Manchmal laufen die Dinge nicht so wie geplant. Manchmal ist selbst die Unsterblichkeit endlich. Und manchmal kann es passieren, dass die eigene Gabe zum Fluch wird. (Wichtelsingle)
Dafür vergebene Note: 13
Es war ein Häufchen Unglück, das da vor ihr saß, anders ließ sich die traurige Gestalt beim besten Willen nicht beschreiben: Die Augen lagen tief in den Höhlen, dunkel und nahezu glanzlos und er war so mager, dass sich die Haut über den Wangenknochen spannte wie gegerbte Ziegenhaut über dem Unterbau einer Trommel. Seine Bewegungen waren fahrig und aller paar Sekunden zuckte es im linken Mundwinkel. Tatsächlich konnte auch das ansonsten sehr gepflegte Äußere und die qualitativ hochwertige Kleidung nicht darüber hinwegtäuschen, dass man es hier mit einer Existenz kurz vor dem psychischen wie physischen Zusammenbruch zu tun hatte. Es war mehr als bedenklich - was machten die mit ihren Leuten?
"Es hat mich sehr gefreut zu erfahren, dass es bei der Wache auch ein paar Vampire in höheren Diensträngen gibt. Und jemanden wie Sie anzutreffen, der auch noch die Leitung der passenden Abteilung innehat ... also das ist dann schon mehr, als ich zu hoffen gewagt habe ..." Seine Stimme versagte und er musste sich mehrfach räuspern.
Feldwebel Breda Krulock betrachtet ihren Besucher mit einer Mischung aus Mitleid und Entsetzen. Sie hatte ja schon viel gesehen, aber es war immer wieder erschreckend, bis wohin es einen bringen konnte, der eigenen Natur krampfhaft zu entsagen. Schwer einzuschätzen, wie alt der Vampir ihr gegenüber eigentlich war ... aber wenn er so weitermachte, würden wohl nicht mehr viele Jahre dazukommen, zumindest nicht in dieser Form.
"Nun, Herr Koskaja, wir haben auch viele andere, fähige Kollegen, die durchaus nicht ohne Entscheidungsgewalt sind. Warum wollten Sie ausgerechnet mit mir sprechen?" 'Und haben zu diesem Zweck geschlagene zwei Stunden lang in einem Haus mit mehr professionellen Schönheiten gewartet, als der Enthaltsamkeit gut tun sollte?', schob sie im Stillen hinterher - im ganz Stillen, denn man wusste schließlich nie wie gut die Gedankenlesefähigkeiten bei solch einem Besucher ausgeprägt waren. Obwohl ... Oskar Koskaja schien andere Probleme zu haben, als Leute auszuhorchen. Nervös nestelte er an der schwarzen Schleife, welche gut sichtbar am Revers seines Mantels befestigt war.
"Na ja, ich dachte ... ein Artverwandter versteht vielleicht das ...
Problem am besten", antwortete er dann mit hoffnungsvollem Blick.
"Das Problem ..." Abgesehen vom Offensichtlichen konnte das viel bedeuten. Breda legte leise seufzend den Einsatzbericht, welchen sie gerade gelesen hatte, auf einen Ablagestapel und forderte ihren Gegenüber mit einer Handbewegung auf fortzufahren. Doch Koskaja schwieg noch einen Moment, offenbar bemüht seine Gedanken zu ordnen. Das was er sagen wollte, schien ihm doch einiges an Bauchschmerzen zu bereiten. Die DOG-Abteilungsleiterin machte sich innerlich auf ein längeres Gespräch gefasst.
"Ich ... also eigentlich wir sind der Meinung, dass etwas in der Liga der Enthaltsamkeit nicht mit rechten Dingen zugeht. Wir haben da etwas gefunden. Besser gesagt, Charlotte ist direkt hineingetreten." Seine Stimme zitterte. "In einen ... einen ..."
"Ja?"
"Aschehaufen!", stieß Oskar hervor, "Und nur ein paar Schritte entfernt lag noch einer. Können Sie sich das vorstellen? Da bringt jemand Vampire um ..."
"Herr Koskaja ..."
"Die Liga meint, es wären Unfälle gewesen und wir sollten uns nicht darum sorgen. Aber wenn wir nicht einmal mehr dort sicher sind, wo soll das hinführen?"
"Herr Koskaja."
"Verstehen Sie das, wir wissen gar nicht, wem man noch trauen kann und die meisten Leute von außerhalb der Mission nehmen uns ohnehin nicht ernst, von daher ..."
"Herr Koskaja!"Sie hatte nicht laut werden wollen, aber den anderen Vampir vollends die Nerven verlieren zu lassen - das Risiko wollte sie nicht eingehen. Oskar sah Breda erschrocken an und sank dann noch etwas tiefer in sich zusammen.
"Entschuldigung", meinte er kleinlaut, "es ist nur so: Was würden Sie tun, wenn Sie auf dem Flur der Wohnung einer guten Freundin nicht sie selbst sondern nur so ein graues ... Ding vorfinden?"
"Und Sie sind sicher, dass es sich dabei um das Resultat eines Verbrechens handelt?"
"Ganz sicher! Sie wird sich ja wohl kaum selbst gepfählt haben. Es lag auch kein Holz herum, bevor Sie fragen."
"Hat denn jemand eine Wiederbelebung versucht?"
"Ich bitte Sie, Frau Feldwebel." Koskaja schlug nun einen ehrlich empörten Tonfall an. "Wir können doch in einer Einrichtung der Liga der Enthaltsamkeit nicht anfangen, B-Wort zu vergießen."
Breda verkniff sich nur mit Mühe einen Kommentar, fragte sich aber dennoch, wie weit Prinzipien gehen konnten. Vom Grundgedanken her war die Liga ja keine schlechte Sache ... aber anscheinend waren einige Mitglieder in ihren Überzeugungen doch ein wenig fehlgeleitet. Aber sie würde sich das hier trotzdem bis zum Ende anhören - es war schließlich jedem selbst überlassen, was er mit seinem untoten Dasein anfing und ihre persönliche Meinung zu diesem Thema somit nicht von Belang.
"Haben Sie vielleicht ein wenig von der Asche mitgebracht?", fuhr die DOG-Abteilungsleiterin fort, "Dann könnte das Labor untersuchen, ob es sich überhaupt um Vampirüberreste handelt."
Es war offenbar die zweite falsche Frage in Folge: Oskar Koskajas Mienen verwandelte sich in eine Maske von Schock.
"Aber das wäre ja Leichenschändung!", rief er, "Man kann doch nicht einfach ... also ..." Er schloss die Augen und deklamierte mit bebender Stimme: "Wenn wir nicht uns selbst und unsere Mitbürger achten, wie sollen wir dann von anderen geachtet werden? Wenn wir uns nicht selbst den Regeln der Gesellschaft ..."
Breda seufzte resigniert und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück. Ja,
das würde wirklich noch ein längerer Nachmittag werden!
***
Sie waren nicht zur Mission in den Schlachthofweg gegangen- was aber nicht bedeutete, den Schatten komplett zu entgehen: Der Schweinefußweg lag nur ein paar Straßenzüge davon entfernt und noch immer in jenem unglückseligen Stadtteil, welchen der vernünftige Wächter nur dann betrat, wenn es sich nicht vermeiden ließ.
Lance-Korporal Glum Steinstiefel blickte skeptisch an einer Gebäudefront empor - sie war zwar ein bisschen baufällig, aber auch nicht so schäbig, dass man das dahinter befindliche Bauwerk gleich für einen geeigneten Aufenthaltsort krimineller Subjekte halten würde. Alles in allem sehr verdächtig. Denn auch zum beschriebenen Verwendungszweck wollte das Aussehen nicht so ganz passen.
"Und was soll das sein, eine Art
Wohnheim?", fragte der Zwerg und strich sich über den Bart.
Seine Kollegin nickte und verglich die Adresse erneut mit ihren Notizen.
"Anscheinend besitzt die Liga sogar mehrere Gebäude zur Unterbringung ihrer Leute. Vielleicht sollte man das mal in der Akte ergänzen."
"Du meinst die noch nicht wieder vorhandene Akte im immer noch mehr als unvollständigen DOG-Archiv?"
Jetzt war es an Hatscha al Nasa die Stirn zu runzeln. Seit dem verheerenden Feuer im Archiv
[1] waren sie noch lange nicht wieder auf dem gleichen Informationsstand wie zuvor. Andernfalls hätte man wohl auch sehr viel mehr Vorarbeit zu der Angelegenheit leisten können, in der die beiden Wächter gerade unterwegs waren. Die Liga der Enthaltsamkeit war zwar nicht gerade eine Gilde und auch der Begriff "Bruderschaft" oder "Bündnis" hätte den Verantwortlichen wohl nicht ganz zugesagt ... aber im Grunde konnte man sie schon in die DOG-Zuständigkeit rechnen. Oder anders gesagt: Es würde zumindest nicht schaden, auch diese Gruppe im Auge zu behalten. Doch Hatscha hatte gerade keine große Lust, über derartige, interne Spitzfindigkeiten zu diskutieren. Stattdessen rückte die Wächterin vorsichtig ihre Schultertasche gerade und atmete tief durch.
"Dann wollen wir mal", meinte sie und ging auf die Tür zu.
"Müssen, du meinst müssen", grummelte Glum hinter ihr, bevor sie das Gebäude betraten und sich in einer Art Vorraum wieder fanden: Die Wände waren schmucklos und in einem dumpfen Grauton gehalten, es gab eine kleine Sitzecke bestehend aus einem Tisch sowie vier Sesseln, die auch schon bessere Tage gesehen hatten. Dominiert wurde der Raum allerdings von einem gewaltigen, dunkelbraunen Holztresen, welcher sich an der gesamten gegenüberliegenden Raumseite erstreckte und in dessen Mitte sich eine brusthohe Schwingtür befand. Anscheinend war dies der einzige Zugang, um tiefer in das Gebäude zu gelangen und offensichtlich war er nicht für jedermann gedacht: Eine tödlich gelangweilt wirkende Empfangsdame lehnte auf der anderen Seite und schob sichtbar unmotiviert einige Broschüren hin und her. Sie hob nicht einmal den Kopf, als die Wächter eintraten.
"Wenn Sie jemanden besuchen wollen, dann tragen Sie sich bitte in das dicke grüne Buch ein; liegt dort hinten auf dem Tisch." Sie wies mit einer unwirschen Geste in Richtung der Sitzecke.
Die beiden DOGs verständigten sich durch einen kurzen Blick, dann machte sich Hatscha auf den Weg in die angegebene Richtung, um einmal einen Blick auf diese Aufzeichnungen zu werfen, während Glum sich direkt zum Tresen begab. Der Moloss richtete sich kerzengerade auf, um seinen 1,14m das volle Gewicht zu verleihen und meinte dann:
"Und was ist, wenn ich niemanden besuchen will?"
Die Vampirin sah auf ihn hinunter und im ersten Moment erschrak der Zwerg beinahe vor dem stechenden Blick aus den braunroten Augen seiner Gegenüber - die umso irritierender wirkten, als dass sie farblich so gar nicht mit den sehr roten Haaren harmonierten. Ein kleines schwarzgerahmtes Schild, welches sie an einem Band um den Hals trug, wies die Frau als "Valerie V." aus.
"Dann verschwendest du hier deine Zeit, denn zu allem anderen bist du noch viel zu lebendig", meinte sie selbstgefällig.
Nun gut, dieses Spiel kannte er - es war im Grunde einfach, das Problem bestand eher darin, dass man die jeweiligen, genauen Regeln erst am Ende durchschaute.
Glum hielt der Vampirin seine Dienstmarke vor die Nase. "Das bezweifle ich", gab er nicht weniger süffisant zurück, "und wenn Sie nicht den Fehler begehen wollen, mir eine Verschwendung solch kostbaren Gutes aufzudrängen, holen Sie doch bitte den Verantwortlichen für diese Einrichtung, wir hätten da einige Fragen."
Valerie sah den Zwerg mit einem jener Blicke an, die man gemeinhin für Begriffsstutzige reserviert hat.
"Tja, dann sind Sie hier richtig, Herr Wächter. Die Leitung der Außenstelle Schweinefußweg obliegt niemand anderem als mir." Sie verzog spöttisch den Mund. "Schade, aber vielleicht klappt das ja beim nächsten Mal."
Glum fielen auf Anhieb mindestens ein Dutzend Retourkutschen ein, die er diesem Weibsbild gern an den Kopf geworfen hätte, aber rein äußerlich ließ er sich nichts anmerken.
"Dann können Sie uns doch sicher etwas zu den kürzlich vorgefallenen Todesfällen in Ihrem Haus sagen, nicht? Oder sollte ich sie lieber als
Zerfallserscheinungen bezeichnen?"
Die Vampirin schnaubte.
"Es ist äußerst pietätlos, in einer derartigen Manier davon zu sprechen", meinte sie, "Aber wenn Sie dem Kind schon einen Namen geben wollen, handelt es sich dabei um nichts als bedauerliche Unfälle, welcher sich die Liga bereits angenommen hat. Es besteht also kein Bedarf an einer Einmischung durch Fremde."
Das war in der Tat hübsch formuliert für ein 'Es geht euch nichts an; seht zu, dass ihr hier verschwindet!' aber Glum dachte nicht daran, sie so leicht davonkommen zu lassen. Zumal Teil zwei ihres Plans Ablenkung als Voraussetzung hatte.
"Es gibt Leute, die das anders sehen. Ich hätte gern einige Informationen über die Betroffenen und eine genaue Beschreibung der Vorfälle", fuhr der Zwerg ungerührt fort. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Hatscha sich wieder in seine Richtung bewegte, dann aber kurz vor der Schwingtür stehen blieb und wie unbeteiligt einige der Papiere auf dem Tresen studierte.
Valerie V. stieß ein kurzes, kaltes Lachen aus.
"Da können Sie lange warten. So eine Forderung scheitert schon an schlichtem Mangel an Befugnissen. Unserer Mitglieder erwarten, dass wir ihren Schutz sehr ernst nehmen, Sie verstehen? Sie können natürlich einen Antrag auf Einsicht in gewisse Dokumente stellen, aber die Bearbeitung kann bisweilen ein wenig dauern."
"Wie lange?"
Die Vampirin lächelte mit einem Hauch von Eckzahn. "Länger, als Ihnen lieb sein dürfte, Herr Zwerg." Dann straffte sie die Schultern und machte dadurch deutlich, dass das Gespräch beendet war. "Ich möchte Sie jetzt bitten zu gehen, ich habe hier noch andere Verpflichtungen. Die Liga bedankt sich für die Sorge der Wache, aber wie schon erwähnt ist diese vollkommen überflüssig. Guten Tag." Sie wandte den Kopf in Hatschas Richtung, welche sich eben bückte, um eine heruntergefallene Broschüre aufzuheben. Die Vampirin verengte die Augen zu Schlitzen und sog dann hörbar die Luft durch die Nase ein.
