In Sachen Mord. Die Akte Miriel I.

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von Obergefreiter Ettark Bergig (SEALS)
Online seit 06. 12. 2011
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 Außerdem kommen vor: Miriel GerfurtRea Dubiata

Mord ist auch für die Stadtwache immer ein ernstes Verbrechen, doch wenn jemand aus den eigenen Reihen tot aufgefunden wird, ist der Trennstrich zwischen persönlichem Rachefeldzug und Ermittlungen nur schwer zu ziehen.

Dafür vergebene Note: 12

Und so beginnt die Geschichte


Die Hände tief in die Taschen des zerschlissenen Überwurfs vergraben schlenderte Thorsten Wagwas über den großen Galgenplatz am Hafen. Den ganzen Tag war er schon durch die Straßen der Zwillingsstadt gezogen, auf der Suche nach einem Broterwerb. Die paar Kupferlinge in seiner Hosentasche, die er für die Hilfe beim Entladen eines kleinen Handelskutters zugesteckt bekommen hatte, klimperten einsam vor sich hin.
Er hatte, einfach ohne zu fragen, beim Entladen geholfen, doch der Kapitän hatte ihm am Ende die paar Münzen zugeworfen und sich bedankt. Die Kosten für einen so günstig gelegenen Ankerplatz im Hafen waren teuer, da freute er sich offensichtlich, dass er mit dem Löschen der Fracht schneller fertig geworden war, als geplant.
Seine Frau hatte Thorsten zusätzlich noch ein paar belegte Brote zugesteckt, über die er sich, nachdem er außer Sichtweite gewesen war, hungrig hergemacht hatte. Seinen kleinen Brotbeutel hatte er am Morgen leer vorgefunden, auch wenn er hätte wetten können, dass er gestern noch einen Kanten altbackenes Brot enthalten hatte.
Nun, die Ratten in der Umgebung seines Schlafplatzes waren recht intelligent. Das war der Nachteil, wenn man, statt wie die anderen Straßenjungs in den Schatten, lieber in der Nähe der Universität schlief. Der Vorteil war, dass man nicht ständig über die Schulter gucken musste, wenn man mal ein paar Münzen verdient hatte.
Seufzend setzte sich der Junge auf eine morsche Kiste, die mit einigen Leidensgenossinnen an einer Hauswand stand und langsam verrottete. Das alte Holz knirschte, doch als Thorsten sich näher an den Rand setzte, trug es die wenigen Kilo, mit denen der Junge es belastete.
Ein Blick gen Himmel zeigte ihm, dass er sich langsam auf den Heimweg machen sollte, das wenige Licht, welches die Stadt noch beleuchtete, war sichtlich auf dem Rückweg und er hatte keine Lust, irgendeiner Straßenbande über den Weg zu laufen, die den Hafen auch diesseits den Ankhs unsicher machte, wenn die Schatten sich des Nachts über ihre üblichen Grenzen hin ausbreiteten.
Kurz überlegte er, ob er das verdiente Geld sofort in Nahrung umsetzen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Die Stullen, die er am Nachmittag gegessen hatte, mussten genügen, um den Hunger bis zum nächsten Morgen im Zaum zu halten und die Bäckereien gaben morgens das Brot vom Vortag immer sehr viel billiger heraus.
Er warf noch einen sehnsüchtigen Blick auf eine Schaluppe, die den vom Land wehenden Wind nutze, die Stadt auf dem zäh fließenden Fluss zu verlassen. Die Stadt verlassen, den Wind im Rücken und stabile Bohlen unter den Füßen... er schüttelte den Kopf um die Bilder vor seinen Augen zu vertreiben und stand auf. Wenn man jeden Tag um das eigene Überleben kämpfen musste, war es nicht ratsam, sich Tagträumen hinzugeben.
Während er mit der rechten Hand unauffällig den sicheren Verbleib der Münzen überprüfte, strich er sich mit der andern eine leicht fettige Haarsträhne aus den Augen und schlug dann den Weg nach Hause ein.
Hier durch die schummrige Gasse, dort an der Kneipe vorbei, der toten Frau ausweiche, durch den Apotherkergarten und schon wäre er an der Brücke, mit der er den sogenannten 'Schnitt' überqueren konnte... tote Frau?
Thorsten stockte in seinem Gedankengang und blieb stehen.
Wirklich, in der vom Sonnenlicht inzwischen fast vollständig gemiedenen Gasse lag eine schwarz gekleidete Frau inmitten einer immer größer werdenden Blutlache. Wenn Letzteres nicht Argument genug war, der Pfeil... nein Stopp... der Bolzen zwischen ihren Brüsten diente als klarer Beweis dafür, dass die scheinbar noch junge Frau nicht mehr unter den Lebenden weilte.
Er stockte und sog scharf die Luft ein. Eine komplett schwarz gekleidete Frau, mitten auf der Straße von einem Bolzen getötet und weit und breit keine Quittung zu sehen? Thorsten merkte, wie seine Beine weich wurden und die Farbe aus seinem Gesicht wich.
Dies war nicht die erste Leiche, die er in seinem Leben zu Gesicht bekam; Beileibe nicht, schließlich war er in den Schatten aufgewachsen! Aber solch einen Schrecken hatte ihm bisher noch kein totes Wesen eingejagt! Er sollte nicht mehr hier sein, wenn die Freunde dieser Frau hier ankamen, sonst lag seine Leiche bald vermutlich nur ein paar Gassen weiter. Diesmal jedoch mit Quittung. Die Assassinen verstanden da keinen Spaß.
Als der Junge über die tote Frau sprang, blieb er mit dem Fuß leicht am blutgetränkten Mantel hängen und zog ihn von der Leiche. In seiner Panik jedoch bemerkte er nicht die golden-glänzende Marke, die innen an den Kragen angeheftet war.

Tag 1


Früh am Morgen desselben Tages, knapp vierzehn Stunden früher, am anderen Ende der Stadt.


Kopfschüttelnd verließ Ettark den düsteren Gang und betrat die nur geringfügig hellere Straße vor dem Gebäude, welches der "Club des neuen Anfangs" zurzeit für seine Treffen benutze.
Die ersten Sonnenstrahlen wurden schon in den Fenstern des gegenüberliegenden Gebäudes reflektiert, weswegen Ettark sich, mit zusammengekniffenen Augen, suchend nach seiner Auszubildenden umblickte.
"Bei Sonnenaufgang vor dem Club, hatten wir gesagt, Gefreite..." murmelte er leicht verdrießlich, als er die gesuchte Person schließlich durch die Schaufenster eines Pralinenladens entdeckte, was, wenn er nachdachte, eigentlich keine große Überraschung war.
Er grinste und lies die Schultern rollen, bevor er in ihre Richtung schlenderte.
Seit er vor einer Woche seinen Strafdienst bei den Untoten angetreten hatte, ließ er sich jeden Morgen von Miriel abholen, sodass er sich bis zum Mittag um die Ausbildung der jungen Frau kümmern konnte.
Zwar war er zugegebenermaßen anfangs nicht sonderlich begeistert gewesen, als die Abteilungsleitung (unfähiges Pack...) ihm eine Auszubildende aufgedrückt hatte, doch wenn er schon etwas machte, dann wollte er es auch richtig machen.
So zog er jeden Tag mit Miriel, auch außerhalb der offiziellen Streifengänge, durch die Straßen der großen Stadt und brachte ihr bei, was er sich seinerzeit nur selbst hatte beibringen können und war sichtlich stolz auf ihre Fortschritte.
Vor dem Süßigkeitenladen blieb er stehen und betrachtete die Auslage, bei deren bloßem Anblick er schon Zahnschmerzen bekam, während seine Auszubildende sich, mal wieder, einen großen Beutel verschiedenster Pralinen zusammengesucht hatte und nun mit dem Verkäufer handelte.

Der Strafdienst, den er einer Wächterin namens Ophelia und natürlich dem, inzwischen verschwundenen, Blutsauger der IA zu verdanken hatte, [1] war zwar nicht so schlimm wie er sich das vorgestellt hatte, aber gewiss kein Zuckerschlecken, vor allem, nachdem am zweiten Tag eine... alte Bekannte aufgetaucht war.
Ettarks Job war es, an und für sich, die Beratungsstelle des Clubs nach den Treffen, die standardmäßig vor Sonnenaufgang beendet waren [2], zu betreuen, was bedeutete, dass er ab vier Uhr morgens die Kekskrümel zusammenfegte, Teetassen ausspülte und sonstige Aufräumarbeiten erledigte, damit er, sobald dass erledigt war, beim bürokratischen Teil der Arbeit helfen konnte, will heißen, Finanzen überprüfen, Akten sortieren und all die Arbeit, für die die Mitglieder weder Zeit noch Lust hatten.
Und all das - dank eher schlechter Belüftungsmöglichkeiten - unter einer Geruchsmischung, bestehend aus halb-verwestem Zombie, nassem Hund und anderen, nicht wirklich appetitlichen Duftnoten.
Zwar kein Traumjob, aber für die eine Woche, die er dazu verpflichtet war, eigentlich kein Problem, welches unüberwindbar war. Bis am zweiten Tag, beziehungsweise in der zweiten Nacht, Claudia in den Keller des Hauses geschlendert kam, während Ettark versuchte, ein Keks-Teegemisch von einem Stuhlbezug zu entfernen.

Das Problem in dieser Tatsache benötigt für alle, die nicht mit dem Lebenslauf des Bergigers vertraut sind einige Erklärungen.
Claudia war eine sehr junge Vampiren, die er während der Belagerung Ankh-Morporks hatte kennen lernen 'dürfen' [3].
Selbst wenn nicht schon die Spezies genug gewesen wäre, wusste Claudia seit diesem Abenteuer nach Ettarks Geschmack viel zu viel von seiner Person und es gab kaum etwas, was die junge Vampirin lieber tat, um den Wächter mit diesem Wissen auf die Nerven zu gehen. Neben allem dem anderen, was einem vorpubertären Mädchen gerade so einfiel, einen Erwachsenen zu ärgern.

