Kalendertürchen 14. - Eine kleine Schweihnachtsgeschichte

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von Obergefreiter Jargon Schneidgut (SEALS)
Online seit 14. 12. 2011
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Schweihnachtszeit in der Unbesonnenheitsstraße im Jahr 1984 - der erste Schnee fällt. Wir erfahren eine kleine Geschichte von Jargon Schneidgut, damals elf Jahre alt.

Für diese Mission wurde keine Note vergeben.

Es schneite, endlich. Schon seit sehr langer Zeit hatte sich der kleine Schneidgut-Spross vor diesem Tag gefürchtet, und nun war es soweit. Im Dunkel des frühen Morgens konnte er die fallenden Flocken nur im Licht der Straßenlaterne erkennen, was an sich ganz nett aussah, doch er wusste genau das Schnee nichts Gutes verhieß. Bis jetzt war es wenigstens nur Pulverschnee - aber Jargon wusste, es würde nicht lange dauern bis nach draußen gehen zum Spießrutenlauf wurde. Seufzend knöpfte er den letzten verbliebenen Knopf seiner viel zu großen Jacke zu, schlüpfte in seine dünnen Schlappen und spähte noch einmal aus dem Fenster. Niemand war zu sehen, aber der Straßenjunge wusste, dass das nichts bedeuten musste. Leise schlich er sich zur Tür und vermied es dabei, auf die knarrenden Dielen zu treten. Er wusste sehr genau, was seine Mutter mit ihm machen würde, sollte er die Untermieter so früh am Morgen aufwecken. Im Moment waren es sieben, drei von ihnen schliefen in dem Zimmer das Jargon als sein eigenes bezeichnen würde, allein deswegen weil seine Mutter nicht darin schlief. Es wirklich sein eigenes Zimemr zu nennen wäre aber Unsinn, weil sich immer mindestens zwei Untermieter darin aufhielten. Nachdem er die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte stieg er vorsichtig die Treppe hinab und übersprang dabei die dritte, achte und die beiden letzten Stufen. Die knarrten nämlich am lautesten von allen. In der Küche, in die die Treppe mündete und die gleichzeitig der Eingangsbereich des Hauses war, herrschte Stille. Der Kamin war tot, es war eine Weile her seit Brennholz im Haus gewesen war, seit Frau Schneidgut einen Privatlehrer (der mehr ein gewöhnlicher Mann war, der aber Schreiben und Lesen konnte) für ihren Sohnes bezahlte. Entsprechend herrschte Eiseskälte, und so wünschte sich Jargon ein paar Socken - im Moment trug ein je einen fasrigen, löchrigen Lappen um seine Füße, und die hielten nicht wirklich warm. Wieder spähte der Schatten-Junge aus dem Fenster. Noch immer zeigte sich nichts. Trotzdem war er sehr vorsichtig, als er die Tür öffnete und nach draußen auf die papierdünne Schneeschicht trat. Sofort schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf.
Wenn ich jetzt hier durchlaufe, und ich brauche zu lange bis ich wieder da bin, dann sehen die anderen dass noch keine Spuren zurückführen. Sie werden mir auflauern!
Wenig hoffnungsvoll sah er nach oben, doch es sah nicht danach aus als würde der Schneefall in nächster Zeit stärker werden und so seine jetzt aufkommenden Spuren überdecken. Also tat Jargon folgendes - er lief zur Gasse gegenüber, lief sofort wieder zurück, und lief dann in seinen vorher gemachten Fußspuren wieder zum Gassenende. Hier lag nur ein kleiner Streifen Schnee in der Mitte der - sehr schmalen - Gasse, der Rest wurde von den Dachüberhängen der anliegenden Häuser abgehalten. Also drückte sich der kleine Junge an die Wand, den Blick auf den Boden gerichtet und machte sich auf den Weg zum Viehmarkt. Möglicherweise fand sich etwas verwertbares dort.