"Ach ja, und ich würde es bedauern, wenn ich ein unbefugtes Betreten unsere Räumlichkeiten durch einen Wächter registrieren müsste", fuhr sie fort, "Für die Sicherheit solcher Leute übernehmen wir keinerlei Garantie. Also sorgen Sie dafür, dass die halbe Portion Wächter auch in ihrer Tasche bleibt."
Glum knirschte frustriert mit den Zähnen und Hatscha konnte den ertappten Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht verhindern, während eine Stimme aus ihrer Umhängetasche erklang.
"Wie, halbe Portion?", empörte sich Harry.
***
Mangelnde Kooperationsbereitschaft war kein Phänomen, mit dem es die Wache selten zu tun bekam. Manchmal ließ sich etwas bewegen, wenn man die richtigen Argumente hatte, aber es gab auch Umstände, unter denen man anhaltend auf Granit biss. Doch lästig bis ärgerlich war es immer.
Breda war sich mittlerweile sicher, es momentan mit einem Fall der letzteren Kategorie zu tun zu haben: Nicht einmal durch ein offizielles Schreiben war die Liga zu überzeugen gewesen, die Ermittlungen der Wache zu unterstützen - und das schien auch das letzte Wort derer zu sein, die in der Hierarchie weit über einer Valerie V. standen. Solange man nicht mehr hatte, als die Aussage eines ziemlich verzweifelten Schwarzbandlers, steckten die Nachforschungen also schon fest, bevor sie wirklich begonnen hatte. Das musste man eben diesem nur noch schonend beibringen, allerdings hatte er sich bis jetzt auch noch gar nicht wieder gemeldet...
Es klopfte ... und zwar doppelt. Breda war im ersten Augenblick derart irritiert, dass das gewohnheitsmäßige "Herein", welches ihr auf der Zunge lag, auf halbem Weg irgendwie verloren ging. Zumindest das erste Geräusch war mit ziemlicher Sicherheit dadurch entstanden, dass jemand vor ihrem Büro stand, auf Holz geklopft hatte und nun auf Einlass wartete. Das andere dagegen ... war nichts, was man mit den Ohren wahrnehmen konnte. Jemand versuchte eine Kontaktaufnahme auf gedanklicher Basis. Aber seit wann imitierte man zu diesem Zweck ein Klopfgeräusch?
"Ja?" Das galt für beide und Breda war auf die Antworten gespannt, obwohl sie schon so eine Ahnung hatte...
Gefreiter Zu-arm-für-einen-Namen steckte den Kopf zur Tür herein und salutierte.
"Da ist jemand, der dich sprechen möchte, Mä'äm", sagte er, während gleichzeitig eine zweite Stimme in ihrem Kopf zu sprechen begann.
"Guten Tag, Frau Feldwebel. Ich weiß, es ist bestimmt ein furchtbarer Verstoß gegen das Protokoll ..." Ja ja, wenn man vom Esel tratscht...
"Steht unten vor dem Boucherie, Mä'äm. Will nicht rauf kommen, da konnte ich sagen, was ich wollte."
" ... aber ich stehe unten vor dem Haus und würde es, bei allem Respekt, vorziehen dort zu bleiben. Ich bin zwar seit einem halben Jahr abstinent, aber ihre Dienststelle hat da doch einige Prüfungen parat, denen ich mich momentan nicht stellen möchte.""Es ist ein Vampir, Mä'äm und, na ja, draußen ist es heute sehr sonnig ..."
"Sie erinnern sich doch noch, Oskar Koskaja, ich war letztens da, wegen ...""Aufhören!!!"Zu-arm klappte den Mund mitten im Satz zu und auch Oskars Gedankenstimme schwieg erschrocken. Die plötzliche Stille war wunderbar.
"Bitte nicht alle auf einmal. Erstens bekomme ich sonst nur die Hälfte mit und zweitens verursacht diese Doppelkommunikation auf Dauer Kopfschmerzen. Nur eine Stimme auf einmal ja? Erst die vor mir und dann der Besucher in meinem Kopf."
"Tschuldigung."
"Verzeihung.""Gut. Danke Gefreiter, ich kümmere mich darum. Vielleicht triffst du im Haus jemanden, der dir hilft, einen Sonnenschirm nach draußen zu bringen, die Mädels im Erdgeschoss müssten auf jeden Fall etwas in dieser Richtung besitzen."
Der Gnom salutierte erneut.
"Wird gemacht, Chefin", sprach's und verschwand.
"Und jetzt zu Ihnen, Herr Koskaja", wandte sich Breda wieder an den Vampir und behielt dabei der Einfachheit halber die laute Aussprache bei - so würde zumindest jeder weitere potentielle Besucher bemerken, dass sie sich momentan schon in einem Gespräch befand.
"Ja, also, ich wollte mich eigentlich nur nach dem Verlauf der Dinge erkundigen."Auch wenn er nur den gedanklichen Weg benutze, konnte sich Breda lebhaft vorstellen, wie der Vampir dabei nervös von einem Fuß auf den anderen trat. Seine Stimme klang merklich angespannt. Hoffentlich würde er nicht zu enttäuscht sein.
"Im Grunde gibt es keinen Verlauf", meinte Breda langsam, "auf offiziellem Weg werden uns von der Liga Steine in den Weg geworfen und solange wir nichts Handfestes vorweisen können ..."
"Ich habe schon davon gehört - oh, ein Schirm, wie aufmerksam - aber gibt es vielleicht noch eine, sagen wir ... inoffizielle Möglichkeit? Es ist nur so ... mittlerweile haben wir es schon mit drei Staubhäufchen zu tun. Also eigentlich mit zwei ... einer konnte wiederbelebt werden, weil er für solche Fälle ein wenig B-Wort in einem Röhrchen in der Tasche hatte. Aber seitdem hat man auch von ihm nichts mehr gehört."Das klang in der Tat nach ein bisschen mehr als "bedauerlichen Unfällen". Und selbst wenn nur ein übermotivierter Möchtegernvampirjäger unterwegs war ... irgendwann würde sich die Sache wohl nicht mehr auf diesen recht kleinen Rahmen begrenzen, von dem die Stadt nicht einmal etwas ahnte. Aber eine verdeckte Ermittlung in diesem
Verein... Breda wusste nicht, ob ihr die Idee gefallen sollte, zumal auf der Hand lag, an wem dieser Job hängen bleiben würde...
Koskaja schien ihr Schweigen als gutes Zeichen zu deuten, denn er plapperte nun wesentlich eindringlicher auf sie ein:
"Ich mache mir wirklich Sorgen, denn man kann von der Liga halten was man will - diese Vampire da sind für mich so etwas wie meine Familie ... wissen Sie wie das ist, ein Familienmitglied zu verlieren, Frau Krulock?"Breda biss die Zähne zusammen und unterdrückte gewaltsam die aufsteigenden Erinnerungen. Wie gut sie dieses Gefühl tatsächlich kannte, ging niemanden etwas an! Die Wut, die Unfähigkeit etwas tun zu können, die Trauer. Alucard...
"Und haben Sie auch schon eine Idee, wie man als Nicht-Schwarzbandler bei euch aufgenommen werden kann?", brachte sie etwas barscher als beabsichtigt hervor. "Ich für meinen Teil werde meine Lebensgewohnheiten dafür nicht umkrempeln!"
"Oh, Sie sind gar nicht ..." Oskar Koskaja klang ehrlich enttäuscht, fing sich aber schnell wieder.
"Das sollte kein Problem sein. Momentan suchen sie bei uns ..." Die kurze angestrengte Stille deutete darauf hin, dass der Vampir sich erneut an einen dieser auswendig gelernten Sätze erinnern wollte,
"... mental stabile und moralisch ausgereifte Vampire, die eine Vorbildfunktion erfüllen können. Ich hätte da auch schon einen konkreten Vorschlag ...""Moment! Sie meinen also, ihr sucht ... Kindermädchen?"
"Wenn Sie es unbedingt so ausdrücken wollen ... ja."***
Wenn sie später darauf zurückblickte, konnte Breda sich nicht mehr recht entsinnen, warum genau sie sich im Endeffekt dazu hatte breitschlagen lassen. Vielleicht war es die pure Neugier gewesen, vermischt mit einer Art Mitleid ... ja, Koskaja hatte wohl unbewusst genau die richtigen Knöpfe gedrückt, um sie zu überzeugen. Aber auf der anderen Seite, warum sollte sie nicht auch selbst wieder einmal aktiv in ein Ermittlungsgeschehen eingreifen? Als Leiterin einer Dienststelle war man zwar in erster Linie zum Dienst am Schreibtisch verdonnert und hatte dort im Prinzip genug um die Ohren, aber das meiste davon stand auf einem Stück mehr oder weniger ordentlichen Papier und hatte so klangvolle Namen wie Spesenabrechnung, Gehaltsschein, Urlaubsantrag oder Beschwerdebrief. Natürlich war auch die ein oder andere Akte darunter, aber wann sie das letzte Mal einen Fall von Anfang bis Ende bearbeitet hatte ... der Feldwebel hatte eher den Eindruck gehabt, in Büroarbeit zu ersticken - metaphorisch gesprochen versteht sich. Da hatte es schon ordentlich in den Fingern gejuckt, als sich nun endlich eine Gelegenheit zum Außeneinsatz bot.
Wie dem auch sei: Nun stand sie hier, zwei Tage nach ihrem letzten Gespräch mit Oskar Koskaja, gekleidet in das biederste Kostüm, dass der DOG-Fundus hergegeben hatte und hoffte, niemandem zu begegnen, der Begonia Euphamia Koskaja wirklich kannte - denn das war der Name von Oskars Tante, in deren Rolle sie kurzzeitig schlüpfen würde. Diese Frau war seit nunmehr 15 Jahren Mitglied der Liga, lebte allerdings in Überwald und würde laut der Aussage ihres Neffen auch nicht plötzlich zu Besuch kommen, da sie damit beschäftigt war, eine etwa 100-köpfige Sippschaft herumzuscheuchen und natürlich zu missionieren - ihr Lebensinhalt, ihre größte Freude. Nun ja, wenn sie sich entsprechend dieses Modells verhielt, sollte es wohl kein allzu großes Problem darstellen, den Vorzimmerdrachen des Schweinefußwegs zu überwinden, von dem Bredas Stellvertreter mit so unschmeichelhaften Worten erzählt hatte. Glum würde in den Stunden ihrer Abwesenheit die Leitung der DOG übernehmen - und da drüben am Straßenrand drückte sich Obergefreite Arwan in einer täuschend echten Bettlerkostümierung herum, nur für den Fall, dass etwas ganz und gar nicht nach Plan laufen sollte. Breda war zwar kein Husky, aber dennoch zuversichtlich, es nicht erst soweit kommen zu lassen. Aber trotzdem war es ein gutes Gefühl, sich auf seine Leute verlassen zu können. Die Dienststelle funktionierte - was ihr bewies, dass sie als Abteilungsleiterin nicht komplett versagte.
Breda korrigierte ein letztes Mal den Sitz des Hutes auf ihrem Kopf, griff den schwarzen Spitzenschirm fester und vor allem verschloss sie ihre Gedanken so gut es ging - an einem Ort wie diesem konnte man nie ganz sicher sein, wer genau mithörte. Dann betrat die Vampirin festen Schrittes den Raum, in welchem ihre Kollegen Hatscha, Glum und Harry beim letzten Mal gescheitert waren. Es war anders, als wenn man sonst eine Tür durchschritt - stiller. Natürlich hörte man aus dem Innern der Gebäudes das Summen mehrerer Unterhaltungen und auch am Tresen wurde gerade ein Gespräch geführt, doch abgesehen davon war es die schlichte Abwesenheit von Leben, die Breda mit nahezu jeder Faser spürte: Kein Herzschlag, keine vitale Präsenz und ein leicht modriger Geruch in der Luft ließen keinen Zweifel über die Gesellschaft, in der man sich hier befand, zu. Zumindest konnte auf diese Weise ein Verdacht gleich von vornherein ausgeschlossen werden: Ein Sterblicher hätte keine Chance gehabt, sich hier zu verstecken. Wenn Koskaja Recht hatte, dann kam die Bedrohung von den eigenen Leuten - kein angenehmer Gedanke.
Die DOG-Abteilungsleiterin wandte ihre Aufmerksamkeit nun den beiden Gestalten am Tresen zu. Die Dame mit dem roten Haarschopf musste wohl die "Xanthippe vom Dienst" sein, Valerie V. - hatte die Frau eigentlich auch einen richtigen Nachnamen? Die andere ... Breda stutzte kurz, musste ein zweites Mal hinsehen und ging dann auch noch zwei Schritte zur Seite, um das Gesicht erkennen zu können. Tatsächlich, sie kannte die zweite Vampirin nicht nur, sie hatte sogar schon mehrfach mit ihr zusammengearbeitet. Und der Umstand, sich ausgerechnet hier zu begegnen, warf einen ganzen Berg neuer Fragen auf, zumal auch die Aufmachung der anderen darauf hindeutete, dass diese nicht als sie selbst hier war. Wenn Mina von Nachtschatten an dieser Stelle bereits verdeckt ermittelte und sich somit RUM offenbar schon mit dem Fall befasste, warum war dann zusätzlich noch bei DOG angefragt worden? Liefen hier womöglich zwei ganz verschiedene Operationen? Oder wusste die andere Abteilung am Ende mehr als ihre eigene?
Um sich nichts anmerken zu lassen, gab Breda vor, die Auslagen am anderen Ende des Tresens zu begutachten. Ihre Augen streiften die Titel der Faltblätter und Visitenkarten allerdings nur oberflächig -
'Oh, komm nur zur Mission - Kurze Geschichte der Überwaldischen Liga der Enthaltsamkeit'
'G. P. Vrriyowitsch: Bestattungsunternehmer und Innenausstatter - Särge für den anspruchsvollen (Un)toten'
'Prof. Dr. A. Cula. - Püschologische Lebensberatung - Gebissen, und nun?'
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- sie war vielmehr damit beschäftigt, ihre eigenen Gedanken zu ordnen.
Dann spürte sie einen Blick auf sich und als Breda aufschaute, sah die Vampirin sich dem abschätzenden Blick der Empfangsdame gegenüber.
"Und Sie sind?", wollte diese in herablassendem Tonfall wissen.
"Begonia Euphamia Koskaja", brachte Breda geistesgegenwärtig hervor. "Ich hatte mich angekündigt." Was blieb ihr auch sonst übrig?
"Ach, die andere. Seltsam, erst meldet sich gar niemand und dann gleich zwei auf einmal. Aber gut, da muss ich auch nur einmal die Einführung machen, nicht wahr?" Valerie tauchte unter den Tresen ab und schien nach irgendetwas zu suchen. "Machen Sie sich doch schon einmal miteinander bekannt, immerhin werden Sie als Kolleginnen arbeiten."