Der Wächter schüttelte den Kopf, um die Gedanken an das zu vertreiben, was den restlichen Morgen die meiste seiner Aufmerksamkeit gefesselt hatte.
Vor ihm lag ein langer Tag von dem, was er, vor nun bald 5 Jahren, zu seiner Lebensaufgabe erklärt hatte.
Dazu gehörte in letzter Zeit auch die rothaarige Frau, die sich in diesem Moment mit dem Verkäufer geeinigt hatte und breit grinsend den Süßwarenhandel verließ.
"Bereit für die Streife, Gefreite?" begrüßte Ettark die junge Frau, die dies grinsend aber mit vollem Mund bestätigte.
"Jederzeit Cheffe." benutzte sie die Anrede, die sie sich angewöhnt hatte, seit ihr Ausbilder mit ihr auf dem Sommerendfest vor einigen Wochen sämtliche Alkoholvorräte der umliegenden Kneipen geleert hatte.
Kopfschüttelnd, aber ebenfalls grinsend, ignorierte er die ironische Anrede und gab ihr mit einem Kopfnicken zu verstehen, ihm zu folgen.
Manchmal fragte er sich, ob es ein Fehler gewesen war, seine Auszubildende während der Ausbildung auch mit den wenigen Leuten bekannt zu machen, die er auch außerhalb der Dienstzeit als Freunde bezeichnete, nicht zuletzt mit den Maats, mit deren jüngster Tochter, Lena, sich Miriel schnell angefreundet hatte. Ein Lächeln schlich sich über die Lippen des Bergigers, als er an Lena dachte.
Nein, sicher war es kein Fehler gewesen. Er vertraute Miriel und es würde bestimmt nicht schaden, auch innerhalb der Wache ein paar Leute zu haben, auf die er sich verlassen konnte.
Ettark beobachtete seine Auszubildende, wie sie ihren ersten eigenen toten Briefkasten kontrollierte, einen hohlen Baum, der sich offensichtlich nur noch aus Gewohnheit am Leben festkrallte.
Voller Stolz kam sie zu ihrem Ausbilder zurück und öffnete kurz die zur Faust geballte Hand. Auf ihrer Handfläche erkannte Ettark den kleinen gelben Zettel, auf den die junge Frau schon seit fast einer Woche wartete.
Wohlwollend nickte er ihr zu und die beiden gingen zusammen weiter, als wäre nichts passiert.
Erst als sie am späten Vormittag in ihrem Büro am Pseudopolisplatz angekommen waren, entrollte Miriel den Zettel, auch wenn die Aufregung über ihre erste 'echte' Information schon seit Stunden nicht mehr zu übersehen gewesen war.

Vor nun knapp anderthalb Wochen hatten die beiden einen eher kleinen Auftrag, eine Einbruchserie rund um den Haufen, bekommen, sodass Ettark sich entschlossen hatte, dass er bei der Lösung vorerst nur als Beobachter fungieren wollte.
Mit wachsender Zufriedenheit hatte er beobachten können, wie schnell Miriel ihr, während der Ausbildung aufgebautes, Netz aktivierte und nach Hinweisen suchte. Jedoch war bis heute nichts wirklich Wichtiges passiert und er hatte schon mit dem Gedanken gespielt, helfend einzugreifen. Nun war aber scheinbar endlich der erste Brotkrumen gefunden. Gelber Zettel, das bedeutete eine wichtige Information.
Er sortierte einige Akten, die während seiner Abwesenheit auf seinem Schreibtisch gelegt worden waren, auf den immer größer werdenden 'zu erledigen' Stapel um den er sich nächste Woche, nach seinem Dienst im Club des neuen Anfangs kümmern würde... ganz bestimmt... und betrachtete dann seine Auszubildende fragend und mit hochgezogenen Augenbrauen.
"Markus Brotfrisch hat wirklich was! Er behauptet, dass einige der gestohlenen Bilder am Hafen aufgetaucht währen, bei einem bekannten Hehler...", sie kniff die Augen zusammen, "Silberblech soll das glaub ich heißen".
Ettark nickte mit verzogenem Mund.
"Das könnte schwierig werden..." erwiderte er dann seufzend. Er hatte schon von diesem 'Händler' gehört, aber bisher noch keine Gelegenheit gefunden, ihn auffliegen zu lassen. Auch DOG waren nach seinen Informationen schon längere Zeit erfolglos hinter ihm her.
"Nun gut, ich werde jetzt erst mal nach Hause gehen und mir eine Mütze wohlverdienten Schlaf gönnen, heute Abend haben wir eine Streife, dann versuche ich mal, ein wenig an meinem Netz im Hafen zu schütteln, vielleicht findet sich ja was..." sagte er und gähnte.

Die Sonne war schon beinahe untergegangen, als Ettark, beinahe ausgeschlafen, das Wachhaus am Pseudopolisplatz wieder betrat.
Heute Nacht war die letzte, die er bei den Untoten verbringen musste, danach konnte er endlich wieder richtig ausschlafen, vor allem wo morgen sein langersehnter, weil freier Tag war.
Zunächst musste er natürlich noch mit seiner Auszubildenden in den Hafen und sich nach dem Hehler umhören... auch wenn er keine großen Hoffnungen hatte, etwas Neues herauszufinden. Silberblech war ein recht geschickter Mann, wenn es darum ging, unerkannt zu bleiben. Aus den wenigen Information die er hatte, ließ sich nicht mal erschließen, ob es sich bei ihm um einen Menschen oder einen Zwerg handelte.
Nur das es keine angenehme Person war, war im gesamten Hafen bekannt. Nur wenige hatten sich bisher mit ihm angelegt und noch weniger konnten danach noch all ihre Körperteile ihr Eigen nennen.
Er nickte dem Ausbilder zu, der am Tresen stand und die beiden Rekruten einwies, die dort Dienst taten.
Das Gesicht hatte er schon einmal gesehen, doch genau konnte er es nicht einordnen... Ein Zwerg mit drei Streifen auf der Schulter... bedeutete wohl, dass er lesen, schreiben und rechnen konnte [4].
Er grinste vor sich hin und stieg recht guter Laune in den ersten Stock. Als er sein Büro betrat, war dieses jedoch leer. An sich war dies nichts besonderes.
Keiner der 'Bewohner' war sonderlich häufig im Wachhaus anzutreffen. Als wahre SEALS-Wächter war die Straße ihr Büro, doch Miriel war schon seit fast einer Stunde wieder im Dienst und hatte hier auf ihn warten sollen. Als er weder auf seinem Schreibtisch noch, nach erneuten Kontrollieren, an der Tür eine Notiz seiner Auszubildenden fand, ging er in ihr Büro. Doch auch dort herrschte gähnende Leere.
Mit gerunzelter Stirn ging er zum Tresen hinab, wo der drei-Streifen Zwerg immer noch auf die Rekruten einredete.
"Entschuldigung äh... Korporal. Ich bin auf der Suche nach meiner Auszubilden, Gefreite Gerfurt. Hat sie das Gebäude verlassen?"
Der Zwerg drehte sich zu seinen Rekruten um und nickte einem der beiden zu.
"Ihr habt die Frage gehört, könnt ihr dem Obergefreiten Bergig [5] helfen?"
Der Angesprochene blätterte durch das dicke Tresenbuch und fand schließlich Miriels Namen.
"Ja hier Sör, '17:26 Uhr, Gefreite Gefurt verlässt das Wachhaus, um im Hafengebiet nach Informationen zu suchen'. Kam scheinbar noch nicht wieder."
"Verflucht!" knurrte Ettark und ließ die drei am Tresen stehen.

Rea blickte von einigen Akten auf, als die Tür ohne vorheriges Klopfen aufgestoßen wurde und gegen die Wand krachte.
"Ah, Obergefreiter Bergig..." zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen. Wenigstens Anklopfen sollte der Typ doch gelernt haben. Doch bevor sie den Wächter anfahren konnte, unterbrach dieser die erst halb zusammengelegte Strafpredigt.
"Miriel ist vor über zwei Stunden alleine ins Hafenviertel gegangen, auf der Suche nach Silberblech. Ich brauche sofort Verstärkung bei der Suche nach dieser Irren!" keuchte der Bergiger, auf seine Untergebene momentan offensichtlich nicht besser zu sprechen, als Rea auf ihn.
'Wenigstens weiß er jetzt, wie das ist, wenn die Untergeben nie machen, was man ihnen befielt!' dachte Rea kurz, bevor sie wirklich begriff, was der Obergefreite da gesagt hatte.
"Silberblech sagst du? Alleine... ?" Sie warf einen schnellen Blick auf den Plan, der in einer Ecke des Schreibtischs (und damit verdammt nah an dem übervollen Mülleimer) lag.
"Bleicht und Maior sind momentan auf Streife, Schneidgut, Dreufel, Machnichts und Petto sollten in ihren Büros sitzen, außerdem haben Kannich und Cim momentan Bereitschaft. Am besten sagst du denen zuerst Bescheid..." murmelte sie, doch als die aufblickte, war das Büro leer.
Natürlich hatte auch sie schon von Silberblech gehört, doch dass Ettark so besorgt war, dass er sogar sie um Hilfe bat, überraschte sie. Sie stand auf. Dann musste sie sich wohl um das Organisieren der Suchaktion kümmern, Ettark war vermutlich schon auf halben Weg über den Ankh.

