Püschologen wissen das

Bisher hat keiner bewertet.

von Oberfeldwebel Rib (FROG)
Online seit 01. 05. 2011
PDF-Version

 Außerdem kommen vor: KanndraRogi FeinstichValdimier van Varwald

Wie von mir gewünscht, ein normaler Fall. Keine Träumereien, keine Hypnose, keine Moralpredigt. Einfach nur ein Fall, wie ihn die FROGS und ihre rundweltlichen Entsprechungen heutzutage erleben könnten. Er beginnt dort, wo das Herz der großen Stadt schlägt...

Dafür vergebene Note: 12

"Nieder mit dem Patrizier! Weg mit der Steuer! " stand auf dem Schild. Sein Träger rief wiederholt Parolen, die sich um finanzielle Depressionen drehten, wobei nicht ganz deutlich wurde, ob er damit den Finanzmarkt oder sich selbst meinte. Vielleicht, vermutete Rib, war auch beides gemeint.
Der Wächter schüttelte den Kopf. Bisher war es ein schöner Tag gewesen, denn zum ersten Mal nach einem langen, harten Winter war er heute in der Lage gewesen, seinen Kilt anzuziehen, ohne sich zu fragen, wie kalt es denn werden würde.[1] Heute dagegen brannte die Sonne, was Menschen, wie der Kobold in der Vergangenheit immer wieder beobachtet hatte, zu zwei spontanen Verhaltensweisen anregte: Die erste war, jetzt, wo es an Hitze nicht mangelte, ein Feuer anzuzünden und sich darum zu versammeln.
Der gemeine Bürger, Rib liebte diesen Ausdruck, hatte sich für die zweite Möglichkeit entschieden und ging nach draußen, sobald er etwas gefunden hatte, das seinen Aufenthalt in den bräunenden Lichtstrahlen rechtfertigte. Und so ein Verhalten, fand der Wächter, konnte einem so richtig den Tag verderben.
Der Pseudopolisplatz war überfüllt wie an jedem Tag. Händler an unscheinbaren Ständen, die von Gemüse bis Teppichen quasi alles verkauften, wetteiferten schreiend um Schaulustige, die wiederum scheinbar uninteressiert abwarteten, bis die ausgerufenen Preise ins Bodenlose fallen würden. Denn manch eine Händlerstimme bekam dabei einen geradezu nervtötend-verzweifelten Klang, wann immer ein potentieller Kunde vorbeizog und die Auslagen nicht mit Cent und Dollar zu würdigen wusste. Immer öfter tauchte das Wort "Sonderangebot" auf, das wie eine Art Sesam-öffne-dich auf die verschlossenen Geldbörsen wirken sollte, aber es nicht tat. Auch das Mantra "Zwei zum Preis von einem" war zu hören, in Zahlenvarianten, die teilweise höher waren, als die meisten Mitbürger zu zählen bereit waren. [2] Dennoch lief der Verkauf eher schleppend. Es schien, als hätte die Sonne auch die Geldbörsen ausgetrocknet. Es war also ein Pulk eng zusammengepferchter Menschen. Jeder hatte seine Träume, seine Vorstellungen und seine Gründe, hier zu sein. Und alle huschten hin und her, wobei jeder einzelne Schritt Staub aufwirbelte..
Der Kobold hustete in ein Taschentuch. Er versuchte nicht daran zu denken, aus was dieser Staub bestand, der auf seiner Haut und in seinen Lungen festsetzte. Immerhin hatte Ankh-Morpork keine Kanalisation. Es hatte Nachteile, nur einen Dezimeter groß zu sein. An solchen Tagen sah man die Hand vor Augen kaum und musste dementsprechend schnell sein, wenn plötzlich eine Schuhsohle sich am Himmel abzeichnete. Mit anderen Worten: Es war scheußlich.
Rib versuchte das Schild nicht aus den Augen zu verlieren, das der Anlass dafür war, dass er als FROG hier inmitten dieses Chaos stand. Normalerweise war für solche Patrouillen eher irgendein Wächter der SEALS zuständig. Aber leider, wenn man sich der Meinung eines winzigen Wächters anschließe möchte, war dies keine normale Streife. Hier wurde DEMONSTRIERT.
"Demonstrare", dachte der Rib fast wie im Reflex, "jemandem etwas zeigen oder etwas lehren."
Der Exmagikexperte grinste. So hatte sich das Büffeln alter, fremder Sprachen doch noch gelohnt, selbst wenn es damals seinen eigentlichen Zweck, des Kobolds Rückverwandelung nicht erfüllt hatte.
Trotzdem: Sollte einmal der Notfall auftauchen, das FROG mit einem Wesen verhandeln musste, das tausende von Jahren alt war und trotzdem keine Zeit gefunden hatte, eine moderne Sprache zu lernen... er wäre bereit.
Rib stutzte kurz. SO unwahrscheinlich war das auf der Scheibenwelt eigentlich nicht. Da waren schon ungewöhnlichere Dinge geschehen. Rib zuckte mit den Schultern. Notfalls gab es ja noch die Faust.
Der Wächter konzentrierte sich wieder auf das Schild, während ihm das Wort Demonstare weiterhin durch seine Gehirnwindungen zog, in der Hoffnung sich einem Ohrwurm gleich dort dauerhaft niederzusetzen.
"Das einzige, was Kerle wie dieser uns zeigen und lehren, das ist, wie erbärmlich sie sind," murmelte er leise. "Junge, wach auf. Wenn du deine Ausgaben senken willst, dann leb' vernünftiger. Gib einfach deine Vorliebe für Frittiertes in jedweiger Form auf. "
Pustelsteuer. Rib seufzte. Es ging um eine verdammte Pickelsteuer, oder wie es im Amtsdeutsch hieß: Eine Mehrwertsteuer für hygienebedingte Luxusartikel. Was im Falle des Schildträgers, bei dem ein hervorstechender Bauch und eine unreine Gesichtshaut sich um den höheren Fettanteil prügelten, vor allem die tägliche Aknecreme betraf.
Rib war sich sicher, das der Patrizier genau das beabsichtigt hatte. Der oberste Dienstherr hatte in der Vergangenheit eine seltsame Vorliebe dafür entwickelt, Unruhen gegen die Regierung der Stadt, also sich selbst, zu schüren. Fand man dann heraus, wer die Rädelsführer dieser Proteste waren, wurden sie nicht bestraft, im Gegenteil. Vetenari hatte kein Interesse an Verschwendung. Er gab ihnen ein Amt und die Gelegenheit es besser zu machen. Und Jahre später, nach endlosen Kämpfen gegen Gildenproteste und Bürgerbegehren, fragten sich die Revolutionäre, wo ihr Leben geblieben war und sie die falsche Ausfahrt genommen hatten. Und wo fand man leichter angehende Revoluti...
Rib kam nicht dazu, den Gedanken fortzusetzen. Es gab einen Knall und eine Druckwelle warf ihn zu Boden. Alles wurde schwarz.

