Mit Laib und Seele

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von Wächter Dagomar Ignatius Volkwin von Omnien (GRUND)
Online seit 14. 03. 2011
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Für Rekruten (erste Mission):
Auf dem heutigen Ausbildungsplan steht "Das Kreuzverhör". Eine wichtige Taktik, die man beherrschen sollte. Heute darfst du einmal mit einem Kollegen "guter Bulle - böser Bulle" spielen. Fehlt nur noch ein Verdächtiger.

Dafür vergebene Note: 11

Es war eine regnerische Nacht in Ankh-Morpork. Es war nicht der übliche Regen, der nur etwas mehr war als Nebel. Es regnete, als ob das Wetter es wirklich ernst meinte. Der Wind trieb die großen Wassertropfen nahezu in die Waagerechte und Blitze erhellten die Stadt immer wieder für kurze Momente, dass ein Beobachter hätte denken können, der Tag sei urplötzlich angebrochen.

Und es gab Beobachter. Viele huschten mit hochgestellten Kragen durch die Nacht, darauf aus, ihr Ziel möglichst schnell und möglichst trocken zu erreichen.
Einige lauerten in der unangenehmen Dunkelheit auf jene Eilige, um ihrem nicht ganz rechtschaffenen Handwerk nachzugehen.
Einer stand am Fenster seines Salons in der Kreiselgasse. Sein aschblondes Haar fiel glatt und seidig über seine Schultern und verdeckte so teilweise den schwarzen Samtfrack, den er trug. Die grauen Augen des jungen Mannes beobachteten mit verträumtem Blick das Treiben auf der Straße. Sein abwesendes Lächeln gab ihm den Gesichtsausdruck, den man von Großvätern kennt, die auf sonnigen Veranden in einem Schaukelstuhl sitzen und ihren Enkeln beim Spielen auf dem Feld zusehen. Der junge Mann verschränkte seine Arme hinter dem Rücken und sein Gesichtsausdruck wurde ernster. Die Ruhe des Moments wurde jäh unterbrochen, als der junge Beobachter sich ruckartig umdrehte und damit begann, im Salon nachdenklich im Kreis zu gehen. Sein Blick fixierte die meiste Zeit die Spitzen seiner Pantoffeln, huschten jedoch auch gelegentlich zu markanten Punkten des Raums. Mal sah er auf, um ein Gemälde anzusehen, dass einen älteren untersetzten Mann mit grauem, lockigem Haar und seine knochige Frau zeigte, deren blondes Haar zu einem strengen Knoten zusammengebunden war. Der ältere Herr hatte seine Hand liebevoll auf die Schulter seiner Frau gelegt, auf deren Schoß ein blondes Kind saß, einen Spielzeugsoldaten fest umklammernd. Ein anderes Mal verharrte der junge Mann, um einen überprüfenden Blick in den Spiegel zu werfen. Nach einem bestätigenden Nicken ließ sich der Mann seufzend auf eine Chaiselongue fallen [1].
"Warum?", schien er sein Spiegelbild zu fragen, "Warum sind wir Hohen dazu verdammt, in Ödnis und Gleichgültigkeit zu darben, während die Niederen ein Leben voller Gefahren, Sorgen und ... Leben genießen dürfen? Wo ist da die große Gerechtigkeit des großen Gottes Om?"
Die letzte Frage stellte er mit Blick auf das große Familienportrait.
Er hielt kurz inne und legte den Kopf schräg.
"Doch ... sind wir wirklich dazu verdammt, entweder tagein tagaus die selbe Monotonie erdulden zu müssen oder eines ebenso heldenhaften wie dummen Todes zu sterben? Sind wir nur Spielbälle einer Wesenheit, die wir nicht begreifen? Ist es auch sein Plan, dass ich, Dagomar Ignatius Volkwin von Omnien, nun hier bin und genau diese Fragen stelle? Oder haben wir einen Willen, einen Willen, der uns und nur uns alleine gehört? Und: Sind all diese Fragen von Belang, oder wohnt ihnen elementare Redundanz inne? Ich werde es nie herausfinden, wenn ich mich weiter vor der Welt draußen verstecke. Das ist das Los von Schurken und Schuldigen. Gleich morgen werde ich mich aufmachen und diese Stadt und seine Leute entdecken. Ich werde mein Schicksal finden, ich bin mir sicher!"