Es war beinahe Mitternacht, als Damien Bleicht und seine Auszubildende Nyria Maior beinahe zufällig in einer schmalen, dunklen Gasse über die Leiche der Gesuchten stolperten.
Als Ettark schließlich am Tatort eintraf (er hatte auf die Schattenseite des Hafens gewechselt und dort gesucht, konnten sich Wächter in Uniform dort doch um diese Zeit nicht blicken lassen), hatte SuSi die Gasse schon weiträumig abgesperrt und waren bei Fackel- und Kerzenlicht dabei, nach Indizien zu suchen.
Miriel lag inmitten eines Schwarms von bezifferten Zetteln und wurde gerade aus verschiedenen Winkeln ikonographiert, als Ihr Ausbilder sich durch die Gaffermenge drängte und am Absperrband stehen blieb.
In ihm schrie alles danach, zu Miriel zu rennen, sicherlich konnte er sie noch retten und nur mit Mühe konnte er sich davon abhalten, unter der Absperrung hindurch zu tauchen. Er durfte den Tatort nicht betreten. Hier im Hafen kannte man ihn als zwielichtigen Angestellten einer noch zwielichtigeren, aber offenbar sehr finanziell starken Organisation. Wenn auch nur der Verdacht aufkam, dass diese Organisation die Wache war(die auch nicht wirklich sehr reich war...), würde er schon bald sehr viele sehr tote Informanten haben... Und der Armbrustbolzen in der Brust seiner Auszubildenden machte die Hoffnung, dass ihr irgendwer helfen könnte, schnell zunichte.
Er merkte, wie sich ein eisernes Band um seinen Brustkorb legte und immer enger wurde und so kämpfte er sich, mit zusammengebissenen Zähnen und einem großen Kloß in der Kehle, wieder aus der Menge heraus.
Nur die Götter wissen, wie lange er ziellos durch die Straßen der Stadt gezogen war, doch als er schließlich wieder in der Fleißigen Straße an seinem Haus ankam, torkelte er die paar Stufen zu seiner Wohnung herauf und fiel, kaum dass er, noch komplett angekleidet, in seinem Bett lag, in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

Tag 2


Das eiserne Band war noch da, als er aufwachte, und es schien sich in den wenigen Stunden Schlaf kaum geweitet zu haben. Ettark betrachtete die Wand neben seinem Bett und kämpfte damit, aufzustehen.
Solange er hier lag, konnte er sich vormachen, das alles sei nur ein böser Traum gewesen, doch sobald er aufgestanden und in's Wachhaus gegangen war, würde Miriel tot sein und er konnte nichts daran ändern. Das wusste er.
Eine einsame Träne lief seine Wange herunter, folgte dem Weg den letzte Nacht schon viele ihrer Art gegangen waren. Sie sickerte durch den Wangenbart und blieb schließlich am Ohrknorpel hängen. Als der Tropfen schließlich mit einem leisen Platschen in die Ohrmuschel fiel, setzte Ettark sich mit einem Ruck auf.
Miriel war tot, daran ließ sich nichts ändern, aber das bedeutete auch, dass sich jemand, der Name Silberblech schallte durch Ettarks Kopf, an einer seiner Schutzbefohlenen vergriffen hatte. Und an einer Freundin.
Er sprang beinahe aus dem Bett, schmiss sich, nach einem beinahe zufälligen Blick in den Spiegel, eine Hand voll kaltes Wasser ins Gesicht und stürmte die Treppe runter.
In der Diele rannte er fast Frau Willichnicht um, die, wie jeden Mittwoch, Ettarks Vermieterin besuchte... Demzufolge war es erst circa viertel vor Acht.
Trotz voller Straßen kam Ettark nach nur kurzer Zeit am Pseudopolisplatz an. Aus irgendeinem Grund bildete sich vor den wütenden Schritten des Obergefreiten wie durch ein Wunder eine Gasse.

Auch Rea hatte die Nacht über nur wenig Schlaf bekommen, zuerst hatte sie sich an der von ihr organisierten Suche beteiligt, dann hatte sie, nachdem Ettark nirgendwo zu finden gewesen war, mit SuSi zusammen die Umstände geklärt und RUM, sprich Ophelia, den Fall erläutert.
Nach zwei Stunden Schlaf in ihrem Büro, die sie sich notgedrungen gegönnt hatte, hatte ihr Stellvertreter Zwiebel sie mit der Nachricht geweckt, dass Ettark noch immer nicht aufgetaucht sei.
Und das konnte nichts Gutes bedeuten; Entweder war er selber umgebracht worden oder der Obergefreite war auf Rachefeldzug.
Momentan befanden sich zwei Gefreite in ihrem Büro, die sie, vor einer zweiten großangelegten Suchaktion, zu Ettarks Adresse schicken wollte, als, zum zweiten mal innerhalb von nicht mal zwölf Stunden, ihre Bürotür eine unsanfte Begegnung mit der Wand hatte.
Gerade wollte sie den Eindringling anfahren, als sie, beim Anblick von Ettark, die eingesogene Luft anhielt.
Der sonst so unerschütterlich wirkende Wächter sah schrecklich aus. Die schwarze Kleidung war völlig zerknittert und bis zu den Knien braun vom Schlamm (beziehungsweise dem, was man in Ankh-Morporks Straßen 'Schlamm' nannte), der Mantel am Saum völlig zerfetzt und das Gesicht... Die Hexe schluckte ihre Wut herunter... Sie hätte nie erwartet, den Bergiger jemals in so einem Zustand zu sehen.
"Ettark..." begrüßte sie ihn mit mitleidiger Stimme und stand auf, doch da blitzten die geröteten Augen des Obergefreiten wütend auf. Das war schon eher etwas, was Rea bekannt vorkam.
"Was gibt es neues?" fauchte er, was jedoch durch die heisere Stimme nicht so ganz gelingen wollte. "Welcher Bastard war das?" flüsterte er dann weiter, scheinbar selber von seiner krächzenden Stimme überrascht.
Rea fasste sich und entließ die beiden erschrockenen Gefreiten mit einer Handbewegung. Dann zeigte sie auf einen Stuhl.
"Setz' dich, Ettark." sagte sie und ließ sich selber in die Polster ihres Stuhles fallen. Als der Obergefreite die Hände zu Fäusten ballte und protestieren wollte, wurde die Stimme der Abteilungsleiterin härter.
"Setz' dich, habe ich gesagt." wiederholte sie und beobachtete mit leichter Überraschung, wie Ettark diesmal dem Befehl folge leistete und sich auf die vorderste Kante des angebotenen Stuhls sinken ließ.
"Ettark, du weißt, dass ich dich nicht an diesem Fall arbeiten lassen kann..."
Der Bergiger verzog das verquollene Gesicht zu einer zornigen Grimasse doch Rea öffnete beruhigend die gehobenen Hände.
"Bei SuSi und RuM arbeiten sehr kompetente Wächter, die auf solche Fälle spezialisiert sind und..."
Ettark sprang von seinem Stuhl auf, nun zornesrot.
"Ich werde nicht zulassen, dass diese inkompetenten Nichtskönner, den verdammten Hurensohn entkommen lassen, der Miriel umgebracht hat, ich werde diesen Bastard bis zum Ende der Welt jagen, er wird den Tag bereuen, an dem seine Schlampe von Mutter ihn aus ihrer &§%{[=) gepresst hat..." brüllte er, dass Nepomuck vor Schreck unter seinem Gestell hervor zischte und sich unter Reas Stuhl versteckte.
"Dieser Hundesohn wird dafür bezahlen, dass er... dass er..." wurde Ettark wieder leiser, bis er beinahe flüsternd auf seinen Stuhl zurück sank, das Gesicht in beiden Händen verborgen.
"Es war meine Schuld... ich hätte mitgehen sollen... sofort... ich hätte nicht nach Hause gehen sollen..." flüsterte er.
Mit dieser Situation war Rea nun wirklich überfordert... mit einem wütenden Ettark konnte sie umgehen, auch mit einem, der sämtliche Regeln missachtete und ihre Befehle ignorierte. Aber mit einem, der auf seinem Stuhl zusammengesunken in ihren Büro saß? Solch eine Situation hätte sie sich selbst in ihren kühnsten Träumen nicht erdenken können.
"SuSi ist noch am Tartort und RuM hat die Ermittlungen gerade erst aufgenommen..." sprach Rea eher mit sich selbst als mit dem Informantenkontakter vor ihr, um sich wieder zu fassen, als Ettark aufstand.
"Das kann ich nicht... ich kann hier nicht warten und nichts tun... ich... ich bin auf der Straße!" sagte er, den letzten Teil wieder mit fester Stimme, wischte sich mit einer schnellen Bewegung den Ärmel über die Augen und verließ das Büro, ehe Rea protestieren konnte.
"Obergefreiter!" rief sie ihm hinterher, doch bevor sie ihr Büro verlassen hatte, hörte sie schon das Eingangsportal des Gebäudes zufallen.
Es sah aus, als ob sie die Möglichkeit eines amoklaufenden Ettark doch noch nicht ganz abschreiben sollte. Nicht, dass sie seinen Zorn nicht verstand, auch sie fühlte sich verantwortlich für ihre Untergebenen und wenn sie dem Mörder Miriels in einer dunklen Gasse begegnen würde, hatte auch sie keine Ahnung, was sie anstellen würde.

Vor einer solchen Gasse war Ettark stehen geblieben und betrachtete den Tatort aus einiger Entfernung. Die meisten Schaulustigen waren inzwischen verschwunden, nur eine kleine Gruppe professioneller Gaffer stand unter einem Vordach und wartete auf etwas Aufregendes.
Die SuSis hatten, um den Tatort vor dem beginnenden Regen zu schützen, ein offenes Zelt aufgebaut in dessen Inneren ein korpulenter, graubärtiger Mann stand und sich am Kinn kratzte. Von Miriel war, außer einem getrockneten Blutfleck am Boten und einer mit Kreide gezeichneten Silhouette, nichts mehr zu sehen, vermutlich war sie inzwischen längst auf einem der Tische im Keller gelandet.
Doch Ettarks Aufmerksamkeit galt nur in zweiter Linie dem Tatort selber. Zwar war die Gasse selber kein sehr belebter Ort, doch immerhin lag sie im Hafen der größten Stadt der Scheibe! Irgendjemand musste gesehen haben, was passiert war und der Wächter war fest entschlossen, rauszukriegen, wer dieser Jemand war.
Nach und nach verschmolz der ans warten gewohnte Kontakter mit der Wandnische und als aus dem anfänglichen spät sommerlichen Schauer ein immer dichterer Herbstregen wurde und auch die neugierigsten Gaffer verschwanden, blieben nur zwei Personen am Ort des Geschehens zurück.

