Das Bernsteinhaus

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von Hauptmann Pismire (GRUND)
Online seit 23. 10. 2011
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 Außerdem kommen vor: MaganeOphelia ZiegenbergerRomulus von GrauhaarLilli BaumKolumbini

Der reiche Fußmattenfabrikant Bruno Apdrit wird nach dem Seelenkuchendinner vergiftet. Eine testamentarische Verfügung hält alle Anwesenden für ein Jahr im Haus fest. Ein Ander-Kaffer-Einsatz für Lilli Baum. (Wichtelsingel)

Dafür vergebene Note: 14

"Du meine Güte - ein ganzes Jahr sitzen wir hier alle fest? In diesem Haus? Das kann doch nicht sein! Als ob man in einem Haus in Stellung sein möchte, wo so etwas Schreckliches passiert!"
"Und ob. Und du hättest die Gesichter sehen sollen, als dieses Ko-zieh-diehl-Dings verlesen wurde. Ich dachte schon ..."
"Es heißt Kodizill, nicht Kozidill, du Trampel. Und gesehen hast du doch auch nichts - du kannst doch höchstens an der Tür gelauscht haben - wie immer."
"Pffft. Du magst dir sonst was auf deine feine Erziehung und deine kleinen Nebenverdienste einbilden, Fräulein Hochnäsig, aber eins sage ich dir: Damit, dass sie alle hier noch ein Jahr auf ihre Beute lauern müssen, hat auch von denen da oben auch keiner gerechnet. Und ich sage dir noch etwas: der alte Herr - aber psssssssssst, da kommt jemand."

Der besagte Jemand, der das Gespräch der beiden Frauen hier so jäh unterbricht, ist eine junge, braunhaarige Frau, die unter der Last von drei schweren Kohlenschütten und einem bronzenen Kaminbesteck, das sie sich ein wenig unbeholfen unter den Arm geklemmt hat, quer durch eine dunkle, geflieste Eingangshalle ächzt. Schlecht sitzendes Häubchen, Kittelschürze von zweifelhaftem Weiß und derbe Schuhe weisen sie als Dienstbotin der unteren Klasse aus. Eine Haushaltshilfe also. Ihr Gesicht wirkt einfältig, und als sie die beiden Sprecherinnen passiert, knickst sie schüchtern. Die ältere der beiden, der die Aussprache des fremden Wortes solche Probleme bereitet hat, ist eine derbe und plumpe Person von mittlerer Größe. Ihr Alter liegt irgendwo jenseits der Fünfzig, mit Sicherheit in der zweiten Hälfte. Auch ihre Kleidung verrät die Dienstbotin. Allerdings weisen die weiße, mehlbestäubte Schürze, die fleckigen Ärmelschoner und die hohe, gestärkte Haube sie als Köchin aus. Ihr Gesicht wirkt wie ein Hefekloß, in den jemand nachlässig zwei Rosinen als Augen gesteckt, darunter ein wenig Teig zu einer spitzen Nase gezogen und mit einem spitzen Messer eine an beiden Enden nach unten weisende Linie als ewig unzufriedenen Mund gezogen hat. Das unbedeutende Kinn geht beinahe nahtlos in eine Reihe schwammiger und runzeliger weiterer Kinne über. Die andere Frau wirkt trotz ihrer dreißig Jahre beinahe gleichaltrig. Von der Figur her ist sie der reine Gegensatz zu der Köchin, die übrigens auf den Namen Gretchen Besen, geborene Muschel, hört. Eckig und mager wie sie ist, wirkt sie wie eine jener ewig hungrigen, durch die Straßen Ankh-Morporks streunenden Katzen. Der langjährige Umgang mit teuren Kleidern und mit Schmuck, den sie sich nie leisten können wird, hat ihrem Gesicht den Stempel tiefempfundenen Neides aufgedrückt, der sie schon in jungen Jahren ältlich erscheinen lässt. Ihr schwarzes, schlichtes Kleid, das einfache Häubchen aus billiger Spitze und die abgetragenen, schwarzen Damenschuhe, die mit angeschlagenen Spangen geschmückt sind, kennzeichnen sie darüber hinaus überdeutlich als Zofe, wozu auch ihre gedehnte und gezierte Sprechweise passt.
Als die junge Frau die beiden passiert hat, rümpft die Zofe die Nase: "Was heutzutage so alles in Stellung geht ...!"
"Nun, ihr beide könnt Om für seine Güte danken, dass sich so schnell jemand für die Stelle gefunden hat, sonst dürftet ihr euch mit den Kohlenschütten vergnügen!" Die scharfe Stimme einer Frau macht dem Pläuschchen der beiden Dienerinnen jäh ein Ende. "Und darüber hinaus bin ich mir sicher, dass ihr beide auch so ausreichend zu tun habt. Wenn ich es richtig sehe, Magda, so hätte deine Herrin nichts dagegen einzuwenden, wenn du ihr nun endlich beim Einkleiden behilflich wärest."
"Ja, Frau Plüsch." Ein missmutiger Knicks, und die Dürre entschwebt über eine der Treppen nach oben.
"Und was die Küche angeht, Frau Besen ..."
"Das soll ja wohl meine Angelegenheit sein, Frau Plüsch", schnappt die Köchin.
"Nun, dann sollten Sie Ihrer Angelegenheit nun auch Ihre volle Aufmerksamkeit widmen. Darüber hinaus bin ich sicher, dass das Frühstücksbuffet heute ein wenig schneller aufgefüllt wird als gestern und dass auch jemand darauf achtet, dass die Wärmeplatten nicht wieder ausgehen. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn sie das Herrn Besen mit der Ihnen gegebenen Eindringlichkeit ins Bewusstsein rufen könnten."
"Wären das nicht die Aufgaben von Hudrun?" Es liegt nicht in Frau Besens Charakter klein beizugeben.
"Heute Morgen ist der wöchentliche Frauengottesdienst in der Omnianschen Gemeinde, wohin Hudrun mich begleiten wird. Diese Zeit ist ihr als freier Vormittag zugestanden - sobald sie die Kamine versorgt hat. Hudrun wird also erst ab heute Vormittag wieder im Dienst sein. Immerhin steht ihr ein halber freier Tag in halber freier Tag in zwei Wochen zu."
Mit diesen Worten verlässt die als Frau Plüsch bezeichnete Person die Halle, allerdings in eine andere Richtung als die Köchin.
Erst als die beiden verschwunden sind, tritt die unauffällige Dienstmagd mit den Kohlenschütten aus dem Schatten einer Tür, von wo aus sie alles mit angehört hat. Beiläufig lässt sie ein kleines Notizheft und einen Stift in die Tasche gleiten.

*****


Chief-Korporal Magane ließ ihre Stimme mit dem letzten Choral ausklingen, dann schloss sie das Gebetbuch. Einen Augenblick sammelte sie Ihre Gedanken. Seit einiger Zeit besuchte sie den Frauengottesdienst im Tempel nicht mehr mit derselben Unbeschwertheit wie noch am Anfang des Jahres [1], dennoch fand sie es nach wie vor schön, ihre Großmutter zu begleiten. Und sie genoss den Gesang, die Gemeinschaft und die Möglichkeit, ein wenig vor ihrer Arbeit abschalten zu können. Während die Frauen in Richtung Café und Klatsch strömten, trödelte die Wächterin ein wenig herum, rückte hier und da ein Kissen gerade, sammelte noch zwei vergessene Gebetbücher ein und legte sie gut sichtbar auf die vordere Bank, damit ihre Besitzerinnen sie sich später holen konnten. Wie von selbst fand ein kleiner Zettel, der in einem der Bücher gesteckt hatte, den Weg in ihre Handtasche.
"Ich muss jetzt zum Dienst", verabschiedete sie sich leichthin über die Schulter von ihrer Großmutter. "Grüße Tom und Opa."
Im Pseudopolisplatz angekommen entzifferte sie die Worte auf dem kleinen Kassiber: "Schwierig alle zu be-Urteilen. Kodhißiehl war unerwartet, auch für Persohnal. Nächste Woche wird ein Feilchen vor dem Alltar stehn." Das Büchlein, aus dem der Zettel stammte, trug innen in einer kindlichen Schreibschrift den Namen Hudrun, was die stellvertretende Abteilungsleiterin von SuSI wusste, auch ohne den vorderen Einband gesehen zu haben - immerhin war sie ein wenig beim Organisieren der Tarnung behilflich gewesen. Die Gemeindesekretärin wiederum hatte ihr geholfen, für die aus Omnien stammende und stumm geborene Cousine eines entfernten Verwandten ihres Vaters einen Empfehlung der Gemeinde im Bezug auf ihren Leumund auszustellen, damit das arme Mädchen hier versuchen konnte, in einem guten Haus in Stellung zu kommen. Denn wie leicht konnte so ein junges, unschuldiges Ding hier in diesem Sündenpfuhl in falsche Hände geraten. Und wie sehr hatte sich die Kleine gefreut, unter die Fittiche von Frau Plüsch, einer strenggläubigen Omninanerin, die einem wohlhabenden Haus als Hausdame vorstand, zu kommen ...
Nun, was immer RUM sonst noch aus diesem Zettelchen lesen konnte - wenn sie ihn nicht schleunigst weitergab, dann nütze er auch nichts. Magane übergab ihn dem zuständigen Rohrpostdämon und machte sich wieder an ihre eigentliche Arbeit.

*****


"Nun, so schnell hätte ich auch nicht mit Neuigkeiten gerechnet. Immerhin ist sie keine drei Tage im Haus. Und wir haben Glück, da überhaupt jemanden so nahe dran installieren zu können. Offensichtlich scheint auch dieser Teil der Informationsübermittlung gut zu funktionieren. Allerdings brauchen wir weitere Übergabemöglichkeiten - ich hab da auch schon eine Idee. Dazu aber später. Gehen wir jetzt erst einmal die ersten Ergebnisse durch."
Der Abteilungsleiter von RUM hob mit einem zufriedenen Grollen eine mehrseitige Notiz, auf der deutlich die Worte SuSI und Abschlussbericht zu lesen waren, von einem Aktenstapel. "Fangen wir mit dem Obduktionsbericht an. Die" - er blätterte kurz zur letzten Seite und wieder zurück - "Damen von SuSI sind fertig. Wenn wir das ganze technisch-medizinische Blabla mal beiseite lassen, dann interessiert uns hieran vorläufig nur zweierlei: Der Mann starb im Verlauf der Nacht - nicht vor drei und nicht nach vier Uhr - und er wurde vergiftet."
"Womit und wie?", hakte seine Stellvertreterin nach.
"Die Gerichtsmedizin geht von einer Vergiftung mit Atropin aus. Das deckt sich mit den Ergebnissen des Labors."
Ihre gute Allgemeinbildung ließ Chief-Korporal Ziegenberger auch diesmal nicht im Stich. "Also Belladonna? Gibt es schon Vermutungen, wie man es ihm verabreicht haben kann? Ich habe gehört, dass es abscheulich schmecken soll. Sehr bitter, einfach unangenehm und durchdringend. Also wohl nicht das, was jemand einnimmt, der ..." Sie brach ab.
Romulus von Grauhaar blätterte weiter im Bericht. "Die Spurensicherer haben neben seinem Bett eine kleine Tasse mit den Resten von klatschianischem Mokka sichergestellt. Deren Analyse ergab Reste von Atropin in einer für die tödliche Vergiftung ausreichenden Dosis. Die Lady will sich aber noch nicht voreilig festlegen, ob exakt dieses Atropin zum Tode geführt hat - wir kennen das. Es könnte ja sein, dass hinter einem Wandschrank aus der Zeit von Lorenzo dem Netten noch ein Gefäß mit demselben Gift gefunden wird, aus dem dann die tödliche Dosis verabreicht wurde." Ein leicht säuerliches Grinsen begleitete diesen Teil seines Vortrags. "Es gab noch eine Warmhaltevorrichtung mit einer Mokkakanne auf dem Tisch - da war interessanterweise kein Gift drin. Und auch nicht in der unbenutzten Tasse daneben."
"Und sie haben auf der Tasse Fingerabdruckspuren festgestellt - die des Toten. Und nur die, was aber nicht viel heißen muss", mischte sich nun Korporal Kolumbini, der offiziell die Ermittlungen leitete, ein. "Wenn er aus der Tasse getrunken hat, dann müssen mindestens seine Fingerabdrücke drauf sein. Und ein eventueller Giftmörder kann das Gift vorsichtig aus einer Phiole hineingießen. Oder Handschuhe tragen - heutzutage packt sowieso nur noch ein völlig verblödeter Mörder irgendetwas ohne Handschuhe an. Und sein Diener wird ebenfalls Handschuhe getragen haben - ohne das ihn das von vorneherein verdächtig macht", fügte er augenzwinkernd hinzu.
"Womit wir bei einem weiteren interessanten Aspekt des Themas wären", bemerkte der Abteilungsleiter. "Nachdem das Gift verabreicht wurde, hat der Täter eine Zimtbombe[2] geworfen. Die Spurensicherer haben die Glasscherben gefunden. Sie mussten auch nicht lange danach suchen. Womit sämtliche olfaktorischen Untersuchungsmethoden perdu wären."
"Auch das ist nicht weiter verwunderlich", entgegnete sein Freund und Untergebener. "Was willst du? Das mit denen - also den Verbrechern - und uns ist wie diese ephebianische Geschichte vom Pfeil und der Schildkröte - wenn der Pfeil da ist, ist die Schildkröte schon weiter und ..."
"Dennoch kann man die Biester erschießen - ich", knurrte sein Vorgesetzter, "bin mir da verdammt sicher."
Leise hüstelnd brachte Ophelia die Herren wieder zurück zum aktuellen Fall.

*****


In einer zugigen und regenfeuchten Dachkammer in Ankh-Morpork schnürte eine junge Dienstmagd sorgfältig ihre Stiefel auf, damit sie endlich ins Bett gehen konnte. Ausziehen würde sie sich nicht - nicht mit diesem dünnen Fetzen von Betttuch, das kaum mehr als ein Laken war, und den undichten Fenstern. Sie wollte lediglich das Schnürmieder lockern und die fast bodenlange Leinenschürze ablegen. Sie fror und zitterte leicht. Hundemüde rieb sie ihre Augen. Es war kurz vor Mitternacht, als sie endlich die letzten Arbeiten des Tages erledigt hatte. Ihr Rücken brannte wie Feuer, ihre Unterarme schmerzten und die Muskeln ihrer Finger waren verkrampft. Niemals hätte sie gedacht, dass diese einfachen und schlecht bezahlten Arbeiten derartig hart werden könnten. Um kurz nach Fünf begann ihre Dienst von neuem. Andererseits war das genau das, wofür sie immer trainiert hatte: ein Einsatz Ander Kaffer!
'Denn eigentlich', dachte sie trotzig, 'bin ich keine junge Dienstmagd. Ich spiele nur eine. Ich bin Wächterin. Und nicht irgendeine Wächterin: Ich bin Feldwebel Baum.'
"genau. du bist gutes Holz, du wirst das schon schaffen!" Dankbarkeit, weil ihr Innerer Baum ihr so den Stamm stärkte, durchfloss sie.
Mit weicher Hand streichelte sie ihr Bett. Holz. Gutes, liebevolles - allerdings auch totes - Holz würde sie heute Nacht behüten. Mit fester Hand schob sie den ramponierten Stuhl (aus gutem Holz) unter die Türklinke - immerhin war auch die Tür aus Holz - wie es ihr Frau Plüsch geraten hatte. Morgen - eigentlich gleich - würde ihr Tag wieder mit dem Anheizen der Herde in der Küche und dem Boiler auf dem Dachboden beginnen. Danach waren die Kamine in den Schlafzimmern der Herrschaften dran. Ihr schauderte es vor dieser Arbeit mit dem Brennholz, aber ihr war klar, dass sie sie a) nicht verweigern konnte, ohne zu riskieren, vor die Tür gesetzt zu werden und sie b) die Bäume mit ihrem Protest auch nicht mehr zum Leben erwecken würde. Dennoch war die Hausarbeit ein hartes Pflaster. Zwar hatten einige Wächterinnen, vor allem die aus besseren Häusern, die zumindest in Ansätzen mit den Aufgaben einer Dienstmagd vertraut waren, versucht, sie auf diese Aufgabe vorzubereiten, aber in dieser Form Teil einer Maschinerie zu sein, war eine ungewohnte Erfahrung für Lilli. Dazu kam ihre Stummheit. Keine ankh-morporkianische Dienstmagd wäre in der Lage gewesen, einen derartig auffälligen Gerätedämonen auch nur in zehn Jahre abbezahlen zu können, also hatten Horatio/Günter und das gläserne Brett in der Wache zurück bleiben müssen, um ihre Rolle nicht zu gefährden.
Lilli seufzte. Sie war fix und fertig, und dabei war das heute gar kein ganzer Tag gewesen - sie hatte einige Stunden in Freiheit verbringen können - nun ja, nicht in Freiheit, aber wenigstens sitzend im omnianischen Frauengottesdienst. Zwar war Frau Plüsch nicht von ihrer Seite gewichen, aber wenigsten hatte sie ihr Gebetbuch so 'vergessen' können, dass Chief-Korporal Magane die Gelegenheit nutzen konnte, den Kassiber zu sichern. Für die nächste Woche war eine neue Übergabemethode vereinbart worden, damit niemand die Übergabe bemerken würde. Es wäre ja blöd, wenn sie schon wieder ihr Gebetbuch liegen lassen würde. Obwohl - sie kicherte ein wenig in sich hinein - es gehörte ja zu ihrer Tarnung, ein wenig blöd zu wirken ...