Mit diesen Worten stand Dagomar auf und genehmigte sich noch ein Glas Rotwein, während er weiter das Treiben auf der Straße beobachtete und sich anschließend zu Bett begab.

Es war Markttag auf dem Hier-Gibt's-Alles-Platz, und dementsprechend herrschte reges Treiben. Städter drängelten sich an anderen Bürgern vorbei, um den zahlreichen Marktschreiern besser zuhören zu können. Oder ihr Gebrülle nicht mehr mit anhören zu müssen. Auch eine kleine Gruppe Zauberer schwamm durch die Menge wie die letzte Nudel in einer Suppe. Sie redeten geschäftig und lautstark über das nächste bevorstehende Bankett und darüber, was eine gewisse Glenda sich wohl ausgedacht haben möge.
Auch Dagomar befand sich in der Menge. Gedankenverloren stolzierte er durch die Menge und störte sich nicht daran, wenn vorbeihastende Leute ihn anstießen. Im Gegenteil, er schenkte ihnen ein wohlwollendes Lächeln. Bei einem beschäftigt wirkenden Bäcker hielt er an und begutachtete zuerst den rundlichen Mann bei seiner Arbeit, bevor er zu sprechen begann.
"Heda, wackerer Bäckersmann, mich begehrt es nach Labsal, denn die Suche nach dem Schicksal gestaltet sich als anstrengender als erwartet. Um meinen Hunger zu stillen, sag, was kosten jene Wecken dort?"
Einige Augenblicke vergingen, in der der Bäcker still stand, als sei er in der Zeit eingefroren. Er schüttelte den Kopf, murmelte ein "Herrje, ein Bekloppter!" und setzte erst dann ein Lächeln auf, von dem er hoffte, dass es beschwichtigend wirkte.
"Die da? Die kommen fü-", der Bäcker betrachtete die edle Kleidung des blonden Mannes, "zehn Cent das Stück."
"Wohlan, hier habt ihr fünfzehn. Sicher warten Frau und Kinder zu Hause, hoffend, dass ihr Vater und geliebter Ehemann bald heimkehre. Ich wünsche noch einen angenehmen Tag!"
"Ja, äh, ebenso, ebenso. Und wo du eben von Schicksal und all dem gesprochen hast: Schau doch mal bei Frau Kuchen in der Ulmenstraße vorbei. Die kann dir bestimmt weiterhelfen." [2]

Laut fluchend stapfte Dagomar durch enge Gassen und über gepflasterte Wege. Er hatte sich verlaufen und hatte nicht den geringsten Schimmer, wo er sich genau befand, geschweige denn wie er wieder nach Hause kommen sollte. Er wollte nach diesem anstrengenden und bisher ergebnislosen Tag einfach nur noch ein heißes Bad nehmen, und das Schicksal an einem anderen Tag finden. Er blieb kurz stehen, um seine schmerzenden Glieder zu strecken, als sein Blick auf ein Plakat fiel. Scheinbar hatte das Schicksal andere Pläne als Dagomar.
"Tritt der Wache bei", las er, "Sorge für Recht und Ordnung! Und für den Respekt, der dir zusteht! Melde dich noch heute im Wachhaus in der Kröselstraße und dein neues Leben beginnt heute!"
Unbewusst schüttelte sich Dagomar. Ein triumphierendes Lachen hallte durch die Gasse.
Gedanken jagten sich im Kopf des Omnianers. In irgendeinem Buch hatte er darüber gelesen, dass es die höchste Pflicht und Aufgabe jedes Mannes von Stande sei, Recht, Ordnung und Disziplin aufrecht zu erhalten. Genau das war es, was Dagomar wollte und wonach er gesucht hatte. Er würde so lange suchen und jeden Passanten fragen, bis er das Wachhaus der Kröselstraße betreten und als Verteidiger von Recht und Ordnung wieder verlassen würde. Und so eilte er im Lauftempo in die Arme des Schicksals.