Frustriert, müde und bis auf die Knochen durchnässt betrat Ettark die 'Galeone' und setzte ließ sich auf die Bank in seiner Stammecke fallen. Obwohl es schon deutlich nach Mitternacht war, erfreute sich die Taverne beinahe voller Tische, das schlechte Wetter und der gerade erst vergangene Monat, der den Arbeitern ihre Lohntüte gebracht hatte, sorgten für trinkfreudige Kundschaft und volle Kassen beim Wirt, Sven Maat.
Dieser hatte Ettark beim betreten der Taverne beobachtet und ging, nachdem er die aktuelle Bestellung abgearbeitet hatte durch die Tür in das Hinterzimmer der Kneipe.
Nur einen kurzen Augenblick später stand er wieder hinter seiner Theke und bediente die Kundschaft, ließ den dunkel gekleideten Mann in seiner Ecke aber nicht aus den Augen.
Es vergingen wenige Minuten, bis eine junge, rothaarige Frau die Taverne aus dem Hinterzimmer betrat.
Mit gesenktem Kopf ging sie durch den Raum, bis sie vor dem Tisch des Wächters angekommen war. Als Ettark aufblickte, sah er, dass Lenas Augen, ähnlich wie vermutlich seine eigenen, rot verquollen waren. Als ihre Blicke sich trafen, traten wieder Tränen in die Augen der schönen Frau. Mit einem Mal sackte sie neben Ettark auf die Bank und lehnte sich schluchzend gegen den Wächter.
Unbeholfen legte dieser seinen Arm um ihre Schultern, doch der Kloß in seinem Hals wuchs schlagartig wieder an. Er wusste, wenn er nur ein Wort sagen würde, würden auch ihm die Tränen wieder in die Augen steigen. So saßen die beide schweigend in der schummrigen Ecke, bis Lenas Tränen versiegten.
"Ist sie wirklich tot?" brachte Lena schließlich hervor. Ettark nickte nur. Zu reden traute er sich noch immer nicht zu.
"Wisst ihr schon wer...?" Er schüttelte den Kopf und schluckte. Lena rückte wieder ein wenig von ihm ab und betrachtete den zusammengesunkenen Mann.
"Du bist klitschnass. Du solltest nach Hause gehen, sonst erkältest du dich noch." sagte sie, versuchend, ihre Stimme fest und bestimmt klingen zu lassen.
Er nickte und stand auf. Er wusste gar nicht so genau, warum er hierher gekommen war, doch es war ihm irgendwie richtig erschienen, nachdem er die ganze Nacht nur vier Straßen von hier entfernt gestanden hatte, ohne auch nur den geringsten Verdächtigen gesehen zu haben.
"Ich werde sie finden...wer immer es war... finden und zur Rechenschaft ziehen, das verspreche ich!" flüsterte er und versuchte ihr ein ermutigendes Lächeln zu zeigen, bevor er sich umdrehte und die 'Galeone' ohne jeden weiteren Kommentar verließ.

Zuhause angekommen, öffnete Ettark die Luftzufuhr des Kamins, fegte die Asche zusammen und schürte die kaum noch vorhandene Glut. Dann schichtete er die Blöcke, die ihm von einem Händler als Torf [6] verkauft worden waren um die wieder hell glimmenden Glutreste vom Vortag. Erst als die Blöcke anfingen zu brennen, entledigte sich Ettark seiner nassen Kleider und hängte sie rund um den Kamin an eigens dafür angebrachte Kleiderstangen. In seinen weichen Bademantel gehüllt brachte er Wasser über dem Kamin in einem großen Topf zum Kochen und schüttete dieses in die hölzerne Badewanne, die wohl der teuerste Gegenstand in der gesamten Wohnung war.
Nachdem er mit kaltem Wasser die Temperatur in der Wanne auf beinahe erträgliches Niveau gebracht hatte, setzte er sich in das Wasser und legte genießerisch den Kopf in den Nacken, als das heiße Wasser sich schmerzhaft um den unterkühlten Körper schloss.
Nach einigen Minuten nahm er die beinahe volle Whisky-Flasche zu Hand, die er in Griffweite abgestellt hatte, zog den Korken mit den Zähnen heraus und prostete sich selber zu.
"Auf dich Miriel, die beste Wächterin, mit der ich je die Ehre hatte, diese Stadt vor sich selbst zu beschützen." sagte er laut und versuchte dabei zu lächeln, bevor er einen großen Schluck aus der Flasche nahm.

Tag 3


Der nächste Morgen begann für Ettark erstaunlich früh und, noch erstaunlicher, ohne jegliches Anzeichen eines Katers.
Nachdem er einige Minuten die weiß gekalkten Deckenbalken betrachtet hatte stand er auf, räumte die Flaschen von seinem kleinen Tisch neben dem Kamin [7], säuberte die Feuerstelle, leerte die Wanne und wischte die Wasserpfützen vom Boden, die sich gleichmäßig aus Regen- und Badewasser gebildet hatten.
Dann machte er sich fertig, zog frische Kleidung an, schmierte sich ein Sandwich und verließ leise das Haus. Es war noch frühstes Morgengrauen als er, sein Frühstück essend, wieder Richtung Hafen ging. Stumpfes beobachten des Tatortes war sinnlos, das hätte er sich eigentlich denken können, doch dank der Stadtwache hatte er schließlich noch andere Wege, an gewünschte Informationen zu kommen. Die ersten Sonnenstrahlen wanderten über den nur noch leicht bewölkten Himmel, als er den Hafen erreichte, und aus einer der vielen Taschen in seinem Mantel einen kleinen Block und einen Stift zog.
"Suche Informationen über den Mord an einer Wächterin im Hafen in der Nacht auf den gestrigen Tag. Konditionen wie üblich. E.B."
Den so beschriebenen Zettel riss er von seinem Block ab, rollte ihn zusammen und schob ihn in einem unbeobachteten Moment in eine kleine Mauerritze. Ein mit Kreide gezeichnetes Graffiti-'Tag' in Form zweier Berge [7a] vollendete den ersten toten Briefkasten. Den restlichen Morgen zog Ettark durch den Hafen und die umliegenden Bezirke und verteile ähnliche Nachrichten oder fragte Informanten persönlich, von denen er wusste, dass sie öfters in der Nähe des Tatortes anzutreffen waren. Doch seine Ansprechpartner wussten nichts und bis die toten Briefkästen wieder kontrolliert werden mussten, dauerte es mindestens einen Tag.
Als er den letzten dieser Art ansteuerte, erlebte er jedoch eine Überraschung. Nicht sonderlich einfallsreich war es ein herausnehmbarer Quader aus einer Hafenmauer, doch statt der normalerweise Graffiti-freien Fläche, die keine Anfrage von Ettarks Seite bekundete, war hier schon ein Kreidegraffiti in Form eines auf dem Bauch liegenden 'E' [9].
Der Informantenkontakter zog, nachdem er sich versichert hatte, dass niemand ihn beobachtete, den Stein aus der Mauer und drehte ihn um. An seiner Rückseite befand sich ein kleines Loch, gerade groß genug, um den gefalteten Zettel aufzunehmen, den Ettark nun herausnahm.
Was sein Informant wohl wollte? Wenn sie in Schwierigkeiten waren, hatte Ettark für andere Weg gesorgt, wie man ihn erreichen konnte und Informationen ohne Nachfrage gab es zwar manchmal, jedoch normalerweise nicht von diesem speziellen Informanten, einer Fischverkäuferin, die ihm nur half, damit er ihren Sohn nicht wegen Drogenbesitz hinter Schloss und Riegel brachte.
Den Zettel in einer Manteltasche verstaut, suchte sich der Wächter einen ungestörten Platz, bevor er ihn auseinander faltete und die kurze Notiz las:

"Hab Junen gesen, der in Gasse gin, wo Wechterin ermodet wurde. Unkefer 1.60 gros, schwatze schulterlane Hare, sea dün, kaputta brauna Umhan mit fielen Flikken, drekkige helle Hose, kaine Schue."


Daneben war eine erstaunlich gute Portraitzeichnung eines Jungen mit eingefallenen Wangen und markant-spitzem Kinn.
Es dauerte einige Sekunden, bis Ettark sich durch die fragwürdige Rechtschreibung gekämpft hatte, aber dann schlich ein Grinsen über sein Gesicht. Eine Spur... auch wenn sie ihn wohl an einen für Wächter eher ungünstigen Ort führen würde. Aber einen Straßenjungen sucht man nun mal am besten dort, wo Recht und Ordnung sich nachts in ihrem Keller versteckten und alle Fenster und Türen verriegelten. Er nahm sich vor, der Fischverkäuferin, Molly irgendwas, soweit er sich erinnerte, demnächst einen Besuch zu machen und ihr zu danken.

Die Sonne stand im Zenit, als Ettark in den schattenseitigen Hafenanlagen ankam. Wem schon der Hafen auf der anderen Flussseite heruntergekommen vorkam, der hatte noch nie einen Fuß hierher gesetzt. Die Piers waren hier oft nur noch halb verrottete Holzkonstruktionen, eher vom Dreck als von den verrosteten Nägeln zusammengehalten, die angetäuten Schiffe waren schon auf den ersten Blick von den Handelskuttern gegenüber zu unterscheiden. Wer hier ankerte, machte sich nichts daraus, als Schmuggler oder anderes zwielichtiges Gesocks erkannt zu werden, kontrolliert wurde man hier eh höchstens von den verschiedenen Gangs, die sich den Hafen als Revier teilten, Gildensiegel waren eher Ausnahme als die Regel. Auch die Tavernen hier verdienten diesen Namen nicht wirklich. Gegen die Kaschemmen, vor denen sich selbst um diese Uhrzeit schon einige 'Damen' des horizontalen Gewerbes anboten, die sicher nicht der Näherinengilde angehörten, war die 'Schwankende Galeone' ein kleiner Palast und hier Bier zu trinken, war nicht nur wegen der Mittrinker eine Mutprobe.
Leider war auch Ettarks Informantennetz hier in äußerst schlechtem Zustand, in den Schatten Informanten aufzutreiben war schon eine Herausforderung, diese Informanten auch am Leben zu halten, zumindest für den Bergiger, ein Ding der Unmöglichkeit.
Und den wenigen Informanten, die es aus eigener Kraft schafften, hier zu überleben, war nicht mehr zu trauen als den Piers auf den vom Ankh-Wasser zerfressenen Pfählen.
Aber schließlich wollte er dieses Mal keine sensiblen Informationen besorgen sondern nur einen kleinen Hinweis.