*****


"Das ist das mit Abstand dämlichste Testament, von dem ich je gehört habe!" Fredegunde Schmalzbier richtete sich am Frisiertisch sitzend zu voller, stattlicher Größe auf. "Und ich verstehe ü-ber-haupt nicht, warum wir uns das gefallen lassen müssen. Wenn du ein richtiger ..." Wütend bürstete sie ihr Haar mit energischen Strichen weiter, während der einmal begonnene Monolog unablässig weiter lief.
Der, dem ihre Worte galten, Gesto Schmalzbier, seufzte ergeben. Jetzt kam wieder diese Litanei, die er bis zum Überdruss mitsingen konnte. Am besten war es, sich auf das Kommende zu konzentrieren, denn nichts oder niemand konnte Fredegunde in dieser Laune bremsen. Auch der Hinweis auf die geöffnete Zimmertür würde den Zornesausbruch seiner Gattin nicht dämpfen - im Gegenteil. In aufgeregtem Zustand war die ehemalige Nachtclubsängerin immer noch in der Lage, mit ihrer Stimme enorme Entfernungen zu überbrücken.
"Beruhige dich doch, Schatz. Das ist ja noch gar nicht das Testament, lediglich ein Kodizill. Und es kann uns mehr als nur zum Vorteil gereichen, wenn wir uns ganz genau und exakt an die Bestimmungen halten."
"Du weißt ganz genau - ganz genau, Gesto, was ich davon halte, wenn du mich mit deinem - deinem Anwaltsjargon zu korrigieren gedenkst. Ob dieses Ding nun ein Kodizill oder ein Testament ist - es legt uns darauf fest, noch ein Jahr mit diesen unmöglichen Menschen hier in diesem unmöglichen Haus festzusitzen. Und das nur deshalb, damit wir dann das eigentliche Testament vorgelesen bekommen - wie bescheuert ist das denn!"
"Schatz, ich erinnere dich ja nur ungern daran, dass du vor zwanzig Jahren eine Menge deiner nicht unerheblichen Talente in die Waagschale zu werfen bereit warst, um die Herrin eben dieses unmöglichen Hauses zu werden."
Madame Schmalzbier fuhr hoch und herum. Die beiden Ehegatten starrten sich wortlos an, bis die Frau die Augen verdrehte und ihrem Mann einen schmachtenden Blick schenkte.
"Aber Schatz, das war doch lange, bevor ich dich kennengelernt hatte." Lange Wimpern flatterten verführerisch, die Stimme gurrte.
"Nein, Mausespatz, das war vier Jahre nachdem du meine Geliebte und zwei Jahre nachdem du seine Mätresse geworden warst. Aber lassen wir das nun. Wir sollten hinuntergehen zum Frühstück - der Rest der Bagage wird sich dort herumtreiben."
Anscheinend in bestem Einvernehmen verließen die beiden das Schlafzimmer.
Nur wenige Augenblicke nach ihnen huschte ein Dienstmädchen aus dem angrenzenden Badezimmer, wo es sowohl das Messing poliert als auch die Ohren gespitzt hatte, und schlüpfte aus dem Raum.

*****


Der Speisesaal im Hause Apdrit verfügte an der Stirnseite über ein opulentes Frühstücksbuffet, vor dem Rolf Besen in tadelloser Livree die Handreichungen für die Herrschaft übernahm. An der langen Tafel saßen die Gäste des Hauses in zwangloser Folge und frühstückten. Allgemein herrschte Stille. Nach der Sensation, dass ihr Gastgeber vom Seelenkuchendienstag den Seelenkuchenmittwoch nicht mehr erlebt hatte, es sich dann herausgestellt hatte, dass vermutlich ein Mord vorlag, die somit geplante Entenjagd auf der Sto-Ebene ersatzlos gestrichen war, der am Freitag erscheinen Familienanwalt mit Hilfe einer testamentarischen Verfügung verkündet hatte, dass keiner der Anwesenden für ein Jahr das Haus verlassen durfte, war nach einem Wochenende voller heftiger Streitereien am folgenden Montagmorgen danach ein wenig die Luft raus. Auch das gutgelaunte Auftauchen des Ehepaars Schmalzbier, das seinem hoffnungsvoll gehegten Sohn Gesper vor der Plünderung des Buffets noch rasch die Wange tätschelte, sorge nicht für bessere Stimmung.
Efeulalia Kehrer, die Nichte des Toten, und ihr Mann Robert nickten nur kurz, sahen aber beide nicht von ihren vollgepackten Tellern auf. Der Habitus der armen Verwandten hatte sich allzu deutlich in ihrem Benehmen verfestigt, als das sie in einem solchen Moment von der üblichen Strategie: raffen, was zu raffen war, abrückten. Ihnen gegenüber nippte die Familie Anort - bestehend aus Prester Anort, Askesia Anort geb. Apdrit und ihrer Tochter Pekunia - nur kurz am Kaffee. Von weiten wirkten die Drei durch ihre beinahe synchronen Bewegung wie eine seltsame Vogelschar an einer Pfütze. Auch sie vermieden es deutlich, mit den gerade Eintretenden in Kontakt zu kommen, die es ihrerseits vorzogen, den freundlichen Gruß einer jungen Frau am Ende der Tafel nicht zu bemerken. Schmalzbiers ließen sich am Kopfende des Tisches nieder und begannen mit der ersten Mahlzeit des Tages. Sie waren allerdings noch nicht weit gekommen, als das kurzatmige Schnaufen und rhythmische Pochen eines Stockes eine weitere Person ankündigte: Bernharda Apdrit, die Schwester des Ermordeten taperte in den Raum. Als sie jedoch ihren Blick über die Anwesenden gleiten ließ, verzerrte sich ihr mürrisches Gesicht zu einer Maske blanken Hasses.

"Das hättest du hören sollen!" Rolf Besen platze geradezu vor Entzücken, als er seiner Frau die Szene beim Frühstück schilderte. "Wie eine Furie ist sie auf die Schmalzbiersche los und hat sie wüst beschimpft. Als Dirne, Flittchen, Erbschleicherin und so weiter. Und dass sie ihren verrottenden Hintern von anständiger Leute Polsterstühlen heben solle, und dass ihr ein Platz am Kopfende schon gar nicht zustünde - egal wie sehr sie dafür einst sich der Unzucht gewidmet habe, um an eben jenen zu kommen."
"Nein so etwas, so etwas aber auch! Und das in diesem Hause!" Mit geheucheltem Entsetzten ob solch sittenloser Reden schüttelte die Köchin ihren Kopf.
"Aber die alte Schmalzbier ist ihr keine Cent schuldig geblieben. Von wegen Unmoral, dazu gehörten ja wohl zwei wie ihr - auch wenn sie vermute, ihr Gegenüber kenne sich bei dem Thema sowieso nur vom Hörensagen und durch das Blättern in zwielichtigen Heftchen aus ...", ebenso entzückt wie erschreckt schlug seine Frau die Hände vor den Mund, "... zweifelsfrei bekannt sein solle. Sie wolle ja nur Gärtner sagen. Und weißt du was!? Das hat der alten Hexe doch tatsächlich die Sprache verschlagen." Die beiden Eheleute wechselten einen verschlagenen, wissenden Blick.
Sie unterbrachen ihr Gespräch, als die kleine Dienstmagd sich näherte. Mit einem angedeuteten Knicks wies auf das Spülbecken hinter sich.
"Ist der Abwasch endlich erledigt?"
Die Angesprochene knickste.
"Bist du mit den Badezimmern fertig?"
Wieder ein Knicks.
"Gut, dann kannst du jetzt mit dem Speisezimmer weitermachen. Die Öfen müssen gereinigt und die Teppiche gebürstet werden - aber gründlich! Und beeile dich - es ist mehr viel Zeit bis zum Mittagessen - in allerspätestens einer Stunde musst du fertig sein. Hast du mich verstanden!?"
Wieder ein Knicks.
"Na dann - ab mit dir!"

*****


Mit dem hochmütigen Blick der gehobenen Angestellten in einem vornehmen Haus öffnete Rosamunde Plüsch die Tür. Der Anblick von Korporal Kolumbini machte ihr hageres und kantiges Gesicht nicht freundlicher, und die Anwesenheit seines Hundes, der phlegmatisch an einer langen, geflochtenen Leine mit einer Verlängerungsvorrichtung sich hinter den Ohren kratzte, ärgerte die Frau ersichtlich.
"Was denn nun schon wieder?", herrschte sie den kleinen Mann an, während sie die Tür fest in der Hand hielt und auf die Person, die auf den Stufen vor dem Haus Apdrit stand, mit eisiger Verachtung herab sah.
"Ja, äh, guten Tag, Mäm, ich vermute, ich komme ungelegen, wie so meistens, es tut mir auch leid, weil ich weiß, dass sie mit den zusätzlichen Gästen im Haus auch viel zu tun haben, aber ich hätte da noch einige Fragen bezüglich des, äh, des bewussten Abends, an dem - Sie wissen schon."
Auch dieser unordentliche und entschuldigend vorgetragenen Redefluss stimmte Frau Plüsch nicht gnädiger.
Mit einer knappen Bewegung ermöglichte dem RUM-Ermittler Zutritt zur Eingangshalle, wo dieser unmögliche Mensch auch schon wieder begann, in diesem unvorteilhaften Mantel zu fummeln und zu suchen. Innerlich seufzend bat Frau Plüsch Om um die nötige Stärke in dieser Zeit der vermehrten Prüfungen und den Propheten Ossory um Geduld.
"Und wen wünschen Sie denn nun zu sprechen?" Angewidert schaute sie auf den Hund, der unbeeindruckt aus trübbraunen Augen hechelnd zu ihr hochblickte.
"Äh, Mäm, wenn es nichts ausmacht, dann würde ich gerne noch mal Herrn und Frau Anort sprechen - und äh, ja die Tochter eigentlich auch." Mit einem Blick in die endlich aus den Tiefen seines Mantel zutage geförderten Notizen hob er erneut an: "Ich würde gerne noch wissen, ob ..."
Doch mit dem Ruf: "Besen!", unterbrach ihn die Haushälterin.
Verwirrt schaute Inspäctor Kolumbini seinerseits nun die Frau an.
Wie aus dem Nichts tauchte der Diener auf.
"Bitte sorgen Sie dafür, dass das Tier hier solange in den Garten geführt wird. Wenn Korporal Kolumbini uns verlässt, dann veranlassen Sie bitte, dass ihm sein Hund erneut beigesellt wird. "
"Sie erlauben, mein Herr?" Mit einer höflichen Bewegung nahm der Diener die Leine an sich.
Widerwillig setzte der Hund sich in Bewegung, während sein Herrchen von der mürrischen Hausdame in den rechten Flügel des Gebäudes in einen der dortigen Salon gebracht wurde, wo er dem Ehepaar Anort und dem Fräulein Pekunia noch einige Fragen stellen konnte.

Als der Wächter das Haus verließ, brachte ihm eine junge Dienstmagd mit einem schüchternen Knicksen den Hund zurück. Zufrieden pfeifend machte der Wächter sich auf den Weg zum Pseudopolisplatz, wo der Kassiber von Lilli Baum hoffentlich für neue Impulse bei den Ermittlungen sorgen würde.
"Siehst du, alter Junge", meinte der kleine Mann freundlich zu seinem Vierbeiner, während er seine Pfeife wieder in Gang setzte, "da hat sich die neue Leine samt der Verlängerungsvorrichtung doch schon bezahlt gemacht."

*****

In ihrer Dachkammer las Lilli Baum angestrengt mit Hilfe einer Hochleitungslupe die winzigen Berichte und Arbeitshypothesen, die in Form einer streichholzschachtelbreiten und armlangen Schriftrolle in der Verlängerungsvorrichtung von Inspäctor Kolumbinis Hundeleine verborgen gewesen war. Die Lupe selbst war kein Bestandteil dieser Lieferung gewesen, sie war bereits mit der Wächterin in Form eines Strasssteins an ihrem Schildkrötenanhänger ins Haus gekommen, der das vertraute Amulett von Paluksé hatte ersetzen müssen.
Zwei Stunden später legte sie die Papiere beiseite. Mittlerweile hatte sie sich an die harte Arbeit gewöhnt und - auch das hatte sie schnell mitbekommen - man konnte sich hier und da vor ihr drücken, denn das machten alle hier so. Nur würde das nach außen natürlich keiner der Dienstboten zugeben. Und die eine Nacht mit weniger Schlaf - nun, was machte das schon. Sie reckte und streckte sich ein wenig, dann stand sie vom Bett auf und begann, sich langsam im imaginären Wind zu wiegen. Das beruhige sie, entspannte sie gleichermaßen und half ihr, ihre Gedanken zu ordnen. Und da sie die Dachkammer zum Glück allein bewohnte, konnte sie niemand dabei komisch ansehen.

Zusätzlich zu "Hudrun" hatte Frau Plüsch - angesichts der Tatsache, dass die zu versorgende Herrschaft sich mit einem Schlag vervielfältigt hatte - noch zwei weitere Aushilfen eingestellt: Marieluise und Heideursel, ein ständig kicherndes Zwillingspärchen, deren Mutter, Resel Bierdrucker, regelmäßig einen Teil der Wäscherei für den Haushalt in Heimarbeit erledigte. Außerdem hatte die Anorts ihre Zofe und das junge Mädchen, das sich um Pekulia kümmern sollte und das auf diesem Wege ihrerseits zur Kammerdienerin ausgebildet wurde, herkommen lassen. Allerdings nicht den Kammerdiener. Lilli vermutete, dass dieser mitsamt dem übrigen Personal für die im Testament festgelegte Zeit entlassen worden war, denn die Anorts hatten schnellstmöglich ihre Stadtwohnung vermietet - nicht nur um innerhalb des Jahres, das sie hier verbringen mussten, die Ausgaben für das Personal zu sparen, sondern auch, weil beide einem kleinen Nebenverdienst nicht abgeneigt waren. Sie hätte nie geahnt, welche Fülle an Informationen einer aufmerksam lauschenden Dienstbotin zur Verfügung stand.
Die beiden Dienerinnen waren notwendig gewesen, weil Frau Anort es entschieden abgelehnt hatte, die Dienste von Magda, der angesäuerten Zofe von Tante Berharda in Anspruch zu nehmen: "Du meine Güte, Frau Plüsch, ich habe keineswegs vor, dass meine Tochter und ich im kommenden Jahr - so tief die Trauer für den guten Onkel auch gehen mag - wie die Tiere auf dem Land herumlaufen müssen. Wenn Pekunia in die Hände dieser Person gerät, könnte die monatelange harte Arbeit an ihrem Stil unwiederbringlich verloren sein. Nein, ich muss darauf bestehen - eine Dame kann unmöglich ein Jahr ohne ihre Zofe auskommen. Sorgen Sie dafür, dass Leonie und Klara angemessen untergebracht werden - und natürlich werde ich sie anweisen, entsprechend auszuhelfen, Frau Plüsch. Außerhalb der Zeit für uns können Sie nach Belieben über sie verfügen. In diesen harten Zeiten muss die Familie zusammenhalten." Mit einem geheuchelten Seufzer klopfte sie der Hausdame leicht auf die Schulter und ging nach oben, während Lilli die Teppichfransen in der Eingangshalle weiter bürstete und versuchte, sich ihre Worte so gut wie möglich einzuprägen, denn in der Anfangsphase der Ermittlungen konnte jede noch so kleine Information später sehr wichtig sein!