"...den Segen der Götter für den König/die Königin (Unzutreffendes streichen)."
Unsicher schaute Dagomar sich um. Der Schwur schien geleistet zu sein. Jetzt hieß es der Dinge harren, die da kommen mögen.
Ihm wurde gesagt, er solle sich am nächsten Tag bei seinem Ausbilder Hauptmann Pismire melden, damit seine Karriere in der Wache beginnen sollte.

Hauptmann Pismire saß an seinem Schreibtisch, die Stirn auf beide Hände abgestützt. Vor ihm zeigte sich ein grausiges Bild eines erbitterten Papierkriegs. Karteileichen lagen neben, über und unter Ordnern mit ihren Reitern und Notizzettel und Memos beanspruchten das letzte bisschen Platz, das noch unbeansprucht blieb. Einzig eine Tasse mit heißem Tee schien einer Festung gleich über allem zu thronen und dem um sie herum herrschenden Chaos zu trotzen.
Schritte näherten sich. Schritte, begleitet von einem regelmäßigen Pochen. Dann hörten sie unmittelbar vor Pismires Tür auf. Nach kurzer Stille war ein Räuspern zu hören, gefolgt von einem Klopfen an der Tür.
"Herein", sagte der Hauptmann, während sich die Tür schon öffnete.
Dagomar trat energischen Schrittes ein.
"Hauptmann Pismire?"
"Ja. Und du bist ... ?"
"Rekrut Dagomar Ignatius Volkwin von Omnien, ich sollte mich melden, um meine Ausbildung zum Fackelträger des Rechts, der Ordnung und Rechtschaffenheit zu beginnen?"
Pismire reagierte, wie die meisten, die sich das erste Mal mit Dagomar unterhalten: Er schwieg einige Momente lang, bevor er etwas irritiert weiter redete.
"Und was ... oh, ein Rekrut. Nun, zunächst einmal, Dienstvorgesetzte sind mit 'Sör' beziehungsweise 'Mä'äm' anzusprechen. Aber nimm doch erst einmal Platz".
Pismire deutete mit einer Hand auf den Stuhl, der dem Hauptmann gegenüber stand. Mit der Anderen versuchte er, möglichst unauffällig das Chaos auf seinem Schreibtisch zu ordnen.
"Sör, Ja, Sör, Danke, Sör!", erwiderte Dagomar und setzte sich. Er nahm seinen Zylinder ab und platzierte ihn auf seinem Schoß, ebenso wie seinen Gehstock, den er genau mittig ausrichtete. Der junge Mann saß kerzengerade und schaute Pismire aufmerksam an. Man konnte sogar schon fast von Starren reden.
"Nana", fuhr der Hauptmann unbeirrt fort, "wir wollen ja nicht übertreiben. Ein 'Sör' genügt. Aber kommen wir direkt zur Sache. Wie man sieht, habe ich einiges zu tun. Es freut mich, dich als neuen Rekruten hier bei der Wache begrüßen zu dürfen. Besonders freut es mich, da Rekrut Weon Creyente noch jemanden benötigt, der mit ihm ein Verhör durchführt. Keine große Sache, aber eine gute Gelegenheit, um den Umgang mit Tatverdächtigen zu üben. Rekrut Weon kennt die groben Eckdaten schon, er müsste sich momentan im Aufenthaltsraum ... äh ... aufhalten. Sag ihm einfach, dass ich dich schicke, und dass er dich in den Fall und das Wachhaus einführen soll. Ich bin sicher, du wirst dich bestens mit ihm verstehen. Er ist auch Omnianer."
"Der Weg des Gerechten ist kein einfacher, sondern steinig und beschwerlich", murmelte Dagomar, während der Hauptmann einen Schluck aus seiner Tasse nahm.
"Gut. Noch irgendwelche Fragen, Rekrut?", fragte dieser.
"Sör, nein, Sör, vorerst nicht, Sör. Sollten mir welche einfallen, Sör, werde ich sie zunächst Rekrut ... Weon stellen, um dir nicht allzu viel Zeit zu stehlen, Sör!"