Wie seltsam das klang ... die Rothaarige hatte ja keine Ahnung wie recht sie hatte!
Mina unterdessen hatte sich ebenfalls umgedreht und starrte Breda aus großen Augen an - anscheinend hatte auch sie mit vielem gerechnet - nur nicht damit.
"Äh ... Katherina Johanna Marissia von Bechtelstein. Freut mich", meinte sie schließlich zögerlich und auch die Bewegung, mit welcher sie Breda die Hand reichte, wirkte ein wenig mechanisch. Doch ihr Blick hatte dabei etwas leicht Vorwurfsvolles in der Art von 'Was machst du denn hier?'
'Tja, dasselbe könnte ich dich jetzt auch fragen', dachte Breda, laut sagte sie nur:
"Ganz meinerseits, ganz meinerseits. Ich bin die Tante von Oskar Koskaja." Vielleicht half es ja etwas.
"Ach so? Nun, dann haben Sie vielleicht auch schon etwas von meiner kleinen Schwester Charlotte Carolina von Bechtelstein gehört? Immerhin sind die beiden eng befreundet."
"Ja, in der Tat. Was für ein Zufall."
An dieser Stelle wäre das Gespräch wohl beendet gewesen und einer peinlichen Pause gewichen, wenn sich nicht eine weitere Stimme wieder eingeschaltet hätte.
"Da habe ich es ja." Valerie erhob sich wieder und legte einige Blatt Papier auf den Tresen. "Sie müssen entschuldigen, aber es ist schwer, gute Aushilfen zu finden, die die Dinge auch dorthin räumen, wo sie hingehören." Die Vampirin seufzte theatralisch. "Gut, meine Damen, bevor sie also Ihre Posten antreten, hätte ich hier noch einige Formulare ..."
***
Hatte man den förmlichen Eingangsbereich erst einmal hinter sich gelassen, konnte im Rest des Gebäudes beinahe der Eindruck von Normalität entstehen: Von den Fluren gingen in jeder der ersten zwei Etagen mehrere Wohnungen ab, die wohl recht klein sein mussten, wenn man sich die Größe des gesamten Hauses einmal vor Augen führte. Aber wie auch immer, es war zumindest nicht wie in den meisten menschlichen Unterkünften dieser Art, in denen sich zu solchen Gelegenheiten Türen öffneten und den Neuankömmlingen neugierig nachgeschaut wurde. Nein, das hatte man hier nicht nötig - man musste einfach nur horchen. Daher wechselten Breda und Mina auch kein weiteres Wort bis sie im obersten Geschoss angekommen waren, wo sich ein, durch Dachschrägen bedingt, klaustrophobisch anmutender Aufenthaltsbereich befand, in dem man wenigstens zeitweise unter sich war. Valerie hatte es "sehr bedauert", ihnen keine freie Wohnung anbieten zu können und sie hatten geantwortet, dass dies ein "zutiefst betrüblicher" Umstand sei... Hier einzuziehen fehlte gerade noch!
Breda lauschte noch ein letztes Mal angespannt ins Treppenhaus; dann schloss sie die Augen und konzentrierte sich nach innen. Keine fremde Präsenz, die nur darauf wartete, sensible Informationen aufzuschnappen? Kein Oskar Koskaja, der unschlüssig am Rande ihres Bewusstseins herumlungerte und abwog, ob er sich jetzt schon bemerkbar machen sollte oder erst später? Nein? Gut!
Die DOG-Abteilungsleiterin wandte sich an ihre Wächterkollegin, welche gerade versuchte, ein verrostetes Fensterscharnier davon zu überzeugen, sich ohne übermäßige Gewaltanwendung ihrerseits schließen zu lassen. Es quietschte kurz markerschütternd, dann kündete ein sanftes
Pflop vom Erfolg der verdeckten Ermittlerin.
"Es muss wohl schon eine ganze Weile her sein, seit dieser Raum hier zuletzt genutzt worden ist", meinte sie.
Breda betrachtete die zahlreichen Spinnweben und fingerdicken weißlichen Schichten auf den wenigen Schrankmöbeln.
"Vielleicht haben sie hier auch nur einen sehr pflichtbewussten Igor." Sie zuckte mit den Schultern und ließ sich vorsichtig in einem Sessel nieder, um nicht unnötig Staub aufzuwirbeln.
"Nur dass ich das richtig verstehe, Lance-Korporal, du bist auch in Sachen ... Asche hier?"
"Allerdings, Mä'äm." Mina sah Breda nachdenklich an. "Wir haben einen ziemlich konkreten Tipp von meiner ... "Schwester" bekommen, der sich auch schnell als noch konkreterer Verdacht herausgestellt hat."
"Charlotte ... dieselbe Charlotte, die ..."
"... in den Haufen getreten ist? Ja."
"Und was hat sie erzählt, dass das Ganze so ...
konkretisiert hat?", wollte Breda wissen. Sie bemerkte durchaus, wie ihr Tonfall langsam ein wenig zu kühl wurde; aber verdammt, es war einfach ärgerlich nur mit halben Informationen dazustehen, während anderswo in dieser Hinsicht anscheinend keine Defizite bestanden!
Was nun folgte war praktisch eine Wiedergabe der gleichen Geschichte, wie auch Breda selbst sie erlebt hatte - nur schien Charlotte von Bechtelstein anscheinend nicht die gleiche Meinung wie Koskaja zu vertreten, was "Leichenschändung" betraf: Die von ihr mitgebrachte Ascheprobe war von SUSI analysiert worden und hatte sich dabei eindeutig als Vampirüberreste herausgestellt.
"Der Name des ersten Opfers war Melusina Agathe Wiedehopf, seit fünf Jahren Vampir und seit zwei Jahren in der Liga. Und das", Mina zauberte einen kleinen metallenen Gegenstand aus einer verborgenen Tasche an ihrem Rock hervor, "ist der Zweitschlüssel zu ihrer Wohnung hier. Wir sollten uns dort wohl einmal umsehen."
"Ja, wenn wir nicht gerade in einer dieser Liga-Therapiesitzungen festhängen und als strahlendes Vorbild herhalten müssen", seufzte Breda. Warum um alles in der Welt hatte Oskar das mit dem Schlüssel nicht erwähnt? Dann hätte man doch zur nächst besten Gelegenheit nachts vorbeigeflattert kommen können, um sich die Sache aus der Nähe anzusehen - wozu war man schließlich Vampir?
Mina zog die Stirn kraus.
"Meinst du wirklich, wir müssen dabei mitmachen? Ich hatte den Job hier eher so verstanden, dass wir einfach nur anwesend sind, für den Fall, jemand bekommt die große Depression. Präsenz bei Rückfallgefahr und so."
Die beiden Vampirinnen sahen sich schweigend an - wollten sie das überhaupt herausfinden?
"Es ist wohl besser, wenn wir uns beeilen."
Breda sandte ihre mentalen Fühler aus, bis sie im Erdgeschoß des Gebäudes auf ein bekanntes Bewusstsein stieß. Herrje, der Kerl unternahm ja nicht einmal den Versuch, eine eigene gedankliche Privatsphäre zu wahren - ein bisschen mehr Misstrauen gegenüber seiner Umwelt würde dem Vampir wirklich gut zu Gesicht stehen. Aber entsprechend vorsichtig würde sie auch mit dem Inhalt ihrer Kommunikation sein müssen ... vorsichtig, aber bestimmt nicht zimperlich.
"Oskar Koskaja! Komm sofort zu mir, wir haben etwas Wichtiges zu besprechen!"In einem der Gemeinschaftsräume stieß jemand vor Schreck eine Kakaotasse vom Tisch.
***
"... und als es dann eher schlecht aussah, na ja, da haben wird gedacht, wir fragen noch einmal jemanden anderes, Sie haben ja selbst gesagt, Sie hätten noch weitere fähige Kollegen. Aber da es nun doch auf beiden Seiten geklappt hat ... also, doppelt hält ja bekanntlich besser, nicht wahr?"
Verzeihungsheischend wedelte der Vampir mit den Händen in der Luft herum und warf gleichzeitig immer wieder Blicke über die Schulter zurück, als habe er Angst, bei etwas Verbotenem ertappt zu werden. Allerdings war dem wahrscheinlich in der Tat so. "Hören Sie, es ist zwar schön, dass Sie beide so gründlich sind, aber geht das nicht auch anders? Ich bin mir nicht sicher, ob Melusina damit einverstanden gewesen wäre." Er spähte durch die offene Wohnungstür.
"Sie müssen Oskar entschuldigen, er fühlt sich nicht wohl bei dem Gedanken, die Liga ... zu hintergehen." Eine kleine Vampirin, die optisch für höchstens 12 Jahre durchging, schüttelte ihre blonden Locken nach hinten. "Daher ist er leider auch etwas inkonsequent in dem, was er fordert."
Koskaja schnaubte, sagte aber nichts mehr. Er schien es der anderen immer noch übel zu nehmen, den Schlüssel zur Bleibe der gemeinsamen Freundin so einfach aus der Hand gegeben zu haben.
Charlotte lächelte milde und trat dann hinter den beiden Wächterinnen in den Flur der verwaisten Wohnung. "Kann ich Ihnen vielleicht noch irgendwie weiterhelfen?"
Breda schüttelte langsam mit dem Kopf. Wenn sie ehrlich war, erwartete sie nicht, in diesen Räumen noch etwas Spannendes zu finden - sie wussten ja noch nicht einmal, wonach sie genau suchen sollten. Die Asche war natürlich entfernt worden und auch ansonsten schien nichts ungewöhnlicher als es sein sollte. Daher entschloss sie sich, mit dem üblichen Frageprozedere zu beginnen, während Mina weiter hinten systematisch Schubladen und Schränke durchsuchte. Es war ein guter Zeitpunkt - sämtliche andere Bewohner des Hauses waren im Hauptgebäude der Mission zu einer "offenen Gesprächsrunde", deren Agenda bestimmt genug Diskussionsstoff bot, um sie eine ganze Weile beschäftigt zu halten. Da fielen vier fehlende Personen hoffentlich nicht so auf.
"War Melusina in der letzten Zeit irgendwie anders oder hat sie etwas Ungewöhnliches erwähnt?", begann Breda.
Charlotte überlegte einen Moment.
"Eigentlich nicht. Sie war aber auch nie jemand, der viele Worte um etwas machte. Letztens hat sie sich zwar einen neuen Sarg geleistet, aber daran erinnere ich mich auch nur deswegen so genau, weil sie über die verzögerte Lieferung geschimpft hat."
"Und was ist mit den anderen? Zum Beispiel dem, der wiederbelebt werden konnte?"
"Peter? Ihn kannte ich kaum, aber er war wohl schon ziemlich lange bei der Liga; er wohnt angeblich schon hier, seit es diese Einrichtung gibt. Aber fragen Sie mich nicht, was nun aus dem geworden ist." Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern. "Und über den Dritten kann ich Ihnen schon gar nichts sagen, außer, dass man ihn bei Peter gefunden hat; offensichtlich war er nur zu Besuch, vielleicht irgendein Bekannter, keine Ahnung. Denn von uns hier fehlt sonst niemand."
"Dann steht er vielleicht auf der Besucherliste?"
Die blonde Vampirin schüttelte energisch den Kopf.
"Nein, das war auch unser erster Gedanke. Wir haben nachgesehen - aber da stand nichts. Es ist schon ein wenig seltsam, denn in dieser Hinsicht sind eigentlich alle immer sehr gewissenhaft."
"Und gerade Peter war ... ist ein äußerst korrekter Schwarzbandler." Oskar hob stolz das Kinn. "Ein Vorbild. Ich bin sicher, jemand wird sich gut um sein durch die Einäscherung hervorgerufenes seelisches Trauma kümmern. Er wird das schon schaffen, er hat viele gute Eigenschaften."
"Gehört suizidale Veranlagung auch dazu?"
Mina trat erneut zu der Gruppe am Eingang, in der Hand ein kleines Objekt, welches sie zum Schutz jedweder Spuren in ein Tuch eingeschlagen hatte. So konnte man zwar nicht auf Anhieb erkennen, um was genau es sich dabei handelte, aber mit etwas Konzentration war zumindest auf olfaktorischer Ebene etwas wahrnehmbar.
"Das lag unter dem Kleiderschrank. Was so stinkt kann eigentlich nichts Gutes sein."
Mit spitzen Fingern schlug sie die oberste Stoffschicht zurück und zum Vorschein kam ein kleines, fast leeres Glasfläschchen - nur noch an den Rändern zeigten sich wenige Tropfen einer goldgelben Flüssigkeit. Doch den Geruch, welcher dem anhaftete, hätte zumindest Breda nun ganz und gar nicht als irgendwie unangenehm bezeichnet: Er verdrängte schnell alle anderen in der unmittelbaren Umgebung, war leicht süßlich, würzig, legte sich schwer auf die Sinne und war dabei unsagbar verlockend. Ja, das Zeug sprach die Instinkte an, machte das Denken überflüssig ... was auch in dem gläsernen Behältnis gewesen war, es gab wohl keinen Vampir, der ihm auf Dauer hätte widerstehen können. Na ja, fast keinen.
"Entschuldigt bitte ... aber geht es euch gut?"
Erst jetzt nahm Breda wahr, dass sich das Gefäß nicht mehr vor ihrer Nase befand. Träge schüttelte sie den Rest Benommenheit ab, während sich auch Charlotte und Oskar dreinschauten, als wüssten sie gar nicht, wo genau sie sich eigentlich befanden. Mina hingegen sah mehr entsetzt als alles andere aus.
"Ihr wart vollkommen weggetreten ... beinahe wie hypnotisiert, von einem Moment auf den anderen, es war gruselig."
"Und du?" Breda stützte sich unauffällig am Türrahmen ab; ihr war immer noch ein wenig schwindelig.
Die RUM-Vampirin zuckte mit den Schultern.
"Wie gesagt, ich finde es stinkt. Mal sehen, vielleicht können die Laboranten noch ein paar Reste hierin finden, die für eine Untersuchung reichen." Sie verzog das Gesicht, "Aber nach der Sache eben schätze ich einfach mal, dass Blut einen nicht unwesentlichen Bestandteil des Inhalts ausmacht."
Oskars Augen wurden groß.
"Wir haben uns von ... oh nein, wie
peinlich!" Er schlug sich die Hände vors Gesicht und stöhnte gepeinigt. "Und das, nachdem ich schon mehrere Monate vollkommen trocken bin." Unmusikalisch begann er etwas vor sich hinzubrummen, aus dem man nur mit Mühe die Worte "Wasser", "Tee" und "B-Wort" heraushören konnte.
Charlotte griff nach seinem Arm und zog ihn sanft fort.
"Ich kümmere mich um ihn", versprach sie, doch auch an ihr schien der Vorfall nicht spurlos vorbeigegangen zu sein.