***


Das erste, was ein Püschologe verstehen muss, ist dies: Ob man Mensch, Kobold oder Zwerg ist, ab dem ersten Zeitpunkt, wo man das Leben zu begreifen beginnt, wird man belogen. Man soll nicht in Angst leben und so bauen die, denen man besonders vertraut, möglichst frühzeitig ein Märchenschloss auf, dessen Stützpfeiler Unwahrheiten sind. Vater, Mutter, Onkeln, Tante, Freunde... Sie alle machen mit. Die Glücklichen unter uns lernen nie sie zu durchschauen und verbringen ihre Tage in einer Welt, der eine rosarote Grundierung zugrunde liegt. Die anderen, vom Schicksal weniger behüteten von uns, müssen irgendwann begreifen, das dieses Rosa nichts anderes ist als ein Blutrot, das durch den Zuckerguss, den man uns verpasste, nur einen weißlichen Stich bekommen hat. Denn dies ist die erste Lüge die wir lernen: Dass die Welt ein behüteter, friedlicher Ort ist.
Jeder von uns versucht von dieser Lüge zu bewahren, was zu retten ist. Stück für Stück, Tag um Tag. Weil wir die Alternative fürchten.

***


Valdimir blickte, die beiden Armbrüste pflichtgemäß gespannt, aus dem Fenster ihres Büros auf den Zug der Protestierenden. Der Zug wirkte eher etwas mickrig, fand der Vampir. Seiner Meinung nach machte das die Anweisung an alle Schützen, jederzeit einsatzbereit zu sein etwas sinnlos. Er war sich nicht mal sicher, ob der Ausdruck MENGE überhaupt in einem so kleinen Zahlenbereich Geltung hatte. Der ganze Auftrag war ein Witz, dieses Grüppchen da unten bemühte sich nicht mal, wie VIELE zu wirken.
Vald schüttelte den Kopf. Normalerweise wurde mangelnde Teilnahme dadurch verschleiert, indem man sich entweder einen sowieso belebten Platz aussuchte oder indem einfach immer in einem geschlossenen Wanderkreis ging. Hier aber hatte irgendein Neunmalkluger versucht, beides zu kombinieren und das ging gründlich schief: Aufgrund der Menschenmenge, die immer wieder im Weg stand, war der Kreis zu etwas verkommen, dass bestenfalls an eine Polonaise erinnerte, wie sie meist auf Firmenfeiern stattfand, wenn Alkohol normales Tanzen zu kompliziert erscheinen ließ.
Aber trotz der geringen Teilnehmerzahl schienen sich nicht nur die Studierenden der Unsichtbaren Universität für Vetenaris Steuerpolitik zu interessieren. Sogar eine Hexe, deutlich erkennbar an dem Hut, hatte sich dem Zug angeschlossen. Mit schlechter schauspielerischer Leistung stellte sie immer wieder den riesigen Reisighaufen ab, den sie aus Tarnungszwecken trug.
Vald runzelte die Stirn und versuchte das Gesicht der Hexe zu erkennen, was ihm aber dank der breiten Hutkrempe ihres Hutes misslang. Irgendein stiller Alarm klingelte in seinem Kopf. Aber diese Ich-bin-nur-eine-einfache-Kräuterfrau-Methode war dem Schützen seit je her suspekt gewesen.
Plötzliche Lichtblitze rissen Vald aus seinen Überlegungen. Rogi Feinstich, FROGS Kommunikationsexpertin, versuchte ihm vom gegenüberliegenden Dach etwas mitzuteilen.
"Allef ruhig hier." meldeten die Signale. "Auch bei Carifa ift..."
