Kopf auf seinen Tisch starrte. Rogi, welche sich nach dem Ursprung des Geräusches umgesehen hatte, betrachtete nun Boris mit einem nachdenklichen Blick. "Bift Du dir da ficher, Rekrut Düftergut?", hakte sie nochmals nach, wobei der scharfe Blick auf Machtnichts blieb.
Fynn folgte ihrem Blick und wurde kreidebleich, dann aber nahm er nochmals tief Luft. "Ja, Mä'äm."
"Pffschnkrr.."
"Rekrut Machtnichtf?"
Boris hob den Blick und sah die Igorina mit einer Mischung aus verzweifeltem Entsetzen und schuldigem Schrecken an, ehe er in sich zusammen sackte und einen Blick zu Fynn warf, der dies natürlich ebenfalls beobachtet hatte und sich nun stöhnend über die Augen wischte.
"Rekrut Machtnichtf, geh nach unten und hole Korporal Goldwart. Fag ihm, er foll den Unterricht fortfetfen. Rekrut Düftergut? Komm mit."
"Ja, Mä'äm." Boris erhob sich und lief unter dem wütenden Blick von Fynn aus dem Unterrichtsraum.
"Ja, Mä'äm." Fynn erhob sich nicht ganz so schnell, um hinter der Igorina ebenfalls den Raum zu verlassen.
"Du warteft hier auf Borif, dann kommt ihr beiden in mein Büro", sagte Rogi, als sie vor ihrem Büro stehen blieb. Dann ging sie hinein, um hinter sich die Tür zu schließen.
Während Fynn mit düsteren Gedanken und dunklen Vorahnungen vor dem Büro ausharrte, aus denen beunruhigende Geräusche drangen, eilte Boris mit langen Schritten die Treppe hinunter, um fast gegen eine andere Tür zu knallen: Die des Ausbilderbüros Nummer 3. Dagegen klopfend, wartete er aufgeregt und stürzte sich fast auf den erschrockenen Korporal Braggasch Goldwart, als jener die Tür öffnete.
"Korporal, Sör!", begrüßte Boris diesen, salutierend, noch bevor der Zwerg sich von seinem Schrecken erholt hatte.
"Oh... Hallo, äh, Rekrut", stammelte dieser, wie immer nervös. Der Blick huschte über Boris Gesicht, ehe er lächelte. "Was ist denn, äh, los?"
"Du sollst nach oben zum Unterrichtsraum und den Unterricht machen, Sör Korporal, Sör"; sagte Boris ernst und starrte dann gedankenverloren auf das blonde Haar des Zwerges. Dies geschah eigentlich ständig, wenn er dem Zwerg begegnete, denn es erinnerte ihn an irgendetwas, auch, wenn er noch immer nicht genau wusste, woran.
Braggasch schien unter der Musterung des Rekruten erneut nervös zu werden, dann aber nickte er und versuchte, sich an Boris vorbei zu schieben, wobei er ihm dabei mit beinahe schuldbewusstem Gesichtsausdruck Blicke zuwarf. Boris trat zurück, machte dem Zwerg Platz und zusammen gingen sie dann die Treppe hinauf in das erste Stockwerk des Wachhauses.
"Was, äh, steht denn heute auf, äh, dem Stundenplan?", fragte Braggasch, als sie das obere Ende erreicht hatten.
"Das Recht, Sör. Wir waren bei Beschlagnahmungen, Sör", antwortete Boris gewissenhaft. Sich umblickend, entdeckte er Fynn vor Rogis Büro stehend, und lächelte Braggasch dann breit an. "Viel Glück, Sör!"
Verwirrt nickend, ging Braggasch nach rechts ab und verschwand durch die Tür des Unterrichtsraumes, aus welchem laute Stimmen darauf hinwiesen, dass die Rekruten die kleine Unterbrechung genutzt hatten, um sich ausgiebig zu unterhalten. Boris indes gesellte sich zu Fynn und klopfte dann an der Bürotür an.
"Kommt rein."
"Du wirst schon sehen..." Die Stimme war schlicht. Ein wenig zu hell vielleicht, und leise geraunt, doch nicht herausstechend, nicht penetrant oder wunderschön anzuhören. In einem Chor würde solch eine Stimme nur durch ihre Schüchternheit herausstechen.
"Du wirst schon sehen, Fynn Düstergut..."
Zärtlich strichen schlanke Finger über das Metall der Dienstmarke, ehe die kleine Gestalt hochschreckte. Schritte ertönten, und die Person schob den glänzenden Gegenstand unter das Kissen des Bettes, auf dem sie saß. Ein Klopfen ertönte, eine Hand auf Holz, ein pochender Klang, dann erklang eine andere Stimme. Eine feste, bestimmende, laute Stimme.
"Emilia?"
Fynn warf Boris einen recht vorwurfsvollen Blick zu. Er hatte schon fast vergessen, dass der Andere nicht wirklich gut lügen konnte. Selbst wenn er nur daneben stand, während jemand eben dies versuchte, wurde der junge Mann puterrot im Gesicht, gepaart mit einem schuldbewussten Gesichtsausdruck. Die beiden standen nun im Büro des Abteilungsleiters, und während Boris versuchte, Fynns Blick auszuweichen, glitt sein eigener Blick wie immer, wenn er hier stand, zu dem Einmachglas. Dieses stellte jedem Rekruten vor die Frage, was sich wohl darin befand.
Bisher hatte Boris nie gefragt, was die Igorina dort aufbewahrte, und es war auch sehr zweifelhaft, ob er es jemals wagen würde.
Besagte Igorina saß hinter ihrem Schreibtisch und musterte die beiden Rekruten eine Weile, ehe sie sich aufsetzte und ihre Stimme hob. "Nun, Rekrut Düftergut? Rekrut Machtnichtf? Ich denke, fie beide haben mir etwaf fu fagen, nicht?" Scharf blickte sie die beiden nacheinander an, und unter ihrem Blick schrumpften Fynn und Boris in sich zusammen.
"Ich..."
"Und diefef mal die Wahrheit", kam es unüberhörbar von Rogi.
Schweigen war die Antwort, ehe Boris Fynn leicht anstieß. "Ich habe meine Dienstmarke verloren, Mä'äm", gestand er schließlich murmelnd und schluckte schwer an den Worten. "Ich habe sie gestern in meinen Spind gelegt, und heute Morgen war sie nicht mehr da."
"Und wiefo haft Du mir daf nicht gleich gefagt?", fragte Rogi, sich gerade aufsetzend.
"Ich hatte Angst, dass es Konsequenzen hat, Mä'äm", kam es zerknirscht von Fynn. "Und Ich dachte, dass Ich sie später noch finden würde."
"Nun, Du wirft fie auch finden müffen, Rekrut Düftergut", sagte die Igorina recht nachdrücklich. "Wenn Du fie in deinen Fpind gelegt haft - und Ich hoffe inftändig für dich, daff Du auch die Wahrheit fagft -, dann muff fie auch noch dort fein, aufer, fie wurde dir geftohlen. Und wer würde dir deine Dienftmarke ftehlen?"
"Bestimmt kein Rekrut", sagte Boris schnell. Als er die Blicke der anderen beiden auf sich ruhen sah, errötete er ein wenig, blinzelte dann aber entschlossen und holte tief Luft. "Warum sollte ein Rekrut einem anderen etwas stehlen?"
Rogi und Fynn wechselten einen Blick. Fynn zuckte mit den Schultern, er hatte keinen Ärger mit den anderen und wüsste auch nicht, wer außer Boris sich für etwaige Streiche hätte rächen sollen, und sowohl er als auch der Feldwebel trauten dem schlacksigen jungen Mann eine solche Tat nicht wirklich zu, die eine Strafe in den Aborten des Wachhauses nach sich ziehen würde.
"Fie muff auf jeden Fall gefunden werden, anfonften wirft Du eine Woche lang den Abort reinigen. Daff daf klar ift. Rekrut Machtnichtf?"
"Ja, Mä'äm?" Boris straffte, so weit es ging, die Schultern. Es klappte noch immer nicht ganz, hatte sich aber im Vergleich zu den ersten Versuchen schon etwas gebessert.
"Du wirft Rekrut Düftergut bei diefer Fache helfen. Wenn ein Rekrut fie genommen hat, erwarte Ich, daff mir der Name genannt wird. Ich kann nicht fulaffen, daff hier jemand einen Wächter beftiehlt und ihm damit abfichtlich Ärger einhandelt, und wenn ein Zivilift fie hat, ift daf noch flimmer. Ziviliften haben nicht mit Dienftmarken herumfurennen, daf gibt nur Ferereien. Wenn fie nicht in drei Tagen gefunden wurde, hat daf Konfequenfen. Und nun geht und fucht diefe Dienftmarke!"
Mit eingezogenen Köpfen verließen Fynn und Boris das Büro der Ausbilderin und schlossen die Tür hinter sich, tief ein- und ausatmend. Ein weiterer, recht vorwurfsvoller Blick wurde auf den hochgewachsenen Boris geworfen, ehe Fynn die Arme verschränkte und sich gegen das Treppengelände lehnte. Boris senkte den Blick und scharrte etwas mit den Füßen, ehe er versuchsweise ein Lächeln aufsetzte und die Schultern etwas hob.
"Sieh es positiv: Du hast ja Zeit bekommen, sie wieder zu finden."
"Aber sie ist ja nirgends! Irgendjemand muss sie geklaut haben, Ich habe sie auf jeden Fall in den Spind gelegt." Fynn hob beide Hände und schüttelte den Kopf, ehe er aufseufzte. "Hast Du gehört? Eine
ganze Woche diese Dreckslöcher putzen, und Ich wette mit dir, dass sie aufpassen wird, dass alles glänzt!"
"Du brauchst dir keine Sorgen machen, Fynn. Immerhin helfe Ich dir!"
Fynn blickte Boris scharf an und zuckte dann mit den Schultern. Das hilfsbereite Lächeln schien ihn nicht sehr aufzumuntern, und er bezweifelte stark, dass er da ohne Ärger wieder raus kam.
"Am besten, wir fragen erst mal die anderen...", murmelte er und wandte sich ab, um die Treppen hinunter in den Aufenthaltsraum zu gehen. Boris stand noch ein paar Sekunden unschlüssig auf dem Flur, dann warf er einen Blick zum Unterrichtsraum. Laute Rufe waren zu hören, und gewisse Geräusche, die darauf schließen ließen, dass schwere Gegenstände verrückt wurden. Dann aber verging ihm die Neugierde, und er machte sich daran, Fynn nachzulaufen.
"Hast Du schon dein Zimmer aufgeräumt, Emilia?"
"Ja, Mutter."
"Du weißt, was Ich von unaufgeräumten Zimmern halte, Emilia."
"Ja, Mutter."
"Ich schaue trotzdem lieber nach. Du weißt doch auch, dass eine Frau ordentlich sein muss!"
"Mutter, Ich habe aufgeräumt!"
"Emilia, davon könnte meine... nein, deine Zukunft abhängen! Frederic wird irgendwann den Stoffhandel seines Vaters übernehmen, und da musst Du den besten Eindruck machen. Er ist so ein prachtvoller junger Mann!"
"Ich finde ihn ätzend."
"Mach keine Scherze, Emilia. Und nun probier das Kleid an, das Ich für dich gekauft habe. Ich hoffe, Rot steht dir."
"Ich hasse Rot, Mutter!"
"Stell dich nicht so an, Mädchen. Du willst doch, dass deine Mutter stolz auf dich ist, oder? Du musst schön aussehen für Frederic, immerhin will er keine hässliche Frau."
"Mutter..."
"Ich hoffe, dir gefallen die passenden Schleifen. Das sollte dein Haar etwas aufbessern. Probier sie auch an, wenn es nicht passt, können wir alles noch umtauschen."
"..."Er hatte seine Dienstmarke mit nach Hause genommen. Er trug sie nun sicher in seiner Hosentasche, als er sich auf dem Weg zu dem Wachhaus an der Kröselstraße machte, und ständig befühlte er sie mit den Fingerkuppen, als wollte er sicher gehen, dass sie sich auch noch in der Hosentasche befand. Fynn und er hatten gestern noch ein paar andere Rekruten abgefangen und sie gefragt, ob sie vielleicht wussten, wo Fynns Dienstmarke war. Niemand wusste es, und die Laune war immer weiter gefallen, je weniger Rekruten übrig blieben, die sie noch hätten fragen können. Schließlich hatten Boris und Fynn für den Tag aufgegeben, und Boris hatte sich umgezogen und war nach Hause gegangen, während Fynn wie ein Haufen Elend im Aufenthaltsraum geblieben war und auch wie immer in der Wache geschlafen hatte. Es war leicht bewölkt und Feuchtigkeit lag in der Luft. Ein kühler Luftzug ließ Boris kurz frieren, dann aber erreichte er das Wachhaus und betrat es, um sofort in den Umkleideraum zu gehen.
Dort fand er auch schon Fynn vor, der gerade in die Uniform schlüpfte. Noch immer fehlte die Dienstmarke, wie Boris schnell bemerkte, und als Fynn den Blick hob und bloß den Kopf schüttelte, seufzte Boris. Er trat an seinen Spind, öffnete ihn und begann, sein Hemd auszuziehen.
"Keiner weiß, wer die Marke genommen haben könnte?", fragte er, obwohl er die Antwort schon wusste.