"Fräulein von Bechtelstein, gibt es vielleicht irgendwo auch noch einen zweiten Schlüssel zu Peters Wohnung?", hakte Breda rasch ein. Vielleicht würden sich bei einer Durchsuchung derselben ja erstaunliche Parallelen ergeben...
Die Angesprochene zuckte unsicher mit den Schultern.
"Wenn noch einer da ist, dann ist der jetzt bestimmt im Besitz vom Valerie." Und damit verschwanden die beiden angeschlagenen Schwarzbandler die Treppe hinunter.
***
Es war komplizierter als angenommen, sich einmal ganz allein am Empfangstresen umsehen zu können - dem Bereich, der anscheinend als einziger unumschränkt der Valerie V. gehörte. Zum einen schien sie wirklich den größten Teil ihrer Zeit dort zu verbringen und zum anderen konnte man sich zu keiner Tages- oder Nachtstunde sicher sein, nicht von irgendeinem Vampir erwischt zu werden der entweder hereinkam oder hinaus wollte. Die verschiedenen Stadien der Anpassung und Abstinenz führten zu derart unterschiedlichen Zeitplänen, dass eigentlich immer Betrieb herrschte, außer eben zu den leider viel zu seltenen Vollversammlungen der Liga. Schon am zweiten Tag hatten sich Breda und Mina aufteilen müssen, um so jeweils einen Ansprechpartner für die Nacht und einen für den Tag stellen zu können und auch wenn sie ihre Aufgabe schon damit zu erfüllen schienen, möglichst autoritär durch die Gänge zu rauschen: Für genauere Suchaktionen gab es kaum Gelegenheit. Da nutzten auch schlaue Absprachen und große Planungen nicht viel. Wenn sich nicht bald etwas ergab, würden sie die verdeckten Ermittlungen wohl aus Mangel an Beweisen einstellen müssen - das Ergebnis aus dem SUSI-Labor war noch nicht da, aber bis jetzt hatte es auch keinen neuen Fall von unvermittelt auftauchenden, grauen Häufchen gegeben. Vielleicht waren es ja doch Selbstmorde gewesen ... es war nun mal eine Tatsache, dass nicht jeder Vampir gern untot war und es gab genug Verzweifelte in den eigenen Reihen, die alles dafür geben würden, etwas an ihrer Situation zu ändern. Allerdings war Vampirismus eine sehr anhängliche Sache und man hatte als Angehöriger dieser Spezies lediglich die Wahl zwischen der momentanen Existenzform ... und gar nichts. Glücklicherweise keine Entscheidung, vor der die Breda jemals ernsthaft gestanden hätte - sie war alles andere als unzufrieden mit ihrem Dasein.
Es war am Abend des dritten Tages und die DOG-Abteilungsleiterin verlor langsam die Geduld. In den vergangenen 72 Stunden hatten sie vorsichtig jeden einzelnen Bewohner des Hauses abgeklopft, aber außer dem Wort "Unfall" nichts herausbekommen. Auch aus deren Verhalten ließ sich so gut wie gar nichts schließen - chronisch nervös waren die meisten Schwarzbandler, vor allem wenn sie noch nicht lange bei der Liga waren, das hatte also nicht unbedingt etwas zu bedeuten.
Bredas erster Blick, nachdem sie das Gebäude betreten hatte galt wie immer dem Tresen - sie war heute etwas eher gekommen als sonst, in der bis jetzt stets trügerischen Hoffnung, vor ihrer Schicht vielleicht doch einmal Glück zu haben - und sie blieb abrupt stehen, als ihr aufging, dass das dieses Mal tatsächlich der Fall war. Valerie war nicht an ihrem Platz, bestimmt nur für wenige Minuten ... aber die würde man zu nutzen wissen!
Schnell war Breda hinter dem hölzernen Aufbau, aber als sie die schiere Masse an Papieren sah, welche in Fächern auf der Rückseite abgelegt waren, begann ihr Mut wieder zu sinken. Wie sollte sie hier auf die Schnelle das Wichtigste herausfiltern können? Versuch und Irrtum? Nun, ihre Zeit war zumindest zu kostbar, um sie mit derartigen Überlegungen zu vergeuden.
Eilig ließ die Vampirin die Hände über die Stapel wandern, zog auffällige Papiere hervor und schaute in einige Kästchen, welche dann aber doch nichts anderes als kleine schwarze Schleifen und Büroutensilien enthielten.
"Mina?", versuchte sie nebenher mit ihrer Kollegin Kontakt aufzunehmen. Auch wenn das vielleicht ein wenig riskant war: Sie hatten sich geeinigt auf gedanklicher Ebene auf den Gebrauch der Decknamen zu verzichten - das konnte im ungünstigsten Fall zu Missverständnissen führen, die man sich im entscheidenden Moment nicht leisten konnte. Allerdings schien noch irgendetwas anderes nicht zu stimmen, denn sie erhielt keine Antwort.
"Hallo? Jemand da?"Nichts.
Die Vampirin bohrte vorsichtig weiter, auch wenn das Bewusstsein, an dem sie sich versuchte, ein wenig störrisch in dieser Hinsicht war.
"Lance-Korporal von Nachtschatten, kannst du mich hören?", fragte sie erneut, suchte aber diesmal aktiv nach einer Antwort, anstatt nur darauf zu warten - auch wenn das bedeutete, ihre Aufmerksamkeit dauerhaft teilen zu müssen. Doch der Erfolg gab ihr Recht ... nur hoffentlich übersah sie dadurch bei ihrer Suche nichts.
"Ja, Breda, ich hör dich doch. Aber du musst dir schon die Mühe machen, zu senden und
zu lesen."Die DOG-Abteilungsleiterin biss sich auf die Zunge, während sie durch eine Mappe mit Rechnungen blätterte. Richtig, das vergaß sie immer - sie hatte es hier ja mit einer Einbahnverbindung zu tun.
"Weißt du, wo Valerie ist?", wollte sie dann wissen, ohne auf die vorherige Bemerkung einzugehen.
"Nein, warum?" Es klang selbst auf diesem Wege reichlich entnervt - den Grund konnte Breda natürlich nicht ausmachen, aber es trug auch ebenso wenig dazu bei, ihre eigene Laune zu heben.
"Weil ich keine Lust habe, erwischt zu werden, wie ich ihre Sachen durchwühle!", dachte sie verärgert zurück.
Einen Moment herrschte Stille.
"Ich komme zu dir ... gib mir noch einen Moment ... ich ... ", Mina seufzte mental,
"Ich muss hier erst noch einen Heulkrampf eindämmen, ja? Kannst du dann bitte auch meinen Kopf wieder verlassen, das wäre nett ... bis gleich."Als Antwort zog Breda sich gedanklich und ohne jeden weiteren Kommentar zurück. Auch sie war nicht böse, wenn diese geistigen Verbindungen nicht länger als nötig gehalten werden mussten: Es war ja nun nicht so, dass sie mit den anderen Wachevampiren nicht zurecht kam - aber auf eine speziesgebundene Art stellten die weiblichen Vertreter ihrer Artverwandtschaft nun einmal eine ... Konkurrenz dar. Auch wenn sich diese im letzten Jahr auf nur noch eine einzelne Person reduziert hatte ... aber schon allein der Umstand, von Frän Fromms tragischem Ende
[2] nicht sonderlich berührt gewesen zu sein, sprach eine sehr eindeutige Sprache. Breda seufzte leise. War es nicht ebenso charakteristisch, dass sie zu Melusina Wiedehopfs Schicksal keine persönliche Meinung hatte? Wie viel lieber hätte die Vampirin dagegen gewusst, wie es um Peter - noch so einer ohne Nachname - stand! Einmal ganz abgesehen davon, dass der auch noch der vielversprechendste, potentielle Zeuge war...
Aber verdammt noch mal, sie war Feldwebel und auf professioneller Basis musste so etwas einfach drin sein - da durften persönliche Befindlichkeiten einfach keine Rolle spielen...
Dieser Gedankengang unterbrach sich jäh, als Breda auf einem der Dokumente fast ganz hinten in der Mappe den Namen eines ihr wohlbekannten Geschäfts erkannte - sie selbst erstand dort gelegentlich ihr Mittagessen. Die DOG-Abteilungsleiterin konnte für einen Moment nur auf die Buchstaben starren, während ihre Logik die Waffen streckte und die Bühne ganz der vollkommenen Verwirrung überließ. Denn ausgerechnet an diesem Ort eine Rechnung über zwei Liter Blut zu finden, die noch keine Woche alt war ... was bei allen Dämonen der Niederhöllen ging hier vor?
Vorsichtshalber nahm sie das Blatt an sich, ließ es mehrfach gefaltet in ihrem Ärmel verschwinden und legte die Mappe an ihren ursprünglichen Platz zurück. Und das keine Sekunde zu früh!
"Können Sie mir vielleicht erklären, was das werden soll, Frau Koskaja?" Valerie V.s schneidende Stimme ließ Breda nach oben fahren und für einen Moment hatte sie schwer damit zu kämpfen, nicht zu schuldbewusst dreinzusehen.
"Ich ...", die Wächterin räusperte sich, während ihre Gedanken rasten. Jetzt war Improvisation gefragt. "Wir haben oben ein kleines Problem und ich kann mich daran erinnern, dass es damals zu meiner Zeit immer irgendwo eine Art ... nun ja, Notfallausrüstung gab. So ein kleines Paket." Sie deutete mit den Händen ein Rechteck von der Größe eines Buches an. "Um unsere schwächeren Mitglieder in absoluten Ausnahmesituationen wieder zur Räson bringen zu können, Sie kennen das ja."
Valeries Blick wurde hart und sie hob herausfordernd das Kinn.
"Wenn Sie auf das Knoblauchgranulat anspielen, dann suchen Sie vergeblich. Derart antiquierten Methoden heißt die Liga nicht gut."
"Aber ich bitte Sie, wer redet denn von Knoblauch? Ich bin enttäuscht, dass Sie ein derart falsches Bild von mir haben", gab sich Breda empört und suchte gleichzeitig verzweifelt nach einer brauchbaren Alternative, als ein gequälter Schrei durch das Treppenhaus hallte.
Valerie wurde noch eine Spur blasser als gewöhnlich.
"Sie bleiben hier!", zischte die Rothaarige, dann stürmte sie fluchend in Richtung des Geräuschs.
Breda dachte natürlich gar nicht daran, dieser Anweisung Folge zu leisten. Sie blieb dicht hinter der anderen Vampirin und wenn sie sich dabei nicht ständig in den Unterröcken ihres Kleides verheddert hätte, wären sie wohl gleichauf gewesen. Valerie knurrte gefährlich, unternahm aber nichts, um Breda zurückzuhalten. Ein Stück weiter vorn auf dem Gang stand eine Tür sperrangelweit offen - der Eingang zur letzten Behausung auf dieser Etage. Es war kein Geheimnis, wem sie gehörte oder besser gehört hatte - oft genug hatte Breda sich geärgert, dass es ihnen nicht möglich war, diese Räumlichkeiten genauer unter die Lupe zu nehmen. Doch eine Tür einfach so aufzubrechen war eine etwas zu heikle Angelegenheit, wenn man sich seiner Theorien nicht zu einhundert Prozent sicher sein konnte... Allerdings schienen Andere derartige Bedenken nicht zu teilen - fragte sich nur noch, wer genau - und Bredas Anspannung wuchs stetig, je näher sie der geöffnete Bleibe kam. Peters Bleibe.
Jemand saß direkt hinter dem Türrahmen auf dem Boden und Breda bemerkte gerade noch aus dem Augenwinkel, wie Mina die Treppe von den oberen Geschossen herunter gerannt kam, bevor Valerie eben diesem Jemand fauchend an die Gurgel ging.
"Du hast mir den Schlüssel geklaut, du kleine Ratte!", keifte die Rothaarige und schob den verdatterten Oskar Koskaja noch ein Stück weiter die Wand nach oben. "Was hast du gesehen, sag's mir, auf der Stelle!"
Breda reagierte instinktiv, packte Valerie am Unterarm und zerrte sie von dem zitternden Vampir weg, auf die andere Seite des Flurs. Von der Hand an seinem Hals befreit, sackte Oskar wieder auf dem Boden zusammen.
"Nichts gesehen ... nur
gehört", brachte er mühsam hervor.
Von der vornehmen Empfangsdame war unterdessen nicht mehr viel übrig geblieben, Valerie trat nach Breda, wand sich wie eine Verrückte und wenn Mina nicht in diesem Moment ebenfalls am Ort des Geschehens eingetroffen wäre, hätte die DOG-Abteilungsleiterin allein es wohl nicht geschafft, sie unter Kontrolle zu bringen.
"Du erbärmlicher Mistkerl!", schrie Valerie, doch sie schien langsam zu begreifen, dass ihre Chancen schlecht standen und zu ihrer Wut schien sich nun noch ein guter Teil Panik zu gesellen. "Wenn du auch nur ein Wort weitererzählst, dann werde ich, werde ich ..." Ihre Stimme brach zitternd weg.
Breda warf Oskar einen ärgerlichen Blick zu. Das mit der verdeckten Ermittlung hatte sich jetzt wohl erledigt!
"Was haben Sie sich denn dabei gedacht?", wollte sie wissen.
Doch bevor Koskaja antworten konnte, näherten sich leise Schritte von der anderen Seite und ein blonder Lockenkopf erschien im Korridor.
"Es war meine Idee", Charlotte starrte auf ihre Fußspitzen, "Ich habe ihm das eingeredet. Und die Gelegenheit war so günstig, als Valerie für ein paar Minuten ihren Schlüsselbund ... wir mussten es einfach wissen und ..."
"Hat es wenigstens etwas gebracht?", unterbrach Mina sie unwirsch.
Charlotte nickte und sah aus, als habe sie einen Geist gesehen.
"Es ist schlimm, sehr schlimm. Sobald man sich ihm auf ein paar Schritte nähert ... ich habe es nicht ausgehalten."
"Was denn?"
"Peter", meldete sich nun Valerie leise zu Wort. Sie hatte jeden Widerstand aufgegeben. "Lassen Sie mich vorangehen, dann erkläre ich Ihnen alles."
Breda löste ihren Griff von Valeries Arm, blieb aber auf der Hut, um jederzeit wieder zufassen zu können. Allerdings schien die andere Vampirin das Interesse an jeglichen Auseinandersetzungen dieser Art verloren zu haben: Sie fuhr sich mit der Hand in einer erschöpften Geste über das Gesicht, dann erst straffte sie ihre Gestalt und betrat als Erste den angrenzenden Raum. Ein Teppich lag zusammengerollt an der Seite und in der Mitte des Zimmers zeigte sich eine geöffnete Bodenklappe. Eine Stiege führte in die Dunkelheit hinunter und sanftes Glühen deutete auf Kerzenlicht hin.