"Äh ... sehr gut. Du darfst dann jetzt gehen."
Dagomar stand auf, setzte sich in aller Seelenruhe seinen Zylinder wieder auf und ging Richtung Tür. Als er einen Fuß über die Schwelle gesetzt hatte, ließ ihn ein Räuspern zusammenzucken.
"Rekrut?"
Dagomar drehte sich zackig um.
"Sör, ja, Sör?
"Bei uns ist es üblich, zu salutieren."
"Oh."
Es folgte eine kurze Pause.
"Nun, Rekrut?"
"Sör?"
Eine weitere Pause.
"Salutieren?"
"Oh. Sör, ja, Sör!"
Der junge Omnianer salutierte, drehte sich auf dem Absatz um und verließ eilend den Raum.
"Nun, es ist ein Anfang...", sagte Pismire zu dem linken Papierstapel.

Nachdem Dagomar sich seine Uniform angezogen hatte und seine Kleidung sorgsam in seinem Spind eingeschlossen hatte, betrat er den Aufenthaltsraum. Außer einem schlaksigen Mann mit schwarzen Locken befand sich dort niemand, abgesehen vom leise vor sich hin zeternden Dämon bei der Kaffeemaschine. Dagomar ging lockeren Schrittes im Raum umher, den anderen Mann freundlich lächelnd ansehend.
"Ich nehme an, du bis Weon?"
Der angesprochene Mann erhob sich hastig.
"Ja, das stimmt. Und du bist ... ?"
"Dagomar Ignatius Volkwin von Omnien. Neuer Rekrut."
"Oh, von Omnien? Wie schön! Weon Creyente! Endlich jemand, der die Weisheit des großen Gottes Om kennt!"
Dagomar räusperte sich.
"Selbstverständlich. Nun, sagen wir, ich hege keine allzu ... warmen Gefühle für ihn."
Weons Unterkiefer klappte nach unten. Er betrachtete kurz den arroganten Ausdruck auf dem bleichen Gesicht des neuen Rekruten.
"Oh. Ich verstehe. Götter, Religionen und all das sind ... ungesund für dich?"
Dagomar schaute Weon verwundert an.
"Wie meinen?"
"Oh, nichts nichts, schon in Ordnung. Du hast mich also gesucht?", fragte er, die Schildkröte um seinen Hals fest umklammernd.
"Ja. Pismire sagte, du bräuchtest Hilfe bei der Vernehmung eines Tatverdächtigen?"
Weon lächelte breit, als er bestätigend nickte und zum Kaffeedämon herüber ging.
"Kaffee?", fragte er.
"Oh, das wäre höchst entzückend, danke sehr."
"Ah. Also ein Schwarzbandler. Immerhin", murmelte Weon, als er dem Kaffeedämon Süßigkeiten hinlegte, der sofort aufhörte zu Zetern und begann, zwei Tassen Kaffee zuzubereiten. Weon stellte eine Tasse vor Dagomar auf den Tisch, die andere gegenüber, wo er sich auch hinsetzte.
Dagomar hingegen blieb stehen, nahm sich jedoch die Tasse vom Tisch und schlürfte leise vor sich hin. Er pustete gedankenverloren in die Tasse, bevor er die eingekehrte Stille unterbrach.
"Was wissen wir über den Tatverdächtigen?"
"Oh, nicht viel. Silas Sauerbier ist sein Name. Er hat einen Bäckereistand auf dem Hier-gibt's-Alles-Platz, an dem er ... nun ja, Backwaren aus seinem Laden in der Kegelgasse verkauft. Er soll Kadir Al-Masaad etwas entwendet haben. Was genau wissen wir nicht, Kadir war sehr aufgebracht, als wir ihn genauer befragen wollten. Kadir und Silas sind seit jeher Konkurrenten. Ich vermute, dass Silas versucht hat, durch den Diebstahl seinen Mitbewerber auf unlautere Weise auszustechen. Aber es ist nur eine Vermutung. Genau das soll sich herausstellen. Zuerst einmal sollten wir herausfinden, ob er es wirklich getan hat. Das Warum ist zweitrangig."