Der unauffällige Laden mit Waren 'aus zweiter Hand' lag in einer schmutzigen Gasse zwischen zwei baufälligen Mietskasernen. Die alten Schaufenster waren, wenn sie nicht längst eingeschlagen und durch Holzverschläge ersetzt waren, blind vor Staub und nur die kleine Holztafel neben der Tür verriet, was sich hinter ihr befand.
"Antiquariat Schmitt, An- und Verkauf" las Ettark das fehlerfrei geschriebene Schild, als er an der, wenn man die Umgebung betrachtete, erstaunlich stabilen Tür klopfte.
Es dauerte ein paar Augenblicke, bis sich ein kleiner metallener Schieber in Augenhöhe öffnete und zwei zusammengekniffene Augen den Wächter musterten.
"Wer... ah du... Was willst du hier?" fragte die Stimme Ladenbesitzers. Bevor Ettark jedoch antworten konnte, erklang das rostige Knirschen von Metall auf Metall, als Schmitt die beiden massiven Riegel vor der Tür zu Seite schob.
Mit einem Quietschen, welches Rogi vermutlich zur Entzückung gebracht hätte, öffnete er die Tür und winkte Ettark herein.
"Schnell, rein mit dir, bevor jemand sieht, wer mich da besucht!"
"Keiner hier kennt mich..." entgegnete Ettark, als er mit zwei schnellen Schritten in das halbdunkel des Ladens trat.
"Vorsicht ist der besser als Nachsicht!" unterbrach der klein gewachsene Ladenbesitzer ihn und schob die Riegel wieder vor die geschlossene Tür. Der Informantenkontakter brauchte einige Sekunden, bis seine Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten, doch dann sah er, was so manchem Sammler den Atem verschlagen hätte.
Der staubige Laden war, durch dutzende Regale, in kleine Gänge unterteilt und jedes einzelne Regalbrett bog sich unter dem Gewicht des bunten Sammelsuriums aus den verschiedensten Gegenständen. Neben alt anmutenden Vasen lagen antike Waffen oder beschriebene Tafeln aus allen erdenklichen Materialien und Zeiten, ordentlich gefaltete, teuer aussehende Kleider mit Edelsteinbesatz neben ausgestopften Tieren und zusammengerollten Manuskriptrollen, goldene Ketten, Musikinstrumente jeder Couleur, staubige Bücher und andere vermutlich wertvolle Gegenstände, soweit Ettark in dem schlechten Licht blicken konnte.
Die wenigen Lichtquellen waren metallene Körbe, die an Ketten von der Decke hingen und goldene Strahlen in die staubige Luft warfen, welche überall, wo sie auftrafen, von glitzernden Schätzen zurück geworfen wurden.
Dies war der Grund, warum der Mann, der nun vor Ettark zu einer kleinen Sitzecke im hintersten Teil des Raumes humpelte, sich bereit erklärt hatte, der Wache zu helfen. Nur die wenigsten der Schätze in seinem Besitz waren legal in selbigen gekommen.
Nicht, dass die Wache in diesem Teil der Schatten eine Razzia veranstalten würde, nur um etwas Schmuggler- oder Hehlerware zu beschlagnahmen, doch Schmitt, Ettark kannte den Vornamen des Mannes nicht, hatte in seinem Leben, wie er selber ja schon angedeutet hatte, gelernt, vorsichtig zu sein und sich in alle Richtungen abzusichern.
Dieser ließ sich in diesem Moment auf einen Stuhl fallen und zeigte mit einem Nicken auf einen alten Polsterstuhl. Ettark setzte sich vorsichtig und musterte den Ladenbesitzer, so wie auch dieser ihn.
Schmitt war klein gewachsen, er ging Ettark höchstens bis zur Brust, ein Eindruck, der durch die gebückte Haltung des 'Antiquars' noch verstärkt wurde. Die fettigen schwarzen Haare waren zu einem Seitenscheitel gekämmt, der jedoch die starken Geheimratsecken nicht verbergen konnte, die ihn älter erscheinen ließen, als er vermutlich war.
Unter dem rechten Auge befand sich eine auffällige Falte, Ettark vermutete von einem Monokel oder einer Lupe und bis auf einen dünnen Schnurrbart war er ordentlich rasiert, doch ein Schnitt an der linken Wange verriet, dass er dabei nicht immer bei der Sache gewesen war.
Die Kleidung war schlicht und voller staubiger Flecken.
Nach einigen Augenblicken räusperte sich der Ladenbesitzer und nickte.
"So denn, was kann ich heute für unsere ach so ehrenvolle Stadt tun?"
Kurz überlegte Ettark, ob er sein Gegenüber nach Silberblech fragen sollte, verwarf diesen Gedanken jedoch sofort. Selbst wenn Schmitt den Hehlerkollegen vom anderen Ankhufer kannte, er würde ihn nie verraten und wenn doch, so könnte sich der Wächter auf seine Worte nicht verlassen.
"Ich suche einen Straßenjungen." brachte er dann sein Anliegen auf den Tisch.
Ich weiß, dass die Banden dir helfen, an deine" er räusperte sich, "Ware zu kommen, vielleicht hast du den hier schon mal gesehen?" Er zeigte seinem Informanten den Zettel, den er so gefaltet hatte, dass nur die Zeichnung zu erkennen war.
"Puh... nicht das ich mich erinnern könnte. Ich habe kein sonderlich gutes Gedächtnis, wenn es um Gesichter geht und die Bälger sehen doch alle gleich aus... tut mit leid, da kann ich dir nicht helfen."
"Dann verrate mir wenigstens, wo ich die Banden am besten finde. Irgendwer muss den Jungen kennen!"
"Du weißt aber, über wen du redest? Das sind keine kleinen Kinder, das sind gefährliche Monster! Denen kannst du nicht einfach Angst machen und von ihnen dann Antworten erwarten."
"Lass das meine Sorge sein..." grinste Ettark und ließ die Fingerknöchel knacken.
"Na gut, ist dein Leben..." zuckte Schmitt mit den Schultern.

Um einige Notizen in seinem kleinen Buch reicher verließ Ettark einige Minuten später den Laden, der hinter im sofort wieder verrammelt wurde.
Mit einem kurzen Blick auf die vollgeschriebene Seite seines Notizbuchs orientierte er sich und ging dann mit großen Schritten zu einem alten Lagerhaus, welches Schmitt als 'Hauptquartier' einer der größeren Banden des Hafens bezeichnet hatte.
Vor dem kaputten Tor standen zwei Halbwüchsige Wache und beobachteten Ettark misstrauisch, als er zielstrebig auf sie zu hielt. Der größere der beiden sagte etwas, worauf der andere im Dunkel des Lagerhauses verschwand. Wie aus dem nichts hatte der Verbliebene plötzlich ein großes, äusserst gemein aussehendes Messer mit gezacktem Rücken in der Hand.
"He du! Bleib stehen, du betrittst hier das Gebiet der Krustenbrecher!" Ettark grinste über den Namen, ließ sich jedoch nicht von dem Jungen beeindrucken. Erst als das nach vorne gestreckte Messer nur noch eine Handbreit von seinem Brustkorb entfernt war, blieb der glatzköpfige Mann stehen, die Hände halb gehoben, mit den leeren Innenflächen nach vorne zeigend.
"Ruhig Bursche, dann passiert dir nichts." sagte er leise mit tiefer Stimme.
Er hatte festgestellt, dass gerade Menschen aus einer Umgebung, in der das Recht des Stärkeren galt, sehr schnell klein bei gaben, wenn er mit dieser Stimme sprach und hatte sie, auch wenn er das niemals zugeben würde, stundenlang zuhaue vor seinem Rasierspiegel geübt.
Ausgezahlt hatten sich diese Übungen schon lange, es erleichterte die Informantenanwerbung ungemein und auch jetzt schien sie zu wirken.
Der Halbstarke wich einen halben Schritt vor dem schwarz gekleideten Mann zurück, bis er die Reste der Lagerhaustür im Rücken spüren konnte.
"Bleib stehen hab ich gesagt oder ich... ich schlitz' dich auf!" brachte er hervor, als sein grinsendes Gegenüber wie unbeabsichtigt seinen Mantel zur Seite strich und die linke Hand auf den Knauf des Schwertes an seiner Hüfte legte.
"Ich will nur mit euch reden... wo ist euer... Anführer?"
In diesem Moment trat ein grobschlächtiger Junge aus dem Lager, hinter ihm der zweite Torwächter und drei weitere Bandenmitglieder.
Obwohl sich an seinen Wangen erst ein dünner Flaum gebildet hatte, war er fast so groß wie der Bergiger und schon die Art, wie er den schweren Knüppel in der Hand hielt, ließ erkennen, dass er sich nicht von dem dunkel gekleideten Mann beeindrucken ließ.
"Und wer sagt, dass ich mit dir reden will, Arschloch?" knurrte er und musterte Ettark von oben bis unten.

Eine halbe Stunde später verließ Ettark das Lagerhaus wieder, davon überzeugt, dass die Krustenbrecher [10] den Jungen auf der Zeichnung nicht kannten. Außerdem würde Georg, der sich gerne 'Der Brecher' nennen lies, in nächster Zeit wohl davon absehen, wildfremde Leute als Arschloch zu titulieren.
Er zog sein Notizbuch aus dem Mantel und strich die Krustenbrecher aus der Liste. Die nächsten Kandidaten nannten sich Kat'ach, dem Namen nach wohl eine zwergisch geführte Bande.
Am frühen Abend hatte sich der Informantenkontakter durch die gesamte Liste gearbeitet und seine Geldbörse fühlte sich weit leerer an, doch den Durchbruch hatte er nicht erreicht.
Er wusste nun, dass der Junge auf der Zeichnung Thomas oder Thorsten hieß, früher in den Schatten gewohnt hatte, jedoch nie Mitglied einer Bande gewesen war. Vor einigen Jahren war er jedoch verschwunden, einige vermuteten, dass er tot war, andere, dass er aus Ankh-Morpork fliehen musste.
Er betrachtete noch einmal das heruntergekommene Haus, in dem die letzte der Banden auf seinem Zettel residierte und strich auch ihren Namen von der Liste.
Mit einem Seufzen drehte er sich um und ging in Richtung Ankh. Es wurde Zeit, dass er die Schatten verließ, im Dunkeln wollte er nicht hier verbleiben.
Kurz bevor er den Hafen erreichte, bemerkte er ein leichtes ziehen an seinem Geldbeutel. Reflexartig zuckte seine Hand zu der Börse und erwischte den dünnen Arm, der gerade den stabilen Lederstrick zerschnitten hatte, mit dem der Beutel an Ettarks Gürtel befestigt war.
Der Arm gehörte zu einem dreckigen Mädchen, Ettark schätzte sie auf höchstens sieben oder acht Jahre, das nun mit vor Schreck geweiteten Augen zu ihrem gewünschten Opfer hoch sah.
"Ich glaube, das ist meiner..." sagte Ettark leise und zog den Beutel aus den schlaffen Fingern des Kindes.
"Viel ist eh nicht mehr drin..." er zögerte... schaden konnte es eigentlich nicht. Der Wächter lies das Mädchen los und zog mit spitzen Fingern eine kleine Münze aus dem Beutel, überlegte und zog noch zwei weitere heraus.
"Diese drei Münzen schenke ich dir." - die Augen des Mädchens wurden noch etwas größer - "und du bekommst noch einmal doppelt so viele, wenn du mir sagen kannst, wer das hier ist und wo ich ihn finde..." sprach er leise und zog den inzwischen recht abgegriffenen Zettel hervor und zeigte ihn dem Mädchen. Dieses zog die Stirn kraus und schüttelte den Kopf. Ettark seufzte.
"Wär' auch zu schön gewesen..." murmelte er und faltete den Zettel wieder zusammen, als das Mädchen die Hand hob.
"Dat... dat is' Thorsten!" - Ettark erstarrte, aus Angst, sie zu unterbrechen - "Der hat früher immer bei mir und meinem Bruder in der Nähe geschlafen. Aber jetzt nich' mehr."
"Weißt du wo er jetzt schläft?" fragte Ettark vorsichtig, er wagte sich nicht mal, zu stark zu atmen.
"Der hat immer davon geredet, dass er Zauberer werden wollte un' so. Un' dass man bei der Universität bestimmt schlafen könne, ohne immer Angst zu hab'n, nich' mehr aufzuwachen... aber ob der wirklich da is', weiß ich nich'..."
Ettark atmete laut ein. Dann zog er einen Quarter, ein Vierteldollarstück aus dem Beutel und legte es dem Mädchen in die Hand, so dass niemand sehen konnte, was er machte.
"Ich danke dir, pass gut hier drauf auf." sagte er mit einem Augenzwinkern, während e die Finger des Mädchens um die Münze schloss. Dann drehte er sich um und ging schnellen Schrittes in Richtung Zivilisation. Hinter sich hörte er das leise Keuchen des Mädchens, als es sah, was der glatzköpfige Mann ihr zu gesteckt hatte.