Valerie setzte ihren Fuß auf die erste Stufe und wandte sich noch einmal an die beiden Wächterinnen.
"Seien Sie vorsichtig und gehen Sie besser nicht zu nah heran. Er ... er kann es nicht kontrollieren."
Nacheinander kletterten die drei Vampirinnen hinunter und fanden sich kurz darauf in einer Kammer wieder, welche ungefähr die Größe des Raumes darüber haben musste. Die Wände waren aus Stein, allerdings mit einigen Tapisserien und Bildern geschmückt und auch sonst hatte sich jemand redlich Mühe gegeben, diese fensterlose Umgebung so wohnlich wie möglich zu machen. Die Luft war stickig, doch über dem Geruch von Holz, Wachs und Vampir lag noch ein anderes Aroma, sehr schwach nur, aber unverkennbar und es passte zu dem Fund, den Breda gerade erst in der Rechnungsmappe gemacht hatte: Blut. Valerie würde wohl tatsächlich einiges zu erklären haben, doch das konnte bis später warten: In einer Ecke stand ein alter Ohrensessel und darin regte sich nun eine Gestalt. Selbst eine noch erfahrenere Wächterin als Breda wäre bei diesem Anblick wohl zusammengezuckt. Wenn sie Oskar schon für abgemagert gehalten hatte, dann war dies hier der Tod auf Beinen: Das war eigentlich kein Vampir mehr, höchstens noch ein Schatten seiner selbst; man konnte jeden einzelnen Knochen unter der Haut erkennen, die Haare waren ausgedünnt, völlig zerzaust und ihre ursprüngliche Farbe kaum mehr zu erahnen.
Valerie griff langsam in eine Tasche an ihrem Kleid, zog ein Reagenzglas hervor - im Licht der Kerzen sah Breda eine Flüssigkeit darin kurz rot aufleuchten - und trat einen Schritt auf die Gestalt zu.
"Peter, ich bin es nur, bleib einfach da sitzen, ich werde dir helfen, ja?" Sie sprach im gleichen sanften Ton, welchen man auch bei verängstigten Kindern oder Tieren benutzt.
Der Angesprochenen zuckte leicht mit dem Kopf, dann öffnete er unter großen Anstrengungen die Augen und betrachtete teilnahmslos die kleine Gruppe.
Es war, als würde jemand mit Vorschlaghämmern auf ihr Bewusstsein eindreschen: Eine Welle von Gedanken und Gefühlen, Bewusstem und Unterbewusstem in einer wirren Mischung, schlug sich mit brachialer Gewalt Bahn, jedwede Grenze einfach niederreißend und sich aufdrängend ohne eine Wahl zu lassen.
Breda hatte nicht einmal mehr Gelegenheit zu schreien, der Schmerz war betäubend und sie fühlte sich wie eingeschnürt. Ihre Knie gaben nach und auch als sie es irgendwie schaffte, die Hände auf die Ohren zu pressen, riss er nicht ab, dieser wilde Strom aus einer vollkommen fremden Wahrnehmung:
" ... nureinmalnichtschonwiedergutgehenwillnichtGregorwegHilfewegVrriyowitschGregorValerieneinichAschezuvielAschewer
weißnichtweggehwegvergessenVRRIYOWITSCH!"
Das war der Moment, in dem Valerie nach vorn sprang. Breda nahm nur verschleiert wahr, wie die andere Vampirin Peter erreichte, seinen Kopf nach hinten riss und ihm den Inhalt des Reagenzglases gewaltsam einflösste. Dann hörte es schlagartig auf. Während der ersten Sekunden hielt Breda noch still und lauschte in sich hinein, aber ihre Sinne schienen wirklich wieder ihre eigenen zu sein. Langsam erhob sie sich vom Boden. Ein kurzer Blick zur Seite zeigte, dass Mina ähnlich mitgenommen aussah, wie sie selbst sich fühlte. Den Kopf in die Hände gestützt, saß die verdeckte Ermittlerin auf den Stufen und schien auch nicht die Absicht zu haben, sich so bald wieder von dort wegzubewegen.
"Für die nächsten Stunden wird er ruhig sein." Auch Valeries Gesicht zeigte noch Schmerz, doch dieser schien über das gerade Erlebte hinauszugehen. "Aber bevor ich Ihnen jetzt etwas erkläre, wüsste ich doch gern, wer Sie beide eigentlich in Wirklichkeit sind."
***
"Stadtwache, soso. Ich habe mir schon etwas in der Richtung gedacht, nachdem ich gesehen habe, wie
Madame Koskaja hier so offensichtlich herumschnüffelt." Sie war fast wieder die Alte - ein wenig zu hochnäsig und definitiv etwas Besseres als der Rest. Doch jetzt zeigte sich zudem noch eine Kooperationsbereitschaft, die Valerie fast sympathisch machen konnte.
Sie hatten sich in die Aufenthaltsräume unter dem Dach zurückgezogen, obwohl Breda zunächst ernsthaft mit dem Gedanken gespielt hatte, die Frau wegen tätlichen Angriffs auf einen Wächter sowie Freiheitsberaubung einer dritten Person festzunehmen und sich mit ihr in einem Verhörraum zu unterhalten.
"Was haben sie dem da unten eigentlich gegeben?", fragte sie gereizt, obwohl sie sich die Antwort fast schon denken konnte.
Valerie sah für eine Sekunde beschämt drein.
"Blut", antwortete sie dann, nicht ohne Mühe. "Ich haben versucht, ihn auf diese Weise zu stabilisieren, auch wenn das im ersten Moment vielleicht etwas drastisch erscheint - es ist logisch. Und ich hatte einfach keine andere Idee mehr." Sie zuckte hilflos mit den Schultern. "Es hilft ja tatsächlich ... wenn auch nur für eine gewisse Zeit."
Breda nickte.
"Daher
diese Rechnung."
"Ja, daher die Rechnung. Aber da kann mir selbst die Liga nichts anhängen, immerhin ist es für therapeutische Zwecke bestimmt!"
"Weiß denn noch jemand davon?", hakte Breda nach.
"Nein ..."
Mina sah fragend von einer zur anderen und versuchte wohl, sich einen eigenen Reim darauf zu machen. Da das Thema damit aber erledigt schien, ging sie nicht weiter darauf ein, sondern fragte stattdessen:
"Wer ist jetzt eigentlich Vrriyowitsch? Der schien Peter nicht unwichtig zu sein."
Vorhin war sie mit anderem beschäftigt gewesen, aber als jetzt erneut dieser Namen erwähnt wurde, regte sich etwas in Bredas Unterbewusstsein; sie war sich sicher, ihn schon einmal irgendwo gehört oder gelesen zu haben. Sie kam nur nicht drauf...
Valerie lächelte traurig.
"Das könnten Sie beinahe selbst erraten. Valerie V. Valerie Vrriyowitsch. Es ist mein Nachname. Auch wenn er damit vielleicht sich selbst gemeint hat. Peter ist mein Bruder. Wie auch Gregor Pavel ..."
Der Groschen fiel. Breda schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
"Die Visitenkarte auf dem Tresen! G. P. Vrriyowitsch: Bestattungsunternehmer und Innenausstatter."
"Moment mal ..." Mina legte nachdenklich die Fingerspitzen aneinander. "Hatte nicht Charlotte erwähnt, dass Melusina sich erst kürzlich einen neuen Sarg zugelegt hat?"
"Ja, das könnte bedeuten ..."
Doch bevor Breda den Satz zu Ende bringen konnte, schnitt Valerie ihr rüde das Wort ab.
"Sehen Sie, Sie ziehen gleich die falschen Schlüsse! Genau darum habe ich es niemandem erzählt!", schimpfte die Vampirin, "Wenn das die Runde gemacht hätte, dann wäre das Unternehmen ruiniert gewesen!" Sie begann aufgebracht auf und ab zu gehen. "Als ob mein Bruder so etwas nötig gehabt hätte und überhaupt, was macht es für einen Sinn, die eigene Kundschaft zu dezimieren? Aber soweit denkt ja keiner, die Hauptsache ist doch, man hat einen Schuldigen!"
"Die Formulierung "Kundschaft dezimieren" passt aber nicht wirklich zu Ihrer bisherigen Behauptung, es seien alles Unfälle gewesen ...", meinte Breda langsam.
Valerie Vrriyowitsch starrte einen Augenblick lang ausdruckslos vor sich hin, dann setzte sie sich und so etwas wie Entschlossenheit erschien auf ihren Gesichtszügen.
"Gregor hat das Bestattungsunternehmen vor etwa fünf Jahren aufgekauft", begann sie. "Es lief nicht schlecht und irgendwann kam er auf die Idee, das Geschäft zu erweitern. Inoffiziell hatte er zwar schon vorher vampirische Kundschaft aber durch die Bezeichnung "Bestattungsunternehmer und Innenausstatter" hoffte er, das zweite Klientel auf einer noch breiteren Basis anzusprechen."
'Und bestimmt gibt es auch Leute, die das in beiderlei Hinsicht nutzen können', dachte Breda im Stillen. "Obwohl es menschlich gesehen schon ein klein wenig morbide ist ..."
"Das hat ihm aber noch nicht gereicht", fuhr Valerie fort, "Er wollte sein Angebot immer umfassender, vollständiger machen und ich kann Ihnen versichern: Mehr als einer seiner Einfälle ist dabei nach hinten losgegangen." Die Rothaarige erlaubte sich ein kleines Lachen, wurde dann aber sofort wieder ernst. "Vor ein paar Tagen kam er ganz aufgeregt zu mir, er habe die ultimative Geschäftsidee, den ganz großen Coup, es müsse nur noch getestet werden. Dann hat er mit ein Fläschchen unter die Nase gehalten, eine kleine Phiole mit goldgelber Flüssigkeit..."
Sie stockte und Breda tauschte einen vielsagenden Blick mit ihrer Kollegin. Man kam der Sache näher.
"Gregor wollte mir nicht verraten, woher er es hatte - noch nicht. Er und Peter wollten es erst ausprobieren und hatten sich zu diesem Zweck in Peters Wohnung verabredet." Valerie biss sich auf die bebende Unterlippe. "Ich hätte die beiden davon abhalten sollen, es war von vornherein eine dämliche Idee. Ich hätte das wirklich ... immerhin bin ich die Älteste ... wie töricht..."
"Hat Ihr Bruder wenigstens erwähnt, was genau das Zeug bewirken sollte?", warf Breda ungeduldig ein, um Valerie erst gar keine Gelegenheit zu geben, in Selbstvorwürfe abzudriften.
Die rothaarige Vampirin sah sie an, als verstünde sie die Notwendigkeit einer solchen Frage nicht.
"Ein ...
Heilmittel", schnappte sie dann in einem Tonfall, als habe sie schon allein mit der Erwähnung dieses Wortes sowohl Freunde, Familie, die Liga und Überwald, sämtliche Vampire als auch die ganze Scheibe verraten. "So ein Schwachsinn, als ob es ein Heilmittel gegen Vampirismus gäbe!" Sie schüttelte verständnislos den Kopf und Breda musste ihr Recht geben: Es war wirklich dumm. Auch wenn die Idee an sich nicht neu war: Aller Jubeljahre wieder kam das Gerücht auf, es sei dem oder dem bis dato völlig unbekannten wissenschaftlichen Genie gelungen sei, einen entscheidenden Durchbruch auf diesem Gebiet zu erzielen; dass eine Lösung zum greifen nah wäre, blablabla. Das Ganze war dann jedes Mal nicht nur ziemlich abstrus und entpuppte sich als Reinfall, sondern hatte zudem stets den faden Beigeschmack, dass
Lösungen ja eigentlich nur für
Probleme gefunden werden mussten... Aber wie viele Vampire waren nicht bereit, dies zu ignorieren, nur für den Hauch einer Chance, auf die sie immer gewartet hatten? Es war das Geschäft mit der Hoffnung, auf das Gregor Pavel Vrriyowitsch gesetzt hatte - die Frage war nur, ob man ihn dafür verurteilen sollte oder nicht.
"Ich habe ihm auch gesagt, was ich davon halte", setzte Valerie ihre Geschichte fort, "aber er hat noch gelacht und gemeint, wenn es doch funktionieren sollte, könne ich sie beide ja wieder zurückverwandeln. Als ich meine Brüder dann das nächste Mal gesehen habe ... war Peter in diesem Zustand und Gregor nichts anderes mehr als ein grauer Haufen auf einem schlecht gefegten Fußboden ... ich habe es versucht, aber ihm war nicht mehr zu helfen ..." Sie schluckte krampfhaft und war kurz davor, die solange aufrecht gehaltenen Fassung endgültig zu verlieren. "... und das war es im Prinzip. Mehr habe ich Ihnen nicht zu sagen. Ich bin mir allerdings immer noch nicht sicher, ob Melusinas Fall damit zusammenhängt..."
"Tut er, wir haben auch bei ihr so eine Flasche gefunden", nickte Mina.
Valerie sah sie böse an.
"Na, dann haben Sie ja fein alles herausgefunden, was es hier zu erfahren gibt. Sie können jetzt also verschwinden, ja? Sie sollten wissen, wo die Tür ist."
***
"G. P. Vrriyowitsch. Bestattungsunternehmer und Innenausstatter. Da wären wie also."
Es war am Morgen des nächsten Tages. Breda betrachtete das große, auf Hochglanz polierte Schild über der Eingangstür mit einem Stirnrunzeln. Die goldenen Schrift leuchtete selbst im noch schwachen Licht des Tages und obwohl man sie so schon von weitem erkennen konnte, war sie nicht das Erste, was an der Fassade auffiel: Diese war vollkommen schwarz. Sogar Türen, Fensterrahmen und selbst das Dach war in dieses zugegeben recht einseitige Konzept mit eingebunden. Doch damit stach das Gebäude heraus - der schmutzig-graue Putz sowie das ehemals-weiß der beiden Nachbarhäuser hatten keine Chance gegen diese offenbar ordentlich gepflegte Schwärze. Nachts lief man bestimmt dagegen, weil man hier eine Gasse vermutete.
Hoffentlich hatte der Laden schon geöffnet und sie konnten das hier schnell über die Bühne bringen. Denn wenn sie ehrlich war, hatte Breda diese Ermittlung langsam satt und sehnte sich beinahe nach ihrem schönen ruhigen Schreibtisch mit all dem harmlosen Papierkram - dieser enthielt einem die wichtigen Informationen wenigstens nicht auf Biegen und Brechen vor und ersparte zudem jedwede albtraumerzeugende Begegnung in Kellerräumen.