"Wohlan denn, wo finden wir den schuftigen Sauerbier?"
Weon blinzelte irritiert.
"Oh, er ist in den Zellen. Gerade heute morgen ist er erst festgenommen worden, als er Al-Masaads Laden fluchtartig verlassen hat."
"Fürwahr, ein höchst halbseidenes Verhalten, das er an den Tag legte!"
"Äh ... ja. Genau. Halbseiden. Nun, was hältst du davon, wenn wir zuerst unseren Kaffee austrinken und uns Silas dann einmal ansehen? Beziehungsweise mit ihm reden, haha."
Dagomars Mundwinkel zuckten kurz nach oben, während er die Tasse erneut ansetzte.
Die beiden Rekruten tranken schweigend ihren Kaffee. Weon versuchte durch Räuspern und Kommentare über das Wetter, ein Gespräch in Gang zu setzen, allerdings erntete er dafür nur halbherzige Antworten von Dagomar. Oder ein stilles Lächeln.
Weon erlöste die beiden aus dieser seltsamen Situation, indem er einen letzten Schluck Kaffee zu sich nahm, demonstrativ schmatzte und die Tasse auf den Tisch stellte.
"Das war gut, nicht? Also, sollen wir anfangen?"
Dagomar nickte. "Nach dir."
Beinahe hastig verließ Weon den Raum, Dagomar im Schlepptau, und gemeinsam gingen sie zu den Zellen.
In einer der Hinteren befand sich ein rundlicher Mann mit Glatze. Müde schaute er zu Weon und seiner Begleitung, und als er Dagomar erkannte, ließ er den Kopf sinken.
"He", sagte Dagomar, "diesen Schuft kenne ich! Erst gestern habe ich ein paar vorzügliche Wecken bei ihm erstanden, und er war wirklich hilfreich! Dank ihm bin ich jetzt überhaupt hier, wenn man so will. Wie geht es, werter Bäckersmann?"
"Oh, abgesehen davon, in einer Zelle zu sitzen, und jetzt auch noch von dir verfolgt zu werden, bestens. Kann ich jetzt gehen?"
"Ich fürchte nicht", sagte Weon, "es gibt noch einige Unklarheiten in dem Fall, in dem du nun mal der Hauptverdächtige bist. Wir würden dir deswegen gerne ein paar Fragen stellen, wenn du gestattest ..."
Silas seufzte.
"Und ... dieser ... Herr da bei dir", er deutete auf Dagomar "gehört zu diesem 'wir', nehme ich an?"
Weon nickte.
Der Bäcker seufzte erneut.
"Also gut, bringen wir es hinter uns ..."

Der Raum, in dem das Verhör stattfinden sollte, war karg eingerichtet. Ein Tisch und zwei Stühle waren in der Mitte des Raumes am Boden festgeschraubt und an der Wand hingen einige müde glimmende Fackeln.
Die Tür öffnete sich, und Weon betrat den Raum, gefolgt von Silas und Dagomar.
"Bitte, setz dich", forderte Weon auf und deutete auf einen der beiden Stühle.
Silas trottete zum Tisch und setzte sich, Weon nahm ihm gegenüber Platz, während Dagomar an der Tür lehnend stehen blieb.
"Nun sage mir, Silas", setzte Dagomar an, "ich bin noch nicht ganz in diesen Fall eingearbeitet, was genau wird dir zur Last gelegt?"
"Er soll bei-" setzte Weon an, doch Dagomar brachte ihn mit einer lässigen Handbewegung zum Schweigen.
"Wir wollen Silas doch selbst erklären lassen, welches Verbrechen er nicht begangen haben soll, nicht wahr?"
Weon nickte kurz und schaute Silas auffordernd an.
Dieser seufzte.
"Heute morgen wurde ich festgenommen, vollkommen ohne Grund, nur, weil ich etwas hastig aus dem Laden meines alten Freundes Kadir gekommen bin. Ich hatte noch ein paar Aufräumarbeiten an meinem Stand auf dem Hier-Gibt's-Alles-Platz zu erledigen und wollte nicht zu spät zum Mittagessen Zuhause sein. Meine Frau ist in solchen Fällen oft ... schwierig. Jedenfalls, mir wird zur Last gelegt, Kadir das Rezept für sein beliebtes Fladenbrot gestohlen zu haben, was vollkommen abwegig ist, solches Verhalten untersagt alleine schon die Ehre unter Kollegen!"