"Nein. Niemand. Und niemand hat etwas gesehen." Fynn fluchte leise, als er seinen Spind schloss und sich frustriert auf die Bank sinken ließ.
"Und jetzt?"
"Ich frage einfach noch einmal nach. Mehr kann man ja nicht machen, nicht?" Sich erhebend, seufzte er nochmals, um dann aus der Umkleide zu treten. Boris sah ihm nach, ehe er den Gürtel öffnete, die Hose auszog und dann in die aus schwarzem Stoff schlüpfte, die alle Rekruten anhatten.
"Äh..."
Boris hielt inne, in beiden Händen je ein Ende des Gürtels. Sich umwendend, sah er Korporal Goldwart an der noch offenen Tür der Umkleide. Er erschien recht nervös, noch nervöser als sonst. Boris hob langsam beide Augenbrauen, ehe er den Gürtel schloss, straff zog und salutierte. "Hallo, Korporal Braggasch, Sör!"
Braggasch zuckte leicht zusammen, als er Boris laute Begrüßung hörte, und strich sich dann durch den dünnen Bart, ehe er den Blick senkte, seine Füße betrachtete und sich dann räusperte. "Äh... Ich habe gehört, dass jemand, äh, eine Dienstmarke vermisst. Hast Du deine verloren?"
Boris schüttelte den Kopf und angelte nach seinem Hemd, welches ebenfalls Schwarz war. Die Farbe der Rekruten. "Nein, Sör. Fynn's Marke ist weg. Fynn Düstergut. Irgendwer hat sie wohl genommen, Sör", korrigierte er den Zwerg und streifte dabei das Hemd über den Kopf. Es glatt streichend, hob er dann den Blick und starrte einige Sekunden in die Augen des Korporals, der schnell das Gesicht abwandte und leicht schuldbewusst aussah. Boris stutzte, dann zuckte er mit den Schultern. Der Korporal würde nie einen Rekruten bestehlen.
"Also, äh, jemand hat sie gestohlen? Aber, äh, wer denn?"
"Das wissen wir nicht, Sör." Boris zögerte, den Brustharnisch in der Hand. Dann erhellte sich sein Gesicht, und er ging auf Braggasch zu. "Sör, weißt Du vielleicht, wer vorgestern Nacht Tresendienst hatte? Vielleicht haben die ja was bemerkt", fragte er ihn und sah ihn erwartungsvoll an.
"Äh, äh, nein, Ich meine, ja, schon", kam es von dem Zwerg, ehe er tief Luft holte und an Mechanik dachte. "Wenn Ich mich recht entsinne, hatten Aaron Sorgenvoll und Dugrin Stahldraht Dienst gehabt."
"Aaron und Dugrin?" Boris blinzelte, dann lächelte er dankbar. "Vielen Dank, Korporal Goldwart, Sör!"
"Nichts, äh, zu danken. Ich hoffe, es, äh, hilft dir."
"Bestimmt hilft es mir, Sör. Vielleicht wissen die, wer in der fraglichen Nacht hier war, Sör!"
Braggasch lächelte verlegen, strich sich erneut über den Bart und schob sich dann etwas zurück. Einerseits schien es vielversprechend, dass Boris eine solche Motivation bezüglich eines möglichen Diebstahls zeigte, aber manchmal war er auch einfach... nun,
zu motiviert, konnte man sagen. Und zu dankbar für die kleinsten Dinge, bei denen man ihm half. In einer Stadt wie Ankh-Morpork war das nicht normal, und man musste sich immer etwas an die Leute gewöhnen, die ein solches Verhalten an den Tag lagen, auch wenn Braggasch wohl ähnlich veranlagt war. "Ich werde dann mal wieder in mein, äh, Büro gehen. Wenn Du, äh, Hilfe brauchst, sag mir einfach, äh, Bescheid, ja?"
"Ja, Sör, danke Sör." Nachdem Braggasch hinter sich die Tür geschlossen hatte, wandte sich Boris wieder seinem Spind zu und legte den Brustharnisch an, setzte sich den Helm auf und brachte dann die Dienstmarke an seinem rechten Hemdsärmel an, ehe er seine normale Kleidung im Spind verstaute und jenen schloss. Dann hob Boris den Blick und verließ ebenfalls die Umkleide, nun besser gelaunt. Jetzt musste er nur noch Aaron und Dugrin finden.
Er fand die beiden Wächter im Aufenthaltsraum, wo Zwerg und Mensch sich gegenüber saßen. Aaron, dessen schwarzen Haare in alle Windrichtungen abstanden, saß etwas gebeugt auf seinem Stuhl, während Dugrin sich auf mehrere Kissen gesetzt hatte. Anscheinend erklärte der Zwerg dem Menschen gerade die Funktionsweise von Druckerpressen, während Aaron bloß unverständlich dreinschaute und etwas nervös an seiner Zigarette saugte.
"Entschuldigt bitte", sagte Boris und ging auf die beiden zu, um dann neben ihnen stehen zu bleiben. "Kann Ich euch vielleicht etwas fragen?"
Aaron zuckte leicht zusammen, während Dugrin den Blick hob und Boris musterte. Dann nickte er auf seine etwas ruppige Art. Boris und er kannten sich schon, und auch wenn die beiden unterschiedlicher nicht sein konnten, so verstand man sich wenigstens. "Was ist denn los?", fragte er ihn auch gleich, während Aaron, der ein wenig zurückhaltender war, Boris einen scheuen Blick zuwarf und schwieg.
"Ihr beiden hattet doch vor zwei Tagen Nachtdienst am Tresen, oder?" Boris sah beide kurz an, ehe er zu dem freien Stuhl schielte und sich dann langsam dort nieder ließ, mit einer Vorsicht, als würde er einen Einwand von den Beiden erwarten. Keiner kam, Boris setzte sich und die beiden anderen Rekruten nickten nach kurzem Nachdenken synchron.
"Ja, stimmt..."
"Hatten wir. Wieso?"
Da Aaron ständig seinem Blick auswich, wandte sich Boris, abgesehen von einigen höflich-hoffnungsvollen Blicken gen Aaron, nun gänzlich Dugrin zu. "Habt ihr vielleicht mitbekommen, wer da alles in der Wache war?"
"Hat das was mit Fynns Dienstmarke zu tun? Der hat uns gestern schon gefragt, aber wir haben sie nicht." Die Worte kamen sehr nachdrücklich von dem Zwerg, und das zaghafte Nicken von Aaron bestätigte seine Aussage.
"Ich wollte auch eigentlich nur fragen, ob ihr sonst wen gesehen habt", besänftigte Boris schnell, beide Hände hebend.
Aaron hob eine Augenbraue, ehe er Dugrin ansah. Der Rekrut hatte kaum etwas mit Boris zu tun gehabt und wusste daher nicht recht, was er von ihm halten sollte. Dugrin räusperte sich und zuckte dann mit den Schultern.
"Da war nicht viel los, um ehrlich zu sein. Die meisten waren ja im Eimer oder schon am schlafen, und es kamen auch nicht viele Leute rein."
"Weißt Du denn noch, wer alles da war?", fragte Boris, sich etwas aufsetzend.
"Ein Troll...", kam es etwas leise von Aaron, ehe er einen fragenden Blick zu Dugrin warf. "Keilstein, oder?"
"Ja, so hieß der. Einer von den Felsen bei den Schlachthäusern. Hatte sich über seinen Boss beschwert." Dugrin verzog die Mundwinkel, ehe er den Kopf schüttelte. "Da waren auch zwei Diebe aus den Schatten. Hatten sich nach einem unlizensierten Dieb erkundigt, aber der sitzt drüben am Pseudopolisplatz. Wie hießen die noch?"
"Gregor und Karl Beutelweg", antwortete Aaron und sah erneut kurz zu Boris, ehe jener den Blick erwidern konnte. "Und da war noch ein Mädchen."
"Eher eine junge Frau", korrigierte Dugrin und machte eine wegwerfende Handbewegung. "Nicht viel jünger als Du, Boris. Die war aber nicht lange da."
"Und wie hieß sie?", fragte Boris neugierig.
"Äh..." Dugrin sah zu Aaron, welcher auf den Boden starrte. Erst, als Dugrin sich räusperte, sah Aaron scheu auf. "Wie hieß nochmal das Mädchen?"
Aaron blickte ein wenig irritiert, ehe er den Blick abwandte und sich am Kinn kratzte. "Emilia, glaube Ich. Emilia Brandt."
"Emilia?" Der Name kam Boris bekannt vor. Nachdenklich klopfte er mit seinen Fingern auf seinem Oberschenkel. "War noch jemand da?"
"Nein, das waren alle." Dugrin grinste leicht, während Aaron nur mit den Schultern zuckte und wieder den Blick abwendete. Boris nickte und erhob sich, den Stuhl wieder an den Tisch schiebend.
"Danke schön, ihr beiden!" Und damit lief er auch schon aus dem Raum, die Tür hinter sich schließend.
Kühle Luft wehte Boris ins Gesicht, der eine Hand hob und den Helm abnahm, um sich kurz durch die Haare zu streichen. Er setzt den Helm wieder auf und blinzelte, sich umsehend. Er hatte das Wachhaus verlassen und sah sich nun dem Viehmarkt gegenüber. Die Schlachthäuser befanden sich auf der anderen Seite des großen Platzes, dem Wachhaus sozusagen gegenüber, und dort hoffte Boris, den Troll Keilstein zu finden, auch wenn es eher unwahrscheinlich war, dass jener die Dienstmarke eines Rekruten gestohlen hatte, besonders, wenn er es unbemerkt hätte tun müssen. Sicher konnte Boris sich jedoch nicht sein, und vielleicht hatte ja der Troll etwas mitbekommen, was den beiden Wächtern entgangen war.
Boris wandte sich nach links, bog dann nach rechts in die Bescheidene Straße ein, um jene hinunter zu wandern. Die Wolken hatten sich über der Stadt verdichtet, und es sah nach Regen aus, so wie es sich über den Köpfen und Dächern der Stadt verdunkelte und zusammen zog. Es dauerte nicht sehr lang, als Boris auch schon am Viehmarkt vorbei aus der Bescheidenen Straße in die Straße der Schlachthäuser marschierte und sich dann umsah. In dieser Gegend wohnten viele Trolle: Der Mangel an Nasen im Allgemeinen und Geruchsnerven im Besonderen erlaubten ihnen, sich hier niederzulassen, wo die Wohnungen
[4] recht billig waren. Zudem arbeiteten auch einige Trolle bei den Schlachtern, was einen weiteren Vorteil bot. Boris wich einigen Arbeitern aus, die Eimer voll von Dingen schleppten, die der junge Wächter nicht zu genau ansehen wollte, dann entdeckte er eine Gruppe von drei großen, kantigen Trollen, die er ansteuerte.
"Entschuldige bitte", ließ er sich vernehmen, was ihm die Aufmerksamkeit und die Blicke der dreien einbrachte.
"Ja?", grollte der größte von ihnen. Er war sehr dunkel. Er war sehr groß. Er war sehr... eindrucksvoll. Boris starrte ihn an, ehe er sich schnell zusammen riss.
"Kennt ihr den Troll Keilstein?"
Die drei Trolle sahen sich an. Hätten sie Augenbrauen gehabt, hätten sie sie sicherlich gehoben, und tatsächlich bewegte sich eine Flechte über den Augen des helleren Trolles. Der kleinste Troll machte ein Geräusch wie mehrere Kieselsteine, die zwischen zwei Steinplatten zerrieben wurden, dann wendeten sich alle drei wieder zu Boris, welcher den Drang unterdrückte, einen Schritt nach hinten zu tun.
"Warum Du wissen willst, und wer Du sein?", grollte der Dunkle den Wächter an.
"Ich bin Boris Machtnichts und... Äh, Ich wollte ihn nur etwas fragen", sagte Boris schnell. Er hoffte nur, dass Keilstein nicht so... groß und rau war, wie der Troll vor ihm. Aus irgendwelchen Gründen verspürte er nämlich ein unangenehmes Gefühl in dessen Nähe, als befände sich sein Magen etwa drei Schritt hinter seinem Körper. "Er war vor zwei Tagen im Wachhaus in der Kröselstraße, und Ich wollte wissen, ob er vielleicht etwas, äh, bemerkt hatte, weil in der Nacht nämlich etwas gestohlen wurde..."
"Ich nichts gestohlen haben!", ereiferte sich der Helle Troll und trat bedrohlich näher. "Ich nur zur Wache gegangen, weil Boss gegeben hat zu wenig Lohn!"
"Das behaupte Ich auch gar nicht", kam es abwehrend von Boris, der noch immer starr auf der Stelle stand, die er sich unglücklicher Weise zu Anfang des Gespräches ausgesucht hatte. "Ich..."
"Andere ihren Arbeitern geben mehr Lohn, viel mehr! Mindestens..." Keilstein hob seine Hände und zählte lautlos, ehe er fünf Finger hoch hielt. "Eine Menge!" Er nickte, und der Dunkle und der Kleine grollten zustimmend.
"Das..." Boris blinzelte, ehe er aufhörte, sich zusammen zu kauern. "Das ist ja unfair!"
"Ja, das unfair sein", stimmte Keilstein und blickte verärgert zu einem der Schlachthäuser. "Schiefer auch meint, zu wenig!"
Der große, dunkle Troll nickte nachdrücklich und stampfte auf. Boris wankte kurz unter der Erschütterung und holte dann tief Luft.