Auch wenn sich die Angelegenheit bis zu einem gewissen Grad geklärt und für Leute wie Valerie Vrriyowitsch vermutlich erledigt hatte, so war diese Untersuchung noch nicht abgeschlossen: Woher Gregor Vrriyowitsch und somit wohl auch letztendlich Melusina Agathe Wiedehopf dieses ominöse Heilmittel gehabt hatten, war nach wie vor offen. Und wer auch immer dieses Zeug unter die Leute brachte, würde sich bestimmt nicht damit zufrieden geben aufzuhören, wenn die Vampirgesellschaft als Ganzes erst einmal Wind davon bekommen hatte und es boykottierte. Nein - derartige Waren konnte man schließlich auch als Waffe in größerem Stil vermarkten oder sogar zur Selbstverteidigung salonfähig machen ... Breda hatte keine Lust, für den Rest ihres Daseins ständig nach goldfarbenen Wässerchen Ausschau halten zu müssen. Aber ob sie hier tatsächlich die entsprechenden Antworten finden würden...
Zumindest der Anfang bereitete noch keinerlei Probleme: Ein kleineres Schild im Schaufenster verkündete stolz, dass Tag und Nacht Personal anwesend wäre und die Ladentür gab nicht das leiseste Geräusch von sich, als die beiden Wächterinnen eintraten. Auch innen hatte man keinen sonderlichen Kontrast in der Farbwahl gesetzt: Die Wände waren mit dunklen Holzpaneelen getäfelt, abgestimmt auf den Parkettfußboden und die aufwändigen Stuckarbeiten an der Decke. Schwere Samtvorhänge bedeckten die Fenster und so waren es nur einige wenige Kerzenständer, welche für ein schummriges Ambiente sorgten und die ausgestellten Urnen und Särge dezent beleuchteten. Alles in allem: Klischee pur. Mausoleumsatmosphäre.
"Ob das Personal weiß, was seinem Chef zugestoßen ist, Mä'äm?" Mina hatte eine kleine Glocke ergriffen, die auf einem niedrigen Tisch neben dem Eingang stand, wartete jedoch zunächst auf Bredas Antwort.
Hurra, sie waren zurück in der wirklichen Welt - sie hatte wieder einen Rang und eine Dienstmarke! Breda ließ es sich zwar nicht anmerken, aber eine klitzekleine Genugtuung war das schon. Sie wiegte nur nachdenklich den Kopf.
"Schwer zu sagen. Ich schätze nicht ... aber lassen wir uns überraschen."
Die andere Vampirin nickte und gleich darauf ertönte ein melodisches Klingeln.
Es dauerte einen Moment, aber dann näherten sich Schritte und ein gut gekleideter Mann trat durch einen Vorhang an der gegenüberliegenden Wandseite in den Raum. Er war nicht besonders groß, schlank, recht blass - und sehr lebendig. Als er die beiden Vampirinnen entdeckte, malte sich ein strahlendes Lächeln auf sein Gesicht.
"Einen wunderschönen guten Morgen, wie kann ich den Damen behilflich sein?"
"Sind Sie der Geschäftsführer?", fragte Breda unschuldig, lediglich die interessierte, jedoch unwissende Kundin.
"Nein, bedaure, Herr Vrriyowitsch, ist nicht im Haus. Aber ich bin so etwas wie seine rechte Hand, alles was Sie ihn fragen wollen, können Sie auch von mir erfahren. Edmund Grabgut, Bestatter in vierter Generation." Er schüttelte begeistert die Hände seiner beiden Besucherinnen. "Sie sehen mir nicht so aus, als hätten Sie einen Dahingeschiedenen zu betrauern; darf es dann etwas für die heimische Gruft sein?"
"Besten Dank, aber nein." Breda lächelte. "Wir haben gehört, Herr Vrriyowitsch hätte da etwas Neues in seinem Sortiment, etwas ... Flüssiges. Eigentlich noch in der Testphase, aber na ja, Gregor meinte, wir könnten schon einmal nachfragen."
Der Angestellte machte große Augen.
"Sie kennen den Chef persönlich? Und er hat Sie geschickt?"
Die beiden Wächterinnen nickten unisono.
"Also, das ist mir jetzt in der Tat peinlich, aber ich weiß leider wirklich nicht, wovon Sie reden." Es war nur eine kleine Schweißperle, welche sich auf seiner Stirn abzeichnete und die steigende Nervosität des Mannes verriet.
"Schade, aber können Sie nicht einmal kurz in den Auftrags- oder Eingangsbüchern nachschauen? Bestimmt ist das Gesuchte dort verzeichnet", fügte Mina noch hinzu.
"Ich, äh, fürchte ich kann Ihnen nicht ganz folgen, meine Damen."
"Oder aber Sie lassen uns selbst einen kurzen Blick hineinwerfen." Betont gleichgültig spielte Breda mit ihrer Wachmarke und achtete nur darauf, sie ab und zu im Kerzenlicht aufblinken zu lassen.
Das professionelle Lächeln auf Grabguts Gesicht war nichts mehr als eine Maske, aber noch überspielte er erstaunlich gut, dass sein Herzschlag gerade mindestens das Doppelte an Geschwindigkeit zugelegt hatte.
"Oh, warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt? Der Wache bin ich immer gern behilflich. Ich hoffe doch, der Chef ist nicht in Schwierigkeiten? Einen Moment bitte, ich bin sofort wieder da."
Damit verschwand er wieder durch den Vorhang, tiefer in das Gebäude hinein.
"Was denkst du, haut der ab?", grinste Breda.
"Ganz sicher tut er das."
Sicher geleitet von den polternden Schritten des davonstürzenden Mannes, machten sich die beiden Wächterinnen auf den Weg durch die hinteren Räumlichkeiten - eine Werkstatt, ein Lager - und traten schließlich auf einen engen Hof hinaus, auf dem ein paar Männer damit beschäftigt waren, einen Karren zu beladen. Mina und Breda kamen gerade noch rechtzeitig um zu sehen, wie Grabgut den wartenden Kutscher vom Bock stieß und selbst nach den Zügeln griff.
"Das wird nichts, Freundchen", knurrte Breda und war innerhalb eines Wimpernschlags neben dem Karren.
Ob der Bestatter damit gerechnet oder nur ungewöhnlich schnell reagiert hatte war im Nachhinein schwer zu sagen. Auf jeden Fall war er vorbereitet: In seiner Hand befanden sich auf einmal mehrere Glasgefäße, klein, mit goldfarbenem Inhalt, die er der Vampirin entgegenschleuderte. Die Entfernung war zu kurz, es blieb keine Zeit mehr, auszuweichen oder sich zu Boden fallen zu lassen - und so nutzte Breda das einzige Mittel, welches ihr noch zu Gebote stand und
zerstob. Der Schwarm Fledermäuse stieg in einer eleganten Kurve nach oben, um sich dann fauchend auf Grabgut zu stürzen, während die Fläschchen am Boden zerschellten. Doch selbst das hatte noch eine nicht zu unterschätzende Wirkung: Die Duftwolke, die sich nun entfaltete war so massiv, dass die nur noch Schritte entfernte Mina zurückprallte, als sei sie gegen eine Wand gelaufen; auch der Schwarm geriet ins Torkeln und verlor für Sekunden komplett die Orientierung. Die Fledermäuse flatterten hektisch durcheinander und Breda spürte unsanft, wie mehrere Tiere gegen die Kisten auf dem Karren prallten oder von zuschlagenden Deckeln gestreift wurden, als Grabgut die Peitsche knallen ließ und das Gespann vom Hof preschte. Der Gedanke "Hinterher!" war schön und gut ... aber nicht durchführbar.
Der Staub hatte sich längst gelegt, als Breda sich wieder halbwegs formiert hatte. Ihr war immer noch schwindelig und sie fühlte sich, als müsse sie sich im nächsten Moment übergeben. Es wäre also alles andere als eine gute Idee gewesen, jetzt auch noch ins stärker werdende Sonnenlicht über den Dächern zu fliegen, um die Verfolgung aufzunehmen. Mina unterdessen klaubte Bredas zu Boden gegangenen, aber glücklicherweise unbeschädigte, Kleidungsstücke auf. Sie lächelte schwach.
"Denn kriegen wir schon noch", meinte sie, aber der Optimismus in diesen Worte wurde erheblich dadurch geschmälert, dass die Vampirin recht grün um die Nase war. "Hauptsache, wir bestehen jetzt nicht aus Ascheflocken."
Um sich den Blicken der immer noch glotzenden Arbeiter zu entziehen, suchten die beiden Wächterinnen zunächst einen angrenzenden Lagerraum auf, um Breda die Möglichkeit zu geben, sich in Ruhe wieder zurückverwandeln zu können. Der Schwarm ballte sich zusammen, um sich zu einer einzelnen Person zu verdichten ... lockerte auf und versuchte es erneut ... und noch einmal ... und noch einmal.
"Breda, ist alles in Ordnung?"
Doch die andere Vampirin hörte kaum zu - sie versuchte die aufkeimende Angst in sich klein zu halten. Denn jedes Mal, wenn sie an den entscheidenden Punkt kam war da dieses ... Loch ... diese unausgefüllte Stelle und eine Art Urinstinkt hielt sie dann davon ab, den Prozess zu Ende zu bringen. Etwas fehlte ... der Schwarm war nicht vollständig.
***
"Also das versteckt sich hinter der harmlosen Bezeichnung
Zwischenfall."
Glum Steinstiefel zog die Augenbrauen zu einer einzigen buschigen Linie zusammen und musterte den Schwarm, der sich mehr schlecht als recht auf allen fledermaus-geeigneten Möbelstücken niedergelassen hatte. Offenbar war er sich nicht sicher, wie er auf seine Chefin in diesem Zustand reagieren sollte, aber
starren war wohl kaum das richtige Mittel. Sie würde sich einmal mit ihrem Stellvertreter darüber unterhalten müssen - wenn sie denn irgendwann wieder etwas anderes konnte als fiepen. Eine derart eingeschränkte Kommunikation wurde auf Dauer wirklich lästig. Was ihre Laune auch nicht gerade verbesserte war der Umstand, dass sie sich nicht in ihrem eigenen Büro im Boucherie sondern in irgendeinem Raum am Pseudopolisplatz befand - der Weg dahin war einfach wesentlich kürzer und damit gesünder für ihre aktuelle Erscheinungsform gewesen. Auch wenn der Ort momentan kaum einen Unterschied machte: Sie hätte wohl überall mit dem Kopf nach unten herumgehangen, während die anderen von unten besorgt zu ihr aufsahen.
"Du bist selbst Vampir, woran kann es liegen, dass sie so ist?", wollte der Zwerg nun wissen und sah die zweite anwesende Person herausfordernd an.
Mina seufzte und verdrehte die Augen.
"Zum hundertsten Mal: Ich bin mir nicht sicher. Denn wenn ich dich daran erinnern darf - ich war noch nie in viele kleine flatternde Einzeltierchen aufgeteilt." Sie schüttelte den Kopf. "Vielleicht hat es doch etwas mit Grabguts Wurfgeschossen zu tun... Möglicherweise hat sich aber auch nur eine Fledermaus verflogen. Oder es handelt sich hier um irgendein seltenes, vampirphysiologisches Phänomen, von dem nur eine Handvoll Leute auf der Scheibe wissen."
"Hoffentlich eine der ersten beiden Varianten. Da stehen die Chancen besser, sie wieder hinzubekommen."
Breda zischte beleidigt. Sie sollten aufhören von ihr zu sprechen, als sei sie nicht anwesend! Fremdartiges physiologisches Phänomen? Na danke, ging es vielleicht noch etwas deprimierender? Ein bisschen Hilfestellung war wohl angebracht, bevor noch irgendwelche "Spezialisten" angeschleppt wurden.
Der Schwarm ließ sich von seinen Plätzen fallen, formte mitten in der Luft eine Masse, um sich dann wieder auseinander zu bewegen und eine kreisrunde Öffnung in der Mitte frei zu lassen. Das ging natürlich immer nur für ein paar Augenblicke - schließlich waren das Fledermäuse und keine Kolibris.
Bredas Stellvertreter legte den Kopf schief.
"Moderne Kunst? Ein Bullauge auf einem sinkenden Schiff?", fragte er vollkommen ernst und die Vampirin konnte nur für ihn hoffen, dass er das nicht so meinte.
"Möglichkeit zwei?", warf Mina wie beiläufig ein.
"Ich sehe selber, dass das ein Loch darstellen soll", knurrte der Zwerg. "Nur jetzt verrate mir bitte, wie du gedenkst in Ankh-Morpork eine einzelne Fledermaus zu finden."
"Tja ... wird wohl nicht ganz einfach werden." Sie sah Breda an. "Kannst du sie vielleicht irgendwie lokalisieren?", fragte die verdeckte Ermittlerin hoffnungsvoll.
Oh man, wie stellte man ein "Ich kann es versuchen" dar? Breda entschied sich dafür, geschlossen ein paar Runden unter der Decke zu kreisen.
"Du konntest das Gebiet einkreisen?", schlug Glum vor.
Energisches Flattern von links nach rechts und zurück, um ein Kopfschütteln anzudeuten.
"Dann suchst du noch?"
Flugbahn hoch - runter - hoch: Ein "Ja". Zumindest kam diese Antwort der ursprünglich beabsichtigten Aussage nahe genug.
"Hmm, wenn du ihr näher kommst, würdest du das merken?"
Erneutes auf- und abflattern sowie ein vielstimmiges Geräusch von dem Breda hoffte, es würde wenigstens ansatzweise zustimmend klang. Doch in diesem Punkt war sie sich sicher! Zumal die fehlende Fledermaus wohl auch nichts Unvorhergesehenes tun würde, bis der Schwarm eintraf - glücklicherweise handelte es sich bei der Vermissten nicht um ihre etwas eigenwillige Nr. 42...
"Na dann los, wir nehmen sie mit zum Bestattungsinstitut und fangen dort an", triumphierte der Zwerg.
Das war ja wohl die Höhe, sie war doch kein Spürhund! Hatte sich das eben noch nach einer echte Möglichkeit angehört, zischte Breda jetzt gefährlich und ließ sich wieder auf ihre Sitzplätze nieder, von wo aus sie den Moloss mit anklagenden Blicken bedachte.
"Wieso denn nicht?", wollte der Zwerg verwundert wissen, "Es könnte funktionieren, das hast du selbst zugegeben, Mä'äm!" Er wandte sich erneut an Mina. "Oder nicht?"
"Ja, wenn du jede Fledermaus einzeln in Sonnenschutzcreme tunken und dann einfach nur das Besten hoffen willst. Glum, da draußen ist Sommer, das ist nicht hilfreich!"
"Na gut, so gesehen ..." Der Zwerg überlegte noch einen Moment, dann wandte er sich zum Gehen. "Ich werde die Abteilung schon am Laufen halten, bis du wieder an einem Stück bist", versicherte er seiner Abteilungsleiterin noch, "Und die DOG steht natürlich bereit, um dir wieder zu deiner singulären Erscheinungsform zu verhelfen. Verlass dich auf uns, Mä'äm."