Zwei Stunden später. Bisher hatte Jargon einen nicht näher spezifizierten Knochen und ein sehr schmutzig aussehendes Stück Kohl gefunden. Das war immerhin schon etwas, aber nichts was wirklich den Hunger von neun Leuten stillen konnte. Also machte er sich auf den langen Weg zum Hiergibtsalles-Platz, wo er auf mehr Beute hoffte. Der Schnee fiel weiterhin sehr dünn, doch so langsam bildete sich eine schuhsohlendicke Schicht auf dem Straßenpflaster. Die Sonne schien so langsam aufzugehen, denn es wurde heller. Die gelbe Scheibe selbst zeigte sich allerdings nicht, zu dicht und zu weitreichend war der graue Wolkenschleier am Himmel. Der Gestank der Stadt war durch eine frostige Ahnung abgestumpft.
Je weiter sich der Junge von den Schatten entfernte, desto auffallender, bunter, greller wurden die Schweihnachtsverzierungen an den Häusern. Man konnte ausgestopfte Schneevaterpuppen an Fassaden hängen sehen, rot-weiße Girlanden waren über die Straße gespannt, so mancher Bürger hatte eine Mütze auf die ohne Zweifel ebenfalls zum Muster gehörte. Es war faszinierend, fand Jargon, wie heiter die Stadt aussehen konnte. Nicht einmal die angsterfüllten Schreie eines Metzgers, der gerade von zwei wütenden Keilern die Straße entlanggehetzt wurde, vermochten die Stimmung bedeutend zu trüben.
Tief saugte der Schneidgut-Spross den Duft von Lebkuchen ein, als er endlich der Hiergibtsalles-Platz erreichte und an einem entsprechenden Stand vorbeikam, der trotz der frühen Stunde schon sein Sortiment aufstockte. Allerdings war er damit so ziemlich allein, die meisten Buden waren noch geschlossen. Mit suchend auf den Boden gehefteten Augen überquerte Jargon den Platz, fand hier und dort einen Restkrümel Fleisch oder Pfefferkuchen und stibitzte einige Rüben aus einem merkwürdigerweise leeren Stall, bei dem das Gatter offenbar aufgebrochen worden war. [1]Zufrieden ließ er dann den Blick noch einmal über den mittlerweile beinahe weißen Platz schweifen. Noch immer war kaum jemand zu sehen... wieder stieg ihm der Duft von Schweihnachtsgebäck in die Luft. Seine Augen wanderten zu dem Stand, den er bereits passiert hatte. Mit einem kurzen Blick vergewisserte er sich, dass die Tür an der Rückseite der Bude offen stand. Noch einmal sah sich Jargon um, dann schlich er sich langsam an jenen Eingang heran. Momentan war der Bäcker damit beschäftigt, einen Sack aus einem Karren zu hieven und in den Stand zu schleifen. Als er näher heran kam, verbarg sich der Junge hinter einem dichten Nadelbaum, der sich direkt hinter dem Verkaufshäuschen befand. Als der Lebkuchenbäcker gerade wieder herauskam und ihm den Rücken zudrehte, sprintete er so leise er konnte in die Bude, schnappte sich zwei Lebkuchen aus einem Blech, das gerade vor dem Ofen lag und stopfte sie in die Tasche, wobei er sich die Finger verbrannte. Doch er gab keinen Laut von sich und rannte dann wieder heraus, diesmal ohne sich die Mühe zu machen besonders leise zu sein. Bis der Bäcker bemerkte was passiert war, war er schon zwischen einigen anderen Buden verschwunden.
Nachdem er den Hiergibtsalles-Platz verlassen hatte, rannte Klein-Schneidgut noch ein Stück, dann verlangsamerte er seine Schritte und verschnaufte, während er sich vergewisserte dass er noch immer alles in den Taschen hatte. Lebkuchen, Möhren, Reste, Knochen, Kohl - es war noch alles da. Jetzt musste er es nur noch nach Hause schaffen...