Was immer auch bei Carisa war, es hatte seinen Sinn als Nachricht in diesem Moment verloren. Die Zeichen von Rogis Handspiegel gingen in einem Meer von Licht unter. Ein Beben der Luft warf ihn zurück, gleichzeitig donnerte es, als wären 1000 Götter gleichzeitig wütend geworden. Vald krabbelte auf allen vieren zum Fenster und blickte vorsichtig über den Sims. Die Mitte des Pseudopolisplatzes war leer , ein kreisrunder Fleck, dessen Zentrum ungefähr dort befand, wo die Trägerin des Hexenhutes sich befunden hatte. Was immer sich in ihrem Reisig befunden hatte, es hatte sich schlagartig Platz geschaffen. Und sein Druck hatte Melonen, frische Fische und Gliedmaßen mit sich gerissen. Aus einem geschäftigem Treiben war inzwischen ein hysterisches Schreien geworden. Vald fluchte. Er hätte auf seinen Bauch hören sollen. Dann, wie ein Erwachen, erreichte den Vampir erst das Wesen dessen, was wirklich passiert war. Er fluchte sprang schnell auf und rannte los.

Als Vald unten ankam, war Rogi kurz davor sich auf eine handfeste Schlägerei mit ihren Kollegen einzulassen. Sowohl auf Tyros, wie auf Steffans Wange zeichnete sich jedenfalls mehr Finger ab als nötig.
"Was ist hier los?" verlangte der Vampir zu wissen. Langsam begann sich seine Nase mit einem Geruch zu füllen, der eindeutig ungesund roch. Und der nach mehr verlangte. Vald versuchte das mit Überheblichkeit zu überspielen. Doch der Geruch spielte mit ihm, tanzte für ihn, umgarnte ihn. Aber dennoch hatte er ein Auge fürs Detail. Rogi trug das, was sie ihre Erste-Hilfe-Tasche nannte. Sie war ein Igor, sie musste einfach los. Retten, wer zu retten war, und ernten, wer geerntet werden wollte. Das war das Leben der Igor, mehr noch als jeder Dienst an einem HERRN. Auf unbestimmte Weisen war es ihr Daseinszweck.
'Ich will lof!' sagten ihre Augen.
'Noch nicht.' antworteten seine. 'Du kennst die Regeln. Erst geben die Alchemiker das Gelände frei.'
'Aber sie sterben! Jede Sekunde.'
'Ja. Und du hältst einen von unseren einzigen vollausgebildeten Alchemiker davon ab, das Gebiet zu überprüfen.'
Rogi erschlaffte, gab damit ihr Einverständnis.
Vald wandte sich an Tyros: "Mach schnell. Arbeite sorgfältig."
Tyr grunzte abfällig. Als ob er nicht wüsste, was er zu tun hätte.
Er nickte seinem Auzubi Norti zu. Langsam aber vorsichtig gingen sie auf das Schlachtfeld, vorsichtig bei jedem Schritt. Denn irgendwo, zwischen all jenen, die bettelten, wimmerten oder hysterisch schrien, konnte die Bombe liegen, die auf die nachrückenden Helfer wartete.
Wer stark genug war, musste warten, bis die beiden fertig waren. Und für den Rest, auch wenn er jetzt noch am Leben war, kam leider jede Hilfe zu spät.
Mit Tränen in den Augen drehte Tyr einen Verletzten vorsichtig um. Ein Stück Holz hatte sich in den Bauch gebohrt. Norti packte den Verletzten bei den Armen und zog ihn zu Rogi hin.
"Halt ftill." murmelte sie leise dem Leidenen zu. "Waf jetft kommt, tut nur ein bifchen weh."
Und damit packte sie das Holz. Vald schloss die Augen. Irgendwie erinnerten ihn diese Worte an etwas, was seine Mutter immer gesagt hatte.