"Wieso verlangt ihr denn nicht mehr Lohn?", fragte Boris, gleichsam empört und auch neugierig. Seine Angst vor den großen Gestalten war verschwunden, und er sah abwechselnd von Keilstein, Schiefer und dem kleinen Troll.
"Boss meint, er uns feuern wird, wenn wir aufhören mit Arbeit oder wir verlangen mehr Geld", regte sich Letzterer auf und knirschte mit seinem Kiefer.
"Schluff Recht haben. Wir keinen Dschob, wenn wir verlangen mehr." Keilstein klackerte leicht, als er den Kopf schüttelte.
"Warum geht ihr dann nicht zu den anderen Schlachtern, die mehr bezahlen? Vielleicht brauchen sie noch Arbeiter", schlug Boris, hilfsbereit wie er nun einmal ist, vor und deutete dabei zu den anderen Häusern, aus deren Ställen das Grunzen, Muhen und Blöken vieler Tiere erklang. Einige Momente nachdenklicher Stille trat ein, ehe Schiefer ein Gesicht machte, welches hoffentlich Freude zum Ausdruck bringen sollte; bei Trollen wusste man nie so genau. Er schlug Boris auf die Schulter.
"Recht Du haben, kleiner Mann! Wir zu anderen können gehen", sagte er erfreut und half Boris auch wieder auf die Beine, der sich die schmerzende Schulter rieb. "Komm, wir sofort gehen zu Boss und sagen, wir kündigen werden!"
Zustimmendes Klackern erklang, und die drei Trolle wandten sich um, hielten jedoch inne, als Boris ihnen nach rief.
"Äh, Moment! Meine Frage..."
"Frage?" Keilstein sah ihn kurz an, ehe er sich donnernd die Hand vor die Stirn klatschte. Er zupfte die dekorative Flechte zurecht, ehe er nickte. "Ja, Ich waren in Wache, aber Ich nichts bemerkt habe. Du fragen können aber jederzeit, kleiner Mann." Er grinste schief
[5] und winkte dann. "Wir uns vielleicht ja sehen. Bis dann!"
Wieder in der Wache nickte Boris Ilja und Agness zu, die zusammen den Tresendienst übernahmen. Dann wandte er sich ab, um durch die Tür in den Aufenthaltsraum zu gehen.
"Au!"
"Argh...!"
"Entschuldige!"
"Boris?"
"Fynn?"
Nach einer kurzen, hektischen Stille, in der jeder für sich etwas verlegen die eigenen Extremitäten ordnete und sich aufrappelte, wechselten die beiden Wächter einen Blick.
"Hast Du etwas herausgefunden?", fragte Boris den anderen schließlich und trat beiseite, sodass Fynn den Aufenthaltsraum verlassen und die Tür hinter sich schließen konnte.
"Nein, nicht wirklich. Ich habe nochmal ein paar Wächter gefragt und auch nochmal den Aufenthaltsraum, den Schlafsaal und den Umkleideraum bis auf die letzte Ecke durchsucht, aber nirgends eine Spur von meiner Marke." Er klang zerknirscht, ehe er mit nur wenig Hoffnung zu Boris sah. "Und? Hast Du was herausgefunden?"
"Ich habe mit Korporal Braggasch geredet", berichtete Boris sofort, während die beiden zum Eingangsbereich schlenderten. Das Wachhaus wieder verlassend, lehnten sie sich gegen die Fassade.
"Kam was dabei raus?" Fynn klang neugierig.
"Aaron und Dugrin hatten Nachtdienst, als deine Marke fort ging. Ich hab sie gefragt, wer alles da war."
"Ja, und? Wer war da?" Fynn klang ungeduldig, und er starrte den anderen an. Boris fühlte sich etwas unwohl unter diesem Blick, sodass er ein wenig herumdruckste.
"Naja, ein Troll namens Keilstein. Er wohnt drüben bei den Schlachthäusern, aber er hat nichts gesehen, Ich war gerade fragen. Dann waren da noch die Brüder Beutelweg, Gregor und Karl. Das sind zwei lizensierte Diebe, aber Ich war noch nicht bei der Diebesgilde."
Fynn hob beide Augenbrauen. "Das hört sich doch gut an! Vielleicht haben die beiden die Marke, oder sie haben etwas gesehen." Fynn klang zufrieden mit sich. Das man ihn als ehemaligen unlizensierten Dieb erkennen könnte, glaubte er nicht. Er hob den Blick. Die Wolkendecke zog sich immer dichter zusammen, und überhaupt nahte der Abend... Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. "Sollen wir die beiden morgen befragen?"
"Das können wir machen, wir haben ja noch zwei Tage", bejahte Boris den Vorschlag. "Ich habe gleich auch Unterricht, und es sieht mir ziemlich nach Regen aus..."
"Ja, Regen", stimmte Fynn erleichtert mit ein und zog sich wieder durch die Tür in das Wachhaus zurück. "Ich glaube, Ron hat etwas für uns gekocht. Kommst Du mit?"
"Gibt es auch Kakao?"
"Natürlich."
"Dann ja."
"Morgen ist es soweit!"
Emilia seufzte, ehe sie den Blick hob und ihre Mutter ansah. Der Blick war nicht erfreut. Sie hielt gar nichts von der bevorstehenden Verlobung, auf die ihre Mutter sich schon die ganze Zeit freute. Als würde sie heiraten, und nicht ihre Tochter.
"Und das Kleid steht dir wirklich gut. Er wird dich entzückend finden. Ich hoffe nur für dich, dass Du es nicht vermasselst."
"Mutter", versuchte die junge Frau es erneut. "Mutter, Ich finde diesen Frederic absch..."
"Ja, er ist so ein feiner junger Mann! Und er erbt den Stoffhandel, Du brauchst dir also nie Sorgen zu machen, Kleines!"
"Aber Mutter...!"
"Und Ich hoffe, Du wirst mich nicht vergessen, Emilia. Ich bin deine Mutter, und ohne mich hättest Du nie einen solch passenden Mann gefunden."
Emilia wandte sich ab und ging in ihr Zimmer. Sie glaubte nicht, dass diese es wirklich bemerkte. Alles, was sie im Kopf hatte, war diese für Emilia unerwünschte Verlobung. Frederic hier, Frederic dort, verdammt, sie hasste diesen Mann, dieser schmierige, hässliche Mann! Die Tür hinter sich schließend, lief Emilia schnell zu ihrem Bett, um unter ihr Kissen zu fassen und die metallene Marke hervor zu holen.
"Es ist alles nur deine Schuld", kam es fast schon bösartig von ihren Lippen, ehe sie die Dienstmarke umklammerte. Sie machte Anstalten, sie gegen die Wand zu werfen, zügelte sich dann aber und fasste so fest um sie, dass ihre Finger weiß wurden. "Alles nur deine Schuld, Fynn Düstergut..." Und das würde er bereuen.Am Ende hatten sie sich voneinander verabschiedet. Das Essen war schmackhaft, was auf Dankbarkeit gestoßen war, der Kakao warm, und die Stimmung am Ende recht gut zwischen den Rekruten, doch dann hatte sich die kleine Runde aufgelöst, und Boris war nach Hause gegangen. Nach einer ruhigen Nacht war er nun wieder in der Umkleide und setzte seinen Helm auf, während Fynn noch mit seinem Hemd kämpfte.
"Wie viel Zeit haben wir?"
Boris wandte sich um, hob eine Augenbraue und kaute dann nachdenklich auf seiner Unterlippe. "Etwa drei Stunden, dann haben wir Armbrusttraining", gab er schließlich zur Antwort und reichte Fynn dann seinen Helm. Jenen setzte dieser auch gleich auf, erhob sich und blickte entschlossen drein.
"Dann los. Wir müssen uns ein wenig beeilen, sonst gibt es Ärger, wenn wir nicht rechtzeitig da sind."
Ihr Ziel war die Alchemistenstraße, wo sich die Diebesgilde befand. Dort erhofften sie sich Informationen über die Brüder Beutelweg, insbesondere über deren Aufenthaltsort. Durch den Gang laufend, betraten sie den Eingangsbereich der Wache und wollten gerade die Tür nach draußen passieren, als...
"Rekruten!"
Die Igorina hätte jeden meinen können. Immerhin waren sie nicht die einzigen Wächter, die sich gerade im Eingangsbereich befanden. Dennoch blieben die Beiden stehen und drehten sich um, um mit schuldbewussten Gesichtern Feldwebel Feinstich entgegen zu blicken, auch wenn sie nicht genau wussten,
warum genau sie sich schuldig fühlten. Immerhin hatten sie ja noch den ganzen Tag Zeit, und auch den morgigen. Dennoch, irgendetwas an der Tonlage der Igorina veranlasste sie, sich schuldig zu fühlen.
Rogi Feinstich blickte recht ungeduldig drein, ehe sie die Beiden zu sich nickte und sich umwandte, um die Rekruten in das Ausbildungsbüro Nummer Eins zu führen. Dieses war im Moment unbesetzt und verschaffte ein wenig Privatsphäre, genug jedenfalls, um ungestört reden zu können. Und es ersparte die Mühsal, die Treppen hinauf zu laufen.
"Ihr braucht keine Angft fu haben", sagte der Feldwebel dann, kaum dass die Tür geschlossen wurde. "Ich wollte nur wiffen, wie ef mit der Dienftmarke auffaut. Habt ihr fie fon gefunden?"
"Nein, Mä'äm", antwortete Fynn schnell und straffte dann leicht die Schultern. "Aber wir haben eine Spur!"
"Eine Fpur?" Die Igorina hob ihre ungleichen Augenbrauen und musterte Fynn skeptisch.
"Ja, Mä'äm."
"Und hättet ihr die Güte mir fu verraten, um waf für eine Fpur ef fich handelt?"
"Wir befragen gerade die Zivilisten, die in der Wache waren, als die Marke verschwunden ist, Mä'äm", sagte Boris, noch bevor Fynn zu einer Antwort ansetzen konnte. "Es waren nämlich auch zwei Lizensierte von der Diebesgilde da, vielleicht haben die sie ja mitgehen lassen. Oder sie wissen, wer sie gestohlen hat, Mä'äm."
Vielleicht bildete er es sich nur ein. Es war nur kurz zu sehen, und bei der Igorina war er sich nur selten sicher, was ihre Gedanken anging, aber für einen Moment blitzte etwas wie Zufriedenheit in den beiden so unterschiedlichen Augen. Und noch bevor er wusste, was er davon halten sollte, war es weg.
"Nun", meinte sie gezogen, und musterte beide Rekruten mit scharfem Blick. "Dann will Ich mal hoffen, daff ihr die Dienftmarke auch wirklich findet. Anfonften wifft ihr ja, waf euch erwartet."
Sie wandte sich um und verließ das Büro, was Fynn den Anlass gab, endlich aufzuatmen.
"Lass uns lieber los gehen. Je eher Ich die verdammte Marke wieder habe, desto besser."
Boris nickte, und gemeinsam verließen sie erst das Büro, und dann das Wachhaus.
Das Wetter hatte sich beruhigt. Wo gestern noch regengraue Wolken den Tag verdüsterten, strahlte nun die Sonne, auch wenn es noch immer empfindlich kalt war. Die Beiden stapften durch den Dreck der Straßen, die Ulmenstraße hoch in Richtung Stadtkern. Es dauerte etwas, bis sie endlich die Billige Straße erreichten, am alten Postamt vorbei waren und den Patrizierpalast erblickten, den sie rechts hinter sich ließen. Ein böiger Wind wehte ihnen entgegen, und der Geruch von Pulver Nummer 1, verbranntem Holz und andere Dinge, die zu viel Kontakt mit Explosionen und Feuer pflegten, drang in ihre Nasen und ließ Boris kurz husten.
"Haben die Alchemisten schon wieder ihr Dach in die Luft gesprengt?", kam es von Fynn, der die Stirn runzelte.
"Ja, vor fünf Tagen. Ah, schau, sie bauen es gerade wieder auf!" Boris ausgestreckter Zeigefinger deutete auf ein arg ramponiertes Gebäude, auf dem Bauarbeiter zu sehen waren. Das Dach, welches sie gerade in Stand setzten, war nur aus billigen, leichten Materialien, denn alle drei Monate ging es in die Luft, wenn irgendeiner der Alchemisten sein Experiment nicht unter Kontrolle hatte. Hier und dort lagen noch immer verkohlte Holzteile, und vor dem Gebäude glitzerte es auf den Pflastersteinen. Glasscherben, vermuteten die Beiden, doch zum Glück war die Alchemistengilde nicht ihr Ziel, sondern die Diebesgilde, die sich direkt am Anfang der Alchemistenstraße befand. Nun, das stimmte nicht ganz.
Eigentlich befand sich das Gebäude noch auf dem Vorplatz des Palastes, an der Abzweigung des Drehwärtigen Breiten Weges, zählte jedoch zu den Gebäuden, die eine Hausnummer der Alchemistenstraße besaßen. Boris konnte es egal sein. Mit den schönen, hohen Säulen, dem hellen Marmor, die Verzierungen und all dem Stuck sah das Hauptquartier der Diebesgilde eher wie das Anwesen eines reichen Politikers aus statt dunkel und räuberisch, wie man es bei einem Haufen Dieben erwarten könnte. Allein der leblose Körper oben an der Wetterfahne verriet, dass hier nicht nur schwer reiche Leute lebten. Obwohl manche ja schon etwas beiseite gelegt hatten.