Es war jetzt acht Uhr dreißig, wie die Glocken der Stadt lautstark verkündeten. Nervös und mit einem unangenehmen Kribbeln im Nacken spähte Jargon aus seinem Versteck hinter einem Fass, das in einer in die Unbesonnenheitsstraße mündenden Gasse stand. Da waren sie.
"Nimm das!", brüllte Graun, der kleinste, aber bei weitem nicht schmalste Junge, während er einen Schneeball mit Wucht nach Lorens, einem großen, blonden Kind warf. Der Ball zerbarst wenig spektakulär, und Graun knurrte. Der erste, pulvrige Schnee des Jahres war zum Werfen ungeeignet, stellte der hinter dem Fass versteckte erleichtert fest. Indes wischte sich Lorens ärgerlich das Weiß aus dem Gesicht, schaufelte eine Handvoll in eine seiner Pranken und schnappte Kuno, ein schwarzhaariger, dürrer Kerl der immer mies dreinblickte, an der Jacke. Dann rieb er ihm die eiskalte Waffe ins Gesicht und den Nacken, während Graun einen Eiszapfen von einer durchhängenden Dachrinne brach und nach einem anderen Kind warf.
Schaudernd sah Jargon zu, denn er wusste genau - es mochte jetzt gerade noch harmlos wirken, doch sobald man ihn erspähte war er das einzige Ziel für alle diese Attacken, und das würde wohl weniger harmlos enden.
Kreischend und tobend lieferten sich die sechs Kinder auf der Straße einen durch den Schnee ein wenig harmloser als sonst wirkenden Kampf. Als sie gerade dabei waren, einen großen Schneebatzen zusammenzuklumpen um ihn auf Kuno zu schleudern, sprang der kleinste von allen Kindern der Unbesonnenheitsstraße aus seinem Versteck und rannte so schnell er konnte zu seinem Haus. Ohne zurückzuschauen öffnete er die Eingangstür, als er hinter sich schon "Da ist der kleine Pisser!" hörte und schlüpfte hinein. Als er sie ins Schloss fallen ließ, knallten mit Wucht drei Schneebälle dagegen. Einige Sekunden später ertönte noch ein dumpfer Schlag, als sie offenbar den großen Schneebal dagegenschleuderten. Dann ließen sie aber von der Tür ab, denn Frau Schneidgut hatte das Fenster aufgerissen und brüllte:
"Verschwindet ihr ungezogenen Bastarde!"
Mit einem wenig freundlichen Blick schlug sie den Rahmen zu. Doch dann wurden ihre Augen milder, als sie sah wie ihr Sohn gerade seine Errungenschaften auf den Tisch legte. Die Lebkuchen behielt er aber bei sich, denn seine Mutter hasste es wenn er stahl - außerdem wollte er die so abenteuerlich errungenen Süßigkeiten nur ungern teilen.
"Das ist aber prima, was du da hast", meinte die große, magere Frau als sie die Rüben sah, und verschränkte dann die Arme. "Woher hast du die?"
Schnell ließ sich Jargon etwas einfallen.
"Die sind von einem Karren gefallen, mit dem zwei Keiler reingefahren wurden."
Sie zog eine Braue hoch. "Wo rein?"
Er zögerte kurz. "Ins Schlachthausviertel."
"Aha", meinte seine Mutter dann wenig überzeugt, doch sie fragte nicht weiter nach, denn sie wusste so gut wie er dass sie alles brauchen konnten was er kriegen konnte. Sie scheuchte ihn zur Treppe.
"Los, üb schreiben!", rief sie. "Übermorgen kommt wieder Herr Kreisling!"
Mit einem eher gespielten Seufzen stapfte er die Treppe hoch und realisierte dabei, wie kalt seine Füße waren. Als er sein Zimmer betrat, das mittlerweile leer war, hüllte er sich in eine der Decken die auf den behelfsmäßigen Schlafplätzen auf dem Boden lagen. Sie war noch ein bisschen warm, und so setzte er sich im Schneidersitz auf den Boden und zog Papier und einen winzigen Graphitstummel unter einer Bodendiele hervor. Mit einem heimlichen Lächeln holte er die noch wohltemperierten Lebkuchen aus der Tasche, biss genussvoll in einen hinein und schloss die Augen. Nachdem er geschluckt hatte, legte er das Gebäckstück neben sich auf den Boden und begann, die Zunge zwischen die Lippen geklemmt, zu schreiben.

"Auf dem Hirgibdsalesplats steht ain Lebkuchnhaus..."
[1]  Der gehörte zu einem Metzger, der den Weihnachtsmarkt feierlich mit der Schlachtung zweier Keiler eröffnen wollte.




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