Tage später. Kanndra holte tief Luft, bevor sie den Vorhang hob, der das Notlazarett von der Außenwelt abschirmte. Der ganze Platz davor wirkte wie ein Hindernisparcours, so viele Gaben waren vor dem Zelt aufgestellt worden, für jene, die es nicht geschafft hatten. Zettel, Teddybären und auch Abbildungen der dunklen Zwillingsschwester der Seelenkuchenente, die schwarze Trauerente, waren zu hunderten hier abgelegt worden, oft von Leuten, die nicht mal die Namen der Opfer kannten. Sie sahen die Opfer als ein Symbol, dem man ein eigenes entgegensetzen musste. Aber deswegen war sie nicht hier. Sie wollte einen Kollegen besuchen: Oberfeldfebel Rib MacLaut hatte sich, obwohl schwer verletzt, geweigert, die anderen Verwundeten und Sterbenden zu verlassen, indem er zur besseren Versorgung ins Wachehaus umzog. Püschologie nannte er das und Niv, seine Kollegin stimmte ihm zu. Für den Bürger sollte nicht der Eindruck entstehen, als ließe man sie hilflos in schlechteren Händen zurück. Und Sanitäter wie Rogi hatten hier in dem notdürftig aufgebauten Zelt genug zu tun. Außerdem, hatte der Kobold gemeint, sei er gar nicht so schwer verletzt.
Sie trat ein und begann, die Betten abzuschreiten, ohne zu sehr auf den Zustand jener zu achten, die in in ihnen lagen. Das war die Person, deretwegen sie hier war. Aber das gelang ihr nicht ganz. Ein süßlicher, eisenhaltiger Geruch erfüllte die Luft ebenso wie ein beständiges leises, aber vielstimmiges Wimmern, das die Luft erfüllte. Es zerriss ihr das Herz, aber sie wusste, das ein FROG lernen musste, mit solchen Geräuschen zu leben... auch wenn er Zeit seines Lebens nachts hochschrecken würde, schweißgebadet und mit den gleichen ewig erklingenden Stimmen im Ohr.
Endlich, nach einer fühlbaren Ewigkeit kam sie an dem Ort an, Reihe sechs, Bett sieben, aus einer Zigarrenkiste gebaut. Rib's Bett, er schlief. Kommandant Bregs hockte neben dem Bett. Kanndra nickte ihm zu. Einmal ein FROG, immer ein FROG. Auch wenn Bregs nicht mehr offiziell einer der Ihren gewesen wäre, er hätte es sich nicht nehmen lassen, täglich einen Kranken Kollegen zu besuchen. Ob hier im Notlager oder einem besseren Bett in der Wache selbst, man kümmerte sich um einander.
Bregs schaute hoch und öffnete seine Hand, so dass Kandra das kleine Buch sehen konnte, das da drin verborgen gewesen war.
"Ein Aussprachenhandbuch für Klatschianisch," meinte der Kommandant. "Anscheinend hasst es der Kleine, untätig herumzu liegen."
Er blickte über die ganzen Betten, erfasste all den Schmerz und fand eine Entsprechung in seinem Inneren. "Seltsam." murmelte er. "Ich hätte angenommen, das er ein bisschen auf leidend macht. Bei all den Krankenschwestern hier..."
Kanndra lächelte leicht. Bregs wusste als Püschologe ebenso gut wie sie selbst, das ein Kobold niemals in Gegenwart einer Frau schwach erscheinen will. Nur Stärke und Zähigkeit wurden bei Männern geachtet und durch Auswahl vererbt. Hilflosigkeit war kein Zug den man an fünfhundert Nachkommen zugleich sehen will.
So wie sie Rib kannte, hatte er sogar dieses Buch versteckt, nur um nicht in den Verdacht zu kommen, zu intellektuell zu sein.
Aber es tat gut, nach dem Schrecken zu lächeln, selbst wenn der Witz schlecht und das Lächeln gezwungen war. Es bedeute, das Heilung möglich war und auch die Seele fähig war, sich zu regenerieren.
Der Kommandant sah sie an: "Ich werde FROG nicht dadurch beschämen, das ich einer anderen Abteilung die Aufgabe übertrage. Aber ich will keine Blutrache sehen."
Bregs nickte, mehr zu sich selbst. Alles schien gesagt. Er richtete sich zu seiner ganzen Größe wieder auf und schickte sich an zu gehen. Kanndra sah ihm nach bis er das Zelt verlassen hatte. Dabei registrierte sie, dass der Kommandant das Buch mitgenommen hatte. 'Wahrscheinlich', dachte sie bei sich, 'um Rib zu zeigen, dass er sich doch etwas schonen sollte. Immerhin ist er kein Untoter mehr.'
Bregs war noch nie ein Mann großer Worte gewesen.