Die Informationen, die sie nun mit dem Kassiber aus dem Wachhaus in Händen hielt, würden ihrer investigativen Arbeit weiter zugute kommen. Sie las, dass die Todesursache feststand: Vergiftet mit Tollkirsche - ob einer der Bäume im Garten ihr da eventuell weiterhelfen konnte? Und da stand auch, dass der Tote vor seinem Ableben sich noch gepaart hatte - wie romantisch, dachte Lilli und neigte die Arme stärker von Seite zu Seite, hatte er noch einmal vor dem Tode versucht, seinen Samen in die Welt zu streuen. Als sie daran dachte, dass Menschen diese Vorgänge mit ganz anderen Augen sahen, wurde sie ein wenig rot, und merkte so, dass vielleicht ihre menschliche Seite keineswegs reif für die erhabene baumische Sicht auf die natürlichen Dinge war.
Allerdings wusste man nicht, mit wem der Alte sich getroffen hatte. Nur soviel war sicher, dass die betrettende Frau nicht von außen ins Haus gelangt war. Also entweder einer der weiblichen Gäste oder jemand vom Personal war. Lilli ließ die Reihe der weiblichen Dienstboten Revue passieren. Am wenigsten konnte sie sich Frau Besen in der Rolle der nächtlichen Lebedame vorstellen, und auch Frau Plüsch ...!? Obwohl: So herb und säuerlich distanziert sie auch wirkte, war sie keine hässliche Frau, auch wenn sie sich mit ihrer Hausdamenmontur alle Mühe gab, diesen Umstand zu kaschieren. Mit dem Blick der verdeckten Ermittlerin, die wusste, wie prägend und vor allem auch wie verändernd die entsprechende Kleidung wirken konnte, rief Lilli Baum sich erneut die Gestalt der Hausdame in Erinnerung. Großgewachsen und schlank, ein verschlossenes Gesicht mit hochstehenden und hervorstechenden Wangenknochen, eine akzentuierte Kinnlinie, ein geschwungener Mund. Mit der richtigen Kleidung und in der richtigen Umgebung würde sie eine äußerst attraktive ältere Frau sein. Nein, ausschließen würde sie Frau Plüsch nicht. Dafür wusste sie auch zu wenig über die Gepflogenheiten, die Vorlieben und auch das Vorleben des Opfers.
Hier wies der Bericht von RUM noch erhebliche Lücken auf. Sie blätterte noch einmal zu der Stelle zurück, in der es um die letzte Nacht von Bruno Apdrit ging. Korporal Kolumbini hatte nach den Aussagen der Familie und der Dienstboten begonnen, einen möglichen Ablauf zu entwerfen, wobei einzelne Aussagen sich in entscheidenden Details voneinander unterschieden. Nun, das überraschte nicht. Immerhin war hier ein Mord geschehen und - wenn die bisherigen Ergebnisse von RUM richtig waren - auch ein schwerer Diebstahl. Sie vertiefte sich weiter in die Notizen.

Bruno Apdrit, schwerreicher Fussmattenfabrikant der vierten Generation - die DOG hatte über die Kontakte zu den verschiedenen Gilden, die sich mit der Herstellung von Textilien und ihrem Vertrieb befassten, einiges über den Mann und seine Herkunft sowie sein Geschäftsgebaren in Erfahrung bringen können - war fast fünfundsechzig Jahre alt gewesen.
Der Urgroßvater war irgendwoher aus dem Nichts erscheinen - angeblich aus Klatsch, vermutlich aber aus Omnien - und hatte als kleiner Teppichhändler in Ankh-Morpork Fuß gefasst. Dieses Gewerbe hatte er bald zugunsten der Herstellung kleiner Teppiche, die man als Fußabtreter in die Häuser legen konnte, aufgegeben und sich mit Hilfe von Gerissenheit und guten Anwälten bald das Monopol auf diese Herstellung gesichert und so ein Vermögen gemacht.
Sein Sohn hatte erstaunlich reich und vorteilhaft eine Tochter aus einem Handelshaus geheiratet, mit deren Hilfe sich der Handel der benötigten Rohstoffe viel effizienter organisieren ließ. Er hatte die Zahl der Fabrikationsstätten vervierfacht und ein zusätzliches System von Heimarbeitswerkstätten gegründet.
Dessen Sohn wiederum hatte es auf der sozialen Stufenleiter noch ein wenig höher gebracht. Seine Frau war nicht aus einer guten Familie, sie war von Familie. Lilli Baum erkannte in der Formulierung den sozialdistinktiven Duktus der Hauses Ziegenberger wieder. Auch dem Vermögen hatte das nicht geschadet, obwohl die Mitgift seiner Frau verglichen mit seinem Geld vermutlich nicht der Rede wert gewesen war. Sein Geschäft jedenfalls hatte er gut und umsichtig geführt und so das Vermögen noch erheblich ausgebaut. Er hatte das Haus, indem die Familie nun lebte, erbaut: das dreieckige Gebäude am südwestlichen Rand des zentralen Platzes im Stadtteil Tolle Schwestern. Der Grundriss umschloss mit drei Gebäuderiegeln einen großen Innenhof, in dem sich ein Garten befand.
Ursprünglich hatte die Familie den dem Platz zugewandten Gebäudeteil bewohnt und die beiden anderen Teile waren Fabrikationsstätten gewesen. Viele Leute in den Tollen Schwestern hatten darüber hinaus in Heimarbeit Matten gearbeitet.
Später war das Haus dann in seiner heutigen Form umgebaut worden, denn das Paar hatte drei Kinder bekommen - zuerst eine Tochter, Bernharda, dann endlich zehn Jahre später den ersehnten Erben, Bruno, und abermals zwei Jahre danach noch einen Sohn, Bingel - von denen jedes einen Gebäudeflügel erhalten hatte.
Während die beiden Älteren unverheiratet geblieben waren, hatte der jüngere Sohn eine standesgemäße Heirat getätigt. Seine Frau hatte ihm Zwillinge (zwei Mädchen, die lebenslänglich unter den Namen Askesia und Efeulalia zu leiden hatten, wie Lilli fand) geboren und sich in einem postpartalen Stimmungstief im Kinderzimmer am Lüster erhängt. Bingel hatte den Schlag nie verwunden und trank sich langsam und systematisch zu Tode, wofür er erstaunliche acht Jahre gebraucht hatte.
Die beiden Mädchen waren weiter im großelterlichen Haus nun unter der Obhut von Onkel und Tante aufgewachsen, dennoch entwickelte sich nicht alles nach Plan - während der ältere Zwilling, der bei seiner Tante aufwuchs, die standesgemäße Ehe mit einem Großcousin ihrer Mutter eingegangen war, verliebte sich die Jüngere, die bei ihrem Onkel lebte, in den finanziell minderbemittelten Hauslehrer und trotzte ihrer Familie die Heirat ab. Die beiden mussten ausziehen. Eine Rückkehr des Mannes in seinen alten Beruf als Hauslehrer wussten die Apdrits zu verhindern, und vom mütterlichen Erbe war der Pflichtteil so knapp bemessen, dass es nicht zum Leben reichte. Den sozialen Abstieg sah man der Frau, die Lillis für mindestens fünf Jahre älter als ihre Schwester gehalten hätte, deutlich an.
Dennoch mussten auch die Kehrers ein Jahr im Haus bleiben - also war zumindest irgendein Anspruch da, der im Testament erwähnt wurde, denn - da war das Kodizill nach den Ermittlungen von RUM eindeutig - alle, die im Haus bleiben mussten, konnten erben. Allerdings gab es keinen Hinweis darauf, was.

Einigkeit, was nun den letzten Tag anging, herrschte darüber, dass Bernharda und Bruno Apdrit zum traditionellen Auftakt der Jagdsaison auf Enten zum Seelenkuchendiner geladen hatten, das in diesem Jahr zufälligerweise mit dem Klatschianischen Zimtfest zusammenfiel. Zu den Gästen zählten: die Nichten nebst Familie, die stellvertretende Prokuristin des Familienbetriebs, Fräulein Hardewicke Besen, und Apdrites persönlichen Anwalt, Gesto Schmalzbier nebst Gattin und Sohn. Das mehrgängige Abendessen, bei dem einer Tradition des Hauses entsprechend reichlich zimthaltige Spiesen konsumiert worden waren, war bis zehn Uhr harmonisch - zumindest gab es kaum Anzeichen für heftige Streitereien - verlaufen, dann war man noch eine Stunde im Salon zusammengesessen und anschließend hatte Bernharda unwidersprochen die Gesellschaft um elf Uhr aufgehoben.
Die Paare hatten sich in die Gästesuiten zurück gezogen, Fräulein Besen hatte mit dem Alten noch ein, zwei geschäftliche Dinge in seinem privaten Arbeitszimmer besprochen und war dann gegen Mitternacht ebenfalls zu Bett gegangen. Der junge Schmalzbier hatte sich aus dem Haus geschlichen und sich in einer nahegelegenen Schenke mit seinen Kumpels zu mehreren Bierchen getroffen - Rolf Besen hatte ihm gegen einen kleinen Obulus einen Schlüssel überlassen. Fräulein Pekunia hatte noch in der Bibliothek gelesen und sich um Mitternacht dorthin eine heiße Schokolade bringen lassen (sehr zum Missvergnügen der Köchin, die derartige Extravaganzen gar nicht zu schätzen wusste).
Und nach Mitternacht? Da waren alle im Bett gewesen und hatten angeblich gar nichts mehr gehört. Interessant war allerdings, dass all die mitternächtlich im Haus herumirrenden sich nicht gesehen hatten - keine Köchin hatte den Heimkehrer bemerkt und die ins Bett eilende Prokuristin hatte ebenfalls nichts gehört. Nun, das mussten weitere Überprüfungen klären.

Lillis Empfinden nach mochte in den familiären Verwicklungen eine ausreichende Palette an Motiven schlummern. Allein das Arrangement, die Zwillinge zu trennen und jeweils einem Vatergeschwister eines der Mädchen zuzuteilen erschein ihr bizarr.
Auch hatte Lilli Baum bereits soviel erfahren, dass Bruder und Schwester auf keinem guten Fuß miteinander gestanden hatten. Hin und wieder war im Dienstbotenklatsch von schierem Hass die Rede. Dementsprechend hatte man vor einer Reihe von Jahren - nämlich als die Zwillinge den Gebäudeflügel wechselten - das Haus umgebaut.
Der Gebäudeflügel, in dem Bingel gewohnt hatte und der am Tolle Schwestern Platz lag, wurde in eine Reihe von Läden und Werkstätten umgebaut und vermietet. Der Haupteingang wurde an die Schnittstelle der beiden anderen Flügel verlegt. Die im Erdgeschoss liegenden Räume, die an die Eingangshalle angrenzten, wurden zu gemeinschaftlich genutzten Gesellschaftsräumen umgebaut. Die Nutzung erfolgte abwechselnd, und nur zu hohen Feiertagen sahen sich die Verwandten. Bruder und Schwester bauten jeweils am entgegengesetzten Ende des Gebäudes einen Teil zu einer Privatwohnung aus. Die Mädchen wurden gemeinsam im Niemandsland genannten Schulzimmer über der Eingangshalle unterrichtet, die restlichen Räume im ersten Stock waren Gästezimmer. Lediglich der Dienstbotentrakt wurde nicht getrennt - die Küche nahmen beide in Anspruch, und die jeweilige Köchin richtete sich auf die unterschiedlichen Gepflogenheiten ein. Den Haushalt managte seit über zwanzig Jahren Frau Rosamunde Plüsch mit eiserner Hand. Solange die Mädchen noch klein gewesen waren, erfolge jeden Sonntag nach dem gemeinsamen Tempelbesuch ein Familienessen im Speisesaal - dem Omnianismus blieb die Familie in sturer Zähigkeit verhaftet.
Die Wächterin seufzte. Es gab da Hass und Eifersucht genug als Motive. Und wer mochte all die unbeglichenen Rechnungen gezählt haben. Blieb die Frage, ob sich etwas davon als ausreichend starkes Motiv für einen Giftmord erweisen konnte.

Sie zog noch einmal die Aufzeichnungen zu den Todesumständen von Bruno Apdrit heran. Vergiftet mit Akonit - das war nicht schwer zu bekommen, da der Alte ein Stärkungsmittel von irgendeinem Kurpfuscher aus Belladonna bezog. Und ein Mord mit Gift ließ eher auf ein lange schwärendes Motiv schließen - kein heftiger Streit und ein Verbrechen im Zorn. Es war so leicht - vermutlich musste man es nur hoch genug dosieren und der starke Mokka würde den bitteren Geschmack perfekt übertünchen. Außerdem war die Angewohnheit des Alten, sich einen Mokka einzuschütten und nachts das kalte Gebräu auf einen Schluck zu trinken allen ausreichend bekannt.
Allerdings: Warum war das Gift nicht einfach in die Kanne geschüttet worden - fürchtete der Täter oder die Täterin, dass dann die Dosis dann nicht ausreichte? Oder steckte etwas anderes dahinter? Immerhin waren zwei Tassen gefunden worden - eine mit und eine ohne Mokkareste.
Da kam nun die nächtliche Besucherin ins Spiel. Die Körperspuren am Toten ließen über den Zweck und Ablauf ihres Besuchens keinen Zweifel aufkommen. Und dann war da noch die Schatulle unter dem Bett. Die Tatortwächter hatten eine elegante Lederschatulle von Bullgierig, dem stadtbekannten Juwelier, unter dem Bett gefunden - und zwar leer.
Die Ermittlungen hatten ergeben, dass der Inhalt aus einem ausgesprochen exquisiten Schmuckstück bestanden hatte - dem legendären Kürbisdiamanten. Nach der Beschreibung, die der Juwelier gegeben hatte, handelte es sich hierbei um einen Anhänger bestehend aus einem Diamanten von ungewöhnlich leuchtender, orangener Farbe, der rund geschliffen war und an einer schlichten goldenen Kette hing. Und der war nun weg.
Und noch etwas Bemerkenswertes hatte die Wache erfahren. Bruno Apdrit war ein gelegentlicher Stammkunde bei Bullgierig. Nach längerem Bohren hatte der Juwelier zugegeben, dass der alte Abdritt hin und wieder als Mittel der Unterminierung im ewigen Festungskrieg der Geschlechter ein Schmuckstück nur auslieh. Erst pflegte er seine Eroberungen durch ein spektakuläres Schmuckstück anzulocken, dessen Übergabe er dann nach erbrachtem Gunstbeweis mit einem Trick herauszuzögern pflegte, um die Betrogene hinterher mit einem wesentlich preiswerteren Geschenk abzuspeisen. Mehrfach war der Trick gutgegangen. Diesmal jedoch habe der Alte das gute Stück um Voraus bezahlt und sei in geradezu kicheriger Stimmung gewesen, so als ob es sich um einen besonderen Streich handele - und nun war auf einmal der Köder verschwunden. Allerdings hatte Bullgierig die Sache relativ gelassen gesehen - die exorbitante Summe war ja bereits sein. Und wie der Testamentsvollstrecker damit umgehen mochte, interessierte den Schmuckhändler nun überhaupt nicht. Verpackt war das gute Stück in einem aufwändigen Lederetui in passender Farbe mit der Firmenaufschrift - die jedenfalls noch da war.
Den Wert des Anhängers hatte Bullgierig mit 25.000 AM$ angegeben - eine Summe, die der Feldwebel mit ungläubigem Erstaunen zur Kenntnis nahm.
Hier war ein exzellentes Motiv - vorausgesetzt, die Damen wussten, dass der Schmuck ein Köder war. Und das Gute an der Situation war: Die einzige Person, die die betreffende Frau als Diebin hätte bezeichnen können, (wobei der ganze Vorgang an sich moralisch so fragwürdig war, dass Lilli Baum bezweifelte, dass davon irgendetwas ruchbar geworden wäre), war nicht mehr am Leben.
Es war noch wichtiger die Frau zu finden, die die letzte Nacht mit Apdrit geteilt hatte. Und den Schmuck.
Was Lilli wieder auf ihre Tarnung zurück brachte - wenn sie jetzt nicht ein wenig ausruhte, würde der morgige Tag noch viel, viel schlimmer werden.