"Inzwischen werde ich einmal nachschauen gehen, ob sich in der Grabgut-Fahndung etwas ergeben hat", meinte Mina und folgte dem Zwerg auf den Gang. "Wenn er die Stadt noch nicht verlassen hat, kriegen wir ihn früher oder später."
Bevor die Tür ins Schloss fiel hörte Breda noch, wie Glum meinte:
"Sag mal, was hältst du auf lange Sicht von einem
Fledermausdolmätscher? Wir könnten Feldwebel van Varwald von FROG fragen ..."
***
Es war ziemlich dunkel, allerdings ruckelte die Umgebung unaufhörlich und sie stieß immer wieder gegen Wände, die offenbar aus Holz bestanden - und manchmal auch gegen geschwungene Objekte aus Ton oder Porzellan, welche ständig aneinander klirrten. Die Umrisse konnte sie natürlich erkennen, aber wozu diese Dinger genau dienten, blieb ihr schleierhaft. Dazu wäre es wirklich hilfreich gewesen, ihren genauen Aufenthaltsort zu kennen. Gedämpft drangen auch Stimmen und Straßenlärm an ihre Ohren; offenbar war man in der Stadt unterwegs. Und der Mief, der selbst noch bis zu ihr vordrang, ließ keinen Zweifel welche das war. Es war seltsam, dass Gestank auch eine tröstliche Seite haben konnte.
Manchmal hielt ihre kleine Welt an, verharrte eine Weile und zuckelte dann weiter. Hoffentlich würde sie irgendwann ganz stehen bleiben! Dieses hin und her war auf Dauer nicht nur anstrengend, nein, sie selbst war diesen willkürlichen Bewegungen vollkommen ausgeliefert - denn sich unter solchen Bedingungen mit nur zwei Flügeln irgendwo abzustützen, hatte sich als schier unmöglich erwiesen ...Breda kam zurück zu sich selbst, in ihre vielen kleinen Körper, zu ihren Sorgen und ihrem Frust. Ja, sie hatte es geschafft, eine Art Kontakt zu ihrem fehlenden Teil herzustellen; allerdings war dieses Band sehr fein und nur ein kleiner Fleck ganz am Rand ihres Bewusstseins. Es kostete die Vampirin alle Kraft, sich genau darauf zu konzentrieren und die Umgebung lediglich mit diesen zwei Augen wahrzunehmen. Auch wurde sie immer wieder unterbrochen und wenn es sich nur um ein lautes Geräusch vom Gang handelte. Nun, bis jetzt hatte sich an dem empfangenen Bild aber auch noch nicht viel verändert, was ihr irgendwie weitergeholfen hätte. Aber was konnte sie auch sonst tun, als es immer wieder zu versuchen? Es würde die Sache in der Tat viel einfach machen, wenn sie dort draußen einfach ihren Instinkten folgen könnte, die würden sie bestimmt ans Ziel führen. Und dann Gnade dem, der sie in diese unmögliche Situation gebracht hatte! Derart abhängig zu sein, hier festzusitzen und dabei auch noch auf alle anderen vampirtypischen Fähigkeiten verzichten zu müssen, auf die sie sonst immer hatte vertrauen können ... Breda fühlte sich hilflos und das gefiel ihr ganz und gar nicht. Momentan war sie so angreifbar wie selten; was sollte denn aus ihr werden, wenn der fehlenden Fledermaus etwas zustieß? Ob das überhaupt möglich war? Aber bevor die Vampirin sich weiter in ihre Sorgen hineinsteigern konnte, erregte die sich öffnende Tür ihre Aufmerksamkeit: Ein Gnom in einer Art Kutte schob sich in das Büro.
"Es ist doch immer das gleiche, diese elenden Banausen! Haben keinen Respekt. Pflanzen sind auch Lebewesen, aber da könnte ich genauso gut mit einer Wand reden", schimpfte er leise vor sich hin und schien erst gar nicht zu bemerken, dass er nicht allein im Raum war. Erst als er dessen Mitte erreicht hatte, hob der Gnom den Kopf und Verwunderung trat in seinen Blick, als er sich plötzlich vielen kleinen und nicht weniger fragend schauenden Augen gegenübersah.
"Oh, Besuch", stammelte er überrascht, "Also ... viel Besuch."
Der Gnom kratzte sich am Kopf, trat dann noch einen Schritt näher und fragte mit gesenkter Stimme: "Mina, bist du das?"
Die Antwort bestand aus einem ungnädigen Fauchen und auf einmal hatte der kleine Kerl es sehr eilig, auf seinen Platz zu kommen, sich hinter einer Akte zu verstecken und so zu tun, als sei der nicht da.
Breda unterdessen schnaubte noch einmal empört, bevor sie sich zu einem neuerlichen Versuch bereitmachte. Die nötige Ruhe dazu würde sie jetzt gewiss haben; es war unwahrscheinlich, in Kürze einem neuerlichen Anlauf vergeblicher interspeziesistischer Kommunikation ausgesetzt zu sein. Die Vampirin versenkte sich tief in ihr eigenes Bewusstsein...
Sie stand still und das nicht nur für einige Sekunden. Na endlich! Vielleicht bestand jetzt eine Chance, hier heraus zu kommen. Entschlossen sprang die Fledermaus immer wieder gegen die Decke ihres Gefängnisses, rammte die Seiten und verbiss sich sogar zweimal in hervorstehende Bodenbretter. Aber entweder waren die Wände zu stabil oder der Anlauf hier drin reichte einfach nicht aus, um genug Schwung zu holen. Immerhin schien sich das ganze Objekt unter ihren Bemühungen ein Stück nach vorn bewegt zu haben; die Tongefäße hinter ihr gerieten ins Schlingern, eines fiel sogar um und zerbrach mit einem lauten Scheppern. Ganz toll, Scherben! Als ob sie nicht schon genug Probleme hätte... Aber auf diese Weise hatte sie anscheinend doch auf sich aufmerksam machen können, denn draußen erklang nun eine gedämpfte Stimme:
"Nanu, was ist das denn?"
Dann gab es eine weitere kurze Erschütterung und der Deckel hob sich wie von Zauberhand - um gleißendes Sonnenlicht hereinzulassen. Die Fledermaus kreischte schmerzerfüllt auf - was seine Entsprechung auch im Rest von Breda fand, der nun das gleiche fühlte wie das einzelne Tier -
und dann spürte sie einen Schatten über sich und eine große Hand, die nach ihr griff...***
Es wurde Nachmittag, bevor Breda sich wieder halbwegs beruhigt hatte. Je mehr Stunden sie in dieser Gestalt verbrachte, desto schwieriger wurde es, die einzelnen Tiere zu kontrollieren und zu einem kollektiven Bewusstsein zusammenzuhalten. Außerdem bekam sie langsam Hunger und als irgendwo im Schwarm der Gedanke aufgekommen war, dass Insekten ja eigentlich auch auf der Speisekarte einer Fledermaus stehen können ... zwar war das entsprechende Tier schnell wieder zurechtgewiesen, aber schon dieses Anzeichen zunehmender Individualisierung gab Anlass zur Sorge. Sie konnte nur auf den Abend hoffen, die Nacht, in der sie sich endlich selbst auf die Suche nach ... nun ja, eben sich selbst machen konnte. Diese endlose Warterei war nichts für die DOG-Abteilungsleiterin.
Irgendwann öffnete sich erneut die Bürotür ... und noch bevor derjenige überhaupt in Bredas Sichtfeld kam, wusste die Vampirin genau, um wenn es sich handelte. Der Klang der Schritte, der leichte Geruch von Tee - Breda kannte diesen Menschen zu gut und vor einiger Zeit hätte sie sich über seinen Besuch noch gefreut, aber jetzt...
Chief-Korporal Ophelia Ziegenberger hatte einige Mühe, die Klinke mit dem Ellenbogen herunterzudrücken, die Tür mit der Schulter aufzustoßen und gleichzeitig einen verschlossenen Becher in der rechten Hand zu balancieren. Dennoch versuchte sich die junge Frau an einem kleinen Lächeln, als sie Breda erblickte - doch es misslang, wirkte aufgesetzt und ein wenig gequält. Sie hätte es natürlich geleugnet, aber es versetzte der Vampirin einen kleinen Stich, die ehemalige Freundin derart besorgt zu sehen.
"Hallo", sagte die RUM-Wächterin. "Ich wollte einfach einmal nachsehen, ob ... einfach einmal vorbeikommen."
Um zu sehen, wie es ihr ging? Ob sie ihr helfen konnte? Zum ersten Mal war Breda froh, gerade nicht sprechen zu können, sonst hätte das hier bestimmt zu einer Unterhaltung geführt ... zu der sie nicht wirklich bereit war. Die Vampirin war schließlich nicht ohne Grund in den letzten Monaten - es fühlte sich an wie Jahre - auf Distanz gegangen.
Als er die Stimme der verdeckten Ermittlerin hörte, kam auch wieder Bewegung in den Gnom, der nun erstmalig hinter seinem Papierkram auftauchte und die peinliche Stille unterbrach.
"Mä'äm", er salutierte, "Eine Frage, Mä'äm: Falls du Mina sehen solltest, kannst du sie dann von mir bitten, ihre Haustiere da freundlicherweise an die Leine zu nehmen?! Die schauen mich schon die ganze Zeit so an, als wäre ich ihre nächste Mahlzeit!"
Besorgt äugte er zu Breda empor, die ungerührt den Blick erwiderte. Sie hatte das jetzt einfach überhört!
"Das sind keine Haustiere, Septimus, das ist Feldwebel Krulock", erwiderte Ophelia freundlich.
Der Gnom wurde blass.
"Oh ... Verzeihung, aber ich hatte ja keine Ahnung, also ... Mä'äm! Obergefreiter Ebel, zu deinen Diensten, Mä'äm! Also ich mag ja Fledermäuse, wirklich ... entschuldige mich, Mä'äm und ... Mä'äm." Er sprang zu Boden und hastete aus dem Raum, gerade nicht zu schnell, um unhöflich zu erscheinen.
"Apropos Mahlzeit", griff Ophelia den Faden dankbar auf, als die Tür wieder ins Schloss gefallen war, "Ich ... also wir dachten, du hast vielleicht Hunger." Sie stellte den mitgebrachten Becher auf dem Fensterbrett ab und drückte mit dem Daumen den Deckel ein wenig nach oben, sodass er sich mit einem leichten Stupser würde ganz entfernen lassen. Sogleich erfüllte ein verlockender Duft das Büro, aber Breda hielt sich eisern zurück. Sie trank nicht in der Öffentlichkeit und würde es erst recht nicht vor Ophelia tun.
"Ich habe das natürlich nicht selbst besorgt, aber einer der Kollegen war so nett, kurz bei den Schlachthäusern vorbeizusehen. Es ist zumindest besser als nichts." Ophelia wirkte ein wenig verlegen, doch schien ihr im gleichen Moment aufzugehen, dass ihre rechte Hand nun keine Beschäftigung mehr hatte. In einer Geste, die wohl zufällig anmuten sollte, legte sie sie dann stabilisierend unter ihre geschiente Linke...
Ganz bestimmt lag das nicht in der Absicht der verdeckten Ermittlerin, aber auch dieses Bild löste unweigerlich Erinnerungen in Breda aus, auf welche die Vampirin gern verzichtet hätte. Sie war schließlich bei den letzten Ereignissen im Hause Ascher vor etwa einem Jahr dabei gewesen ... in einer Unmittelbarkeit, die es schwer machte, darin nur eine außer Kontrolle geratene verdeckte Ermittlung zu sehen... Und das hier, wohin sollte das führen? Würde sie später auf diese Begegnung zurückkommen müssen, wenn wieder eine Normalität eingekehrt war? Und verbarg sich hinter der Sorge und dem Mitgefühl der anderen vielleicht auch ein ganz kleiner Vorwurf, dem sich Ophelia selbst nicht einmal bewusst war?
Die Stille wurde zunehmend drückend, doch schließlich atmete die RUMlerin tief durch und trat einige Schritte von der Fensterbank weg.
"Dann lasse ich dich erst einmal in Ruhe essen. Bis später."
Sie ging. Breda blieb zurück. Sie war sich sicher, dass sie sich richtig verhielt. Abstand war das Beste für sie beide und es war wohl schon zu viel Zeit vergangen, um noch etwas daran zu ändern. Abgesehen davon: Menschen konnten niemals eine Konstante im Leben eines Vampirs sein. Wie zur Untermalung ihrer düsteren Gedanken begann in diesem Moment draußen der Donner zu grollen.
***
"Wir haben ein Erpresserschreiben!"
Viele kleine Köpfchen streckten sich unter zusammengefalteten Flügeln hervor und hier und da gähnte eine mit nadelspitzen Zähnen bestückte Schnauze. Ein Erpresserschreiben - und anscheinend war das etwas Gutes. Zumindest schien Mina dieser Ansicht zu sein, triumphierend wedelte sie mit einem wasserfleckigen Stück Papier.
"Grabgut verlangt ein Treffen auf dem wir ... quasi dich wiederbekommen und dafür verlangt er eine Amnestie sowie freies Geleit aus der Stadt. Hätte er wohl gern." Die Vampirin grinste. "Wenn alles gut läuft, bist du heute Abend diese Gestalt wieder los, Mä'äm."
Hoffnung bahnte sich ihren Weg durch Bredas noch verschlafenes Bewusstsein wie ein glühender Funke. Grabgut? Sicher? Andererseits ... wer würde der Wache sonst eine Fledermaus zum Austausch anbieten? Bei dem Chaos auf Vrriyowitschs Hinterhof musste also doch eines der Tiere in eine der Kisten auf dem Karren geraten sein ... und der Bestatter wollte diesen Umstand jetzt offensichtlich als Rettungsring nutzen. Wenn sie den Kerl in die Finger bekam! Erst recht, wenn dieser Vorschlag sich als Hinterhalt entpuppen sollte: Selbst als ein Schwarm sehr kleiner Blutsauger konnte man noch einige unschöne Dinge mit seinem Gegner anstellen. Mittlerweile war sie in genau der richtigen Stimmung dafür ... präziser formuliert seit dem Zeitpunkt, da ihr geplanter nächtlicher Ausflug sprichwörtlich ins Wasser gefallen war. Auch jetzt schüttete es noch in Strömen, doch in der Nacht hatte es ein Gewitter gegeben, dass das Herz eines jeden verrückten Wissenschaftlers hätte höher schlagen lassen - ein Unwetter mit allen Schikanen: Sturm, nahezu waagerechtem Regen, Blitzen im Sekundentakt und einem Donner, als hätten die Götter einen kollektiven Tobsuchtsanfall erlitten. Keine gute Idee, da vor die Tür zu gehen. Sie wollte schließlich nicht noch einen Teil von sich verlieren.