"Kanndra?" fragte ein leises Stimmchen, "Bist du das?"
Für einen Moment fragte sich die Abteilungsleiterin, WO alles Rib verletzt worden ist, das er mit einer so hohen Fistelstimme sprach. Dann drehte sie den Kopf und schaute auf das Nachbarbett.
"Hallo, Leila." antwortete sie. "Ich frage mich immer, wie du das machst."
Sie versuchte ihrer Stimme trotz des Kloßes in ihrem Hals einen fröhlichen Klang zu geben. Leila, Rib's Bettnachbarin, sollte nicht merken, was Kanndra bei ihrem Anblick empfand.Sie war eine Gnomin, nur wenige Wochen alt, was sie bei diesem schnell wachsenden Volk ungefähr vergleichbar mit einem zwölfjährigem Mädchen machte. Aber auch erwachsen wäre sie kleiner und schwächer als der Wächter gewesen. Und im Gegensatz zu Rib war sie auch näher an der Explosion gewesen, hatte mehr abbekommen, an Druck und auch an Licht. Ein Stück Stoff schonte jetzt die kindlichen Augen.
"Oh, du riechst irgendwie anders. Irgendwie... militärisch. Und nach frischem Stiefelfett," die Gnomin lächelte. Leilas Mundwinkel zuckten dabei nur leicht, aber Kanndra bemerkte es. Ein weiteres Zeichen, das Leila mehr wehtat, als sie zugeben wollte. Ein Kobold kennt keinen Schmerz hatte Rib ihr erzählt. Und auch wenn er damit sich meinte und kein kleines Mädchen, hätte sie beschlossen, es ihm gleich zu tun.
Wie sonst hatte sie Kanndra stolz erklärt, soll man sein Leben leben? Wie könne man aufstehen, wenn man hingefallen war, wenn man nicht in der Lage war, einfach die Zähne zusammen zu beißen und trotzdem weitermachen?
Kanndra nickte. Wie sonst? Tapferes kleines Mädchen. In den letzten zwei Tagen, seit dem Anschlag, war sie ihr irgendwie ans Herz gewachsen.
"Wie geht es dir?" fragte die Wächterin. "Hast du alles?"
"Ja, danke." nickte Leila. Die schnelle Bewegung verursachte ein weiteres Zucken. "Das neue Bett ist toll. Danke."
"Keine Ursache. Ich war sowieso dabei, mir den Tee abzugewöhnen."
"Tee?" fragte Leila.
Kanndra überlegte, wie sie ihr das verdeutlichen sollte. Als elternloses Kind aus den Schatten hatte Leila anscheinend von Tee noch nichts gehört. Er wurde ja auch selten von den kleinen Wesen getrunken, da das Kochen solch geringer Portionen meist zu mühsam erschien.
"Ein Getränk", versuchte sie zu erklären. "Man streut Blätter einer bestimmten Pflanze in ein Metallgefäß mit Löchern und hält dieses dann in kochendes Wasser. Die Kräuter geben dem Wasser einen anderen Geschmack."
"Kräuter?" fragte Leila. "Ich liege in einem Behälter für Kräuter?"
Kanndra nickte, bis ihr einfiel, das dieses Zeichen gar nicht gesehen werden konnte.
"Ja." sagte sie.
"Oh", stellte Leila erfreut fest, "daher riecht mein Bett so gut."
Kanndra lächelte.
"Rogi sagt", erzählte sie der Gnomin, "dass ihr beiden gute Fortschritte macht. Ich habe gestern abend mit ihr gesprochen. Vielleicht bekommst du morgen die Augenbinde ab."
"Das wäre fein." seufzte Leila. "Ich will nicht meckern, aber es ist hier doch etwas laaaaangweilig."
Dem letzten Wort versuchte sie einen niedlichen Unterton zu geben.
Kanndra zuckte mit den Schultern und ärgerte sich gleichzeitig. Immer diese Gesten, die das Mädchen gar nicht sehen konnte.
"Ich muss jetzt gehen. Böse Buben jagen." erklärte die Abteilungsleiterin. "Aber ich komme wieder. Morgen. Versprochen."
Noch bevor sie aufstehen konnte, stoppte Leilas helle Stimme sie.
"Kanndra?"
"Ja?"
"Pusten." Leila reckte ihr den verbundenen Armstumpf, der vor drei Tagen noch ein rechter Arm gewesen war, entgegen.
Kanndra schluckte leise und hauchte dann ganz sanft darauf.
Dann erhob sie sich und ging in Richtung Ausgang. Es war seltsam, welche Wirkung dieses Lager auf sie hatte. Traurig war sie gekommen. Wütend ging sie wieder.
Am Ausgang selbst dreht sie sich noch einmal um und blickte auf Leila und ihr halbes Tee-Ei zurück. Böse Buben würde sie jagen gehen, hatte sie Leila gesagt. Das würde sie tun. Und wehe denen, die sie finden würde.