"Ist das nicht Leopold "Neunfinger" Josten?", fragte Boris, die Augen schmälernd.
"Eher Vierfinger, wenn Du mich fragst." Fynn verzog die Mundwinkel, als der Wind drehte und die Leiche sich wie gewünscht und mit einem leisen Quietschen anpasste, um die korrekte Windrichtung anzuzeigen. Einige Momente starrten die beiden fasziniert und entsetzt zu dem Korpus, dann schüttelte Fynn sich und wandte sich zu Boris.
"Gregor und Karl Beutelweg, oder?"
"Ja..." Boris brauchte etwas länger, bis er den Blick auf Fynn richten konnte. Es war immer wieder eine Überraschung, wen man alles auf dem Dach der Diebesgilde sehen konnte. "Sollen wir fragen gehen?"
"Wofür sind wir denn sonst hier?" Fynn verdrehte die Augen, ehe er zum Tor schritt und dagegen klopfte. Es dauerte nicht lang, ehe sich eine Klappe auf Höhe der Augen öffnete, und zwei von tiefen Schatten gezierte Augen hinaus lugten. Das Gesicht dazu war etwas verdreckt, und eine Kapuze bedeckte Stirn und Haare.
"Ja?", schnarrte es, und die Augen schmälerten sich leicht misstrauisch.
"Stadtwache Ankh-Morpork. Wir wollen mit Gregor Beutelweg und Karl Beutelweg sprechen!" Fynn stieß Boris an, vorzutreten, und als das Licht auf seine Dienstmarke fiel, hörte man ein leises Fluchen von der Gestalt.
"Wächter, he? Was is'n los? Die sin' lizensiert, ha'm nie die Quoten überschritt'n!"
Fynns Schlagstock hinderte die Gestalt, die Klappe wieder zu schließen, und nach einem kurzen Kampf drückte der Wächter die Klappe auch schon wieder gänzlich auf. "Ich will mit den beiden reden, das ist eine Angelegenheit der Wache!"
"Die sin' nich' hier, verdammt! Nu' lass los!" Erneut versuchte die Gestalt, die Klappe am Tor zu schließen. Und schaffte es auch schließlich.
"Mist!" Fynn stampfte auf, schlug gegen das Tor und wandte sich dann zu Boris, welcher unschlüssig die Klappe anstarrte. "Und was jetzt?"
"Ich habe keine Ahnung." Boris zuckte mit den Schultern. "Das ist Gildengelände. Dort gelten Gildenregeln. Wir könnten ja hier warten, bis die beiden durch das Tor kommen?"
"Aber wir wissen doch gar nicht, ob die beiden überhaupt da drin sind, und wenn sie es nicht sind, wissen wir nicht, wann sie wieder hierher kommen!"
"Hallo, kleiner Mann!"
Fynn zuckte merklich zusammen, als er an Boris vorbei zu dem großen, hellen Troll starrte. Die Flechte über dem einen Auge hob sich, als Keilstein dem Blick des Rekruten begegnete. Boris drehte sich etwas entspannter um, um dann zu lächeln.
"Hallo, Herr Keilstein!"
"Du kennst den?" Das Zischen, welches wohl ein Flüstern sein sollte, war wohl auch noch ein paar Meter weiter gut zu hören. Boris wandte sich strahlend zu Fynn um.
"Das ist Keilstein. Der Troll, von dem Ich dir erzählt habe." Keilstein nickte Fynn zu, der den Troll musterte. Er sah noch immer leicht misstrauisch zu der massigen Gestalt, die wenig vertrauensvoll anmutete, und Keilstein erwiderte nicht minder misstrauisch dem Blick, ehe er fast schon freundschaftlich zu Boris sah.
"Du haben Probleme mit Tür hier? Ich haben gehört, Du wollen rein."
"Sie lassen uns nicht rein." Boris senkte den Kopf und hob beide Hände, doch Fynn, welcher immer wieder von Boris zu Keilstein geschaut hatte, hatte eine Idee, und ein spitzbübisches, fest entschlossenes Lächeln lag nun auf seinen Lippen.
"Kannst Du uns vielleicht helfen, Herr Keilstein?", fragte er also den Troll. Dieser jedoch sah erst zu Boris, welcher erstaunt zu Fynn sah, welcher wiederum Boris einen scharfen Blick zuwarf. Boris zuckte mit den Schultern und nickte dann schließlich, etwas widerwillig, dem Troll zu.
"Ich euch helfen können", sagte Keilstein dann grollend, trat an das Tor und hob etwas großes mit Fingern dran hoch, um ziemlich kräftig gegen den Eingang der Diebesgilde zu klopfen. Es erstaunte beide Wächter, dass das Tor nicht unter den Schlägen zerbrach.
"
Was is' denn no..." Schlagartig verstummend, überdachte die zwielichtige Gestalt die Situation schnell. Es ist eine Sache, zwei halbstarke junge Wächter abzuweisen, eine völlig andere jedoch, einen etwa 243 cm hohe, 973 kg schweren Troll daran zu hindern, sich den Eintritt zu verschaffen, den er sich anscheinend wünscht.
"Du lassen diese kleinen Männer rein, Mann!", blaffte Keilstein los, hob die Faust und schien alles in allem recht entschlossen, jeden Einwand sofort im Keim zu ersticken. Und es half. Bemerkenswert schnell klappte die Klappe zu, und dann wurde der Riegel entfernt, um das Tor zu öffnen.
"Das is' Androhung von Gewalt, jawoll! Weiß gar nich', warum Ich mir das gefall'n lass'n soll, werd' mich beschwer'n, jawoll..."
Das Gelände betretend, trat Fynn, Boris hinterher ziehend, auf die geduckte Gestalt zu. "Wir wollen mit Gregor und Karl Beutelweg sprechen!"
"Sie mit Gregor und Karl Beutelweg sprechen wollen!" Die Worte des Trolles, der den beiden gefolgt war, schienen aus irgendwelchen Gründen die volle Aufmerksamkeit des Diebes auf sich zu ziehen. Vielleicht lag es ja auch an den eindrucksvollen Gesten, die Keilstein einsetzte, um seinen Worten mehr Ausdruck zu verleihen.
"Und zwar sofort"
"Sofort, Ich sagen!"
"Es ist nämlich sehr wichtig!"
"Es seien wichtig viel!"
"Ja ja
ja, verdammich, Ich hol' sie ja scho', Ich geh' ja scho', bin scho' unterwegs!"
"Du dich auch besser beeilen! Du schnell sie holen!" Keilstein lief anscheinend gerade warm, ließ seine mineralischen Muskeln spielen und richtete sich zu voller Größe auf, was den Dieb dazu veranlasste, die Beine in die Hand zu nehmen und so schnell es ging auf das Gildengebäude zu rennen, wobei er unentwegt und von Herzen fluchte. Fynn sah sehr zufrieden aus, während Boris unangenehm berührt auf seine Füße starrte.
"Ähm... Danke, Herr Keilstein", meinte er dann. "Du hast uns sehr geholfen."
Keilstein schwoll die steinerne Brust, blinzelte stolz und lächelte dann. Hoffentlich. "Ich euch noch helfen sollen? Ich kann bringen Diebe zu Reden gut, ihr solltet wissen."
Fynn setzte dazu an, begeistert einzustimmen, und Boris hob zeitgleich die Stimme, um abzulehnen.
"Ja, ger-"
"Nein, aber da-"
Sie stoppten, sahen sich an und fechteten einen kurzen, wenn auch blickintensiven Kampf aus. Schließlich seufzte Boris, welcher in solchen Dingen oft verlor.
"Ja, gerne, wenn es dir nichts ausmacht." Fynn grinste und blickte dann zum Gildenhaus, woraufhin auch Boris und, etwas später, der Troll seinem Blick folgten. Durch eine Seitentür kam der kleine, untersetzte Dieb, zeigte auf die kleine Gruppe und verschwand dann eiligst wieder hinter festen Mauern. Die beiden anderen Männer betrachteten erst die Wächter und dann, wesentlich länger, den Troll, ehe sie sich langsam näherten. Der Ältere der beiden war groß gewachsen, größer noch als Boris, und schlank wie eine Tanne. Unrasiert, mit dunklen Ringen unter den Augen, hatte er einen etwas herunter gekommenen Anzug an, die Hände tief in die Hosentaschen vergraben, und sein Gang war vornübergebeugt, schleichend und schlurfend, den Kopf tief zwischen abwehrend gehobenen Schultern gezogen. Das Haar war hellbraun, lang, fransig und so fettig, dass man leicht etwas darin hätte frittieren können. Der jüngere war das genaue Gegenteil. Klein und gedrungen, war der zweite Dieb kräftig gebaut. Dicke Muskeln spielten unter einer Haut, die glatt und gepflegt war wie ein frisch gewaschener Babypopo, die kleinen Augen blitzten wach und aufmerksam, und er ging mit gehobenem Haupt und selbstsicheren Schritten voraus. Borstiges, dunkles Haar, kurz geschnitten, bedeckte den Schädel, und etwas Listiges lag in seiner Mimik.
"Wer will uns sprechen?" Es ist die schnarrende, laute Stimme des Kurzen, die als erstes erklang. Abschätzig musterte er Keilstein, welcher ihn grimmig anblickte, dann richtete er seinen Blick auf Fynn und Boris.
"Wir wollen mit euch sprechen. Karl und Gregor Beutelweg, oder? Mein Name ist Düstergut, und das ist Machtnichts. Wir beide sind von der Wache."
Die beiden ungleichen Brüder wechselten einen scheelen Blick. Dann sahen sie nacheinander die beiden Rekruten an.
"Ich bin Karl", schnarrte der Kurze, zeigte dann auf den Langen. "Und das ist mein Bruder Gregor. Wir sind die Beutelwegs. Was wollen zwei Wächter von uns? Wir sind ehrliche Diebe!"
"Sie mit euch sprechen wollen, also ihr mit ihnen sprechen!"
Die Blicke von vier Paar Augen lagen nun auf Keilstein, welcher Gefallen an seiner Rolle gefunden hatte. Fynn bereute nun leicht, ihn darum gebeten zu haben, ihnen weiterhin Unterstützung zu liefern, und schloss kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, grinste Karl breit, während Gregor noch immer nichtssagend und übernächtigt dreinschaute.
"Äh..." Fynn räusperte sich kurz, ehe er die Schultern straffte. "Wir wollen euch nur ein paar Fragen stellen. Reine Routine. Ja... also, wart ihr beiden vor zwei Tagen im Wachhaus an der Kröselstraße?"
"Ihr dort waren?"
Gregor beobachtete mit milder Neugier den großen Troll, Karl jedoch schien Keilstein nun keine Beachtung mehr zu schenken.
"Ja, wir waren da. Wir haben uns über einen dreckigen Dieb beschwert."
"Aber ihr seid doch auch Diebe", warf Boris ein.
"Ihr Diebe sein!"
"Wir sind aber ehrliche Diebe und haben uns über einen dreckigen, unlizensierten Dieb beschwert." Gregor zog die Nase leicht kraus, ehe er Karl leicht anstieß. Jener ließ eine Hand in seine Hosentasche wandern und fischte eine dünne, selbst gerollte Zigarette heraus, um sie dem anderen zu reichen. Ein leicht süßlicher Geruch verbreitete sich, als der Lange sich das Kraut ansteckte und dann daran zog. Den Rauch inhalierend, schloss Gregor für einige Sekunden die Augen, öffnete sie dann aber wieder und betrachtete dann, etwas wacher erscheinend, die beiden Rekruten. Es war klar, dass sie logen. Kein Dieb würde zu den Wächtern gehen, um sich über einen unlizensierten Dieb zu beschweren, außer der unlizensierte Dieb befand sich in den Zellen der Wachhäuser, mehr zu seinem Schutz als zum Schutze der Bürger. Jedermann wusste, wie die Gilde mit unlizensierten Dieben umging.
Unter den Blicken der Diebe schluckte Boris. Fynn jedoch ließ sich nicht beirren.
"Nun, Ich will ehrlich sein. An diesem Abend ist etwas gestohlen worden, und Ich-"
"Wir haben es nicht." Die Stimme von Gregor war dunkel, rauchig und träge. Sich am stoppeligen Kinn kratzend, was ein raues Geräusch verursachte, blinzelte er kurz und nahm noch einen Zug von dem Kraut. "Wir hatten die Marke genommen. Aber als wir als wir hier angekommen waren, war sie weg."
Fynn war sprachlos. Auch Boris fehlten die Worte. Ein Schaben ertönte: Keilstein rieb seine Hände aneinander.
"Ihr also Wache bestohlen?", grollte er und trat an den Beiden vorbei, um sich vor den Dieben aufzubauen. Gregor hob eine Augenbraue, während Karl seine Muskeln spielen ließ. Dies schien Fynn wieder ins Hier und Jetzt zu holen, und er legte schnell eine Hand auf den massigen Unterarm des Trolles.
"Keilstein, äh, es ist schon gut!", sagte er eilig und versuchte, den Troll von den Dieben weg zu schieben. Hätte dieser nicht die Bemühungen als solche erkannt und wäre er nicht freiwillig zurück getreten, wäre es wohl ein sehr aussichtsloses Unterfangen gewesen.
"Ihr nicht wollen dass Ich zerschlagen diese Diebe?"