*****


Tock, tock, tock.
Das Geräusch des Gehstocks kommt näher.
"Du kannst unmöglich Klara in diesem fragwürdigen Ensemble auf die Straße lassen!" Die scharfe Stimme von Tante Bernharda schafft es mühelos bis in den benachbarten Raum. "Das ist kein Kleid für ein junges Mädchen zu einem solchen Anlass. Und ich werde nicht dulden, dass der gute Name der Familie durch solches Benehmen in den Schmutz gezogen wird. Die Beerdigung deines geliebten Onkels ist ein Ereignis von einiger öffentlicher und gesellschaftlicher Tragweite. Da kann es nicht angehen, dass du deinem Kind eine derartige Extravaganz durchgehen lässt. Und dazu gehören auch diese unsinnigen Spaziergänge im Garten."
"Der geliebte Onkel? Tu mir den Gefallen und lass wenigstens dann, wenn wir unter uns sind, dieses unerträgliche Heuchelei. Keine Frage - du hast ihn gehasst und ich habe ihn verabscheut. Für all das, was er getan hat, wie du dich ..."
Der Redefluss von Askesia Anort versiegt wie abgeschnitten.
"Nicht in diesem Ton, mein Kind!"
"Ich bin nicht dein Kind, du ... du ... du alte Heuchlerin. Zum Glück nicht - ihr habt uns nur in die Finger bekommen, als wir uns nicht wehren konnten."
"Schweig!"
"Ich habe zu lange geschwiegen - wir haben alle zu lange geschwiegen. Und jetzt geh mir aus den Augen, du alte ... alte ... ZIEGE!" Das Klirren von Glas zeigt, dass hier die Dienste eines Mädchens gefordert sind - aber nicht zu bald.
"Zieh dir was weniger Frivoles an, Kind, dann muss deine Großtante sich nicht länger deiner schämen. Und sieh zu, dass deine Mutter sich wieder beruhigt."
Tock, tock, tock.
Das Geräusch des Gehstocks entfernt sich.
Ein Dienstmädchen huscht aus einem Nachbarraum mit der Kehrichtschaufel und einem Eimer in der Hand. Glasscherben klirren im Eimer.

***


"Und was ist mit dieser Besen, Fred?"
"Der alten oder der jungen?"
"Der jungen, natürlich."
"Tja, das ist eine eigenartige Geschichte. Offiziell ist sie die Adoptivtochter von Rolf und Berta Besen - die beiden bekamen die Stelle bei Apdrit und kurze Zeit darauf eine Tochter, die zunächst auf dem Gut der Familie in Protsch bei Sto Lat lebte und dann das Institut für junge Damen in Quirm besuchte. Im ersten Jahr wurde das Schulgeld anonym gezahlt, danach qualifizierte die Kleine sich für ein Stipendium. Nachdem sie den Schulabschluss dort mit Bravour erledigt hatte, ging sie nach Ankh-Morpork, und der alte Apdrit gab ihr eine Stelle in der Buchhaltung. Ein Jahr später war sie stellvertretende Leiterin der Buchhaltung, wieder ein Jahr drauf leitende Buchhalterin, dann Verkaufsleiterin und stellvertretende Prokuristin - in drei Jahren. Wenn Edward Schnieder, der jetzige Prokurist, ausscheidet, was in spätestens einem Jahr der Fall sein dürfte, dann wird sie seine Nachfolgerin. Sie hat einen ausgezeichneten Ruf in der Firma und in der Branche. Eiskalter Verstand, Verhandlungsgeschick eines klatschianischen Großwesirs und dennoch loyal und integer - was selten ist im kaufmännischen Bereich."
"Sie hat vorher nicht in AM gewohnt?" Der Werwolf gab sein Missfallen mit einem tiefen Grummeln kund.
"Nein, geboren und aufgewachsen auf Gut Protsch, Internat in Quirm. Die Besens kennt sie nur von den kurzen Aufenthalten der Familie im Sommer auf dem Gut, wenn diese das Personal mitbrachte."
Die beiden Männer wechselten einen wissenden Blick.
"Was sagen die Leute, Fred?", fragte der Abteilungsleiter seine Ermittler.
"Was wohl - der Alte hatte immer schon einen wüsten Ruf. Knapp sieben Monate vor dem überraschenden Familienzuwachs bei den Besens reiste die alte Apdrit mit ihrer Gesellschafterin, die später Hausdame in dem Haus wird, und einer Zofe - einem blutjungen Ding von 15 Jahren - auf das Gut der Familie. Dort wird ein Kind geboren. Eine mittlerweile 16-jährige Hausangestellte stirbt an einem Fieber. Eine Familie in AM adoptiert in Kind, dass sie nie zu sehen bekommt. Jeder, der zwei und zwei zusammenzählen kann, kommt zum selben Schluss."
"Und was hat die gute Frau Plüsch dazu zu sagen - immerhin war sie ja dabei."
Umständlich kramte der kleine Mann in seinem Mantel, schlug den Notizblock auf, suchte die richtige Seite heraus und begann: "Ich lese das am besten so vor:"Meine Herrin beschloss damals, ihrer angeschlagenen Gesundheit wegen sich auf das Familiengut zurückzuziehen. Efeulalia war ja das Mündel des Herrn und Askesia mit ihren siebzehn Jahren war fast schon selbständig. Ich war damals noch die Gesellschafterin von Frau Bernharda. Von Rotraudes Zustand wusste ich nichts - sie hatte sich mir nicht anvertraut. Das Kind wurde geboren, und Rotraude wurde sehr krank und starb. Meine Herrin gesundete, und als wir zurückkamen, wollte sich die alte Frau Blümlich, die den Haushalt geleitet hatte, zur Ruhe setzen, und ihre Schwester, die Köchin, wollte mit ihr gehen. Ihre Tochter hatte nämlich kurz vorher nach Gennua geheiratet. Also übernahm ich die Position der Hausdame, wir suchten eine neue Köchin und so kamen die Besens ins Haus. Das Kind bekam dadurch ehrbare Eltern und einen ehrbaren Namen."
Auf meine Nachfrage antwortete sie: "Natürlich ließen wir das Mädchen auf Protsch zurück. Meine Herrin engagierte eine Amme aus dem Dorf. Was hätte sie tun sollen - mit einem fremden Kind in die Stadt zurückkehren? Sie war ledig und ich auch! Das hätte einen echten Skandal gegeben."
Ich hab sie dann gefragt, ob das nicht eine Menge Veränderungen waren, aber sie meinte nur, das wäre in einem großen Haushalt nun mal so - eine Dienergeneration folge der anderen. Sie schien sich bei meiner Frage gar nichts zu denken. Ich hab dann versucht, wieder auf das Kind zurück zu kommen. Darauf sie: "Rotraude hatte keine Familie, und natürlich wusste niemand, wer der Vater hätte sein können. In diesem Haus gab es zu der Zeit keinen männlichen Bediensteten, der in Frage käme und außerdem wurde hier immer Wert auf Tugend gelegt. Deswegen arbeiten wir auch mit dem Omnianischen Waisenhaus zusammen. Auch dieses Mädchen hatten wir aus dem Omnianischen Waisenhaus aufgenommen. Die Herrschaft hat immer Wert darauf gelegt, diesen armen Geschöpften eine gute Ausbildung und eine angemessene Stellung zukommen zu lassen ..." Oh, was ist denn, Romulus?!" Kolumbini brach ab, als er das heftige Husten und Prusten seines Vorgesetzten bemerkte.
"Hrmmhrmm, nichts, Fred, es ist nichts, mach nur weiter - ich habe mich nur an Superbulle verschluckt. Mach ruhig weiter."


"Und was vermutest du - weiß die Besen etwas?", fragte er neugierig. Hier mochte ein ausreichend starkes Motiv für einen Mord stecken.
Der Ermittler zuckte mit den Schultern. "Vermutlich ja - sie ist nicht dumm. Ich habe sie erst zweimal kurz gesprochen - sie ist häufig in Firmenangelegenheiten außer Haus. Das Kodizill besagt nur, dass die entsprechenden Personen unter einem Dach schlafen und Essen müssen. Von der Zeit dazwischen sagt es nichts. Also geht die Besen normal ihrer Arbeit nach. Macht Schmalzbier, der Anwalt, übrigens auch."
"Ach ja, der Anwalt. Was hat er mit der Angelegenheit zu tun?"
"Er ist der Familienanwalt. Und ein langjähriger Freund des Opfers. Und er - und jetzt wird's interessant - hat die ehemalige Maitresse seines Freundes geheiratet. Heute heißt sie Fredegunde Schmalzbier, vor zwanzig Jahren aber war sie Die Feurige Freddy. Ein Nachtclubstar, die mit beiden Männern ein Techtelmechtel hatte."
Kolumbini runzelte die Stirn. "Besens waren da recht mitteilsam, weil das Techtel und das Mechtel knapp nach ihrem Eintritt in das Haus begannen. Zuerst war Die Feurige Freddy die Freundin des Anwalts. Dann wurde sie die Maitresse des Hausherrn und die Geliebte des Anwalts. Dann hat sie den Anwalt geheiratete, war aber immer noch die Maitresse von Apdrit. Darauf bekam sie einen Sohn - Gesto - und blieb weiter die Maitresse des einen und die Ehefrau des anderen. Sie soll vor nahezu zwanzig Jahren so knapp wie nur möglich vor der Hochzeit gewesen sein, doch dann habe die Schwester ihre Geschütze in Stellung gebracht und es sei bei dem unverheirateten Status geblieben. Soll für mächtig dicke Luft im Haus gesorgt haben - so die Besens."
"Du meine Güte - hat irgendeiner der Anwesenden kein Motiv?"
Kolumbini blickte auf eine Liste und verneinte: "Von den Gästen kann man das nicht sagen. Madame Schmalzbier - Rache für die verpasste Gelegenheit. Herr Schmalzbier - die klassischen Hörner. Der Sohn - tja, die Pubertät, ein weites Feld, vor allem dann, wenn man sich seiner Herkunft so wenig sicher sein kann. Und Gift, Romulus, Gift ist etwas, was man sehr schnell verwenden kann. Vor allem hier. Du musst nur ins Schlafzimmer schleichen und das Gift in den Mokka kippen - von dem jeder weiß, wo er steht und wie man an das Belladonna kommt, auch. Die Besen - wenn sie was ahnt, dann wäre Rache ein Motiv. Und was die Nichten angeht - die eine nutzt den erstbesten schütterhaarigen Hauslehrer, um von ihrem Vormund wegzukommen, und die andere hat kaum ein gutes Wort für ihn übrig und ist sich sicher, dass sie die Alleinerbin sein wird, weil ihre Schwester für die Nummer mit dem Hauslehrer enterbt worden ist. Ihr Mann hat einen extravaganten Lebensstil, für den er bisher nicht die rechte Profession gefunden hat - das Geld vom Alten war mehr als willkommen, zumal der gute Onkel nicht immer spendabel war, wenn man das Budget überschritten hatte. Und die Familie Kehrer würde sich vermutlich sogar mit der Portokasse glücklich schätzen. Von dem verschwundenen Prachtstück, dem Kürbisdiamanten reden wir da noch gar nicht. Und bei dem Ruf, den der Hausherr so hatte, wäre auch zumindest bei Teilen des weiblichen Personals ein mögliches Motiv nicht ausgeschlossen und damit gegebenenfalls auch bei Herrn Besen. Einzig aus dem Rennen scheint Zahlerstmaldiegebühren[3] Peter, genannt Zahl, Gärtner - der ist stocktaub und uralt und betritt nie das Haus. Aber bei den Dienstboten, die zum Tatzeitpunkt im Haus waren ist zum derzeitigen Stand der Ermittlungen niemand aus dem Rennen."
"Hm, das ist keine gesunde Mischung", meinte sein Vorgesetzter. Die beiden sahen sich an.
"Was ist mit eigentlich den Berichten von Korporal Baum? Hat sie schon irgendetwas über den Verbleib des Schmuckstücks herausgefunden?"
Der Chef von RUM schüttelte den Kopf. "Nein, das Haus ist ziemlich groß und es dauert lang, das alles zu durchsuchen. Und was den Klatsch angeht ..."
"Tja, den zu hören ist ja nicht das Problem - ihn zu steuern, das könnte wahrhaft nützlich sein." Der Ermittler machte eine ergeben-abwehrende Geste mit den Händen.
"Ja, aber dennoch ist es schon interessant zu sehen, dass das Kalkül so aufgeht - die meisten Menschen denken irgendwann, Stumme hätten keine Ohren."

*****


Den Klatsch steuern - nein. Den Klatsch registrieren - ja.
Während sie das abgetrocknete Geschirr in den Schrank stellte, lauschte Lilli Baum angestrengt dem Gespräch der beiden Zofen. Seit die Zwillinge Heideursel und Annemarie neu ins Haus gekommen waren, war sie auf der unsichtbaren Stufenleiter des Gesindes eine Stufe höher gerutscht, denn ganz unten waren nun die beiden Mädchen, was diese kaum zu stören schien. Leonie, die Zofe von Frau Anort, beanspruchte einen höheren Rang, der ihr als Leibdienerin auch zugestanden wurde und der prompt auf Klara, das Mädchen von Fräulein Anort, abfärbte. Die drei standen im Bügelzimmer, das der Küche gegenüber lag, und hechelten den Haushalt durch. Während Magda mit ihrer unbestritten langen Zugehörigkeit zum Haus Apdrit punkten konnte, hatten die beiden anderen dafür lustige Erlebnisse aus dem Haushalt Anort beizutragen. Insbesondere der Geiz der Herrschaft, der sich in lächerlichen Sparvorschriften für das Personal ("Heizen dürfen wir auf garrrrrrrrrrrrrrrrrrrr keinen Fall vor dem ersten Dezember!" "Reste, du meine Güte, wir wären froh, wenn wir Reste zu Essen bekämen - das, was wir manchmal bekommen, ist keinen Deut besser als Schlachtabfälle und fauliges Gemüse!") austobte, bot Anlass zum Spott.
"Nein, da kann man sich in diesem Haus nicht beklagen", meinte Magda, der im tiefsten Herzen ein Lob immer Pein bereitete. "So streng sie sein mag, darauf achtet Frau Plüsch. Und da lässt sie sich auch nicht reinregieren. Man darf sich nur nicht von ihr beim Klatschen erwi... Oh, oh, ich höre sie."
Und mit Akribie und Eifer stießen die drei wieder mit den Plätteisen auf den Stoff hinab.
Denn tatsächlich war Frau Plüsch wie auf dem Nichts aufgetaucht, um einige Punkte für den Wochenspeiseplan und die nötigen Vorkehrungen am Tag des Begräbnisses mit Frau Besen zu besprechen.