"Der Übergabeort ist übrigens das Bestattungsunternehmen. Anscheinend hofft Grabgut auf einen Heimvorteil", fuhr Mina unterdessen fort, "FROG wird die Einsatzleitung übernehmen, in deren Abteilungsleiterbüro findet gerade die Besprechung statt. Kommst du mi... " Sie brach abrupt ab. Für einen Moment starrte die Vampirin überrascht ins Leere, dann verzog sie das Gesicht.
"Herr Koskaja, raus aus meinem Kopf!"
Die verdeckte Ermittlerin war mit einem Schritt an der Tür und riss sie auf: Davor stand ein etwas verdattert dreinschauender Vampir, die Hand schon zu Klopfen erhoben.
Mina seufzte.
"Ich hoffe jetzt wirklich, dass Sie nicht gelauscht haben", meinte sie mit leicht gereiztem Unterton.
"Ich? Nein!" Oskar gab sich Mühe, Empörung zur Schau zu stellen, aber so ganz wollte es ihm nicht gelingen. "Eigentlich wollte ich mich bedanken. Aber wenn der Zeitpunkt gerade ungünstig ist ..."
"Ist er tatsächlich. Wenn Sie vielleicht morgen noch einmal wiederkommen könnten?"
Breda fiepte bekräftigend. Für Koskaja hatten sie jetzt wirklich keine Zeit.
Dieser merkte nun allerdings sichtbar auf und sah in ihre Richtung.
"Oh, wer ist das denn?", wollte er wissen. "Doch nicht etwa ..."
"Laufende Ermittlungen, Sie verstehen?" Mina schob sich an dem Vampir vorbei, da dieser keinerlei Anstalten machte, sich selbsttätig von der Stelle zu bewegen.
"Äh, ja, natürlich. Ich wollte Ihnen eigentlich nur noch einmal kurz versichern, wie sehr Sie uns geholfen haben", stammelte Oskar und versuchte dabei möglichst viele Silben in einer Sekunde unterzubringen. "Es ist fast alles wieder so, wie es sein sollte und ... außerdem sehr angenehm, dass niemand mehr zerfällt. Also, zumindest nicht bei uns. Wir haben sogar eine extra Gruppensitzung zu dem Thema gehalten."
An diesem Punkt hätte Breda wirklich gern die Augen verdreht, aber irgendwie funktionierte das nicht so richtig, wenn man mehrere nicht-menschliche Körper besaß. Stattdessen erhob sich der Schwarm und entschwebte in den Gang. Oskar duckte sich, als die Fledermäuse knapp über ihm hinwegrauschten.
"Wenn wir Ihnen also auch irgendwann einmal einen Gefallen tun können, dann zögern Sie nicht, uns anzusprechen", fügte er noch eilig hinzu.
"Das ist sehr nett, Herr Koskaja, wenn Sie uns jetzt aber doch entschuldigen würden?" Mina lächelte ungeduldig, aber anscheinend hatte der Schwarzbandler alles gesagt, weswegen er hergekommen war: Mit einem zufriedenen Gesicht zog er ab, während die beiden Wächterinnen nun den Raum mit der Nummer 202 betraten.
***
Ein dichter Vorhang aus vielen kleinen Rinnsalen fiel über die Dachtraufe nach unten in den Hof und nährte dort die stetig größer werdenden Pfützen selbst an Stellen, an denen der Regen nicht mit voller Stärke niedergehen konnte. Es war zwar recht angenehm, dass die Sommersonne auch einmal einen Tag Pause einlegte, aber auf der anderen Seite erschwerte dieses Mistwetter natürlich die Sicht - sowohl für Breda, auf ihrem Beobachtungsposten, als auch für die Kollegen auf der Straße unterhalb davon. Die Vampirin hatte sich hauptsächlich aus zwei Gründen für diese hochgelegene Stelle entschieden: Erstens war es hier halbwegs trocken und zweitens hatte sie - in einem gewissen Maße - den besten Blick über das Geschehen. Außerdem war sie nur schwer angreifbar - eine wohl eher unnötige Variable in der Gleichung, aber Breda wollte lieber auf Nummer sicher gehen. Besonders, da die eine Hälfte von ihr mit der Tageszeit überhaupt nicht einverstanden war und sich der Vampirin so immer wieder das Verlangen aufdrängte, nach einem dunklen Platz zum schlafen zu suchen, einem Mauerloch vielleicht oder einem verlassenen Dachstuhl... Die DOG-Abteilungsleiterin rief sich selbst zur Ordnung. Glücklicherweise würde dieser Zustand nicht mehr lange anhalten und mit einer gewissen Ungeduld beobachtete sie die Vorgänge auf dem Innenhof unter sich: Die FROGs hielten sich noch unauffällig am Zugang zur Straße auf; nur die Püschologin Nyvania stapfte durch den Regen auf der Suche nach einer geeigneten Position und schüttelte dabei immer wieder Wasser aus ihrer Flüstertüte. Von Grabgut selbst hatte es noch kein Zeichen gegeben, aber das dieser sich freiwillig auf dem Präsentierteller liefern würde, war sowieso nicht anzunehmen gewesen.
Jetzt begannen die Wächter, langsam vorzurücken - die leichten Armbrustschützen van Varwald und Angelhart suchten hinter einigen Kistenstapeln nahe des Hintereingangs Deckung, während auf dem Dach zu Bredas Rechten ein Gefreiter seine Spezialwaffe bereit machte - selbst von hier konnte sie die leise Diskussion zwischen dem Triffinsziel und seinem Ferndämon wahrnehmen.
Abteilungsleiterin Kanndra Mambosamba hatte sich unterdessen bei der FROG-Püschologin aufgestellt und wartete, bis ihre Leute in Position waren. Gleichzeitig spürte Breda im Haus unter sich die Gegenwart eines lebenden Wesens und gleichzeitig wurde der Fleck am Rande ihres Bewusstseins deutlicher. Ja, wenn sie sich nur ein wenig mehr darauf konzentrierte konnte die Vampirin sogar ausmachen, wie weit dieser Punkt noch von ihr entfernt war - gerade kam er in dem Raum unter dem Dach an und hielt dann inne, während sich die lebende Begleitung vorsichtig dem Fenster zum Innenhof näherte. Sollte sie versuchen, den Kollegen ein Zeichen zu geben? Während Breda noch überlegte, ob dies überhaupt zu bewerkstelligen war, streifte noch etwas anderes ihre Wahrnehmung. Doch diesmal ließ es sie frösteln. Normalerweise standen ihr in Fledermausgestalt nicht die gleichen mentalen Möglichkeiten zur Verfügung wie als richtiger Vampir, aber jetzt fühlte sie regelrecht das Anwachsen einer bedrohliche Präsenz - kalt und klar und unsagbar wütend. Eine solche Intensität ließ es unmöglich erscheinen, dass die Wächter unten auf dem Hof nichts davon bemerken sollten, egal welcher Spezies sie angehörten...
"Edmund Grabgut, hier spricht die Stadtwache Ankh-Morpork!" Nyvanias Stimme schallte laut und deutlich über den Hof. Doch bevor sie auch nur ein weiteres Wort sagen konnte, erklang ein bestialisches Fauchen, gefolgt von einem erstickten Schrei; Glas splitterte und eine Gestalt stürzte direkt unter Breda in die Tiefe. Wie ein nasser Sack schlug sie nach einigen Metern auf dem Boden auf und rührte sich nicht mehr. Ja, es war abgesprochen gewesen, dass sie bei dieser Aktion nur eine beobachtende Rolle einnahm, aber verdammt noch mal, sie war hier schließlich die Geisel!
Begleitet von den aufgeregten Stimmen der FROG-Wächter warf sich Breda hinaus in den Regen und flog in einer scharfen Kurve durch das zerbrochene Fenster ins Innere des Gebäudes. Für den Bruchteil einer Sekunde war ihr, als würde sie einen roten Haarschopf die Treppe hinunter verschwinden sehen, aber ganz sicher war sie sich da nicht... Dann entdeckte die Vampirin die kleine Kiste in einer Ecke des Raumes. Bredas Fledermäuse stießen ein lautstarkes Fiepen aus und als Antwort begann es in dem hölzernen Behältnis verzweifelt zu kratzen und zu klappern. Zutiefst erleichtert ließ sich Breda ein Stück nach unten sinken - nur um erkennen zu müssen, dass sich ihr noch immer ein letztes Hindernis in den Weg stellte: Der Mistkerl hatte die Kiste zugenagelt! Da kam sie allein nicht hinein! Frustriert fauchend drehte der Schwarm Runde um Runde durch den Raum - am Ende mit den Nerven sowie jeglicher Geduld! Was machten die Kollegen da unten eigentlich noch, sie würden sie doch nicht etwa vergessen habe! Doch nur wenige Augenblicke später wurden unten im Haus Stimmen laut und polternde Schritte kamen die Stufen hinauf. Na endlich! Blieb nur noch zu hoffen, dass der- oder diejenige auch ein Brecheisen dabei hatte!
***
Im Nachhinein ließen sich die Vorgänge dieses Tages nur noch teilweise rekonstruieren - zu viele Einzelheiten blieben ungeklärt und die dazu aufgestellten Theorien würden zum jetzigen Zeitpunkt nicht nachweisbar sein. Zum einen ließ sich nicht mehr feststellen, ob Edmund Grabgut schon tot gewesen war, als sein Schädel auf dem Kopfsteinpflaster zerschmetterte: SUSI war sich nach der Untersuchung des Tatortes zwar sicher, dass ihn jemand aus dem Fenster gestoßen haben musste, doch fehlte von diesem Jemand jede Spur. Und zum anderen war man sich uneinig, wie der Inhalt des Erpresserschreibens, welches den Treffpunkt nannte, an jemanden außerhalb der Wache gelangt sein konnte. Wie schon erwähnt, es gab Theorien ... und Breda hatte ihre eigene: Ob absichtlich oder nicht, Oskar Koskaja hatte bei seinem letzten Besuch am Pseudopolisplatz wohl doch einiges aufgeschnappt und bei der quasi nicht vorhandenen mentalen Barriere dieses Vampirs, konnte jeder andere, der sich ein bisschen geschickt anstellte, in seinem Kopf lesen wie in einem offenen Buch. Es war sogar denkbar, dass Koskaja dies nicht einmal bemerken würde. Und wenn Breda an die roten Haare dachte, die sie zu sehen geglaubt hatte ... dann lag der Verdacht nahe, dass Valerie Vrriyowitsch diejenige gewesen war, die sich die nötigen Informationen beschafft und dann Vampirgerechtigkeit geübt hatte - Auge um Auge, Opfer für Opfer. Verhören konnte man sie allerdings nicht mehr: Die Schwarzbandlerin und ihr Bruder Peter waren seit der fraglichen Nacht wie vom Erdboden verschluckt.
Doch ob Valerie oder jeder andere Vampir, der durch Grabgut einen Angehörigen verloren hatte -
denn es war wohl ziemlich naiv anzunehmen, derartige Dinge hätten sich nur im Schweinefußweg abgespielt: Der Vorfall hatte dazu geführt, dass man über die Motive des Bestatters selbst nur spekulieren konnte. Und gab es noch eine andere Quelle oder war er selbst der Hersteller des Heilmittels gewesen? Man konnte eigentlich nur hoffen, es mit einem einmaligen Fall zu tun gehabt zu haben und es keine weiteren Aschehaufen geben würde, die darauf zurückzuführen waren...
Breda schüttelte den Kopf und es tat gut, dabei wieder nur über einen einzigen zu verfügen. Sie hatte keine große Lust, sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen, ebenso wenig wie über die Frage, aus was die ominöse Flüssigkeit nun eigentlich bestanden hatte: Die Analyse hatte als Hauptingredienzien das schon vermutete Blut, aber auch Knoblauch und Wasser ergeben und Breda hätte ihren Arm darauf verwettet, dass letzteres geheiligt gewesen war. Wodurch sich allerdings der spezielle Geruch erklärte und ob es noch irgendwelche anderen Stoffe gegeben hatte, die eine Wiederbelebung zu einem späteren Zeitpunkt verhinderten - um das herauszufinden war die Probe einfach zu klein gewesen.
Das war es dann also. Breda schloss die Augen und genoss für einen Augenblick den kühlen Nachtwind auf ihrem Gesicht. Natürlich wartete Arbeit auf sie, aber diesen Spaziergang hatte sie einfach gebraucht, allein mit sich selbst, um die Gedanken zu ordnen und den Fall innerlich abzuhaken. Berufliche Neugier war das eine - dass es besser war, manche Sache zu den Akten zu legen etwas anderes. Wahrscheinlich auch gesünder.
Ein paar Häuser weiter leuchteten ihr schon die Lichter des Boucherie Rouge entgegen. Sie würde sich in ihrem Büro einschließen, zwölf Stunden durchschlafen, vielleicht auch noch die Nacht danach und für eine Weile vergessen, dass es die letzten Tage überhaupt gegeben hatte. Ja, das klang gut.
***
Zur selben Zeit, am Mittwärtigen Tor:
Ankh-Morpork schlief nicht. Selbst zu dieser späten Stunden stand eine schwer zu schätzende Anzahl an Fuhrwerken hintereinander und anscheinend konnte man es gar nicht erwarten, die Stadt zu verlassen. In gewissen Punkten nachvollziehbar. Nur, dass die Kutscher vor und hinter ihm wohl in ein paar Stunden zurückkehren würden, voll beladen, um Profit zu machen. Nun, darin unterschieden sie sich - er hatte seinen Chance schon gehabt und für dieses Mal war er gescheitert. Das kam vor, war aber kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. Es gab schließlich noch viele Orte auf der Scheibe, an denen weitere Geschäfte warteten; neue Kundschaft, die eine vollkommen andere Palette an Möglichkeiten offenbarte ... und ob diese immer ganz legal waren kam wohl auf den Standpunkt des Betrachters an. Allerdings bedauerte er doch ein klein wenig, schon so früh wieder aus Ankh-Morpork abreisen zu müssen - das hier hätte etwas Großes werden können, wenn es nur ein wenig mehr Zeit gehabt hätte, sich zu entfalten. Er hielt die Idee immer noch für gut. Aber so waren eben die Spielregeln und er war ein Mann der wusste, wann es besser war, auszusteigen. Vielleicht war die Welt auch einfach noch nicht bereit für seine genialeren Vorhaben. Er würde ihr Zeit geben, sich darauf vorzubereiten.
Ein leises Klirren ertönte, als die Kutsche wieder anfuhr und das Mittwärtigen Tor endgültig passierte. Mit dem Fuß schob er den Kasten mit den Fläschchen noch ein Stück tiefer unter die Sitzbank. Zunächst hieß es also sich in Geduld zu üben und ausreichend Gras über die Sache wachsen zu lassen. Doch irgendwann würde die Zeit reif für einen neuen Versuch sein...
[1] siehe Bredas Single: "Junges Blut"
[2] siehe Ophelias Single: "Opfer"
Zählt als Patch-Mission für den Verdeckte Ermittlerin-Patch.
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