"
Nein! Ich meine, äh, nein, wir müssen sie ja noch befragen. Äh, Boris?"
Der Angesprochene hatte mit offenem Mund der Szene beigestanden, und als er seinen Namen hörte, zuckte er leicht zusammen. Dann blinzelte er mehrmals und schien dann langsam zu begreifen, was von ihm verlangt wurde.
"Herr Keilstein?"
Der Blick des Trolls wandte sich nur langsam zu Boris. Der Ausdruck von freudiger Gewaltbereitschaft gegenüber den beiden Diebe wich einer freundlicheren Mimik, die fast schon freundschaftliche Ausmaße annahm, und für ein paar Momente ließ der Troll auch seine geballten Fäuste sinken. "Ja, kleiner Mann?"
"Ich glaube, wir schaffen das jetzt auch alleine, Herr Keilstein. Danke für deine Hilfe." Boris wand sich einen Augenblick unter dem nun fragenden Blick, dann atmete er erleichtert ein, als Keilstein nickte.
"Wenn kleiner Wächter sagen, nicht brauchen Keilstein mehr, dann alles in Ordnung." Er warf den Dieben noch einen finalen, misstrauischen Blick zu, klopfte Boris dann, vorsichtiger, auf die Schulter und nickte Fynn auch noch zu, ehe er sich umwand und durch das Tor das Gildengelände verließ. Doch ehe er sich gänzlich aus dem Staub machte, drehte er sich noch einmal um und winkte Boris zu. "Wenn Du brauchen starken Helfer, Du mich fragen, ja!", grollte er hilfsbereit, dann verschwand er auch schon in Richtung des Viehmarktes.
Sichtlich entspannter wandten sich Boris und Fynn um, nachdem sie die massige Gestalt aus den Augen verloren hatten.
"Können wir wieder rein? Es ist frisch hier draußen." Karl deutete mit dem Daumen hinter sich auf das Gildengebäude und sah die beiden amüsiert an, zwinkernd, während Gregor nachdenklich weiter an der Zigarette sog und den Rauch durch die Nase blies.
"Nein, noch einen Augenblick", warf Boris schnell ein, bevor die Beiden sich umwenden konnten, und hob einen Finger. "Wenn ihr die Marke gestohlen habt, warum haben wir keine Quittung bekommen?"
"Und warum habt ihr überhaupt eine Dienstmarke gestohlen?", hakte Fynn nach.
"Und wie habt ihr sie verloren?" Boris wackelte etwas unsicher mit dem Finger vor Karls Nase, zog ihn jedoch schnell weg, als jener anfing, mit der Stirn zu runzeln.
"Erstens war es ein privater Auftrag. Das hat schon alles seine Richtigkeit, dass nicht ihr die Quittung bekommen habt. Man sagte uns, wir sollen die Marke nehmen und sie euch geben, wenn ihr zu uns kommt. Und Zweitens, wir haben sie nicht verloren. Wir glauben, man hat sie uns gestohlen."
"Wer würde Diebe bestehlen?" Fynn hob ungläubig die Augenbrauen. "Und vor allem: Wer hat euch beauftragt?"
"Ich habe keine Ahnung, wer die Marke genommen hat. Aber was das andere angeht, warum fragt ihr nicht in der Wache nach?" Karl grinste, stieß dann Gregor an und nickte den beiden Wächtern zu. "Wenn das alles war, gehen wir jetzt, ja?"
"Ich verstehe das immer noch nicht. Ich meine, wer sollte die beiden beauftragt haben? Ich meine, ein Wächter? Und wer hat denn nun die Marke?" Fynn rang einen Moment mit den Händen, während die von Machtnichts tief in den Hosentaschen vergraben waren. Benannter Rekrut zuckte mit den Schultern und blickte zum Wachhaus, welches nicht weit von den beiden entfernt aufragte.
"Es muss jemand gewesen sein, der in der Nacht dort war. Aber der Troll war es nicht, und Dugrin und Aaron haben auch nichts von irgendwelchen anderen Wächtern gesagt."
Erneut zuckte Boris mit den Schultern, während sich langsam Falten auf der Stirn bildeten. Er hatte irgend etwas vergessen. Aber was?
"Ich wette, sie haben uns angelogen. Aber es wäre ja nicht sehr gut, zuzugeben, dass sie selbst bestohlen wurden."
"Besser, als ohne Quittung etwas zu stehlen, oder?"
Fynn blickte zu Boris, dann verfinsterte sich sein Gesicht. Durch die Tür betraten sie nacheinander das Wachhaus, Fynn stampfend, Boris latschend. "Sie haben sie also doch! Wir müssen morgen
sofort da hin! Wir nehmen am besten Apatit mit, und Du holst noch diesen Keilstein, und wir stürmen diese verdammte Diebesgilde, bis sie endlich meine Mar-"
"Und? Habt ihr fie?"
Fynn stoppte abrupt, was dazu führte, dass Boris, sich noch immer darum bemühend, sich daran zu erinnern, was er vergessen hatte, gegen ihn prallte. Das Strammstehen und Salutieren wurde Finn dadurch erschwert, und die Verwirrung beider führte zu kurzer, aber intensiver Unruhe, wem welcher Arm denn nun gehörte. Feldwebel Feinstich betrachtete dieses Chaos, rollte mit den Augen, schwieg aber sonst und versuchte, nicht allzu deprimiert auszusehen.
"Habt ihr die Marke nun?", wiederholte sie die Frage dann, als Fynn und Boris endlich erfolgreich salutiert hatten, und stemmte die Hände in die Hüften, mit allen vier Daumen ungeduldig trommelnd.
"Äh..." Der alarmierte Blick von Düstergut flog gen Machtnichts, der diesen auffing, betroffen schluckte und den Mund öffnete. Auch das heftige Kopfschütteln des anderen Rekruten hielt den armen Boris nicht davon ab, die vernichtende Wahrheit zu offenbaren.
"Nein, Mä'äm."
Stille folgte, in der beide jungen Männer sich unter den eindringlichen Blicken des Feldwebels wanden. Rogi hob die Augenbrauen, ehe sie sie zusammenzog. Die tiefe Furche zwischen den Brauen verlieh ihrem Blick etwas arg bedrohliches, und nahm somit auch die Aufmerksamkeit der Rekruten in Anspruch, sodass keinem der beiden, weder Fynn noch Boris, die kurze Ratlosigkeit in den verschiedenfarbigen Augen auffiel.
"Ihr habt fie nicht?", wiederholte die Igorina dann, betont langsam und mit bohrendem Blick.
"Nein, Mä'äm!", kam es von Fynn, fast kläglich.
"Ich dachte, ihr habt bei den Dieben gefragt. Warum alfo habt ihr fie nicht?" Die Stimme hebend, reckte Rogi das Kinn. Die Daumen trommelten noch schneller, fast hektisch, auf die eigene Hüfte, dann löste sie die Hände und verschränkte sie dafür vor der Brust.
"...aber, Mä'äm, wir waren ja da, aber sie haben gesagt, dass sie sie nicht hätten..."
"...ja, sagten sie, aber Ich glaube, sie haben sie, also wollen wir später mit Apatit..."
"...und sie sagten, wir sollen unsere Vorgesetzten deswegen fragen, auch wenn Ich es nicht verstehe, Mä'äm..."
"...wenn Apapit ihnen Druck macht, sagen sie sicher die Wahrheit, Feldwebel..."
"...und Ich glaube, jemand anderes hat sie, die Diebe meinten, dass sie sie ja genommen hätten..."
"...gleich morgen früh, Feldwebel, keine Sorge, wir pressen es aus ihnen heraus..."
"...also muss jemand die Diebe bestohlen haben,
nachdem sie aus der Wache waren, oder noch in der Wache..."
"...sie haben die Marke noch, Mä'äm!"
"...sie hatten die Marke nicht, Mä'äm!"
Verstummend, tauschten Boris und Fynn einen Blick aus. Erneut wollten beide loslegen, doch Feldwebel Feinstich hob schnell beide Hände, um eben dies zu verhindern.
"Halt, halt... wollt ihr mir gerade verfuchen fu fagen, daff die Diebe die Marke nicht gehabt hatten?" Der skeptische Tonfall der Igorina ließ die jungen Rekruten aufhorchen, und während sich Boris noch fragte, was das nun zu bedeuten hatte, holte Fynn Luft und weitete ungläubig die Augen.
"Soll das heißen, dass die Beutelwegs etwa...?", setzte er an, doch Rogi unterbrach ihn.
"Fie hatten Recht, Düftergut."
"Aber wieso sollte jemand aus der Wache die Diebesgilde beauftragen, meine Dienstmarke zu stehlen?" Fynn hob die Augenbrauen, immer noch verwirrt klingend.
"Ich habe fie beauftragt, Rekrut. Ef follte ein Teft fein, ob Du und Machtnichtf im Ftande feid, einen kleinen Fall fu löfen." Feinstich seufzte, ehe sie resolut in die Hände klatschte. "Ich weif fwar nicht, waf paffiert ift, aber anfeinend ift der Teft fu einem richtigen Fall geworden", sagte sie ernst, sah Fynn und Boris durchdringend an und begann, auf und ab zu laufen. "Irgendjemand läuft da draufen mit einer Dienftmarke der Wache herum! Machtnichtf, wer war zur Tatfeit allef in der Wache?"
"Die Rekruten Sorgenvoll und, äh, Stahldraht, Mä'äm. Außerdem der Troll Keilstein und die Diebe Gregor und Karl Beutelweg." Boris zögerte sichtlich, ehe er sich an der Nase kratzte und angestrengt nachdachte. Die Stirn runzelnd, verengte er die Augen und fixierte die Spitzen seiner Stiefel mit dem Blick. "Ich glaube, da war noch jemand da, Mä'äm, aber..."
"Waf, aber, Machtnichtf? Wer war noch da?"
Fynn sah Boris ebenfalls erstaunt an, dem noch immer nicht einfallen wollte, was genau er vergessen hatte. Er war sich sicher, dass Aaron und Dugrim noch jemanden erwähnt hatten.
"Es... es war, glaube Ich..."
"Emilia!"
Das Kleid, dass sie trug, war Rot. Sie betrachtete sich im Spiegel, drehte sich leicht, fasste an die furchtbar kitschigen roten Schleifen, die ihre Mutter ihr aufgedrängt hatte. Sie hasste es. Sie hasste dieses Kleid, diese abscheuliche Farbe, und noch viel mehr hasste sie den Umstand, wofür sie es tragen musste.
"Emilia, wir müssen uns beeilen! Nun komm schon raus, mein Kind!" Die Stimme ihrer Mutter drang störend durch die Tür zu ihrem Zimmer und ließ Emilia seufzen.
"Gleich, Mutter."
"Emilia, wenn wir zu spät kommen, wird das keinen guten Eindruck auf dich machen! Frederic wird sicherlich keine junge Dame haben wollen, die sich immerzu verspä-"
"Ja, Mutter! Ich sagte, Ich komme gleich!"
Dass sie sogar ihre Stimme heben musste, machte sie nur noch zorniger. Herumwirbelnd, stapfte sie durch den kleinen Raum und versuchte, sich zu beruhigen. Sie wollte diesen schmierigen Mann nicht haben, doch niemand hörte ihr zu. Die Augen schließend, ballte sie ihre Hände zu Fäusten, dann holte sie mehrmals tief Atem und ging zu ihrem schmalen Bett. Unter dem Bett befand sich ihr Holzkästchen, mit den wenigen Schätzen, die sie besaß, und dieses holte sie nun mit leicht zittrigen Händen hervor, um es zu öffnen. Die Dienstmarke glänzte leicht in ihrer Hand, als sie sich aufrichtete, und nachdem sie es eine Zeit lang betrachtete, hob sie es an und schob es unter ihr Kleid. Dann sah sie nochmals zu dem Kästchen. Sollte sie..?
Aber sie ließ das gefaltete Papier liegen."Emilia Brandt." Fynn wiederholte den von Boris genannten Namen, wie bei der Verkostung eines Gerichts, welches man seit alten Kindertagen nicht mehr gegessen hatte. Das Rezept ist gleich, doch der Geschmack hat etwas Altehrhaftes, ein Beigeschmack der langen Zeit, in der man darauf verzichtet hatte. Es ist bekannt, fast zu bekannt, und doch erinnert man sich nicht gleich an jene Zeit, in der man noch jeden Tag damit in Kontakt getreten war.
"Kommt dir der Name auch so bekannt vor?" Boris hob die Hand, strich sich durch das borstige Haar und sah den anderen Rekruten fragend an. Fynn nickte, konnte aber, genau wie Boris, nicht sagen, woher er den Namen denn kennt. Eine alte Erinnerung. Es liegt einem auf die Zunge, aber man kann es nicht in Worte fassen. Doch bevor die beiden in grüblerisches Schweigen versinken konnten, unterbrach die Igorina Fynn und Boris, mit der Zunge schnalzend.
"Ihr folltet vielleicht etwaf fneller darauf kommen, wer diefe Emilia ift! Wer weif, waf fie fon allef angeftellt hat." Sie sah ernst von einem zum anderen, ehe sie eine zügige Geste mit der rechten Hand machte. "Und daf ihr mir diefe Marke endlich findet! Irgendeinen Grund muff fie doch gehabt haben, daff fie fie ftiehlt!"