Ettark ging auf direktem Wege zum Hier-gibt’s-alles-Platz, doch obwohl er bis zum Sonnenuntergang nach dem Jungen auf der Zeichnung suchte, fand er nicht die leiseste Spur.
Als schließlich auch der letzte Sonnenstrahl verschwunden war sah er ein, dass es hoffnungslos wurde, an diesem Tag weiter zu kommen. Seine einzige Spur war dieser Junge und ohne Licht würde er ihn sicher nicht finden.
Kurz überlegte der Bergiger, ob er noch bei der Wache vorbei sehen sollte, um zu sehen, ob man dort eine Spur hatte. Doch aus Angst, dass Rea seine Marke verlangen würde, um ihn von weiteren Ermittlungen im Namen der Wache abzuhalten, sah er davon ab. Wer wusste schon, wann ihm die Autorität eines Wächters hierbei noch nützlich sein konnte.

Tag 4


Auch dieser Tag begann für Ettark gewohnheitsmäßig früh und nach einem ausgiebigen Frühstück (wann hatte er eigentlich das letzte Mal richtig gegessen?) machte er sich auf den Weg Richtung Universität. Bevor die Öllampen auf dem Hier-gibt's-alles-Platz gelöscht waren, ging der Bergiger schon wieder Patrouille um die UU, auf der Suche nach versteckten Plätzen, in denen sich ein Straßenjunge sein Nachtlager eingerichtet haben könnte. Dummerweise war die Umgebung der Universität voll von solchen Plätzen und bis zum Sonnenaufgang hatte er nicht den geringsten Hinweis auf Thomas...oder Thorsten? - er blickte in sein Notizbuch -
"Thorsten!" er nickte sich selber zu - gefunden. Doch wieder kam ihm der Zufall zur Hilfe. Als der Wächter sein Buch schloss und wieder aufblickte, sah ihn ein Junge fragend an. Ein Junge, der der Zeichnung von Molly erstaunlich ähnlich sah.
Als der Junge jedoch Ettarks schwarze Kleidung bemerkte, weiteten sich seine Augen mit einem mal vor Schreck, er drehte sich um und rannte in die entgegengesetzte Richtung.
"Oh nööö." stöhnte Ettark, bevor er sich an die Verfolgung machte. Die Gabe längerer Beine ließ den Vorsprung des Jungen schnell schmelzen, doch als Ettark ihn fast erreicht hatte, schlug er einen Haken und verschwand in einer kleinen Gasse. Schlitternd und mit den Armen rudernd kam Ettark zum stehen, doch als er in die Gasse sah, bemerkte er, dass sie schon nach wenigen Metern vor einer massiven Hauswand endete.
Von dem Jungen jedoch war weit und breit nichts zusehen.
Mit wenigen Schritten war er am Ende der Sackgasse angekommen und blickte sich verwirrt um.
Weder Fenster noch Türen führten hierher. Das Kopfsteinpflaster sah sehr massiv aus und auch sonst sah er keinen Weg, aus der Gasse zu entkommen. Er war beinahe soweit, die dicken Wände abzuklopfen, in der Hoffnung, einen Geheimgang zu finden, als er den Teilabdruck einen Fußes an der Wand entdeckte. Eines nackten Fußes!
Er runzelte die Stirn und blickte nach oben. Dort, wo die Dächer der beiden Häuser aufeinanderstießen, war eine Nische. Eine vermutlich durch die Dächer sehr trockene und durch den Kamin auf der einen Seite wohl auch warme Nische. Einen besseren Platz konnte sich wohl kein Straßenkind wünschen.
"Komm raus da Thorsten, ich will da nicht hochkommen." - die Nische sah sehr eng aus und auch seine Fähigkeiten als Fassadenkletterer waren in den letzten Jahren stark eingerostet. Das war schließlich keine Fähigkeit, die man als Informantenkontackter häufig trainieren musste.
"Komm raus, ich will dir nichts tun, ich habe nur ein paar Fragen an dich." Das stimmte sogar. Der Junge, der gerade vor ihm geflüchtet war, war mit Sicherheit nicht der Mörder seiner Auszubildenden. Erstens war er viel zu schmächtig, eine Armbrust überhaupt erst zu spannen, zweites um eine solch schwere Konstruktion dann so zielsicher abzufeuern, um eine ausgebildete Assassine zu töten.
In der Nische tat sich nichts und so lehnte Ettark sich an die gegenüberliegende Wand.
"Ich habe den ganzen Tag Zeit und ich bin mir sicher, dass es aus deinem Versteck keinen zweiten Ausgang gibt, also komm raus und rede mit mir."
Das schmale Gesicht, dass Ettark von Mollys Zeichnung kannte, kam hinter einer Ecke hervor und betrachtete der Wächter misstrauisch.
"Ich hab'se nich' umgebracht, wirklich nich'!" sagte er mit zittriger Stimme.
"Bitte Herr Assassine, als ich se entdeckt hab', war se schon tot."
"Aber du hast doch bestimmt gesehen, ob noch jemand anderes in der Gasse war, oder?"
Der Junge schüttelte den Kopf, den er schützend zwischen die Schultern gezogen hatte.
"Als ich in die Gasse kam, war da niemand, außer der Toten. Und ich hab' auch keenen gesehen, der vorher aus der Gasse kam. Bitte, ich weiß wirklich nichts."
Ettark wusste nicht genau warum, doch irgendwie wusste er, dass der Junge die Wahrheit sprach.
Er hatte in den letzten Jahren als Informantenkontackter schnell lernen müssen, zu erkennen, wem er vertrauen konnte, doch so sicher wie bei diesem Jungen war er sich selten gewesen.
Vor Wut schlug er gegen die Wand. Wieder stand er vor dem Nichts. Keine Spur und auch keine Idee, wie er weiter machen sollte. Als er die Hand zurück zog, bemerkte er den blutigen Abdruck an der Wand. Erschrocken betrachtete er die aufgeplatzten Knöchel an seiner Hand.
Der Junge war vor Schreck wieder in seine Nische zurückgewichen.
"Danke... du hast mir... sehr geholfen..." sagte Ettark und verließ mit hängendem Kopf die Gasse, während er die Hand am Innensaum seines Mantels grob säuberte.
Nun blieb ihm wohl nichts, als zur Wache zu gehen und sich nach den Fortschritten zu erkundigen... und den Spott seiner Abteilungsleiterin zu ertragen... und vermutlich ein weiterer Besuch bei IA wegen unentschuldigtem Verschwinden oder ähnlichem Unsinn. Elende Bande von Verrätern und Petzen!

Als der Obergefreite am frühen Vormittag das Büro betrat, war Rea ehrlich erstaunt.
"Ettark! Schon wieder da? Du hast doch die ganze Woche Urlaub!" Der Wächter blieb stehen und sah sie verwundert an.
"Urlaub Mä'm?" Die Hexe kicherte innerlich.
"Ja, hier steht es schw... blau auf weiß!" Zielsicher zog sie ein Formular aus dem Papierstapel auf ihrem Schreibtisch.
"Der Obergefreite Ettark Bergig beantragt am 4.10. im Jahr des komplizierten Affen aufgrund von persönlichen Angelegenheiten unbezahlten Urlaub vom aktiven Dienst.
Urlaub über eine Woche gewährt, Abteilungsleitung S.E.A.L.S.' und dann noch meine Unterschrift. Hier siehst du?" Sie hielt dem Obergefreiten den Wisch hin.
Der nahm, noch immer völlig perplex, den Zettel entgegen. Seine Abteilungsleiterin hatte recht, sie hatte ihm vor zwei Tagen Urlaub gewährt.
"Also raus mit dir! Ich will dich hier nicht sehen, solange ich nicht muss und momentan brauche ich das wirklich nicht." Zu verwirrt, um irgendetwas zu entgegnen, drehte er sich um. Die blöde Hexe, wenn er im Urlaub war, wie sollte er denn an Informationen kommen?
"Ach ja, eh ich es vergesse, du bist vom Fall der Diebe am Haufen abgezogen, RUM hat die Ermittlungen im Lichte", sie machte eine kurze Pause, "der neusten Ereignisse selbst aufgenommen und inzwischen die Täter aufgespürt. Momentan beobachten sie das Haus der beiden, sie werden verhaftet, sobald es genug Beweise gibt." sagte sie wie nebensächlich, dabei betrachtete sie ihr Gegenüber jedoch sehr genau. Natürlich! Ettark hätte sich selbst schlagen können. Wie konnte er nur so blöd sein? Selbst falls die Diebe nicht selber in den Mord verwickelt waren, wussten sie doch ziemlich sicher, wo sich Silberblech aufhielt. Und Silberblech hatte etwas mit dem Mord an Miriel zu tun, darauf hätte er seinen rechten Arm verwettet. Und schließlich wusste er ziemlich genau, wie es war, diesen zu verlieren.
"Danke... Mä'm. sagte er und verließ das Büro.
"Ach wofür denn?" grinste seine Abteilungsleiterin, als die Tür sich geschlossen hatte und wendete sich grinsend wieder ihren Akten zu.
"Mach sie fertig, Obergefreiter..."