***


Rituale, weiß der Püschologe, bestimmen unser ganzes Leben. Meist haben sie, entgegen der Durchschnittserwartung, keinen religiösen Charakter, sondern eine ordnende Funktion und helfen uns, schnell Entscheidungen zu treffen, ohne immer wieder neu eine gleiche Situation bewerten zu müssen. Das Decken des gemeinsamen Frühstücktisches funktioniert oft so. Alles an seinen Platz, ohne nachzudenken.
Andere, ein geschwenktes Weihrauchfaß zum Beispiel sind zu Symbolen verkommen, deren Sinn sich kaum einem Fachmann erschließt.
Rituale haben etwas tröstliches, nicht nur weil sie Stabilität in eine Welt bringen, deren Grundmechanismus zufällig, fast prinziplos erscheint, legt man ihm keine ordnende Hand zugrunde. In der Medizin, weiß der Püschologe, ist es oft das Ritual das heilt. Nicht die Pille, sondern das Ritual des Einnehmens heilt, egal wie sinnlos der Heilungsversuch an sich ist. Es ist, als ob der Körper auf einen Vorteil hin getrimmt worden wäre, der darin besteht würde, an etwas zu glauben.
Wir alle, jeder von uns, bekommen diese Wahrheit schon als Kind zu spüren, wenn die Lüge die Realität besiegt, indem eines Erwachsenen Atemhauch den Schmerz besiegt.

***


'Gib auf.' mahnte die alte, vertraute Stimme in ihrem Schädel. 'So ist das halt. Mal verliert man, und mal gewinnen die anderen.'
'Still, Bartholomeus!' raunte sie sich selber zu. Es war auch ohne seine ewigen Kommentare schwer genug. Kurz nach dem Knall hatte sie den SEALS geholfen, den Ort abzusichern, Schaulustige und Schlimmeres von den Verletzten abzuhalten. Nichts war Schlimmer als diese Aasgeier, die vor Lebenden und Toten nicht zurückschreckten. Münzensammler verniedlichte der Volksmund sie. Leichenfledderer. Ekelhaft.
Aber was sie hier las, war Münzsammeln im großen Stil. Hier ging es nicht um einen Möchtegern-Kriminellen, der alles zugab, nur um fünfzehn Minuten Ruhm ein zu heimsen. Die Schreiber dieser Briefe wollten die Todesfälle selber fleddern und ihren Tod für die eigene Sache ausschlachten. Rationale Bewegung, Heiliger Erstschlag, Männer für Prostatakrebs. Die Namen der Gruppen waren vielfältig, so vielfältig wie ihre Ziele auf einen ersten Blick erschienen. Doch im Endeffekt kam es immer auf dasselbe heraus. Wer nicht wie wir ist, ist gegen uns. Und sie schämten sich nicht fremde Taten zu nutzen.
'Hörst du dich manchmal auch selber reden?' hörte sie ihre innere Stimme sagen.
Niv nickte. So schwer es ihr fiel, das zuzugeben: Bartholomeus hatte Recht. Ausnahmsweise.
Es ging hier nicht darum, dass die Täter lieber ihre Taten selbst begehen sollten. Was die Püschologin nicht verstehen konnte, das war, wie jemand etwas, das so pervers, so abartig ist, so sehr mit Stolz erfüllen kann, dass er eine solche Untat sein eigen nennen wollte. Dass eine Organisation, eine ganze Ansammlung von Menschen, die Mühe sich machte, sogar schriftlich zu lügen, nur damit eine Chance bestehen konnte, dass ihr Name für immer mit etwas so Unglaublichem verbunden würde. Wer konnte solch eine Form der Ewigkeit anstreben? Zeit, Anna Lühses Analysen zu befragen. Niv schlug ihr Buch "Püschologie für Anfänger und Fortgeschrittene" bei dem Kapitel Soziopathen auf. Sie legte die Briefe neben das Buch. Nun würde sie sich Zeile für Zeile durchgehen und Annas Schrift würde ihr einen Hinweis geben, wo welcher Satz verräterisch sein würde. Welchen Zeugen man glauben konnte, wenn sich welche widersprachen.
Niv glaubte an Wissenschaft.