Der Kakao wollte einfach nicht schmecken. Die beiden Rekruten saßen nun fast eine halbe Stunde vor ihren Bechern, und starrten betrübt und nachdenklich in den inzwischen kalten Inhalt. Boris hatte die Stirn kraus gezogen, Fynn die Augenbrauen so tief, dass eine steile Falte dazwischen zu sehen war. Ab und an unterbrachen sie die Stille, indem sie ihren Becher über den Tisch schoben oder zwischen den Händen nervös drehten.
"Mir will einfach nicht einfallen, woher Ich diesen Namen kenne", murrte Fynn schließlich entnervt, und hob den Becher an die Lippen, nur um diese dann zu verziehen. Kalt wollte der Kakao einfach nicht schmecken, weswegen er sich erhob und ihn ausgoß. "Das einzige, was klar ist, ist, dass wir beide sie irgendwoher kennen."
"Und das bedeutet, es muss jemand sein, den wir von früher kennen", fügte Boris hinzu und seufzte, weil er es für notwendig hielt, zu seufzen. Manche Situationen verlangen einen tiefen Seufzer.
"Jemand, der uns wohl auch kannte. Oder zumindest mich, dass sie ausgerechnet meine Marke klaut." Fynn setzte sich wieder gegenüber von Boris, und stützte sein Kinn auf seine Hände.
"Vielleicht hat sie ja auch in unserer Nähe gewohnt. In der Grubenstraße, oder in der Ulmenstraße."
"Oder am Buttermarkt."
"Warst Du nicht in einer Bande?" Boris neigte leicht den Kopf, während sich sein Gesicht vor Anstrengung verzieht. "Irgendwas mit Hamstern..."
"Die Affenstraßen-Gorillas. Aber da war keine Emilia Brandt."
"Brandt?"
Beide hoben ruckartig den Kopf, als eine Stimme an der Tür erklang. Diese gehörte zu einem anderen Rekruten, der etwa im selben Alter wie Boris und Fynn war. Sebastianus Maxima hatte die Kantine betreten, und hob seine Augenbrauen, als er sich den fragenden Gesichtern von Fynn und Boris gegenüber sah. Fynn sah zu Boris. Der sah nur wenig später zu Fynn, und beide schienen den selben Gedanken zu haben.
"Du kennst den Namen?" Fynn klang lauernd. Wie ein Raubtier, sprungbereit, um sich auf die Beute zu stürzen, die in diesem Fall dringend benötigte Information war. Sebastianus kratzte sich am Kinn, ehe er nickte und zum Topf ging, in dem der Kakao warm gehalten wurde.
"Natürlich kenne Ich die Brandts. Erinnerst Du dich nicht mehr? Die wohnten doch in der Tonstraße. Die Kleine, wie hieß sie noch gleich, hing doch immer an unseren Fersen..." Mit der Kelle goß sich der große, junge Mann Kakao in einen Becher.
"Emilia?" Boris erhob sich halb, während er erneut einen Blick mit Fynn wechselte. Sebastianus wandte sich den beiden zu, ehe er erneut nickte.
"Ja, genau! Emilia hieß sie. Die mit den komischen Zöpfchen, Du weißt schon, die aussahen wie... wie Schnecken oder so-" Er unterbrach sich, und runzelte verwirrt die Stirn, als die beiden anderen Rekruten so plötzlich von ihren Stühlen sprangen und aus der Kantine hasteten. "Merkwürdig", kommentierte er dieses Verhalten, ehe er mit den breiten Schultern zuckte und ebenfalls die Kantine verließ.
"Emilia Brandt aus der Tonstraße!" Fynn keuchte, als er um die Ecke wetzte. Boris trampelte schnaufend hinter ihm her, während er versuchte, mit dem aufgeregten Fynn Schritt zu halten.
"War... das nicht die... die immer daneben... stand?" Er rang nach Atem und ruderte mit den Armen in der Hoffnung, dass es ihn schneller machen würde. Sie rannten den Steinbruchweg hinauf, zwischen den Passanten entlang. Hin und wieder fluchte jemand, wenn einer der Beiden nicht schnell genug reagierte und jemanden anrempelte.
"Kein Wunder, dass Ich sie komplett vergessen hatte! Total unauffällig!" Fynn bremste ab, ehe er sich nach links wandte und in die Tonstraße einbog. Er blieb schlagartig stehen, und sah nach hinten, zu Boris, der mit knallrotem Gesicht endlich aufholte und neben ihm zum Stehen kam, hechelnd nach Luft schnappend.
"Wieso... sollte sie... Marke?" Er rang nach Atem, und presste eine Hand in die Seite. Der Sprint hierher kam unerwartet, und er bereute, den Kakao nicht getrunken zu haben, als Durst ihn überkam.
"Woher soll Ich das wissen! Immerhin haben wir nie wirklich geredet. Sie war einfach nur... da." Düstergut machte eine vage Geste, ehe er sich umsah. Die Häuser waren mehrstöckig und dicht zusammen gedrängt, die Straße an sich eher schmal, mit Kopfsteinpflaster ausgelegt und nur mäßig gefegt worden. Irgendwo schloss sich eine Tür, und von einem Hof war Kinderlärm zu hören, aber im Gegensatz zum Steinbruchweg war hier keine Menschenseele zu sehen. Die Hast von vorhin, als ihnen endlich eingefallen war, wer Emilia ist, flaute langsam aber sicher ab, und sie sahen sich leicht ahnungslos um.
"Weißt Du noch, wo sie wohnt?" Boris schüttelte verneinend den Kopf. Er hatte Emilia nicht halb so oft gesehen, wie Fynn es getan hatte. Meist nur dann, wenn er Fynn getroffen hatte, und zu dem Zeitpunkt war Boris immer damit beschäftigt gewesen herauszufinden, worüber die Jungen schon wieder lachten. Meist war er Grund der Freude, wenn er einen Streich schon wieder zu spät bemerkt hatte.
"Verdammt!"
"Was sind denn das für Ausdrücke, junger Mann!"
Sie wirbelten herum. Und sahen sich einem... einer... ein... Beide gaben auf. Was auch immer es war, es hatte eine ungesunde Ähnlichkeit mit einem Geier. Und einer Bulldogge. Kleine, dunkle Augen, von Falten umgeben, blinzelten bedrohlich, und eine Hand mit wie Klauen gekrümmten Fingern hob sich, um vor den Gesichtern der jungen Männer zu wedeln.
"Hallo? Jemand zu Hause?" Es schnippte mit den Fingern. Nun, es sprach. Also musste es ein Mensch, ein Zwerg oder ein Troll sein. Vielleicht auch ein Gnoll?
"Äh, entschuldige..." Boris zögerte und schien unsicher, wie er es ansprechen sollte. Sein Blick irrte über den kleinen Körper her. Gebeugter Rücken, Falten, graues Haar. Seine Gedanken rasten, sein Hirn arbeitete fieberhaft. "...Mä'äm?" Ihm blieb nichts anderes übrig als zu raten, und Erleichterung überkam ihn, als es scheinbar zufrieden, wenn auch noch argwöhnisch nickte.
"Fräulein Agate Jungbrunn!", stellte sich die Alte vor. Fynn brach in ein eiliges Husten aus, während Boris den Witz dahinter nicht verstand.
"Boris Machtnichts, Mä'äm", erwiderte er so nur, und stieß nach einer Weile auch seinen Kollegen an, der sich eine Hand vor dem Mund gepresst hatte.
"F-Fynn Düstergut, Fräulein." Er grinste breit, doch als er merkte, dass Boris nicht einmal ansatzweise verstanden hatte, worüber er denn grinste, hörte er eilig auf. Es machte nur halb so viel Spaß, sich über etwas lustig zu machen, wenn kein anderer dahinter kam.
"Soso. Und was sucht ihr hier?" Fräulein Jungbrunn musterte die beiden Rekruten mit gerunzelter Stirn, und wiegte dabei den Kopf hin und her, wie eine Schildkröte.
"Komm, wir müssen uns beeilen!"
Emilia sah von dem Spiegel auf, hin zu der noch immer geschlossenen Zimmertür. Da aber öffnete sie sich, und ihre Mutter kam hindurch, um ungeduldig die junge Frau an die Hand zu fassen.
"Wenn wir noch weiter trödeln, werden sie es sich noch am Ende überlegen, also komm endlich, Kind!"
Wieso nur ist sie so hysterisch? Sich gegen den festen Griff der Mutter wehrend, biss Emilia sich auf ihre Unterlippe, die Wangen rot vor Zorn. Diese dumme Frau! Weiß sie denn nicht, dass sie es nicht wollte? Dass sie diesen pickligen, trägen Frederic gar nicht als Mann haben wollte? Aber ihre Mutter hatte ihr nie zugehört, als Emilia von ihrem Zukünftigen geredet hatte, der sie bald abholen würde. Hatte ihr nie zugehört, wenn sie von Fynn sprach, der kommen und sie holen würde, um sie weg zu bringen und glücklich zu machen. Und sie hatte Emilia auch nie zugehört, als sie seufzend am Fenster gestanden hatte, voller Sorge, immer mehr Sorge, immer mehr Wut, als kein Fynn kam. Dabei hatte er es ihr doch fast schon versprochen! Und dann ist ihre Mutter eines Tages zu ihr gekommen, und hatte von der Freundin einer Bekannten erzählt, und ihrem Sohn Frederic, und dass dieser ein Auge auf Emilia geworfen hatte. Doch als Emilia wieder von Fynn sprach, da hatte ihre Mutter schon wieder nicht zugehört.
"Mutter, Ich bin in der Lage, selbst zu laufen, danke!""Ich erinnere mich noch gut an die kleine Emilia." Warum genau die beiden Wächter nun in der Stube der Alten saßen, wussten sie beide nicht zu sagen. Kaum hatten sie den Namen Emilia Brandt genannt, ging alles viel zu schnell, um irgendetwas zu verhindern, und nun saßen sie auf nicht zusammen passenden Stühlen an einen leicht wackeligen Tisch und hatten beide eine Tasse Tee in der Hand. Die Tassen hatten Katzenmotive, und die von Boris hatte einen Sprung. Er spürte, wie immer wieder ein Tropfen des heißen Tees daraus hervorquoll und über seinen rechten Zeigefinger rann, aber er traute sich einfach nicht, die Tasse abzustellen, denn der Blick der Alten lag auf den Beiden, einschüchternd und dominant, um sicherzustellen, dass die jungen Männer den Tee auch ja tranken. Boris warf ihr einen verschüchterten Blick zu. Sie warf die Stirn in noch mehr Falten. Boris trank hastig einen Schluck, und verbrühte sich sogleich die Zunge.
"Sie war früher so ein liebreizendes Kind! Sie erinnerte mich ständig an meine eigene Kindheit, gehorsam und nicht auf den Kopf gefallen." Fräulein Jungbrunn seufzte, ehe sie sich zurück lehnte. Sie saß im Gegensatz zu ihren unfreiwilligen Gästen auf dem einzigen Möbelstück, das gemütlich aussah. Der Schaukelstuhl neigte sich nach hinten, als sie sich schwer zurückfallen ließ und an ihrem Tee nippte, der aus irgendwelchen Gründen nicht so stark dampfte wie der der Rekruten. "Aber kaum das sie älter wurde, wurde sie eine Göre. Göre, sag Ich! Aber das ist die Schuld ihrer Mutter." Sie nickte zu ihrer eigenen Aussage, ehe sie Fynn ins Visier nahm. "Warum sucht ihr sie?"
Der Angesprochene schluckte, ehe er versuchte, dem Blick stand zu halten. Es gelang ihm weitaus länger als Boris, aber am Ende musste auch er seinen Blick senken. "Das ist eine Angelegenheit der Wache, Mä'äm", antwortete er dann, nicht im Mindesten so selbstbewusst klingend, wie er es gerne hätte. Die Alte hatte einen scharfen Blick, und wusste jenen auch genau einzusetzen.
"Eine Angelegenheit der Wache, ja? Oh, wie schade... Mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut wie früher, müsst ihr wissen... Wie schmeckt der Tee?"
Die jungen Männer verschluckten sich beinahe, als sie eilig an ihren Tassen nippten. Boris unterdrückte ein Husten, und dieses Mal verbrühte nicht nur er sich die Zunge. "Es... es ist nicht nur ganz eine Angelegenheit der Wache, Mä'äm", lenkte Fynn dann schnell ein, wohl wissend, dass die Alte sich schneller erinnern würde, wo man Emilia findet. "Und der Tee schmeckt wunderbar."
Fräulein Jungbrunn nickte leicht, und lächelte auf eine sehr spezielle Art und Weise. So lächelten nur Menschen, die wussten, dass sie die Zügel in der Hand hielten. "Nun, dann kannst Du mir doch sicherlich auch erklären, weshalb die Wache die kleine Emilia sucht, nicht wahr, junger Mann?" Der Blick bohrte sich direkt in Fynns Augen, und wühlte hinter seiner Stirn. So ein Blick verteilte Noten, wenn er auf jemanden lag.
Und Fynn wusste, dass er ihr die Frage beantworten musste. Er sah zu Boris. Der war allerdings keine rechte Hilfe, da er gerade damit beschäftigt war, seine Zunge abzutasten. Fynn seufzte, ehe er sich über den Nasenrücken strich. "Es geht um einen Diebstahl, Mä'äm. Ein Wächter wurde bestohlen."