Immerhin hatte Lilli auf dem Weg ein wenig zur Geschichte von Efeulalia und Askesia erfahren. Ursprünglich waren die Mädchen unzertrennlich wie Zwillinge gewesen - kein Wunder, sie waren ja auch welche. Und immer so traurig. Magda hatte - wie auch Frau Plüsch einst - die Stufenleiter in der Küche begonnen, dort all den Klatsch begierig aufgesogen, und verinnerlichte nun selbst die Geschichten, die sich vor ihrer Geburt zugetragen hatten. Im Laufe der Zeit hatte sie sich bis zur Zofe vorgearbeitet. Die Stufe der Gesellschafterin hatte sie nie erklommen, und die der Hausdame lag auch in weiter Ferne, wobei Lilli sich fragte, wie sie die Tatsache, dass Frau Plüsch erst als Gesellschafterin von Frau Bernharda gearbeitet hatte und nun die Hausdame war, als Abstieg oder berufliche Umorientierung betrachten sollte. Aber sie ließ sich nicht ablenken und spitze fleißig weiter die Ohren.
"Waren immer hier in der Küche, die armen Würmchen. Immer so einsam und verlassen. Die damalige Haushälterin, Frau Blümlich, hat der Köchin, die ihre Schwester war, erlaubt, sich der beiden anzunehmen, wenn sie da oben im Niemandsland wieder unglücklich waren. So haben wir die Kinderzimmer mit dem dazwischenliegenden Spielzimmer genannt."
"Ist das nicht eine unnatürliche Regelung - Zwillinge so zu trennen?" Schüchtern wagte die kleine Klara, die bei den meisten Gesprächen atemlos lauschte, dies einzuwerfen.
"Tja, das hatte auch mit so einem Kodizill zu tun. Der junge Herr Bingel - das war der Vater der beiden kleinen Mädchen gewesen - hatte nämlich gar kein Testament hinterlassen. Also trat das Kodizill von seiner Frau ein, oder besser, das von ihrem Vater, das verfügte, dass das Geld seiner Tochter nur an ihre Kinder oder an deren Vormund gehen könne. Und da jeder was vom Kuchen wollte ..." Die nun anschließende Geste war eindeutiger als alle Worte.
"Ja, aber man hätte sie doch trotzdem zusammen lassen können!" Auch die Zofe von Frau Anort hatte ein weiches Herz.
"Dazu haben sich die beiden zu sehr gehasst - also die Vormünder, nicht die Kinder. Und das angeblich schon von Jugend auf. Schon seit Herr Bruno geboren wurde, weil die Eltern als erstes Kind nur einen Sohn wollten und dann kam ein Mädchen und zehn Jahre gar nicht. Und dann war auf einmal der Erbe da - und die kleine Bernharda war nichts mehr wert, sagt man."

*****


"Und bleib ein wenig mit dem Tier im Garten. Er wirkt so unruhig." Mit angewiderter Mine drückte Herr Besen Lilli die Leine von Inspäctor Kolumbinis Hund in die Hand. "Wir wollen hier keine Sauereien. Ich hol euch beide wieder rein. Ewig wird dieser kleine Schnüffler ja nicht brauchen."

Endlich. Der Garten.
Sie hatte im Wind die anderen Bäume draußen gehört, aber als Hausangestellte gab es für sie keine Möglichkeit, sich mit ihnen zu unterhalten.
In dem dreieckigen Garten, der auf allen Seiten vom Apdrittschen Anwesen umschlossen wurde, stand in der Mitte umgeben von gepflegtem Rasen wie ein kleiner Hain eine Gruppe von Bäumen und Sträuchern, die sich miteinander im Herbstwind wiegten: unter ihnen eine ältere Pappeldame, vier junge Hasel, deren buschartiges Wachstum nicht gestört worden war und eine hoch gewachsene Platane, deren Rinde sich gerade schälte. In ihrem Schatten befand sich ein weißer, offener Gartenpavillon aus Holz und hinter ihnen eine kleine Gartenbank. An den Wänden des V-förmigen Teil, der immer noch von der Familie bewohnt war, wechselten sich heckenumsäumte Blumenbeete mit Ziersträuchern ab. Der gegenüberliegende Teil des Gebäudes hatte zum Garten hin vermauerte Fenster - die Familie hatte nicht vor, sich von den Kleinkrämern auf dem Tolle-Schwestern-Platz in den Garten glotzen zu lassen.
Dort versteckte sich auf eine kleine Hütte mit Gartengeräten, in denen Zahl Peter, der taube Gärtner seine Teepausen machte. Wie sie wusste, wohnte er allerdings nicht im Haus, er hatte eine kleine Wohnung in einer Seitenstraße und begann seine Arbeit im Verlauf des Vormittags, ging Mittags zu sich nach Hause und erschien noch einmal im Verlauf des Nachmittags.
Ebenfalls von den Pappeln abgeschirmt in diesem Teil des Gartens befand sich ein Gewächshaus mit exotischeren und empfindlicheren Gewächsen, aus denen der Blumenschmuck für das Haus erstellt wurde, auch das eine Aufgabe des Gärtners. Hinter dem Salon im rechten Gebäudeflügel befand sich eine Terrasse, die bis zum Zimmer des ermordeten reichte und von der aus eine kleine Treppe nach unten führte. Am linken Flügel fehlte diese, aber hinter dem Salon von Tante Bernharda, die in diesem Flügel wohnte, gab es ebenfalls eine kleine Veranda.

Während Lilli die Kassiber austauschte, begann sie schon einmal, mit den Bäumen Kontakt aufzunehmen. Vielleicht konnten sie ja auch Informationen zu diesem Fall beisteuern.
"hallo frau pappel. hallo haseln. hallo platane", begann sie und gesellte sich zu ihnen.
Kolumbinis Hund begann, die Bäume zu umschnüffeln, hob kurz das Bein und legte sich in die Sonne, um sich in aller Ruhe zu kratzen.
Noch während sie so stand und sich mit geschlossenen Augen auf die Bäume konzentrierte, nährte sich ihr von der Eingangs erwähnten Hütte her schnaufend ein alter Mann. Die Schubkarre mit dem Laub und die Gartenwerkzeuge quer darüber wiesen ihn eindeutig als Gärtner aus. Als er sie von hinten sah, faucht er: "Was willst du denn jetzt schon wieder - du hast den Brief doch schon, du dumme Gans."
Lilli fuhr herum und der alte Mann erkannte seinen Irrtum.
"Oh, hab dich verwechselt", nuschelte er und wechselte in einen schleimig-freundlichen Tonfall. "Ich bin Zahl, der Gärtner. Wenn du etwas von mir willst, musst du sehr laut sprechen oder es mir auf die Tafel schreiben - ich bin fast taub!" Er hielt ihr eine Schreibtafel und einen Griffel entgegen.
Sein Fehler bot ihr eine Möglichkeit, die Lilli nutzen wollte. Eifrig nahm sie die Tafel entgegen und begann zu schreiben.
"Hallo, ich bin L...", begann sie, stutzte, korrigierte den Buchstaben ein wenig und schrieb weiter "... Hudrun - ein Hausmädchen. Ich führe den Hund aus." Dann stutzte sie kurz und schrieb weiter: "Was war das mit dem Brief?"
"Ich sag doch, ich hab dich verwechselt mit der anderen neuen. Von Vorne wär mir das nicht passiert."
"Heißt das, dass dir jemand Briefe für jemanden im Haus mitgibt?"
Ein misstrauischer Blick unter runzligen Brauen, dann schwieg der Alte ein Weilchen, sah sie noch mal an, räusperte sich lange und umständlich, spuckte auf den Boden und brummte dann: "Bist du von der Wache oder was? Habt ihr im Haus nichts anderes zu tun als Leute zu schikanieren!? Verschwinde und sieh gefälligst zu, dass der blöde Köter nicht auf den Rasen scheißt!"

*****


"Komm rein." Romulus blickte hoch und nickte seinem Ermittler zu. "Was gibt's?"
"Leider nicht viel Neues. Ich fische bei der Apdrit-Sache immer noch im Dunkeln - ich war heute noch mal etwas länger da - morgen ist die Beerdigung, da werde ich wohl mal einen Gang auslassen müssen. Ich fände es gut, wenn wir jemanden auf dem Friedhof einsetzen könnten - beispielsweise einen Verwandten, der nach längere Abwesenheit ein weniger gepflegtes Grab wieder auf Vordermann bringt; ich habe mich auf dem Friedhof umgesehen - zwei Reihen hinter der Abdritschen Gruft liegt eine etwas vernachlässigte Grabstelle, die ein wenig Aufmerksamkeit gut vertragen könnte. Ich selbst kann mich dort schlecht sehen lassen, und das Personal wird nicht zugegen sein - außer Frau Plüsch und Herrn Besen."
"Für die Hausdame und den Kammerdiener ist das keine ungewöhnliche Regelung", warf Romulus Stellvertreterin, die unauffällig in der Ecke saß und nun aufstand, ein. "Die Grabpflegerin könnte Mimosa sein - mit ihrer ganzen Art wirkt sie glaubwürdig als spontane und nur gelegentliche Friedhofsbesucherin. Außerdem steht hinter der Gruft eine Zypresse - ein geeigneter Aufenthaltsort für Lance-Korporal Ebel."
"Du warst schon da?", fragte der Abteilungsleiter seine Stellvertreterin.
"Ja, ich habe den Friedhof der Omnianischen Gemeinde in Augenschein genommen und werde mich um den Einsatz der Kollegen kümmern." Und mit dieser Bemerkung ließ Ophelia die beiden allein.
"Nun, dann wäre das geklärt", meinte Kolumbini und suchte im Mantel nach seiner Pfeife. "Ich brauche dringend noch ein Gespräch mit dieser alten Haubitze, Romulus. Sie verschweigt uns eine Menge, da bin ich mir absolut sicher. Aber ich komme zurzeit nicht an sie ran - ihr Alter, die Aufregung, der schwere Schicksalsschlag, die vorstehende Beerdigung, die fehlende Rücksichtnahme der jungen Leute von heute ... Ein zähes, altes Luder, sag ich dir - und ihre Zofe ist der geborenen Bodyguard. An der ist sehr schwer vorbeizukommen."
"Und eine offizielle Vorladung?"
"Würde es nicht besser machen. Dann mauert sie erst recht. Und warum sollten wir sie vorladen? Wir haben keinen konkreten Anhaltspunkt gegen sie - im Ernst, ihr Zimmer liegt am weitesten von Zimmer des Opfers entfernt - weiter gehts nicht." Mit seinen Händen zeichnete Kolumbini den Grundriss des Gebäudes und vor allem die beiden noch vorhandenen Flügel in der Luft nach und umkringelte die imaginären Gebäudeenden zur Untermauerung seiner Aussage in der Luft: "Ihre Suite liegt an einem Ende des Winkels, Brunos am anderen. Die ehemalige kürzere Verbindung ist heute nicht mehr Teil des Gebäudes. Und bevor dieser Teil des Gebäudes vermietet werden konnte, mussten selbst auf dem Dachboden und in den Kellern dir ursprünglichen Wege vermauert werden. Rate, wer die Bauarbeiten gemacht hat!? Genau: Ignatz Rumgraben Senior. Hab ich beim Ausfragen der Nachbarschaft erfahren. Und sein Sohn konnte sich noch gut an den Auftrag erinnern. Und dann Bernhardas Gehhilfe - nicht leicht zu überhören. Und niemand - niemand - niemand hat etwas gehört. Nicht einmal diejenigen, die so dringend verdächtig sind, dass ihnen jedes Ablenkungsmanöver zuzutrauen ist. Nein, physisch schließe ich die Alte aus."
"Physisch?" Sein Vorgesetzter warf dem Ermittler einen langen und nachdenklichen Blick zu.
Dieser hatte endlich die Pfeife in seinem Mantel aufgestöbert und zum Mund geführt. Umständlich setzt er sie in Brand, machte ein, zwei Züge und fuhr dann fort: "Ich habe manchmal den Eindruck, dass sie irgendwo hinter der Geschichte verborgen ist - ich weiß, das klingt jetzt seltsam und hochgradig spekulativ, aber ich könnte schwören, dass sie viele mit der Sache zu tun hat. Ich finde nur keinen Ansatzpunkt." Er seufzte.
"Deswegen die Aktion auf dem Friedhof?"
"Ja, deswegen. Die sind in dem Haus alle so unter Druck, die sitzen häufig so eng aufeinander - vor allem die Frauen, die kommen ja gar nicht raus, weil sie wegen der Trauerzeit nirgendwo hin gehen können - und da habe ich ein wenig die Hoffnung, dass die Beerdigung unter freiem Himmel und die anderen Trauergäste bei ihnen irgendwas auslösen können. Wie wir Feldwebel Baums Berichten entnehmen können ist gereizt als Beschreibung für die Stimmung im Haus - also vor allem bei der Herrschaft und hier den Damen - die Untertreibung des Jahres. Lediglich die Feurige Freddy Schmalzbier scheint von unverwüstlich guter Laune, hat das Musikzimmer im ersten Stock okkupiert und singt ,als wolle sie sich auf den nächsten Auftritt vorbereiten, noch dazu handelt es sich um ein für ein im omnianischen Glauben fest umfangenes Trauerhaus denkbar unpassendes Repertoire. Wobei das Igellied allerdings nur in sehr speziellen Trauerhäusern angebracht wäre. Wie dem auch sei: Wenn die könnten, dann würden die sich am liebsten gegenseitig mit den Haarnadeln erstechen. Und dass eine Frau dahinter steckt - darauf würde ich meinen Hund wetten!"