Dagomar machte sich einige Notizen in einem kleinen Lederbuch.
"Und Kadir ist ein alter Freund?"
Der Bäcker nickte. "Ja. Ich meine, er ist ein Handtuchkopf, und wir hatten unsere ... künstlerischen Differenzen, aber Teig ist dicker als Wasser, wie ich immer zu sagen pflege, haha"
"Haha", sagte Dagomar [3] "selbstverständlich ist er das."
Wieder machte er sich ein paar Notizen. Diesmal schrieb er länger als vorher.
Weon sah seine Zeit gekommen, jetzt Fragen stellen zu können. Verwegen klopfte er sich an die Nase, während er sprach.
"Und wieso bist du nicht einfach früher zu Kadir gegangen, um dich später nicht hetzen zu müssen?"
"Oh, ich war früh dort. Sehr früh sogar. Aber du kennst das ja bestimmt auch, man redet kurz mit einem Kollegen, ein Wort ergibt das andere, und ehe man sich versieht, sind einige Stunden vergangen."
"Ja", antwortete Weon, "das könnte sicher mal vorkommen." Sein Blick glitt zu Dagomar herüber, der sich weiter Notizen machte.
Auch Silas betrachtete den blonden Mann, der immer noch an der Tür lehnte. Er spürte, wie seine Handflächen feucht wurden. Irgendetwas an Dagomar machte ihn nervös. Er redete so umständlich, als hätte er Kommunikation aus dem Buch gelernt. Irgendetwas stimmte nicht mit diesem blassen Wächter.
"... und als ich dann auf die Uhr sah," fuhr Silas fort, "merkte ich, wie spät es geworden war, und musste mich wirklich sputen, um alle Arbeit zu erledigen und immer noch rechtzeitig nach Hause zu kommen. Wo wir dabei sind: Wie spät ist es jetzt eigentlich?"
Weon zuckte mit den Schultern. "Sagen wir, du musst dir um das Mittagessen keine Sorgen mehr machen. Wenn wir hier schnell fertig werden, könntest du wenigstens noch das Abendessen mitbekommen."
"Verflucht! Meine Frau wird mich umbringen!", entfuhr es dem beschuldigten Bäcker.
Dagomar stellte sich indes wieder gerade hin, und begann, den Tisch lässig gehend zu umkreisen. Zuerst folgten ihm die Blicke seines Mitrekruten und des Bäckers. Als jedoch nichts weiter geschah, wurde das Gespräch weiter geführt.
Weon räusperte sich. "Du sagtest, du hattest künstlerische Differenzen mit Kadir? Es würde mich interessieren, um was genau es da ging ..."
"Nun, wie gesagt, Kadir ist ein Handtuchkopf. In Klatsch machen sie Brot ganz anders als hier, müsst ihr wissen. Ich weiß nicht, was die alles in den Teig werfen. Unverantwortlich, wenn ihr mich fragt. Und das schlimmste: Die Leute mögen es auch noch! Jedenfalls, oft zankten wir uns darüber, wie unterschiedlich unsere Art des Brotbackens war. Aber es war nie etwas ernstes, vielmehr ein freundschaftliches Necken. Wirklich!" Silas rieb sich die Hände an seiner Hose trocken.
Dagomar hielt inne und schrieb wieder etwas in sein Notizbuch. Dann hielt er inne und stieß sich mit der Faust theatralisch auf die Stirn.
"Weon", sagte er, "Hast du einen Augenblick Zeit? Ich würde mich gerne mit dir unterhalten. Alleine."
"Was ist denn?", brachte Silas aufgebracht hervor. Er stand auf und ruderte mit den Armen, offensichtlich nach Worten ringend. Nach einem strengen Blick Dagomars setzte er sich wieder und murmelte leise "Ja, schon gut, ich bin ja still..."