"Was wurde gestohlen, und was hat die kleine Emilia denn mit einem Diebstahl zu tun?" Sie schnippte mit den Fingern, und deutete auf Fynns Teetasse. Der griff widerwillig nach dem drittklassigen, zu dünnen Porzellan, und trank einen Schluck Tee. Dieses Mal war es nicht ganz so heiß, und er konnte sogar etwas schmecken, auch wenn er sich wünschte, dass es nicht so wäre.
"Der gestohlene Gegenstand ist eine Dienstmarke, Mä'äm", sagte er dann widerstrebend. Er bemühte sich, wenigstens professionell zu klingen, um sich zumindest ein wenig Würde zu bewahren. Diese Alte schaffte es, dass er sich wie ein fünfjähriger Lütte vorkam, und das ärgerte ihn sichtlich. "Und wir glauben, dass Emilia uns bei den Ermittlungen weiterhelfen kann."
"Wie sollte ausgerechnet Emilia Brandt euch helfen? Sie hat sicherlich nichts mit der Wache am Hut." Schon wieder eine Frage. Fynn räusperte sich, und der Ärger stieg nur noch mehr. Vermutlich würde die Alte nach jedem bisschen Information graben, dass er ihr geben konnte, ob er nun wollte oder nicht. Aber da würde er wohl oder Übel durch müssen.
"Nun..."
"Nun... sie hat uns zum Tee eingeladen." Boris schien zumindest zu versuchen, der unangenehmen Befragung des Fräulein Jungbrunns etwas Gutes abzugewinnen. "Und sie hat uns am Ende auch gesagt, wo Emilia hingezogen ist. Ohne ihre Hilfe hätten wir in der Tonstraße lange suchen können."
"Sie war ein altes, gehässiges Weib, dass ihre Nase nicht aus fremder Leute Angelegenheiten heraushalten kann! Ich
wette, sie hat es genossen, uns so auszuquetschen. Von wegen, schlechtes Gedächtnis, die alte Fettel wollte uns doch nur hinhalten. Das ist Behinderung der Wache, jawohl! Wir sollten das melden, sobald diese elende Sache hier vorbei ist!" Fynn machte keine Anstalten, seinen Ärger über Fräulein Jungbrunn im Zaum zu halten. Mit knirschenden Zähnen bog er in eine Gasse ein, und Boris folgte ihm ein wenig kleinlaut.
"Sie meinte es sicher nicht so", warf er halbherzig ein. "Sicher ist sie in dem Alter bloß ein wenig einsam oder-"
"Boris, Ich habe die Bösartigkeit in ihren Augen gesehen! Kein Wunder, dass die noch nicht in einem Grab liegt, bei dem Blick würde sich selbst der Tod fürchten."
Sie betraten nun die Düstergutstraße, nach der Fynn benannt worden ist. Boris war nicht sehr oft auf dieser Seite des Ankh, und sah sich dementsprechend auch neugierig um, sich bemühend, nun vorzulaufen, um nicht doch der Versuchung zu erliegen, ebenfalls über Fräulein Jungbrunn schlecht zu reden. Das verbietet allein der Respekt vor älteren Damen, den seine Mutter ihm tief eingeimpft hatte.
"Ich glaube, dort drüben ist es. Auf dem Eck, Ankhstraße Ecke Düstergutstraße." Er deutet auf eines der mehrstöckigen Häuser mit den kleinen Wohnungen. "Direkt über dem... Lokal." Falls man den Laden am Eck als Lokal bezeichnen konnte. Es war wohl eine Art altertümlicher Imbiss, oder ein sesshafter Schnapper, wo man sich an eines der großen Fenster das Gewünschte bestellen konnte, um es dann im Gehen verzehren zu können. Ein Marktstand hinter festen Mauern, der nach altem Fett und ranzigem Fleisch stank, und nach frittiertem Speck. Beide blieben sie stehen, und zogen die Nasen kraus.
"Gute Wohnlage." Wieder ist es Boris, der als erstes die positiven Aspekte benennen konnte.
"Es stinkt hier." Fynn war nicht ganz so optimistisch.
"Wenn man keine Lust zum Kochen hat, kann man einfach nur die Treppe hinunter und kauft sich etwas. Praktisch."
"Es
stinkt hier!"
"Ich finde, der Geruch lenkt vom Ankh ab", warf Boris ein.
"Boris, jeder Geruch, der penetranter riecht als der Fluss, ist definitiv kein guter Geruch!"
Boris gab auf, und zuckte mit den Schultern. Fynn schnaubte leise, dann gingen sie vorsichtig näher an den Imbiss heran, die Tür ansteuernd, die neben einem der großen Durchreichen zu sehen war. Boris klopfte an, aber auch nach dem dritten Mal öffnete niemand, weswegen Fynn die Hand ausstreckte, um sie selbst zu öffnen. Doch kaum berührte er den Türknauf, öffnete jemand von Innen die Tür, und ein untersetzter Mann mit Schnauzbart sah zu Fynn und Boris hoch, reichlich misstrauisch dreinblickend.
"Wasse wollen ihr?", schnarrte er mit starkem Akzent. "Iche nichtse kaufen!"
Fynn schob einen Fuß durch die Tür, und verzog das Gesicht, als der Mann diese dagegen knallte. "Stadtwache Ankh-Morpork", ächzte er, und Boris zeigte dem Mann seine Dienstmarke. "Wir wollen nur zu Emilia Brandt. Sie wohnt doch hier, oder?"
Der Mann blinzelte verärgert, doch öffnete die Tür ein wenig, die Marke musternd. Dann sah er zu Fynn hoch, ehe er Boris anstarrte. "Emilia isse hier nicht! Sie und ihre schreckliche Madre sinde vorhinne gegangen! La madre terribile vuole sposare la figlia di Federico! Wollen weg, si, si, in bessere Appartamento, oben im feinen Siebenschläfer! Terribile! Terribile! Und wasse isse mit meiner Miete? Terribile, sage Iche!" Der Schnauzer zitterte unter dem Ärger des kleinen Mannes, und er beschrieb mit einer Hand ausladende Gesten, dass er Fynn fast gegen die Nase schlug. Die beiden Wächter machten einen Schritt zurück, und Boris hob die Hände, um den Mann zu beschwichtigen.
"Äh, ja, das wird sicher, Ich meine, äh... es gibt doch viele, die noch eine Wohnung suchen, Sör..."
"Das ist doch gerade völlig egal! Wohin sind sie gegangen?" Fynn machte eine ungeduldige Geste, die den Mann zum Schweigen brachte, als dieser gerade weiter seiner Wut freien Lauf lassen wollte. Ärgerlich dreinschauend, schnaubte der in seinen Schnauzer und deutete gen Nordwesten.
"Im Siebenschläfer. Und jetze lasse miche in Ruhe!" Die Tür wurde zu geknallt, nachdem Fynn endlich seinen Fuß zurückgezogen hatte, und während Boris noch mit offenem Mund auf das billige Holz starrte, fasste Fynn seinen Kameraden am Arm, um ihn mit zu ziehen.
"Komm schon, Boris, sonst reißt uns Feinstich noch dort auf, wo die Sonne nie scheint."
"Wo scheint denn nie die So-"
"
Komm jetzt endlich!"
Und so ging es weiter, auch wenn Boris schnell wieder der Schnappatmung verfiel, und auch Fynn ganz Rot im Gesicht wurde. Den ganzen Tag schon rannten sie durch die halbe Stadt, und nun noch zum Siebenschläfer! Sie bogen nach rechts in die Düstergutstraße, rannten diese hinauf und dann nach Links in den Übermass, um schließlich, fast eine halbe Stunde später, durch die Gutschnellstraße bis hin zum Siebenschläfer anzukommen, wo sie erst einmal schnaubend und japsend stehen blieben, vorgebeugt und die Hände auf den Oberschenkeln abstützend.
"Keinen... Meter mehr", rang Boris sich ab, und wischte sich über die Stirn. "Noch einen... Meter, und Ich... Ich sterbe..!" Auch Fynn sah nicht besser aus, doch der Siebenschläfer ist lang, und sie wussten noch immer nicht genau, wohin die Reise ging. Was sie nicht wussten, war, dass sie nicht unbemerkt geblieben sind...
Dieser Volltrottel. Selbst das Essen, zu dem man sie eingeladen hatte, konnte sie nicht darüber hinwegtrösten, dass Frederic sie die ganze Zeit anstarrte. Nicht ganz so schlimm waren die Blicke seiner Eltern, die sie anstarrten, als wäre sie eine Kakerlake. Und ihre eigene Mutter erst! Sie saß neben Emilia an dem Tisch, während sie alle Fragen für ihre Tochter beantwortete, sich fast schon in Lobpreisungen überschlug und schrill lachte. Denn jeder Laut wurde mit einem Blick quittiert, als hätte Emilia etwas sehr unflätiges gesagt. Tatsächlich spielte die junge Frau auch mit dem Gedanken, etwas Ähnliches zu tun, während ihre Finger sich kräftig um die Dienstmarke klammerten, die auf ihrem Schoss lag. Emilia war blass, was ihre Mutter der Aufregung zuschrieb. Tatsächlich war es Zorn, der sie so blass machte, und das beklemmende Gefühl der Hilflosigkeit, auch wenn sie einfach nur aufspringen und gehen müsste, um diese Farce zu beenden. Und doch war mit einem Mal alles egal, als sie den Blick hob. Von ihrem Platz am Fenster des Lokals konnte sie gut eine weite Strecke des Siebenschläfers überblicken, und hielt für einen Moment die Luft an, als sie zwei Wächter sah, die nur ein paar Dutzend Meter entfernt gegen eine Wand lehnten. Sie hätte ihn überall erkannt, und so auch hier.
"Ich... muss mich kurz frisch machen.""Wir... wir müssen sie... suchen..." Fynn schloss einen Moment die Augen, ehe er sich über das Gesicht wischte. Er bemerkte nicht die Blicke etwaiger Beobachterinnen aus diversen Lokalen, sondern beschäftigte sich nur mit dem Schmerz in seinen Beinen. Auch Boris schien das ganze Gerenne nicht ohne eine Spur der Erschöpfung hinter sich gebracht zu haben. Hechelnd wie zwei Terrier, die seine Seniorinnen durch den ganzen Park gezogen hatten, standen sie an eine Hauswand gelehnt und vermieden Blickkontakt. Es fiel den beiden sehr viel leichter, über eine Fortsetzung des Laufens zu reden, ohne einander anzusehen.
"Ich hoffe, sie ist nicht am anderen Ende der Straße", murmelte Boris nur, und äugte auch schon die Straße hoch, die sich noch ein bedrohliches Stück weiter hoch hinauf schlängelte.
"Es hilft nichts. Du nimmst die linke Seite, und Ich die Rechte." Fynn machte eine vage Geste, und stieß sich von der Wand ab, doch Boris nächste Worte ließen ihn schnell wieder zum Stehen kommen.
"Wie sieht Emilia eigentlich aus? Immerhin ist das schon Jahre her!" Daraufhin sah nicht nur Boris, sondern auch der junge Düstergut ziemlich besorgt drein. Daran hatten sie gar nicht gedacht! Die ganze Zeit waren sie auf Namen und Aufenthaltsort der gesuchten Person fixiert gewesen, ohne daran zu denken, dass sie beide nicht wussten, wie Emilia jetzt wohl aussehen könnte. Und hier würde sie wohl niemand kennen, um ihnen eine geeignete Beschreibung zu geben.
"Äh..."
Wie kann er es wagen! Wie! Kann! Er! Es! Wagen! Erst jetzt hier aufzutauchen! Sie solange hier warten zu lassen! Ihr Kleid raffend, schüttelte sie ihr Haar nach hinten und kämpfte sich an den anderen Tischen des kleinen Lokals vorbei gen Ausgang, nachdem sie sicher gegangen ist, dass ihre Mutter sich wieder damit beschäftigt hatte, Emilias zukünftige Schwiegereltern zu bezirzen. Sie schlüpfte recht schnell durch die Tür und hinaus auf die Straße, um einen feurigen Blick auf Fynn zu werfen. Wen hat er da überhaupt mitgebracht? Sie hob das Kinn und musterte nun auch Boris. Er kam ihr bekannt vor, aber jeder wurde unwichtig, sobald Fynn auftauchte. Fynn! Wie ein Sturm hatte er ihr Herz erobert. Und noch immer hatte er ihr Herz. Fynn! Schon damals hatte sie für ihn geschmachtet, und dann war er mit einem Mal verschwunden, war gegangen, hinfort. Sie hatte geweint und getobt, doch dann hatte sie ihn wieder gesehen, in einer Uniform, mit einer Marke an seinem Hemdsärmel. Sie hatte ihn beobachtet, und wie hätte sie ihn denn nicht erkennen können? Ihr Fynn! Oh, es war so einfach gewesen, so unverhofft einfach. Sie wollte es nie, aber das Schicksal hatte es gut mit ihr gemeint, hatte die Diebe unachtsam gemacht. Sie hatte die beiden Gauner beobachtet, als sie Fynn beobachten wollte, hatte gesehen, wie die beiden die Marke an sich genommen hatten. Wer achtet denn schon auf ein junges Mädchen, wer achtet schon auf Emilia, die ewig kleine, graue Emilia...?
"Fynn?"
"Ja, Boris?"
"Dieses Mädchen da starrt merkwürdig in unsere Richtung..."