*****


Nachdem sie ihre täglichen Notizen in Kurzform und möglichst klein geschrieben zu Papier gebracht hatte, machte Lilli sich an die Notizen aus dem Kassiber. Was die Ermittlungen von RUM anging, so waren ihre Kollegen immer noch auf der Suche nach den möglichen Motiven, da die verwertbaren Spuren nicht darauf hindeuteten, dass mit ihrer Hilfe der Täter - oder die Täterin, fügte die Wächterin in Gedanken hinzu - überführt werden würden. Am wichtigsten fand sie die Zusammenfassungen der Aussage, die Kolumbini von dem Familienanwalt bekommen hatte. Beim Lesen der Aufzeichnungen musste sie schmunzeln, weil sie sich die beiden bildlich vorstellte, um so mehr bedauerte sie es, bei dem Gespräch nicht dabei gewesen zu sein, aber genau der Modus der Übergabe verhinderte das ja.
"Sie sind also der persönliche Anwalt von Bruno Apdrit gewesen", eröffnete der Ermittler das Gespräch.
"Und sein Freund - und das schon seit vielen Jahren."
"Was genau war dabei ihre Aufgabe als persönlicher Anwalt?"
"Tja, ich habe ihn in rechtlichen Fragen beraten, auch dann, wenn Dinge tangiert waren, die über berufliche Dinge hinaus gingen."
"Beispielsweise bei seinem Testament."
"Beispielsweise. Aber, Korporal, Sie werden verstehen, dass diese Dinge auch nach dem Tod meines Mandanten vertraulich bleiben. Der Standescodex und die Gildenregeln."
"Ja, das war mit klar. Dennoch glaube ich, dass Sie mir bei dem einen oder anderen Punkt helfen können werden."
"Nun, wir werden sehen."
"Hat es Sie eigentlich erstaunt, dass sie als sein Freund und persönlicher Anwalt bei seinem Testament so außen vor waren? Und wie beurteilen Sie eigentlich diese seltsame Verfügung des Kodizills, die festlegt,dass alle zum Zeitpunkt des Todes im Haus befindlichen Personen "ein Jahr und einen Tag" - wie es heißt - unter - ich zitiert "einem Dach zu essen und zu schlafen" haben."
Ein nachdenkliches Schweigen. "Ich hätte Bruno bei seinem Testament offiziell sowieso nicht helfen können - immerhin sind meine Frau, unser Sohn und ich in diesem Testament auch Partei. Ich meine: wir wussten, dass Fredegunde etwas erben würde und auch unser Sohn. In einer solchen Situation kann ein Anwalt nur darauf dringen, unbeteiligt zu sein und zu bleiben. Wir - ich meine Bruno und mich - haben natürlich über diese Dinge gesprochen und ich habe Bruno meine fachliche Meinung nicht verweigert, aber - wie gesagt - bei der Abfassung des eigentlichen Testaments und auch des Kodizills war ich nicht beteiligt."
"Aber Sie müssen doch eine Vermutung haben, was diese seltsame Regelung soll. Und auch die andere Verfügung, die eben nicht in Kraft getreten ist.
"Die andere Verfügung - oh, ja, ich verstehe, die Sache mit der Assasinengilde." Wieder ein nachdenkliches Schweigen. Schmalzbier war nicht leicht aus der Reserve zu locken, befand Kolumbini.
"Nun, ihr Zweck ist doch offensichtlich - Bruno wollte Vorsorge treffen, und vor allem wollte er die Einschaltung der Gilde wirkungsvoll verhindern. Und welchen besseren Weg gäbe es, als im Falle einer Inhumierung als einzig begünstigten im Testament die Wache einzusetzen?"
"Sie sagen Vorsorge - das scheint ihm aber nicht sonderlich genützt zu haben - ich meine, immerhin ist er tot und - noch wichtiger - er wurde ermordet."
Wieder schwieg Schmalzbier. "Ja, aber diesmal sind der Wache die Hände nicht gebunden." Und auf die irritierte Reaktion des Wächters fügte er hinzu: "Was passiert, wenn jemand durch die Gilde inhumiert wird? Die Wache stellt die Gildenquittung sicher, die Akte wird geschlossen, weil es keinen Fall gibt. Hier aber gibt es einen Fall und offensichtlich war Bruno der Ansicht, dass die Chancen der Wache, das Verbrechen aufzuklären nicht einmal so schlecht stehen."
"A pro pos, stehen. Wie standen Sie eigentlich zu dem Verhältnis, dass ihre Frau mit ihrem Freund hatte?" Lilli konnte es vor sich sehen, wie ihr immer ein wenig zerstreut wirkender Kollege diese Frage fast wie absichtslos in den Raum gestellt hatte. Allerdings war sein Gegenüber völlig ruhig geblieben.
"Sie meinen die im Stadtklatsch vor vielen Jahren sattsam durchgehechelte Tatsache, dass wir beide hinter ihr her waren, dass sie sich erst für mich, dann für ihn und somit eigentlich für uns beide und später wieder für mich entschied?" Schmalzbier zuckte mit den Achseln. "Ich war immer der Ansicht: Lieber die Hälfte von etwas richtig Gutem als einhundert Prozent einer lausigen Sache. Und darüber hinaus - Sie haben doch mit meiner Frau gesprochen ... Mal unter uns: Was glauben Sie, wie viel Mitspracherecht die Feurige Freddy mir oder ihm wirklich eingeräumt hat? Und ich war mir sicher, dass ich eines Tages wieder ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit erhalten würde." Wieder machte der Anwalt eine Pause. "Und dann war da noch die Sache, dass es Bruno privat zu der Zeit überhaupt nicht gut ging."
"Sie meinen die Sache mit seiner Tochter?"
"Sie wissen davon?"
"Nun, ich kann zwei und zwei zusammenzählen. Und ich vermute, dass Hardewicke Besen seine Tochter ist und das auch weiß."
"Ja, da liegen Sie richtig. Ich bin mir sicher, dass im Haus wirklich alle seit Jahren wissen, dass er ihr Vater war."
"Was meinen Sie - warum dann dieses seltsame Verhalten? Das Kind wird adoptiert und wächst auf Protsch auf, geht dann nach Quirm auf die bestmögliche Schule und so weiter. Schön und gut: Die Mutter war ein minderjähriges Dienstmädchen. Und für eine Familie, die die Stütze der Omnianischen Gemeinde sein möchte, ist das, nun, zumindest peinlich. Aber warum hat er nicht gesagt: O.K., Jungs und Mädels, ich habe gesündigt und so weiter, und das ist meine Tochter und gut ist? Warum dieses leicht zu durchschauende Arrangement mit den Besens."
"Minderjährige Mutter? Wie kommen Sie denn ...?"
Lilli las noch einmal fieberhaft die letzten Zeilen. Schmalzbiers Reaktion ließ nur einen Schluss zu: diese - Mist, wie war noch mal der Name, ah ja - Rotraude war nicht die Mutter gewesen. Da blieb nun aber nicht mehr viel ...
Sie bedauerte, dass es kein Verhör gewesen war, bei dem der Anwalt weniger Möglichkeiten zum Entschlüpfen geblieben wären. Aber dazu hätte Kolumbini einen zweiten Wächter mit dabei haben müssen - und so arbeitet er gewöhnlich nicht. Mit seiner Masche nur noch einige Fragen zu haben bohrte er die Leute regelrecht an bis er genügend Material zusammen hatte, um dann ein offizielles Verhör zu bekommen. So allerdings war an dieser Stelle das Gespräch von Seiten Schmalzbiers aus beendet worden. Leider war der Mann ja vom Fach - wenn auch von der anderen Seite.

*****


Gott sei Dank war der letzte Tag vorbei. Lilli Baum plumpste aufs Bett und streifte die Schuhe von den Füßen, bevor sie sich ächzend aufs Bett streckte. Da die Beerdigung am frühen Nachmittag stattfinden sollte, hatten die Vorbereitungen für die Bewirtschaftung von über vierzig Gästen im Haus weit vor sechs Uhr begonnen, und das, nachdem schon der vorhergehende Tag extrem lang gewesen war. Die üble Laune der Köchin war durch die anstehenden Mehrarbeiten nicht besser geworden, und auch wenn ein Teil der Speisen vorbereitet in Haus kam, waren es doch hunderteins Kleinigkeiten, die es im Auge zu behalten galt. Und hier zeigte sich nun, was Frau Besen zu dieser Stellung qualifizierte: Nach einem minutiösen Plan liefen die Vorbereitungen wie am Schnürchen. Und so wenig sie und Frau Plüsch sich mochten: in dieser Angelegenheit arbeiteten die beiden Frauen Hand in Hand, so dass dieser Teil des Hauses perfekt funktionierte - was man von dem anderen Teil, wie Lilli mit einem leichten Lächeln auf den Lippen bei sich dachte, nicht behaupten konnte. Denn so sehr Frau Plüsch die Dienerschaft im Griff hatte, so wenig Frau Apdrit die Familie.
Als Erstes hatte die sonst so stille Efeulalia tüchtig Krach geschlagen, als sich herausstellte, dass niemand daran gedacht hatte, auch für sie angemessene Trauerkleidung zu besorgen. Immerhin überstiegen bereits - wie sie ihrer Verwandten hinterherbrüllte - allein die Kosten für die angemessenen Kopfbedeckung aus schwarzer Spitze ihr Jahresbudget für Kleidung um ein vielfaches.
"Nun, wenn man - wie du - unter seinem Stand heiratet, dann sollte man sich nicht nach standesgemäßer Kleidung sehnen, meine Liebe."
Dieser kalte Satz hatte das Fass zum Überlaufen gebracht und Lilli Baum brauchte weder einen Vorwand noch sonst irgendetwas um jedes Wort der so abgebürsteten Frau mithören zu können. Lang, breit und laut zählte die Frau all die Verfehlungen ihrer Tante und der von ihr angestachelten Schwester auf, die sich die beiden ihres Wissens nach hatten zuschulden kommen lassen. Detailliert listete sie die Anzeichen von Lieblosigkeit, Habgier, Verschlagenheit, Lüsternheit und Gottlosigkeit auf, die die beiden auszeichneten.
Was die Wächterin allerdings mit Erstaunen zur Kenntnis nahm, war, dass das Verhalten des Verblichene offensichtlich kein Teil der Familiensünderlitanei war und dass der - wie sie ihn in Gedanken nannte - vermümmelte Hauslehrer genug Hintern in der Hose hatte, um der alten Dame den Stock, den sie gegen seine Frau zückte, zu entreißen, ihn in die Ecke zu schleudern und die wild Schluchzende in ihr gemeinsamen Schlafzimmer zu tragen.
Als dieser Teil der Darsteller im großen Drama von der Bühne war, wurden Teile des Personals, die dieses Wissen später großzügig beim Mittagstisch der Dienstboten teilen würden, Zeugen des zweiten Aktes, in dem die so von ihrer Zwillingsschwester angegriffenen in keinster Weise die Partei ihrer Tante ergriff, sondern nach einem heftigen Wortwechsel, in dem Ausdrücke wie "Geizvettel", "Intrigantenschachtel" und "Dreckschleuder" eine Rolle spielten, zu ihrer Schwester ging. Dann war sie schüchtern klopfend zu den Kehrers in Zimmer getreten und damit endete dieses Nachspiel.

Aus dem Fundus der gesamten Garderobe der Anorts, die Leonie und Klara eilig herbeigeholt hatte, wurde Efeulalia nunmehr unter der Aufsicht ihrer Schwester standesgemäß eingekleidet; während der Vormittag schnell verstrich, flogen die Nähnadeln unter der kundigen Hand von Leonie nur so über die Stoffe, und selbst die zum Säumen eingesetzte Klara schaffte die Meter in erstaunlicher Zeit. Lilli, die ihr um die Mittagszeit einen kleinen Imbiss ins Nähzimmer brachte, lugte kurz bewundernd über deren Schultern. Jetzt verstand sie, warum Ophelia dir Möglichkeit, als Zofe im Haushalt unterzukommen - abgesehen von der fehlenden Stelle - für sie verneint hatte. Ob Leonie bereit war, ihr nach dieser ganzen Sache ein paar Tipps für die Arbeit am Fundus zu geben?
"Nun geh mir schon aus dem Licht - die Zeit wird knapp", scheuchte die Zofe sie, allerdings freundlicher als sonst. "Und sag Magda, die ersten Sachen können gleich geplättet werden, sie möge bitte schon einmal die Eisen bereithalten."

Die Tatsache, dass die beiden Mädchen, die sich sonst um die Zimmer ihrer Herrschaften kümmerten, heute im Nähzimmer festsaßen, gaben Lili Baum die Gelegenheit, ihre Hypothese bezüglich der Empfängerin der Briefe, die über den Gärtner und eine junge Frau ins Haus kamen, zu überprüfen. Und sie sollte recht behalten: im Zimmer von Pekunia Anort fand sich ein Stapel frischer Liebesbriefe im aufgetrennten Futter eines Reitrocks.
Das Versteck war eigentlich gut gewählt, weil das junge Mädchen diesen Rock zur Zeit garantiert nicht anziehen konnte, während in der Wäsche, der Schmuckschatulle oder in einer Handtasche eine misstrauische Mutter jederzeit nachschauen konnte.
Der Inhalt, den die Wächterin kurz überflog, war denkbar trivial. Schön geschrieben und vermutlich ebenso schön empfunden warb ein junger Mann ohne Vermögen um die Hand von Pekunia, und die Briefe gaben Aufschluss darüber, dass er weit mehr als nur die Hand bereits erhalten hatte.
Wenn man die fehlenden Schreiben rekonstruierte, dann hatten die beiden eine gemeinsame Flucht aus ihrem Elternhaus geplanten, bevor das Ergebnis ihrer Beziehung nicht mehr zu übersehen war. Und irgendwie war da noch der Onkel im Spiel - wie allerdings genau, das konnte Lilli den Briefen von Fräulein Anorts Galan, der leider seinen Namen und seine sonstigen Daten unter dem wenig originellen Pseudonym "dein dich ewig liebender Geliebter" verbarg, nicht entnehmen.
Aber immerhin - hier war eine Möglichkeit, den verschwundenen Diamanten in dem komplizierten Puzzle unterzubringen.
Das bedeutete allerdings auch, dass SuSI noch die wenig angenehme Aufgabe bekommen würde, den Garten gründlich zu untersuchen - irgendwo musste die junge Frau ja damit geblieben sein ...

*****


"Irgendwelche Vorkommnisse?"
"Negativ, Sör," meldete Obergefreite Mimosa. "Außer dass Erwin Klöter nun ein tip-top-tadellos gewienertes Grab mit Blümchen hat. Und ich zwei Dollar für die Blümchen ausgelegt habe. Und nun weiß, warum Grabpflege nicht mein Hobby wird, Sör." Nachlässig flatterte eine Quittung auf en Schreibtisch ihres Vorgesetzten.
"Und auch bei mir war tote Hose", kam es von dem Gnom. "Super Blick auf Nichts - sozusagen." Eine Art von Salutierbewegung schob der Gnom nach.
"Schön, Danke".
"Und im Kassiber?"
"Ja, zum Glück durften", Kolumbini markierte Anführungsstriche in der Luft, "sich die Dienstboten nach Einbruch der Dunkelheit am Grab einfinden. Mit Blumen - also mit Kassiber. Chief-Korporal Baum ist sich sicher, dass die kleine Anort den Stein hat - oder hatte; vermutlich im Garten - wenn wir Pech haben, im Komposthaufen. Da werden die Susen sich aber freuen. Und wir sollen dringend den Gärtner beschatten, denn der gibt den Mittelsmann für Pekunia Anort und ihren Galan. Und wir können morgen in voller Besetzung anrücken, denn sie kann den Fall dann lösen."
"Wie bitte?"
"Hier steht - ich zitiere: "Pekunia Anort - Diahmant. Garten / im Komposter → SuSI. Zahl bringt Briefe von P.s Liebhaber ->wer? (Beschatten). Bitte mit Günter Morgen kommen - kann Fall dann löhsen. Schlüssel: Bruno und die Schwester, schlechter Ruf und schlechtes Handeln." Gezeichnet mit "F-B". Doch das sieht echt aus."
"Wieso erst morgen?"
"Nun, für die Kassiber stehen der Kollegin Baum keine Spezialdämonen zur Verfügung - mit anderen Worten: Sie muss mit dem Platz auskommen, den sie hat. Und daher steht da nie viel. Vielleicht braucht sie noch ein letztes Indiz. Und das gibt uns Gelegenheit, den Gärtner in die Mangel zu nehmen - dann kennen wir auch den Freund von Fräulein Pekunia." Der Ermittler zuckte mit den Achseln. "Ja, ich glaube mit dem letzen Kommentar liegt sie richtig."
"Schön, Inspäctor, sprich weiter in Rätseln und erkläre deinem Chef bloß nicht alles", knurrte Romulus.
"Sieh es positiv - wir wollen dir die Überraschung nicht verderben."

*****


"Was soll das denn werden - hat sich unsere tägliche Heimsuchung auf einmal vervielfacht?" Fräulein Plüsch beäugte die Gruppe der Wächter, die sich von ihr in der Tür aufbaute mit eisiger Mine.
"Oberfeldwebel von Grauhaar. Ich leite die Abteilung "Raub und unlizensierter Mord". Meine Stellvertreterin, Chief-Korporal Ziegenberger." Hoffentlich diesmal kein Knicks, dachte der Werwolf. "Korporal Kolumbini kennen Sie bereits."
"Und diesmal ohne Hund", strahlte der Mann sie an.
"Und?" Noch war ihr kein Grund gegeben worden, die Tür, die aus einem Intarsiengeflecht von Holz und Bernstein bestand und jedwedem Wetter ein sanftes, goldenes Licht in die Eingangshalle abgab und dem Haus den Namen "Bernsteinhaus" gegeben hatte, zu räumen.
"Wir sind gekommen, die Ermittlungen abzuschließen. Und die Kollegen hier", er wies auf die beiden Tatortwächter von SuSi, "müssten noch einmal einen Blick in den Garten werfen."
Schweigen
"Würden Sie bitte ihre Herrschaft verständigen, alle zusammentrommeln und uns in einen Raum führen, der allen ausreichend Platz bietet!?"
Während sie die Vorhalle betraten, wandte sich Fräulein Ziegenberger an die Haushälterin: "Lassen Sie mich bitte zu Hudruns Zimmer bringen und schicken Sie sie zu mir nach oben." Dann nahm sie ihrem Vorgesetzten ein umfangreiches in Packpapier gehülltes Paket ab, das dieser bisher getragen hatte, klemmte es sich unter ihren funktionierenden Arm im folgte der sie ungläubig anschauenden Frau, die ihr den Weg wies.