Weon hingegen nickte Dagomar freundlich lächelnd an. "Natürlich. Silas, wenn du uns einen Moment entschuldigen würdest? Lauf nur nicht weg, haha."
Dagomar und Weon verließen den Raum, und die Tür wurde abgeschlossen.
"Was gibt es denn?", erkundigte sich Weon.
"Heute morgen ... Wer hat Silas festgenommen?"
"Oh, das waren Feldwebel Rogi Feinstich, Rekrutin Rabbe Schraubendreher und ich."
"Gibt es ein Protokoll oder irgend etwas?"
"Oh, ja, ich habe mir ein paar Notizen gemacht. Hier, schau sie dir nur an."
Weon reichte Dagomar zwei lose Zettel.
"Danke, Weon. Lass mich bitte kurz alleine, ich möchte etwas überprüfen."
"Ja, natürlich. Ich gehe in der Zeit noch etwas Kaffee holen", sagte Weon und entfernte sich eilenden Schrittes.
Dagomar ließ sich zu Boden sinken und lehnte sich lässig an die Wand. Er verglich seine Notizen mit denen von der Festnahme und bewegte seine Lippen stumm, während in seinem Kopf die jeweiligen Informationen ein Muster bildeten. Dagomar legte die beiden Muster übereinander, und sofort fiel auf, dass ein Teil der Informationen "zu viel" waren.
Als Weon mit zwei Tassen Kaffee wiederkam, stand Dagomar mit triumphierendem Blick und verschränkten Armen vor der Tür.
"Und? Hast du etwas?", erkundigte sich Weon und drückte Dagomar eine Tasse in die Hand.
"Danke. Ja, ich glaube, Silas wird mehr als nur eine Mahlzeit verpassen. Komm, ich würde ihn gerne mit seinen eigenen Worten konfrontieren."
Etwas irritiert schloss Weon die Tür auf. Er verschüttete dabei nur wenig Kaffee.
Als die beiden Wächter den Raum betraten, stand Silas hinter dem Stuhl und versuchte, unbekümmert zu lächeln.
"Hinsetzen"; befahl Dagomar kühl.
Silas gehorchte, ohne irgendwelche Proteste zu erheben.
Diesmal lehnte Weon an der Tür und schlürfte gespannt seinen Kaffee, während Dagomar die Tasse auf den Tisch stellte und wieder damit begann, um den Beschuldigten herum zu laufen, die Arme hinter dem Rücken verschränkt.
"Silas. Wackerer Bäckersmann. Dein Handwerk ist so edel. Lass mich dir zur Belohnung für dein wichtiges Tagwerk eine Geschichte erzählen. Es begab sich zu einer Zeit, dass in einem Königreich ein seltenes Tier gesehen wurde. Niemand wusste, was genau es war, denn jeder, der es gesehen hatte, erzählte etwas anderes. Das einzige, bei dem sich jeder Zeuge sicher war, war die Tatsache, dass es ein unglaublich schönes Tier gewesen sein sollte. Der König, selbstherrlich und genusssüchtig, beauftragte seine besten Jäger damit, das Tier lebendig zu fangen, um es seiner Menagerie hinzufügen zu können. Und so gab es zwei Jäger, die wir genauer betrachten wollen. Der eine ein redlicher Jäger, der sich immer die größte Mühe gab, jedoch immer nur durchschnittliche Beute nach Hause brachte. Der andere Jäger war weitaus erfolgreicher, aber er war auch seltsam. Man munkelte, dass er nicht aus dem Königreich stamme, und dass er einer seltsamen Religion angehöre. Diese beiden Jäger konnten sich nie gegenseitig leiden, und der redliche Jäger sah seine Zeit gekommen, dem seltsamen Jäger endlich ein Schnippchen zu schlagen. Anstatt eigene Fallen aufzustellen, schlich er dem Fremden hinterher, merkte sich, wo dieser seine Fallen aufstellte, um sie in der Nacht zu manipulieren. Als der Fremde, müde von seiner Arbeit, nach Hause ging, um sich zu erholen, sabotierte er eine Falle nach der anderen. Doch eine der Fallen war zu ausgeklügelt, und er verhedderte sich selbst in dem Netz. Am nächsten Morgen -"
Silas sprang nahezu in die Luft. "Was hat dieser Mumpitz mit mir zu tun? Gar nichts! Also sei jetzt verdammt nochmal still, und sag, worauf du hinaus willst, du bekloppter Neureicher!"