"Lass sie doch. Ich muss nachdenken..."
Sie warf ihr Haar nach hinten, während sie langsam auf die beiden zuging. Sie bemerkte nicht, dass in dem Lokal ihre Mutter schon nervös wurde, sie bemerkte auch nicht Boris zunehmends nervöser werdende Blicke in ihre Richtung. Nein, diesen Moment musste sie auskosten! Noch einmal erleben, wie die Marke aus der Manteltasche fiel, als der dürre Dieb nach einer Zigarette geangelt hatte! Dieser atemlose Moment, als sie schon dachte, gleich würden sie es bemerken! Aber nein, die Marke war auf ein Büschel Unkraut gewachsen, das zwischen den Pflastersteinen wuchs, und Emilia konnte hin und sich die Marke schnappen, ehe sie schnell davon rannte. Die Diebe würden es niemals zugeben. Der Stolz würde sie dazu treiben, zu behaupten, ein anderer Dieb hätte ihnen die Marke gestohlen. Aber nicht Emilia, nein. Nicht die junge, graue Emilia..."Fynn?"
"Hmmm?"
"Dieses Mädchen da kommt auf uns zu..."
"Mach dir nicht ins Hemd, Boris! Wir haben gerade andere Probleme, und die sind wichtiger!"
"Aber Fynn..."
"Bei allen Göttern, Boris, Ich versuche gerade nachzudenken, wie wir diese Emilia ausfindig machen können, oder willst Du die Aborte schrubben? Was, wenn ausgerechnet dann Curry-Tag ist? Oder Chili-Tag? Kannst Du dir vorstellen, wie das aussieht, wenn das ganze Wachhaus Chili gegessen hatte?
Und jetzt lenk mich bitte nicht..."
"
Fynn Düstergut!"
"...was!"
Fynn sah nun endlich auf, und erblickte das Mädchen, das sich vor ihnen aufgebaut hatte. Das unscheinbare, dünne braune Haar war mit roten Schleifen geflochten und zu Schnecken an beiden Seiten aufgerollt worden, und das knallrote Ballonkleid machte die blasse Haut nur noch heller. Dafür stachen die roten Flecken auf den Wangen nur noch mehr hervor. Das Mädchen schien verwirrt, und sie starrte Fynn wie ein Insekt an, ein widerliches Etwas, ehe sie sich brüsk zu Boris wandte, dessen Augen groß und rund wurden.
Stocksteif stand er da, als Emilia Brandt auf ihn zurauschte und ganz klar versuchte, seine Brust mit ihrem Finger zu erdolchen.
"Wie kannst Du es wagen! Mich so lange warten zu lassen!"
"Äh..." Boris lief hochrot an, und versuchte, dem Mädchen auszuweichen. Leider befand sich hinter ihm eine Mauer, sodass er nicht mehr nach hinten laufen konnte.
"Meine Mutter hat mir nie geglaubt, und nun versucht sie mich zu verheiraten!"
"Aber Ich..." Er sah zu Fynn, der jedoch nur Emilia anglotzte.
"Jeden Tag habe Ich gehofft, dass Du kommen und mich mitnehmen würdest!"
"Ja, aber..."
"Wie lange hast Du geglaubt, mich noch warten zu lassen? Du hast mir ein Versprechen gegeben! All deine Worte habe Ich in meinem Herzen behalten!" Tränen bildeten sich nun in Emilias mausgrauen Augen, die vorhin noch zornig gefunkelt hatten, dann aber schluchzte sie aus und warf ihre dünnen Arme um einen völlig perplexen Boris. Fynn, der noch immer dastand, musste hart mit sich kämpfen, um nicht hysterisch los zu lachen, als er Boris Gesicht sah.
"Fynn!", rief Emilia aus und drückte Boris einen Kuss auf die Wange. "Kein Wort aus dem Brief habe Ich vergessen! Nach meinem Umzug habe Ich dich nicht mehr gesehen, und dann sah Ich dich in der Wache wieder..." Tränen rollten ihre Wange herab.
Wo war all die Wut hin? Sie wollte doch auf ihn stürzen, ihn schlagen und verletzen, ihn bereuen lassen. Dafür, dass sie all die Jahre warten musste! Aber dann sind ihr all die Zeilen wieder eingefallen, Zeilen voller Zärtlichkeit. Rose hat er sie genannt! Sanftes Wesen, wunderschön! Sie hatte sich gleich Hals über Kopf in ihn verliebt, hing an seinen Lippen, rannte ihm nach, aber nie hatte sie sich getraut, ihm zu antworten. Sie hatte auf einen weiteren Brief gehofft, auf irgendeinen weiteren Hinweis. Doch dann musste sie umziehen, ihre schreckliche Mutter hatte sie einfach weggeholt, und sie hatte ihn nicht mehr gesehen. Gesucht hatte er sie auch nicht, obwohl sie doch ihre Adresse aufgeschrieben hatte...
Und nun? Wo war die Wut? Weg! Sie fand sie nicht, sondern war wieder das verliebte, blinde Mädchen.Boris öffnete endlich seinen Mund, doch Fynn schaltete schneller und ergriff das Wort. "Fynn sucht seine Marke", sagte er schnell und zog damit für einen Moment die Aufmerksamkeit des völlig aufgelösten Mädchens auf sich. Sie sah mit verquollenen Augen zu dem Gefreiten, dann aber nickte sie und wandte sich wieder Boris zu, an ihrem Ausschnitt fummelnd. Boris verzog leicht das Gesicht, nahm dann aber die Marke an, als Emilia sie ihm reichte.
"Irgendwie musste Ich dich doch auf mich aufmerksam machen, nachdem Du mich beinahe vergessen hattest!", meinte sie dann fast trotzig. Eigentlich hatte sie vorgehabt, Fynn so richtig die Meinung zu sagen, ehe sie ihm gnädiger Weise wieder erlauben würde, ihr den Hof zu machen. Dann sah sie wieder zu Fynn, und schniefte. "Wer ist das da überhaupt?"
"Boris", plapperte Fynn nun wieder, mit einem vergnügten Blitzen in den Augen. Gefreiter Machtnichts sah mit großen Augen zu Fynn. Dann schien er endlich zu begreifen.
"Äh, ja... das ist Boris Machtnichts", sagte er zögerlich, und steckte die Marke schnell weg. Er hoffte, dass Emilia die andere an seinem Ärmel nicht bemerken würde.
"Was war das eigentlich für ein Brief, den Du von Fynn bekommen hattest?", fragte Gefreiter Düstergut nun sehr neugierig.
Sie schnappte leicht nach Luft, entschied dann aber, dass die Frage nicht beleidigend war. "Ein Liebesbrief", antwortete sie so, mit einem glühenden Blick auf Boris. "Ein außerordentlich schöner Liebesbrief voller Leidenschaft!" Fynn gab einen Laut von sich, das sich wie ein Husten anhörte, das ein Lachen vertuschen sollte. Emilia ignorierte es und schlang erneut ihre Arme um den armen Boris, der total verwirrt und hilflos dreinblickte. "Er war mit Fynn unterschrieben. Fynn Düstergut. Ich hatte bis dahin nie von einem Fynn Düstergut gehört, doch als Ich herumfragte, da deutete ein Junge auf
ihn!"
Nun brach Fynn in ein lautes Lachen aus. Emilias Blick war tödlich, doch das schien ihn nicht zu beeindrucken. Er lachte so lang und herzlich, dass Passanten sich zu ihnen umdrehten. Und nicht nur das: Frau Brandt, die sich schon langsam Sorgen um Emilias Verbleib machte, sah bei dem Lachen aus dem Lokal und erblickte ihre Tochter, in den Armen eines räudigen Wächters!
"Was gibt es denn da zu lachen!", erboste sich Emilia, löste sich von Boris und stampfte mit dem Fuß auf. "Nur, weil Leute wie Du keinen Funken Romantik im Leib habt, musst Du dich nicht über die Liebe lustig machen!"
"T-tut mir Leid!", keuchte Fynn und wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln. "Aber... aber..!" Er holte tief Luft. "Ich bin Fynn!"
Die Stille, die nun eintraf, Fynns atemloses Kichern ausgeschlossen, war beinahe greifbar. Emilia ist ganz blass geworden und starrte Fynn ungläubig an. Doch ehe sie auch nur ein Wort erwidern konnte, war Frau Brandt angerauscht und packte Emilia am Arm.
"Junges Fräulein!", keifte sie und zog sie weg von Fynn und Boris, der sich noch immer flach an die Wand drückte. "Mit solchen Leuten verkehrst Du nicht!"
"Mutter, lass mich los!", ereiferte sich die ergriffene Tochter, und wollte sich dem Griff entwinden.
"Nein, werde Ich nicht! Und ihr beiden, schämt ihr euch nicht? Meine arme Emilia solche Flausen in den Kopf zu setzen! Und Du, komm mit! Wir können von Glück sprechen, wenn Du keinen zu schlechten Eindruck gemacht hast, es ist allein mir zu verdanken, dass sie nichts mitbekommen haben, also halt nun den Mund und..."
Die Stimme der kräftigen Frau wurde leiser, auch wenn das Geschimpfe noch immer zu hören war. Boris atmete endlich wieder aus, und sank gegen die Wand, während Fynn sich langsam wieder beruhigte und gegen die Wand schlug.
"Sie dachte, Ich wäre Du", klagte Boris dann, ganz leise.
"Ich weiß", kicherte Fynn, der seinen verwirrten Freund am Arm zog und die Straße runter führte.
"Ich verstehe Frauen nicht", murmelte Boris nun.
"Musst Du auch nicht", versicherte Fynn. "Aber wir sollten nun wieder zurück. Gibst Du mir meine Marke?"
"Ja... natürlich."
"Danke."
Sorgsam ergriff Boris Machtnichts seine Dienstmarke und heftete sie an seinem linken Ärmel. Er achtete gut darauf, dass sie immer schön glänzte und auch gut zu sehen war und behandelte sie mit einer Ehrfurcht, die beinahe schon lächerlich war. Dann hob er beide Hände, strich sich das Haar glatt und...
"He, Boris!"
Er stoppte mit dem zum Versagen verurteilten Versuch, sein Haar zu bändigen, und wandte sich um. In der Tür stand Fynn Düstergut, und hob die Brauen.
"Hallo, Fynn", kam dann endlich der Gruß zurück. Fynn nickte, ehe er den Gefreiten zu sich winkte.
Boris neigte leicht den Kopf, ehe er den Spind schloss und zu ihm trottete. Fynn hakte sich bei ihm unter und verließ mit Boris die Umkleide.
"Ich habe nachgedacht", eröffnete er dann feierlich das Gespräch, den Arm lösend. Boris zuckte mit der Nase. Man konnte über vieles nachdenken.
"Worüber denn?", fragte er, als er nicht sofort darauf kam. Fynn warf ihm einen Seitenblick zu, ehe er den Kopf schüttelte.
"Über den Brief", antwortete er. Und da er Boris inzwischen gut kannte, fügte er schnell hinzu: "Von Emilia. Diesen Liebesbrief, der mit meinem Namen unterschrieben war."
"Emilia?"
Fynn stoppte so plötzlich, dass Boris erst ein paar Schritte weiter lief, ehe er es bemerkte. Er drehte sich zu ihm um und blinzelte ihn an.
"Du hast Emilia vergessen?", fragte Fynn nun leise. Boris verzog das Gesicht, in Gedanken versunken. Dann aber erhellte sich sein Gesicht.
"Ah", machte er, und grinste verlegen. "Tut mir Leid, aber sie ist so... so
grau."
Fynn nickte leicht, denn das war sie auch. Schon jetzt, wenn er versuchte, sich an sie zu erinnern, konnte er sich nur an das rote Kleid erinnern, nicht mehr an das Gesicht.
"Warum hast Du denn über den Brief nachgedacht?", fragte Boris dann, und unterbrach den Gedanken. "Hast Du ihn doch geschrieben?"
"Nein, um Himmels Willen nein!", wehrte Fynn ab, und hob die Hände. "Aber Ich glaube, Ich weiß, wer es war. Also... nicht ganz genau. Ich erinnere mich aber an eine Wette."
"Aber wieso würde sie denn denken, dass Ich Du bin?", kam es ratlos von Boris. "Immerhin hatte Ich damit rein gar nichts zu tun."
"Na, vielleicht hat der Junge, den sie gefragt hatte, sich auch nur vertan?"
Die beiden gingen durch das Wachhaus und hinaus auf die Straße, während sie sich noch immer darüber unterhielten, wie diese Verwechslung wohl zustande kam. Wirklich herausbekommen haben sie es jedoch nicht, und nicht lange darauf war der Vorfall von den Beteiligten auch fast vergessen worden.
Nun, von fast allen.
Doch wer achtete auch schon auf die kleine, graue, unscheinbare...
... wie war der Name noch gleich?
ENDE
[1] Tatsächlich hatte Fynn sich früher immer einen Spaß mit Boris gemacht und ihm diverse Streiche gespielt
[2] Rekrutenhelme und -harnische gab es nur in zwei Ausführungen: Zerrostet oder von fleißigen Händen zerkratzt, um den Rost zu entfernen
[3] Damit gemeint ist Husten, Smalltalk, Rascheln, das Kratzen von Stuhlbeinen und Fußscharren
[4] Oder Höhlen
[5] was aber daran lag, dass sein ganzes Gesicht schief war
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