Lance-Korporal Septimus Ebel saß auf einem Dachfirst und ließ die Beine baumeln. Schon den halben Tag beobachtete er das Gebäude gegenüber und seit dieser ganzen Zeit war nichts wirklich Aufregendes passiert. Die Verdächtigen hatten ihre Behausung nicht verlassen, nur einmal hatte er einen der beiden am Fenster gesehen. Er seufzte und bewarf die Passanten gelangweilt mit Stücken des Ohnesorges, von welchem er eine Blume befreit hatte, die den Elementen hier oben auf dem Dach ihren Lebensraum abtrotzte. Wie es hier rauf geraten war, wollte er gar nicht wissen.
Auf einmal hielt ein dunkel gekleideter Mann auf das Haus der Verdächtigen zu. Na endlich passierte etwas. Septimus beugte sich vor und erstarrte plötzlich. Er war sich sicher, dass er den Mann schon einmal gesehen hatte. Und zwar im Wachhaus. Na klar, das war einer der Streifengänger. Bergig oder so... irgendjemand aus den Mannschaftsrängen. Und war er nicht der Ausbilder der toten Wächterin? Septimus fluchte und rutschte das Dach auf seinem Hosenboden herunter. Jetzt musste er die andern informieren! Und versuchen, diesen Irren aufhalten!

Als die drei verdeckten Ermittler, die die Überwachung übernommen hatten, schließlich das Gebäude stürmten, waren beinahe 5 Minuten vergangen. Nach den Informationen vom Pseudopolisplatz dürfte es hier zu unschönen Szenen gekommen sein, Ettark war anscheinend nicht für sein Feingefühl oder sein ruhiges Temperament bekannt. Als Mina von Nachtschatten schließlich, in Erwartung eines Blutbades, als erstes durch die offen stehende Tür in die Wohnung eindrang, wurden ihre Erwartungen jedoch enttäuscht. Zwar gab es Blut, jedoch weit weniger, als sie befürchtet hatten.
Zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, saßen zusammengekauert auf einer hölzernen Bank, vor welcher der Obergefreite Bergig auf und ab ging, sein Schwert in der Hand. Letzteres schien auch einer der Ursprünge des Blutes zu sein.
Der andere Ursprung war ein Schnitt im Arm des Verdächtigen.
"Was ist hier passiert?" keuchte Septimus, als er der Szene ansichtig wurde.
"Oh, RuM ist auch da. "Ettark hob die Augenbrauen überrascht, konnte sich aber ein leichtes grinsen nicht verkneifen."Ähm...Er da hat versucht, mich mit dem Messer hier anzugreifen. Aber ich glaube, er wird es nicht nochmal versuchen." erwiderte Ettark mit einem Lächeln und schob den drei Ermittlern mit dem Fuß einen langen Dolch zu.
"Sie gehören euch. So wie es aussieht, waren die beiden die 'Haufen-Diebe' - genügend Beweise solltet ihr ja haben." sagt er dann lächelnd und steckte sein Schwert ein.
"Ähm... Obergefreiter?" wollte Septimus Ettark aufhalten.
"Heute nicht, ich habe Urlaub, Sör."
Mimosa keuchte, als Ettark an an den drei Wächtern vorbeiging und so den Blick auf das Nebenzimmer freigab. Dort waren dutzende der gestohlenen Bilder gestapelt, daneben standen Vasen und weiteres Diebesgut.

Mit einem schalen Geschmack im Mund verließ Ettark das Gebäude und zog sich die Kapuze über den Kopf, als ein kalter Wind durch die Straße fuhr.
Es war nicht weiter schwer gewesen, dass richtige Gebäude zu finden, nachdem er gewusst hatte, dass RUM es beobachten lies.
Auf dem Weg durch die Stadt war er beinahe überzeugt gewesen, die Mörder Miriels nun zu finden. Doch wieder war er in eine Sackgasse gelaufen. Die beiden hatten, dass hatte Ettark schnell erkannt, nichts von dem Mord gewusst. Viel schlimmer war jedoch, dass sie auch keine Ahnung hatten, wo Silberblech sich aufhielt. Sie hatten seit fünf Tagen keinen Kontakt mehr zu dem Hehler gehabt, doch es lag anscheinend nicht an mangelnden Versuchen ihrerseits.
Er hatte auf keinen ihrer Versuche reagiert, sich mit ihm zu treffen und auch der Schuppen, in dem er sie sonst empfangen hatte, war verrammelt. Kurz, er war nicht aufzuspüren, was auch der Grund war, warum sich das Diebesgut schon in der Wohnung der beiden stapelte.
Doch eins hatte ihn aufhorchen lassen. Die Adresse, die die beiden ihm als Ort ihrer Treffen mit Silberblech genannt hatten, lag gerade mal zwei Gassen von dem Ort entfernt, an dem Miriel ermordet worden war.
So stand er am frühen Nachmittag vor dem beschriebenen, fensterlosen Lagerschuppen.
Wie die beiden Diebe berichtet hatten, war die Tür scheinbar von innen mit mehreren Riegeln verschlossen. Auch die Nebentür, die Ettark schließlich in einer kleinen Gasse entdeckte, war durch ein gewaltiges Vorhängeschloss gesichert.
Kurz überlegte er, die Tür einfach einzutreten, doch sie schien äußerst stabil zu sein. Außerdem befürchtete er, damit endgültig seine Kompetenzen zu überschreiten und einen erneuten Besuch bei IA wollte er sich gerne ersparen. Also ging er weiter um das Gebäude herum und entdeckte schließlich eine baufällige Leiter an der dem Hafen abgewandten Schmalseite. Zwar sah diese nicht so aus, als ob sie sein Gewicht tragen könnte, aber wo es eine Leiter gibt, muss es auch einen Grund geben, hochzuklettern. Zudem wollte er ja sowieso seine Fassadenkletter-Technik wieder auffrischen. Welche bessere Gelegenheit gab es dafür?
Zwei abgebrochene Fingernägel, mindestens ein dutzend Splitter in Hand und Unterarmen und eine am Knie aufgerissene Hose später kam er auf die Idee, dass es viele bessere Gelegenheiten gegeben hätte, doch unter schimpfen und fluchen hatte er es schließlich geschafft, das Dach des Gebäudes zu erreichen.
Und wirklich, die Leiter war nicht dafür benutzt worden, um den Schuppen neu zu streichen, eine Möglichkeit, die ihm auf der Hälfte des Weges nach oben gekommen war, sondern um die Dachluke zu erreichen, die sich nun vor ihm präsentierte.
Nachdem er sich die gröbsten Holzsplitter aus der Haut gezogen hatte, versuchte er die Luke zu öffnen, doch sein Schicksal meinte es heute offensichtlich nicht gut mit ihm. Trotz Schütteln und Rütteln, trotz erneutem Fluchen, auch dieser Eingang war von innen gesichert.
Voller Wut trat er auf die stabil aussehenden Bretter der Luke, als diese plötzlich nachgaben.
Wild um sich schlagend, rutschte der Wächter, der sich plötzlich seines sicheren Standes genommen sah, durch das so neu entstandene Loch und fiel in die Dunkelheit des Lagerschuppens.
Einen Bruchteil eines Moments später krachte er auf einen hölzernen Untergrund. Später erkannte er, dass es ein Zwischenboden gewesen war, der jedoch, wie zuvor die Dachluke, unter seinem Gewicht und der Kraft des Aufpralls nachgab.
Als er das nächste Mal auf einer Oberfläche auftraf, sah er trotz des reflexartigen Abrollens erst einmal einige Momente Sterne.
Nachdem er wieder klar sehen konnte, erwartete ihn eine herbe Endtäuschung. Das Innere des Schuppens war leer und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.
Außer den tragenden Strukturen des Gebäudes gab es nichts mehr und vor allem nichts, was Kriminaltechnisch benutzt werden konnte; Weder Kisten noch Müll, schon gar nicht irgendwelche verräterischen Notizen, selbst der Boden schien penibel ausgefegt worden zu sein.
Silberblech war offensichtlich klüger, als Ettark erhofft hatte.
Er fluchte leise vor sich hin, als er den Schuppen durch die Vordertür verließ und ein Wachesiegel auf den Türschlitz klebte. Vielleicht hatte ja SuSi hier mehr Erfolg, er war auf jeden Fall mit seinen Ideen endgültig am Ende.
Da er gerade im Hafen war, lief er seine übliche Runde und leerte die toten Briefkästen, doch auch hier fanden sich keine weiteren Hinweise mehr.
Sein letzter Weg brachte ihn zum Pseudopolisplatz, wo er einen Rekruten mit der Adresse des Lagerschuppens zu SuSi schickte.
Nun hieß es wohl oder Übel warten, wenigstens hatte er, wenn auch mit etwas Hilfe von RuM, Miriels letzten Fall gelöst.
Heute Abend wollte er seine Schulden beim Club des neuen Anfangs noch begleichen und die letzte Nachtschicht einlegen, damit IA ihm auch hier nichts mehr anhängen konnte.
Und morgen... morgen wartete noch etwas sehr wichtiges auf ihn.