Die Unterkunft ihrer Kollegin war erbärmlich. Dies war ein Ander-Kawwer-Einsatz der abscheulichen Art, fand Ophelia. Als Lilli die Tür öffnete, streckte die Wächterin ihrer Kollegin als Gruß das Paket entgegen. Als diese es ausgewickelt hatte, lag oben auf das Schreibbord, darunter die dunkelrote RUM-Uniform. Als ihre Kollegin lautstark den lang vermissten Gerätedämon begrüßte, zog Ophelia sich unauffällig zurück. So emotionsgeladen und herzlich hatte sie sich das nicht vorgestellt.

*****


Kurze Zeit später betraten die beiden Frauen nebeneinander das Speisezimmer, wo bereits ein Großteil der Familie und ein Teil der Dienerschaft - Letztere an der Wand stehend - versammelt waren. Hinter ihnen durchquerte als zuletzt angekommenen Hardewicke Besen die Halle, nahm sich einen Stuhl vom Tisch und ließ sich an der Wand neben dem Personal nieder.
Nun kam der Auftritt der Wächterinnen. Als ihre bisherige Herrschaft und deren Dienerschaft die Kleidung registrierte, ging ein Raunen durch den Raum.
"... und damit zum letzten Teil der Vorstellung. Die ihnen unbekannte Person ist Chief-Korporal Ziegenberger und die Frau neben ihr ist Feldwebel Baum - Sie kennen sie als Hudrun."
"Unerhört", zischte Bernharda Apdrit vernehmlich. "Ist sowas überhaupt erlaubt?"
"So legal wie nur möglich", ließ sich Herr Schmalzbier vernehmen, der gerade mit seiner Familie das Zimmer betrat und den Anwesenden locker zunickte.
"Sie hat keiner gefragt", schnappte die alte Frau zurück.
"Sie mich auch", entgegnete er gutgelaunt. "Die Wache kann also heute den Täter überführen? Schön, schön, schön. Dann kehrt ja band Normalität wieder ein."
"Da bin ich sicher!" Die Worte des Gerätedämonen, die dem Klickern auf Glas unmittelbar gefolgt waren, drangen durch den Raum.
"Am Anfang unsere Ermittlung stand der Mord an Bruno Apdrit."
"Lächerlich: Mord - es war irgendein dämlicher Fehler mit diesem Stärkungsmittel!"
"Nein, Frau Apdrit, es war Mord. Vielleicht war es beabsichtigt, es wie einen Unfall aussehen zu lassen - ich aber glaube, dass dieses Detail zum Zeitpunkt des Mordes nahezu gleichgültig war. In der selben Nacht verschwand aus Bruno Apdrits Zimmer ein ausgesprochen wertvolles Schmuckstück, der bei Bullgierig erstandene Kürbisdiamant, ein einzigartiger Stein, der mehr als 25.000 Dollar wert sein soll."
Und bevor noch irgend jemand die Geschichte erneut unterbrechen konnte, fuhr Feldwebel Baum fort: "Was bei diesem Fall auf jeden Fall wichtig ist, ist die Vergangenheit. Wenn ich jemals einen Fall gesehen habe, dessen Wurzeln tief zurück liegen, dann dieser. Nicht umsonst heißt dieses Haus das Bernsteinhaus - alles, alles wurde hier aufbewahrt. Vor allem aber die starken Gefühle." Sie entspannte kurz die Finger, denn sie fühlte sich ein wenig aus der Übung.
"Um den Fall ganz begreifen zu können, müssen wir weit in die Vergangenheit zurück gehen. Sie", und sie wandte sich direkt an Bernharda, "haben ihre beiden Brüder ihr Leben lang nicht gemocht, weil sie ihnen schon nach der Geburt vorgezogen wurden. Ihr Vater wollte einen Erben. Seine Fabrik, sein Geld und seinen gesamten Besitz an ein Mädchen zu vererben, kam für ihn überhaupt nicht in Frage - also wurde der zehn Jahre nach ihnen geborene Erbe gefeiert. Und sie waren von der Prinzessin - denn zur Not hätten sie ja eines Tages den rechten Schwiegersohn ködern müssen - zum Aschenputtel geworden. Auf einmal war keine Rede mehr von einem Mann - das Vermögen sollte ja nicht aufgeteilt werden. Sie waren abserviert, zweitklassing, aus dem Rennen - wegen zweier kleiner Jungen. Und das haben sie die beiden nie vergessen lassen. Bruno nicht und Bingel nicht. An Bingel konnten sie sich später rächen. Als er tot war, hatten sie seine Töchter in der Hand. Und anstatt sie liebevoll aufzuziehen, haben sie das denkbar bizarrste Arrangement getroffen - die Zwillinge getrennt."
"Das war Brunos Idee! Seine - seine ganz alleine!" Die alte Frau hatte sich mit hochrotem Kopf auf den Tisch gestützt. "Er wollte den Zugriff auf das Geld!"
"Ja, so sagt man", mischte sich nun Inspektor Kolumbini ein, "aber stimmt das wirklich? Das Vermögen ihrer Schwägerin reichte nicht annähernd an das Geld aus der Fußmattenfabrik heran - und auf das konnte ihr Bruder zugreifen - sie aber nicht."
"Aber Geld war nicht ihre eigentliche Triebfeder - es war Macht." Erneut ergriff der Feldwebel das Wort. "Getrennt konnten sie die Mädchen gegeneinander und gegen ihren Bruder ausspielen. Doch lassen wir das zuerst einmal beiseite."
Sie fuhr fort: "Ein zweiter interessanter Aspekt bei diesem Fall war das eigenartige Kodizill, dass Bruno Apdrit vor seinem Tode gemacht hat. Für den Fall seiner Inhumierung durch die Assassinengilde sieht es eine sofortige Testamentseröffnung vor, und der dort ermächtigte Testamentsverwalter hat den Auftrag, abgesehen von den unveräußerlichen Pflichtteilen, die gesamte Erbmasse zu Geld zu machen und den Betrag an die Wache zur freien Verfügung zu übergeben."
"Für den Fall eines natürlichen Todes sah das Kodizill eine normale Testamentseröffnung nach der Beerdigung vor. Vermutlich wäre der gesamte Besitz - wiederum abzüglich der Pflichtteile - an seine nächste Verwandte gegangen." Für einen Moment sah Kolumbini, der das Wort ergriffen hatte zu der alten Frau, die seinen Blick starr erwiderte, dann aber fixierte er Fräulein Besen.
"Sie sind die leibliche Tochter von Bruno Apdrit - habe ich Recht?"
"Ja, das haben Sie, und ihre Vermutung bezüglich des Testaments ist ebenfalls korrekt." Höflich und freundlich sah die junge Frau zu ihm hin. "Mein Vater hatte mir das bereits vor drei Jahren, als ich nach Ankh-Morpork kam, mitgeteilt. Den Namen meiner Mutter erfuhr ich sehr viel später. Er erkannte auch, dass ich die nötigen Fähigkeiten mitbrachte, in seine Fußstapfen zu treten."
"Ein Talent, das er in seiner Familie bis dahin vermisst hatte."
Die junge Frau nickte wider - kühl und distanziert, aber freundlich.
"Allerdings sah sein Testament auch vor, dass ich weiterhin darauf zu achten hatte, dass es seiner Familie an nichts fehlte. Statt zu ihm wären sie dann zu mir mit ihren Rechnungen gepilgert. Die Pflichtteile sind unveräußerbare Anteile an der Firma - die davon zu zahlenden Zinsen hätten den meisten der hier Anwesenden nicht zur Aufrechterhaltung ihres Lebensstils gereicht. Ich war bei der Planung seines Letzten Willens beteiligt."
"Und hast den alten Trottel schamlos manipuliert!" Giftig funkelte Askesia Anort sie an.
Ein energische Räuspern von Oberfeldwebel von Grauhaar beendete den aufkeimenden Zwist.
"Dann wissen Sie auch, welche Regelungen in diesen Fall hier greifen?"
Die junge Frau rieb sich kurz das Kinn. "Im Falle seiner Ermordung hängen die Regelungen davon ab, wen die Wache als Schuldigen überführt. Ich kenne hier nur einen Teil der Möglichkeiten, weil mein Vater aus - wie er es nannte - Gründen der sportlichen Fairness alle der hier Anwesenden in sein Kalkül mit aufgenommen hatte. Und die Regelung für den Fall meiner Überführung hat er mir leider nicht verraten. In einigen Fällen jedoch sollte die Firma liquidiert und die Anteile an die Hinterbliebenen zu gleichen Teilen ausgezahlt werden."
"Mit anderen Worten: Hier hätten alle was davon gehabt." Der Abteilungsleiter von RUM fixierte den einzigen anwesenden Anwalt: "Wie viel war Ihnen von den Plänen ihres alten Freundes bekannt?"
"Da meiste, Oberfeldwebel. Er hatte sich schon lange mit der Idee getragen, Vorsorge zu treffen. Von daher war ein Großteil der Regelung allen hier Anwesenden bekannt - insbesondere der Teil mit den Assassinen. Zu dieser Art Rückversicherung hatte ich ihm geraten."
"Und gab es jeweils unterschiedliche Regelungen für den Fall, dass der Täter aus dem Kreise des Personals kam?"
"Ja, das gab es." Der Anwalt wurde vorsichtig. "Sie verstehen, Oberfeldwebel, dass ich Ihnen als Freund des Verstorbenen gerne antworten würde, als Anwalt hingegen an eine gewisse standesgemäße Verschwiegenheit gebunden bin."
"Aber Sie sind doch nicht der Testamentsvollstrecker, nicht wahr - Sie sind, wie Sie mir selbst gesagt haben - Partei." Kolumbini zog seinen Notizblock ohne langes Suchen aus dem Mantel, bereit, das Ermittelte vorzutragen.
Schmalzbiers Blick glitt die Stirnseite des Tisches entlang, wo sich die Mitglieder der Wache gruppierten. Seine Frau neben ihm drückte leicht sein Armgelenk, was ihn zum Einlenken brachte.
"Für den Fall, dass das Ehepaar Besen oder der Gärtner schuldig ist, tritt dieselbe Regelung in Kraft, wie im Falle eines natürlichen Todes. Um Falle der Täterschaft von Frau Plüsch wird die Firma liquidiert und das Geld geteilt."
Geraune am Tisch zeigte, dass dieser Teil der Regelung vielleicht nicht allgemein bekannt gewesen war. Die Blicke, die sich nun auf Rosamunde Plüsch richteten, erwiderte diese mit eisiger Verachtung.
Das Klick-Klick-Klick durchbrach die Stille ebenso wirksam, wie kurz daran anschließend die Stimme des kleinen Dämons.
"Aber das Testament war natürlich nur ein mögliches Motiv für die Ermordung. Am Abend seines Todes war Bruno Abdrit nicht allen - er hatte Damenbesuch, und er hatte einen 25.000 Dollar schweren Diamanten bei sich, der seitdem verschwunden ist. Wir vermuten, dass Schmuckstück und Besuch in einem eindeutigen Zusammenhang stehen. Bleibt zu fragen, für wen dieses exquisite Stück gedacht war."
Magda, Frau Bernhardas Zofe, gab ein Wimmern von sich und versuchte noch weiter mit der Tapete zu verschmelzen.
"Sie werden ja wohl nicht die dreiste Geschmacklosigkeit besitzen, ein Mitglied meines Haushaltes oder meiner Familie für eine dirne zu halten." Scharf schnitt die Stimme von Bernharda durch den Raum. "Da kommt ja wohl nur eine Person in Frage. Fragen Sie sie doch!", und ihr Finger wies anklagend auf Fredegunde Schmalzbier.
Diese sprang auf und hielt einen flammend roten Rubinanhänger nach Vorne. "Meine Farbe ist Rot, du Vettel! Und den hat mit dein Bruder geschenkt, nachdem du die Sache mit deinen Erpressungen kaputt gekriegt hast. Also halt gefälligst deinen Mund, sonst kannst du Dich auf eine Verleumdungsklage gefasst machen, du altes Schandmaul." Und als ihr Mann versuchte, begütigend ihre Hand zu tätscheln fauchte sie. "Ach ist doch wahr - diese moralinsaure Heuchlerin kann mich mal!"
"Sie machen also Bernharda Apdrit für das Ende Ihrer Liaison mit Bruno Apdrit verantwortlich?"
"Wen sonst. Ich gebe ja zu: wir hatten eine Weile ernsthaft vor, zu heiraten."
"Aber waren Sie da nicht bereits verheiratet?"
"Ja und!? Sagt Ihnen das Wort "Scheidung" etwas. Allein bei dem Gedanken an das Gesicht von der alten Ziege bei der Hochzeitsfeier haben wir Gesto, Bruno und ich uns gekringelt vor Lachen. Das wäre der größte Spaß in seinem Leben gewesen."
Alle Blicke glitten zu Gesto Schmalzbier, der ein amüsiertes Gesicht zur Schau trug.
"Probleme? Ich sagte Ihnen doch", und sein Blick traf den von Kolumbini, "dass ich es wusste. Und glauben Sie mir - wir haben alle drei unseren Spaß gehabt. Und wenn Sie ihre moralischen Erwägungen mal hintan stellen könnten und die Küchenpüschologie beiseite lassen, dann werden Sie feststellen, dass sexuelle Freizügigkeit nicht zwangsnotwenig zu Mord und Totschlag führt - sonst wäre die Einwohnerzahl von Ankh-Morpork nicht größer als die von Protsch."
Seine Frau war es, die auf das ursprüngliche Thema zurückkam: "Die Sache mit Bruno liegt lange zurück. Wen er aktuell im Auge hatte, kann ich Ihnen allerdings nicht sagen. Manchmal erzählte er mir von einem neuen Schwarm, manchmal nicht."
"Sie wissen also nichts über die nächtliche Besucherin?"
"Nein, definitiv nicht. Da müssen Sie sich schon woanders umsehen."
"Das ist nicht schwer", meinte Lilli Baum via Günter gelassen und wandte sich an Pekunia Anort. "Sie stehen mit einem jungen Mann in Briefwechsel, mit dem sie liebend gerne Ihrem Elternhaus den Rücken kehren täten, wenn sie die nötigen Mittel dazu hätten. Das Versteck im Rocksaum war gut gewählt - aber nicht gut genug. Wir kennen seine Briefe."
"Dieser Buchhalter schreibt dir noch immer?" Prester Anort musterte seine Tochter mit Widerwillen. "Ich hatte es ausdrücklich untersagt. Dieser Hungerleider wird kein Teil meiner Familie. Und das ist mein letztes Wort - das habe ich dir oft genug mitgeteilt und dabei bleibe ich. Ich wäre dir wirklich sehr verbunden, wenn du besser auf deine Tochter achten könntest, Askesia!"
Bevor der Streit hochkochte, unterbrach Lilli: "Ja und deswegen hat Ihre Tochter einen anderen Ausweg gesucht - und bei ihrem Großonkel gefunden."
Pekunia wurde unter den versammelten Blicken am Tisch rot wie eine Tomate.
"Was für ein unglaubliches Verhalten!", zischte Bernharda ihrer Großnichte zu. "Schäm dich!"
Nun machte die junge Frau den Nacken steif: "Wofür soll ich mich schämen? Was hast du doch für eine schmutzige Phantasie, verehrte Großtante!"
"Nun, wir wissen alle um den bedauerlichen Ruf meines Bruders."
"Nun, Mäm, das ist doch mal ein sinnvolles Stichwort", hakte Kolumbini ein. "Der Ruf eines Mannes - und sein wirklicher Charakter. Der Ruf Ihres Bruders, was das weibliche Geschlecht angeht, war alles andere als tadellos. Aber - beruht er auf Wahrheit? Wenn wir den Aufzeichnungen des omnianischen Waisenhauses Glauben schenken können, dann hat es in Ihrem Haushalt im Laufe der letzten fünfzig Jahre eine ganze Reihe von jungen Dienstmädchen gegeben, die hier ausgebildet wurden und dann in andere Häuser vermittelt wurden, ohne dass es in den meisten Fällen jemals einen Skandal kam. Allerdings gab es da zwei Fälle - einer sitzt dort an der Wand - neben ihrer Mutter."
Rosamunde Plüsch machte den Rücken gerade.
"Ja es stimmt. Vor fünfundzwanzig Jahren begann meine Affaire mit Bruno Abdrit. Und als die Folgen spürbar wurden, vertrauten wir uns seiner Schwester an. Sie sorgte dafür, dass das Gerücht entstand, Rotraude sei schwanger. Also gingen wir zu dritt nach Protsch. Rotraude begann in Sto Lat ein neues Leben mit einer beträchtlichen Mitgift und einem Ehemann, den sie auf dem Gut gefunden hatte. Und der örtliche Kurpfuscher aus Protsch fand sich für ein Schweigegeld bereit, ihren Tod zu bescheinigen - er glaubte, sie so vor einem gewalttätigen Verehrer schützen zu können. Meine Tochter wurde einer Amme übergeben, die Besens wurden als Eltern gefunden und ich kehrte in die Stadt zurück. Als sie nach Quirm kam, kratzte ich all mein Geld zusammen für das erste Schuljahr - danach war ich so stolz auf sie, weil sie wegen ihrer guten Leistungen ein Stipendium bekam. Bruno regelte die Angelegenheit für mich über Strohmänner und ihren Eltern entstanden ja keine Kosten. Hin und wieder konnte ich sie sehen - aber ich hatte keine Möglichkeit, mit ihr Kontakt auszunehmen. Ich hatte es meiner Herrin versprechen müssen - als Sühne für unser Verbrechen." Nun endlich senkte sie den bis hierher stolz erhobenen Kopf. Ihre Tochter tätschelte kurz ihre Hand.
"Sünde ja - Verbrechen? Ich vermag nicht, hier ein Verbrechen zu sehen!" Die trockene Stimme von Robert Kehrer brach die Stille.
"Mein Kollege hatte vorhin zwei Fälle erwähnt. Das war der zweite. Für den ersten müssen wir weit zurück gehen. Das war nicht das erste Mal, dass jemand aus der Familie von einer Dienstbotin begleitet längere Zeit auf Protsch war. Das erste Mal war vor fünfzig Jahren. Sie stammen aus Protsch - nicht wahr, Frau Plüsch? Ihre Eltern waren dort im Haus tätig. Und obwohl die beiden - wie man hört - eine glückliche Ehe führten, hatten sie keine weitern Kinder als eine Tochter, die irgendwann als Dienstmädchen im Stadthaus der Familie eine Stellung fand. Und wie es der Zufall will, war Bernharda Apdrit mit ihrer Zofe, einem jungen und ausgesprochen gutaussehenden Ding, wie man hört, zu der Zeit ihrer Geburt auf dem Land. Die Zofe war gerüchteweise in anderen Umständen, und sie verschwand nach der Geburt und ließ das Kind zurück."
"Wenn das nichts mit dem Fall zu tun hat, dann verstehe ich nicht, warum man diese Sache nicht ruhen lassen kann. Denn glauben Sie mir - Bruno wusste nichts von Rosamundes Herkunft, als er mit ihr ein Verhältnis hatte", mischte Fredegunde sich ein, "und sie auch nicht. Die beiden haben das so sehr gebüßt - dafür hat die da", anklagend hob sie die Hand gegen Bernharda, "schon gesorgt. Aber damit hatte sie Bruno auch perfekt in der Hand. Denn Inzest gilt als Verbrechen."
"Aber leider hat es mitt unserem Mord zu tun. Denn wäre Onkel Brunos Ruf ein andere gewesen und wäre dieser Inzest nicht unausgesprochen zumindest in der Familie bekannt gewesen, dann hätte Frau Anort nicht in dieser Form reagiert, als sie ihre Tochter aus dem Zimmer ihres Großonkeln kommen sah - mit einem Diamanten um den Hals, den sie vorher nicht besessen hatte. Und so war die Mutter entschlossen, den vermeintlichen Schänder ihrer Tochter zu bestrafen. Sie suchten ihn unter einem Vorwand auf, lenkten ihn ab und vergiftet seine Mokkatasse mit dem Stärkungsmittel."
"Sie beschuldigen meine Frau?" Hilflos schaute Anort die Wächter an.
"Aber Mutti, das war doch nicht so! Ich habe ihn doch nur gebeten, Neithan und mit Startkapital zu geben. Ich hab ihm auch gesagt, dass wir ein Kind erwarten - und da hat er bei Bullgierig den Stein gesehen und fand ihn so hübsch, dass er ihn uns zur Geburt schenken wollte und nächste Woche wollte er mir Geld leihen, damit wir uns selbständig machen können. Und als er tot war - ihr hättet uns den Stein doch sowieso nicht gelassen. Also habe ich ihn versteckt. Im Komposter, bis wir eine Möglichkeit gefunden hätten, ihn rauszuschmuggeln. Der alte Peter macht da doch sowieso nichts ..." Weinend umfasste Pekunia ihre Mutter. "Du wirst doch nicht gedacht haben - ich meine, du kannst doch nicht ..." Der Rest war im Schluchzen der Frauen, die sich in den Armen lagen, nicht zu verstehen.
Unauffällig erhob sich Ophelia, brachte der Frau ein Taschentuch und half ihr beim Aufstehen um sie in einen angrenzenden Raum zu geleiten.
"Kann ich?" Schüchtern wandte sich Pekunia an die Wächterin. Nach kurzem Blickkontakt mit ihrem Vorgesetzten nickte sie zustimmend, und die drei Frauen verließen den Raum.
"Hm, aber wenn es ein spontaner Mord war - warum dann die Zimtbombe?" Noch war der Abteilungsleiter von der Tatrekonstruktion nicht ganz überzeugt.
"Aber sie standen an dem Tag doch überall im Haus herum - es war Zimtfest. Nur für uns sind sie bereits so stark mit Verbrechen assoziiert, dass wir manchmal als Wächter die harmlose Erklärung nicht sehen. In Klatsch hingegen wirft man sie sich zur Begrüßung zu und tritt drauf - mit einem Segensspruch." Korporal Kolumbini war das Erstaunen über diesen so einfach zu übersehenden Fakt deutlich anzuhören.
"Dann ist damit ja wohl kein weiterer Grund für Ihre Anwesenheit hier - Sie können mein Haus nun verlassen und gehen." Hochmütig wies Bernharda mit dem Stock zur Tür.
"Nicht dein Haus, alte Frau. Du vergisst, dass ich das Testament kenne. Es ist jetzt mein Haus." Mit kalter Stimme wies die junge Frau Besen ihre - flink rechnete Ophelia die Verwandtschaftsverhältnisse durch - Tante und Großtante in die Schranken. "Für den Fall, dass die von dir aufgezogene Tochter von Bingel sich als diejenige Person erweisen sollte, die den Tod meines Vaters verursacht hat, fällt das gesamte Vermögen - Mobilien und Immobilien - mit zu. Ich kann erwägen, dir ein lebenslängliches Wohnrecht zu gewähren - und jetzt hast du drei Minuten Zeit, mir einen guten Grund dafür zu geben, der Person, die meinen Vater und meinen Großvater", mit unbewegter Stimme akzeptierte die junge Frau das ungeheuerliche, "sein Leben lang gequält hat, in meinem Hause zu dulden." Vergebens versuchte Frau Plüsch, ihre Tochter zu zügeln, indem sie sie am Arm zupfte.
Klicke-di-klicke-di-klick....
"Aber er war nicht Ihr Großvater."
"Wollen Sie mich über meine Familie belehren?"
"Wenn ich gesagt habe, dass vor fünfzig Jahren Bernharda Apdrit mit einer Zofe aufs Land ging und dass dort ein Kind geboren wurde - dann muss das nicht heißen, dass das Kind von der Zofe stammt." Nun wandte Lilli sich der alten Frau zu: "Rosamunde Plüsch ist nicht die Tochter von Bruno - sie ist Ihre Tochter, nicht wahr. Und Zahl Peter ist der Vater. Ich vermute allerdings, dass er das nicht weiß."
"Er war schwer verliebt", mischte sich Gesto Schmalzbier nachdenklich ein. "Er war sechzehn - Bruno damals. Sie hieß ... hieß ... Oh, mein Gedächtnis. Josephine. Sie war eine Schönheit mit schokoladenfarbenen Haaren. Ich habe auch für sie geschwärmt - aber ich war erst acht. Bruno war sich so sicher, dass sie aufgepasst hätten - aber dann war sie weg und er hat sie nie wieder gesehen. Und dann war da das Kind, und er hat natürlich gedacht, was alle denken sollten. Sowas böses!"
"Aber er hat sein Leben lang eine Vorliebe für Zofen behalten - nicht wahr, Madga!? Denn Sie waren doch die Person, die nachts noch in Apdrits Zimmer war. Das also war ihr kleiner Nebenverdienst."
"Du verdorbene Person". Hätte Bernharda einmal in ihrem Leben geschwiegen, wäre der folgende Eklat vielleicht ausgeblieben.
"Du spielst hier die Tugendrichterin? Du hast dich die ganze Zeit von deiner eigenen Tochter bedienen lassen! Du hast deinen eigenen Bruder in dem Glauben gelassen, er habe seine leibliche Tochter beschlafen? Und du hast mir damals die Hölle heiß gemacht, weil ich mich in Robert verliebt habe? Du hast Onkel Bruno gezwungen mich rauszuschmeißen? Ich bin froh, dass ich nicht den selben Namen trage wie du. Und ich bedauere es ohne Ende, dass man dich dafür nicht drankriegen kann." Mit dem Ausbruch von Efeulaia hatte hier niemand gerechnet. Wie eine Furie stürzte sie sich auf ihre Tante, und nur mit sehr viel Kraft gelang es dem Leiter von RUM und ihrem Mann, sie zu bändigen.