"Kaum eine Woche ist seitdem vergangen. Der Rest ist schnell erzählt. Niv fand unter den Zeugenaussagen mehrere, die sich langsam zu einem festen Bild zusammenfügten. Die Frau mit dem Hexenhut war wegen ihres Geschlechts an der Unsichtbaren Universität abgelehnt worden. Aber jemand hatte sie erkannt. Andere Zeugen bestätigten eines der Bekennerschreiben, die von der sogenannten "weiblichen Zaubererfront" kurz "WeZeteF" genannt, ausgingen. Eine Frau, die man als Hasspredigerin bezeichnete, hatte die explosive Mixtur zusammengebraut und der jungen Attentäterin ein Martyrium, als eine Art Zeugnisablegung nahe gelegt. Und die verwirrte junge Dame hatte genau das getan. Zeugnis mit ihrem Leben und ihrem Tod abgelegt. Aber wir haben die Anstifterin geschnappt und nun wird sie büßen, lange bevor unsere Leila mit den roten Augen heiraten wird. Das war gar nicht so einfach, denn auch unsere Frauen werden sehr schnell erwachsen... und auch Einarmigkeit ist kein Hinderungsgrund, um einen liebenden Mann zu finden. Immerhin kommt auf eine Frau fünfhundert Kerle. Da konnte sie immer noch recht wählerisch sein." erzählte Rib, den Arm in Gips. Er lachte kurz und bitter auf. "Entschuldige, Laila. Aber es wäre zu schön gewesen."
Manchmal ist das Leben einfach so, wie es ist. Püschologen wissen das. Explosivstoffe lassen selten jemanden über, den man bestrafen kann. Meist ist es eh nicht mehr als ein halber Eimer ungewisser Herkunft.
Niemand, den man fragen kann, wenn sich alle Welt zu einer Tat, die kein vernünftiger Mensch begehen würde, bekennt und das Werkzeug aus Dünge-, Haushaltsmitteln und Nägeln besteht.
Vielleicht wäre der Grund auch kaum zu verstehen. Vielleicht ist es nur geschehen, weil jemand den Wochentag Montag nicht mag. Auch solche Antworten gab es schon und vielleicht treffen sie auch zu.
Wenn man FROG-Püschologe ist, verbringt man die wenigste Zeit damit, mit Geiselnehmern zu verhandeln oder ähnlich heroischem Kram. Auch Disziplinaruntersuchungen machten, der allgemeinen Meinung zum Trotz, nur einen kleinen Bruchteil ihrer Arbeit aus. Meist war dies ihr Geschäft, die Realität, die langsam dabei war, sich durch den anerzogenen, schützenden Wahnsinn zu brechen. Sie sind zur Stelle, wenn der gequälte Verstand nach einer neuen Mauer schreit, um das DRAUSSEN in seinen chaotischsten Formen auszusperren. Gerade Wächter brauchen etwas, das ihnen sagt, dass die Welt ein behüteter, friedlicher Ort sein kann, auch wenn sie erlebt hatten, wie die Nachbarin den geliebten Ehemann zu Tode schlug. Und es war ein Püschologe, der versuchte, ihnen einen Ausweg zu zeigen.
Die Glücklichen unter uns sehen das DRAUSSEN nie und verbringen ihre Tage in einer Welt, der eine rosarote Grundierung zugrunde liegt. Oder sie belügen sich, indem sie fest daran glauben, dass ihnen solch ein Schicksal nicht passiert.
Rib schaute sich im Tempel um. Vor fast jedem Schrein lag so eine schwarze Ente.
Manche Leute behaupten, dass die Götter nicht existieren würden, denn wie könne ein Gott existieren, der solch Ungeheuerlichkeiten zulässt? Andere behaupten, dass jeder im Leben die Quittung bekommen würde und die Götter wären dafür der Garant. Rib wusste, so einfach war es nicht. Manchmal gewinnen die Bösen und manchmal schlägt das Chaos sinnlos zu. Auch wenn die Götter existierten, woran Rib nicht nur glaubte, sondern sich sicher war. Immerhin war er selber für kurze Zeit so etwas wie ein Gott gewesen.
Aber das machte es nicht einfacher zu erklären, warum ein Armstumpf plötzlich nach einer soliden Heilungsphase Wundbrand bekam und ein kleines, tapferes Mädchen unter Schmerzen schreiend starb.
Es machte es nicht einfacher, sondern schwerer zu verstehen.
"Mach's gut, Leila," murmelte er und fügte den Enten noch eine weitere zu.
Er drehte sich um, denn es gab FROGS, die seine püschologische Arbeitskraft brauchen würden.
Denn Geschichten wie diese waren das wahre Martyrium. Sie legen Zeugnis davon ab, dass alle Täuschungen von Kindheit an, wenig mit der Realität zu tun haben. Was immer auch die FROGS hier erlebt haben, widerspricht jeder erzählten Erfahrung, jeder Geschichte, die man als Kind erfährt. Und wenn es mehrere Geschichten dauert, bis die Essenz erreicht ist.