Und es endet


Lenas Hand tastete nach seiner und er ergriff sie und erwiderte dankbar den Druck. Während der Priester die letzten vermutlich höchst heiligen Wörter sprach, merkte Ettark, wie das eiserne Band um seine Brust sich langsam lockerte. Es tat noch weh, wenn er an seine Auszubildende dachte, doch irgendwie war der Schmerz nicht mehr so schlimm, wie am Anfang.
Er hatte es akzeptiert... irgendwie. Ettark blickte an sich selber herab. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, den er sich aus dem Wachefundus geliehen hatte.
Miriels Eltern hatten nicht gewollt, dass Wächter oder Assassinen anwesend waren, sie akzeptierten den Lebenslauf ihrer Tochter noch immer nicht.
Offensichtlich hatte der Priester die Andacht beendet, denn die Menge verlief sich. Ettark sah viele bekannte Gesichter, Mitglieder beider unerwünschten Gemeinden hatten sich in Zivilkleidung gezwängt, um Miriel das letzte Geleit zu geben. Ettark lächelte, denn er wusste, dass die junge Frau sich über diese Geste gefreut hätte. Und sei es nur, um ihren Eltern eins auszuwischen.
Schließlich befanden sich nur noch Lena, Ettark und ein kleines, in Tränen aufgelöstes Mädchen, welches, mit Ausnahme der Haarfarbe, Miriel wie aus dem Gesicht geschnitten war, auf dem Kiesweg vor dem frisch aufgehäuften Erdhügel.
Der Bergiger sah zu Lena.
"Gehst du schon mal vor? Ich komme gleich nach." sagte er. Sie nickte, lächelte und ging dann hinter der Gemeinde her, die sich in Richtung der Kutschen bewegte, vermutlich um im Anwesen der Gerfurts einen gewaltigen Leichenschmaus abzuhalten.
Er sah Lena in ihrem langen schwarzen Kleid noch einige Augenblicke nach, bevor er sich neben das junge Mädchen an das Grab stellte.
"Du musst Charlotte sein, oder?"
Das Mädchen sah aus tränengefüllten Augen zu ihm hoch und nickte dann.
"Miriel hat viel von dir erzählt, sie mochte dich wirklich gerne." - das Mädchen schluchzte.
Ettark zog zwei braune Papierbeutel aus den viel zu kleinen Taschen des Anzugs und drückte eins davon dem Mädchen in die Hand. Ohne auf ihren fragenden Blick zu reagieren, ging er dann an das Grab heran und stellte den anderen Beutel auf dem aufgerichteten Stein am Kopfende des Erdhügels. Einige Momente verharrte er mit gesenktem Kopf und als er sich umdrehte, hatte Charlotte das rosafarbene Bändchen, mit dem der Beutel verschlossen war, geöffnet. Als sie hineinblickte, umspielte ein Lächeln ihre Lippen, etwas, davon war Ettark überzeugt, was seit Tagen nicht mehr geschehen war.
Nebeneinander verließen die beiden schließlich den Friedhof. Auf dem Grabstein blieben nur zwei braune Tüten. Zwei Tüten voll der besten Pralinen der Stadt.

Aussicht auf neue Ufer?


Es war der Nachmittag des zwölften Tages nach Miriels Ermordung
Der mehr oder weniger unfreiwillige Urlaub war vorbei und Ettark hatte angefangen, seine Fühler erneut nach Silberblech auszustrecken. Er war überzeugt, dass dies die einzige Spur war, die er hatte. Doch bisher völlig ohne Erfolg, keine große Überraschung, schaffte es dieser Mann doch seit geraumer Zeit, nicht nur die Ordnungskräften der Zwillingsstadt sondern auch die der Diebes- und Handelsgilde im Dunklen tappen zu lassen.
Müde von einem langen Streifgang durch die Stadt, betrat der Obergefreite Ettark Bergig sein Büro und ließ sich in den gepolsterten Stuhl hinter seinem Schreibtisch fallen. Vor ihm lag ein weiterer Marathon. Der Aktenberg, der sich in den letzten Wochen auf - und neben- seinem Schreibtisch gebildet hatte, musste endlich abgearbeitet werden und das war mit Sicherheit nicht die Arbeit, für die er in die Wache eingetreten war.
Er seufzte, lies die Fingergelenke knacken und beugte sich vor, als ihn eine Überraschung erwartete. Ganz oben auf dem niedrigsten der drei Stapel lag eine Akte, die am Morgen noch nicht da gewesen war. Das alleine war keine große Überraschung, er war längst zu der Überzeugung gekommen, dass die Akten durchaus auch zur selbstständigen Vermehrung in der Lage waren, doch der oben aus dem Aktenordner guckende Reiter war es schon.
"Mordfall Gefreite Miriel Gerfurt" stand dort und spezifizierte damit den Fall, der im Inneren der Akte dokumentiert wurde. Da Ettark jedoch offiziell von diesem Fall abgezogen worden war [11], war der letzte Platz, an dem diese Akte im Wachhaus liegen sollte, sein Schreibtisch.
Nach einem raschen Blick durch das Büro, welches, wie so oft, außer dem Informantenkontakter leer war, legte er sich die Akte auf den Schoß und öffnete den mit einem Seil gesicherten Deckel.
In fachmännischer Sprache war dort der Fall beschrieben, Miriels Akte, die Umstände des Mordes, die verschiedenen am Tatort gefunden Indizien [12], der Obduktionsbericht, den Ettark aufgrund der ausführlichen Bebilderung überschlug und schließlich ein Gutachten eines Experten über den Bolzen. Und hier, endlich, enthielt die Akten etwas wirklich Neues.
So wie es aussah, war der Bolzen nicht in Ankh-Morpork hergestellt oder zumindest keiner der als Massenware produzierten Exemplare. Das Holz, aus dem der Schaft hergestellt worden war, war Ettark nicht bekannt und auch der Experte hatte seine Informationen aus einem Artikel einer Fachzeitschrift, die er zitierte, in dem dieses besonders widerstandsfähige Holz das Thema war. Dort wurden auch die verschiedenen heimischen 'Biotope' beschrieben, die allesamt recht weit von der Zwillingsstadt entfernt lagen.
Außerdem hatte der Autor des Gutachtens eine kurze, ihm unbekannte Signatur unter der Bolzenspitze gefunden und schlussendlich gefolgert, dass die Waffe vermutlich von einem reichen Kaufmann oder Seefahrer geführt worden war.
Ettark lächelte. Nachdem er sich die Signatur und die Holzart in seinem Büchlein notiert hatte, schnitt er noch die Ikonographien des Bolzens und der vergrößerten Signatur aus der Kopie aus und legte sie zu seinen Notizen. Dann zerriss er den Bericht in sehr kleine Teile und ließ ihn ganz unten in seinem übervollen Papierkorb verschwinden.
Scheinbar hatte er doch mehr Unterstützer in der Wache, als er gedacht hatte.
Was nun vor ihm lag, wusste er. Zuerst musste er heraus finden, wem diese Signatur gehörte. Und wenn es wirklich ein Seefahrer war, musste er vielleicht sogar die Stadt verlassen, um ihn ausfindig zu machen. Dass solch ein Einsatz nicht bei SEALS möglich war, verdrängte er vorerst.

Doch dass ist eine andere Geschichte.

Ende

[1] sein klitzekleines... 'Dosierungsproblem' mit Schmerzmitteln nicht zu vergessen, aber die Schuld zuerst bei sich selbst zu suchen war noch nie seine Stärke gewesen

[2] einige Mitglieder hatten gewisse Antipathien gegen Sonnenlicht

[3] siehe Multi 'Blutsauger ante Portas'

[4] als Wächter, der sich nicht als solcher zu erkennen geben durfte, schnappte Ettark in seinem Bezirk viele wächterfeindliche Witze auf... und fand sie meistens recht amüsant...

[5] "Verflucht, warum der kennt meinen Namen und ich weiß nicht mal, wer das ist." schoss es Ettark durch den Kopf"

[6] auch wenn er persönlich das bezweifelte. Aber, was immer es auch war, es brannte beinahe geruchlos, mehr konnte er für den geringen Preis wohl nicht verlangen

[7] er hatte sie nicht alle geleert, viele hatte er nur 'mal probiert' und dann zu den anderen gestellt

[7a] oder mit etwas Fantasie einem auf dem Rücken liegenden B

[9] auch das nicht sonderlich einfallsreich, doch so war es für die Informanten am unauffälligsten, sie mussten einfach den B-Strich weg wischen und Ettark wusste, das in dem Briefkasten etwas auf ihn wartete.

[10] Ettark fragte sich, ob die Retter ohne Gnade wohl von ihren Namensvettern wussten

[11] begründet wurde das mit angeblicher 'Befangenheit'

[12] nichts, was die Ermittlungen weiter bringen könnte

Zählt als Patch-Mission für den Informantenkontakter-Patch.



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Feedback:

Von Aglaranna

12.12.2011

Die langen Schachtelsätze verleiten dich leider zu mehr Fehlern als nötig (wie mir jetzt aufgefallen ist, hab ich wohl noch welche übersehen oder hinterher wurden noch Änderungen gemacht). Es gefällt mir sehr gut, wie du den Charakter und die Gedanken von Ettark beschreibst. Das gibt ihm mehr Tiefe, als ich erwartet hätte. Die Story ist spannend und ich freue mich wirklich auf die Fortsetzung (die ja vermutlich kommen wird).

Von Braggasch Goldwart

10.12.2011

Mitreißend! Eine flüssig durchzulesende, fesselnde Single mit nur wenigen Schwachpunkten. Wirft ein sehr interessantes und ungwohntes Bild auf Ettark. Einzig die Häufung von Zufällen hat mich ein klein wenig gestört, aber so sind eben die Regeln der Scheibenwelt. ;)

Von Kanndra

11.12.2011

Eine würdige Abschiedssingle für Miriel und eine sehr dichte Charakterstudie von Ettark.

Von Menélaos Schmelz

09.12.2011

Sehr detaillierte, emotionale Schilderung eines persönlichen Falls, wobei der Text sich manchmal in Kleinigkeiten verliert und netto die Handlung ein bisschen klein ist. Allerdings ist die Schreibe klasse und man war sehr nah am Geschehen. Die Detailaufnahmen sind sehr gelungen und Ettark bekommt viel mehr Tiefe (als ich zuvor den Eindruck hatte)! Bin auf Teil 2 gespannt! Die drei Streifen auf der Schulter waren übrigens ein Brüller :D

Von Ophelia Ziegenberger

01.1.2012

Eine Charakterstudie Ettarks, wie man sie sich nicht besser wünschen könnte. Auch seine Art des Ermittelns kommt schön zur Geltung und bringt mich dazu, mein Bild von ihm etwas zu revidieren. Er ist bei weitem vorsichtiger, als ich es vermutet hätte. Ich freue mich schon auf den zweiten Teil! :-)

Von Ettark Bergig

15.12.2011 13:50

Ui, das wertet den Vormittag in der Bib doch auf :D

Vielen Dank für meine erste 12 ^^

Ja, die Schachtelsätze sind eine alte Schwäche von mir, ich versuch nächstes mal, drauf zu achten ;)

Das Problem mit den Zufällen war mir bewusst, problematischerweise ist Ettark momentan (noch) kein wirklich guter Ermittler (wie auch, wenn man immer alleine arbeiten will), das heißt, das narravatium muss ihm dann und wann noch unter die Arme greifen ;)



Freut mich, dass ich Ettark endlich etwas mehr Tiefe geben konnte, ich werde es weiter versuchen ^^

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