*****

"Ah, du - äh, Sie ... bist's, Sie sind es." Leonie lächelte der Wächterin entgegen. "Sie wollen sich verabschieden. Wie reizend."
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"Sie wüsste gerne, ob du ihr Tricks beim Nähen zeigen könntest. Sie meint, du bist absolute Spitze."
Geschmeichelt lächelte die Zofe. "Dem Mädchen Hudrun hätte ich gerne einiges beigebracht. Die Wächterin hingegen ... du bist keine von uns. Auch wenn ich dich vielleicht gemocht hätte ..."
"Aber ich bin Wächterin, ich arbeite wie du!"
"Nein, Wächter sind ein Teil von denen da oben. Ihr gehört zu denen, nicht in unseren Teil des Hauses - auch wenn die anderen das nicht so sehen. Damit müsst ihr leben."
[1] vgl. Single-Mission: Auf ewig vereint

[2] Die Tatsache, dass die Wache sich mittlerweile der Hilfe von Werwölfen bedient, hat seitdem in Ankh-Morporks Verbrecherseelen die Suche nach Abhilfe beflügelt. Ein Ergebnis dieser Bemühungen sind Zimt- oder Anisbomben, deren extrem starker Geruch eine verfahrenssichere Zuordnung olfaktorischer Spuren wirkungsvoll verhindern kann. Sie bestehen aus einer dünnen Glaskugel, in die das entsprechende Duftöl eingefüllt wird, und die dann mit heißem Wachs versiegelt werden konnten. Einmal geworfen zerschellen sie selbst auf dicken Seidenteppichen und entfalten zuverlässig ihre Wirkung. Dank der ausführlichen Berichterstattung durch Zeitungen ist dieses Wissen mittlerweile zum Allgemeinwissen in AM geworden, so dass die Wache eher erstaunt wäre, keine Geruchsbomben zu finden.

[3] Die Tücken bei der Namensvergabe waren vielfältig




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Feedback:

Von Aglaranna

26.10.2011

Die vorkommenden Wächter sind - nach dem, was ich bisher an Fällen gelesen habe - sehr gut getroffen.
Bei einer Wichtel-Single sollte der "bewichtelte" Wächter eine wichtige Rolle spielen. Dies ist hier hervorragend gelungen.
Einige Fehler haben sich auch hier eingeschlichen, im Endeffekt mindern diese das Lesevergnügen jedoch nicht sehr.

Kurz und bündig:
So viele Details und Beschreibungen, so eine "verwinkelte" Story, die selbst am Ende, wenn man denkt man hätte sie durchschaut, noch eine Überraschung parat hält - ich bin begeistert.

Pismire, darf ich dich Agatha nennen? ;-)

Von Cim Bürstenkinn

26.10.2011

Sehr gute Darstellung der Ermittlungsarbeit und Lilli Baum.

Von Kanndra

04.11.2011

Was für eine verwickelte Geschichte. Besonders durch die Familienverhältnisse habe ich am Ende nicht mehr durchgeblickt :D. Lilli hast du meiner Meinung nach aber sehr gut getroffen (bis auf die "lautstarke Begrüßung" ihres Dämons, aber das sollte vermutlich anders herum sein). Eine spannende und rundherum gut gelungene Single!

Von Lilli Baum

31.10.2011

Deine Geschichte hat mich von der Komplexität und Setting her an Ophelias Werke erinnert; allerdings hatte ich hier das Gefühl, die vielfältigen Beziehungsgeflechte und die Geschichte nicht völlig durchschauen zu können; mir persönlich fehlte beim Lesen die Gelegenheit, die Figuren kennen lernen zu können, ich hatte das Gefühl die Eigenschaften ausschließlich aus dritter Hand zu erfahren statt direkt von den Figuren selbst durch ihr Verhalten.

An der Darstellung von meinem Charakter fand ich die vielen kleinen Details schön, wie der Erwähnung des Paluksé-Anhängers. An einigen Stellen hat sie sich anders verhalten, als es bei mir der Fall gewesen wäre, was aber völlig in Ordnung ist, schließlich gibt es von mir keine einzige Geschichte in der sie 'richtig' verdeckt ermittelt...
Asche über mein Haupt.

Vielen Dank für die Geschichte, sie war gut geschrieben und es war eine sehr interessante Erfahrung, Lilli mal aus deiner Sicht in einem klassischen Ophelia-Setting zu sehen. :D Danke, danke!

Von Ophelia Ziegenberger

03.2.2012

Darf ich noch etwas hinterherschieben? Brilliant! :-) Und ich danke recht herzlich für die außerordentlich exakte Darstellung Ophelias. *knicks*

Von Romulus von Grauhaar

26.10.2011

Ein wunderbarer konstruierter Fall, sehr schön verwendete Wächtercharaktere, ein glaubhaft aufgebauter Haushalt mit einer Menge Personen, die sehr lebendig wirken. Dazu eine verworrene Geschichte mit vielen persönlichen Verstrickungen, im besten Agatha-Christie-Stil. Und, ganz wichtig: Ein Plot, der absolut fesselt und einen zum Weiterlesen zwingt.
Einziger kleiner Kritikpunkt: Man hätte noch einmal drüberlesen sollen, da waren ein paar Flüchtigkeitsfehler drin, die den Lesefluss ein wenig gestört haben, gerade am Ende. Aber in meine Bewertung floss das nicht mit ein.

Von Ruppert ag LochMoloch

07.11.2011

Das war eine gut durchdachte Geschichte mit viel Agatha-Christie-Flair. Am Ende sitzen alle Beteiligten zusammen und bis zum Schluß bleiben fast alle verdächtig. Super!
An Kritik bringe ich zum einen mehr Schreibfehler, als ich Dir eigentlich zugetraut hätte ;-) und, maßgeblicher, es war für mich mitunter schwierig zu verstehen wer da mit wem gerade worüber sprach.
Hatte übrigens das mal in Gegewarts- und mal in Vergangenheitsform zu schreiben eigentlich einen tieferen Sinn?

Alles in allem aber eine Geschichte, die mir gut gefallen hat.

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