***


Dies ist die höchste aller Kindheitslügen, die Mutter aller Selbsttäuschungen und gleichzeitig auch ihr Nährboden. Dies ist, was jeder glauben will, wenn er in die Zukunft schaut. Dies ist, was am Ende solcher Geschichten stehen sollte. Und darum, allein nur darum, steht hier geschrieben:

Alles endet gut.
Vertrauen Sie darauf. Püschologen wissen das.

ENDE

[3]
[1] Männliche Rockträger fragen sich so etwas ständig, wenn sie an sich herabblickten.

[2] Besonders Trolle hatten hier einige Probleme.

[3] Nachtrag: Bitte verwechselt nicht diese Geschichte mit dem Autor. Sie soll deprimiert und traurig sein. ICH bin es nicht und wie immer meine Geschichten die Welt sehen, hat meist nur soviel mit mir zu tun, wie ich benötige, um das Gefühl wachrufen, über das ich schreibe. (Wer hätte zum Beispiel nach meiner letzten Pokalgeschichte gedacht, dass ich zwar Vegetarier bin, aber selbst Hühner auch fürs Schlachten züchte?)

Zählt als Patch-Mission für den Püschologe-Patch.



Für die Inhalte dieses Textes ist/sind alleine der/die Autor/en verantwortlich. Webmaster und Co-Webmaster behalten sich das Recht vor, inhaltlich fragwürdige Texte ersatzlos von der Homepage zu entfernen.

Feedback:

Von Braggasch Goldwart

24.5.2011

Eine schöne single, recht düster, aber realistisch - sprich, nicht übertrieben schwarz, das gefällt mir. Allerdings hätte ich einen etwas ausgiebigeren Blick auf die Lösung des Falls ebenso schön gefunden wie der Blick auf die Folgen. Und persönlich muss ich sagen, dass mir Abkürzungen von Wächternamen ziemlich gegen den Strich gehen. Dennoch habe ich die Single sehr gerne gelesen und fand die püschologischen Überlegungen sehr gelungen.

Von Lilli Baum

31.5.2011

Ich muss sagen, ich mag deine Geschichten sehr, Rib, weil du ganz andere Pfade einschlägst, als man es sonst hier gewohnt ist.

Von Rea Dubiata

08.5.2011

Trotz einiger kleiner sachlicher Fehlerchen war ich sehr angetan von der Geschichte (Nagut, wir befinden uns in Fantasy, aber es ist tatsächlich rundwelt-wissenschaftlich belegt dass Fastfood-Konsum nicht Hautunreinheiten auslöst und ein Fremdkörper irgendwo im Körper nicht einfach herausgezogen werden sollte (wird ja nur impliziert). *meckermecker* ;-) ).
Sie war spannend und eindrücklich geschrieben, sprach viele der typischen Schicksalsfragen an mit denen man immer wieder zu kämpfen hat, ließ Platz für eigene Gedanken der aufgrund der Denkanregungen auch nötig war.

Von Rogi Feinstich

01.5.2011

Vielen Dank für diese "schöne", düstere, traurige Geschichte habe sie in einem rutsch verschlungen :)
Vorallem Rogi super geschrieben vielen Dank dafür! Naja eigentlich alle FROGs hast du super getroffen, aber ich kann ja nur für Rogi sprechen *g*

Von Sebulon, Sohn des Samax

26.5.2011

Ich lese gerne Geschichten, die weniger schwer sind - aber ich finde, du schreibst einfach brilliant. Mir hat das Lesen Spaß gemacht, dem Thema zum Trotz.

Von Rib

04.06.2011 10:15

Erstmal danke an alle.

Braggasch, du hast mich dazu gebracht nachzudenken. Natürlich benutze ich Abkürzungen und Kosenamen, um eine Verbundenheit darzustellen. Aber sicherlich sollte ich damit aufhören, wenn ich aus neutraler Perspektive schreibe.

Von Braggasch Goldwart

05.06.2011 12:50

Wuhuu - zum ersten mal im Leben jemanden zum nachdenken angeregt! ^^



Aber das meinte ich: Wenn Rib über andere spricht, sind Kosenamen natürlich durchaus möglich und sinnvoll - nur aus der Erzählerperspektive sind sie - meiner Meinung nach - fehl am Platze.

Die Stadtwache von Ankh-Morpork ist eine nicht-kommerzielle Fan-Aktivität. Technische Realisierung: Stadtwache.net 1999-2024 Impressum | Nutzungsbedingugnen | Datenschutzerklärung