Einige Augenblicke herrschte vollkommene Stille. Weon schaute zu Dagomar, der tief atmete und die Fäuste geballt hatte. Silas biss sich auf die Unterlippe. Er wusste, dass Dagomar ihn nervös machte, aber er glaubte, diesmal zu weit gegangen zu sein.
Dagomar lächelte bemüht freundlich, bevor er Weons Notizen herausholte.
"Hier, in unseren Notizen steht, dass noch nicht festgestellt wurde, was eigentlich entwendet wurde, nur, dass irgendetwas entwendet wurde."
Wieder holte Dagomar etwas hervor, diesmal sein eigenes Notizbuch.
"Während hier, in meiner Mitschrift unseres Gespräches steht, dass du selbst gesagt hast, man würde dich beschuldigen, Kadir ein Rezept gestohlen zu haben. Seltsam, dass die Wache dich eines Verbrechens beschuldigt, von dem sie nicht genau weiß, um was es eigentlich geht. Seltsam, nicht wahr? Scheinbar weißt du mehr als wir. Erzähl mir doch mehr davon, bitte, es interessiert mich brennend!"
Silas setzte sich wieder hin. Auch seine Fäuste waren jetzt geballt.
"Na, schön. Ich habe mir mein eigenes Grab geschaufelt. Ich konnte es nicht länger ertragen, dass dieser Handtuchkopf ein besseres Geschäft machte als ich. Und so ging ich unter einem falschen Vorwand zu ihm. Gestern Abend noch. Ich sah mir sein Geschäft genau an, und fand einen Weg, auf dem ich mich des Nachts in seinen Laden schleichen könne, und ihm das eine oder andere Rezept ... unzugänglich zu machen. Ich beschattete Kadir also, und als ich sah, dass er den Laden verließ, zögerte ich nicht lange und verschaffte mir Zugang zu dem Laden. Ich fand auch schnell das Rezept für Kadirs beliebtes Fladenbrot, und nahm es an mich. Als ich den Laden gerade wieder verlassen wollte, hörte ich, wie sich jemand am Schloss zu schaffen machte, und ich versteckte mich hinter den Mehlsäcken. Kadir war zurückgekehrt, er hatte wohl etwas vergessen. Er suchte etwas, und brauchte verdammt lange dafür. Lange genug, dass ich müde wurde und einschlief. Als ich wieder aufwachte, war es bereits hell, und ich wusste, ich müsste den Laden schnell verlassen, um ungeschoren davon zu kommen. Glücklicherweise war direkt über den Mehlsäcken ein Fenster, aus dem ich aussteigen wollte. Leider hat Kadir mich bemerkt und verursachte ein furchtbares Getöse. Also nahm ich die Beine in die Hand und rannte, so schnell ich konnte. Direkt in die Arme von euch verfluchten Wächtern. Und jetzt sitze ich hier. Was geschieht jetzt mit mir?"
Weon lächelte zufrieden. "Nun, wir werden dich der Gerichtsbarkeit der Bäckergilde übergeben. Sie wird entscheiden, wie mit dir zu verfahren ist."

Als Silas abgeführt wurde, genehmigten Dagomar und Weon sich noch einen gemeinsamen Kaffee.
Wieder herrschte peinliche Stille.
Diesmal war es Dagomar, der die Initiative ergriff.
"Weon?"
"Ja?"
"Danke ... dank dir und deiner Notizen konnten wir diesen Fall aufklären ... Ich glaube", fügte er zähneknirschend hinzu, "du bist gar nicht mal so übel ... für einen Omnianer ... "
Weon hob eine Augenbraue. Dieses Verhalten überraschte ihn dann doch.
"Ich .. äh ... ich habe zu danken. Du bist auch ... in Ordnung ... für einen Ungläubigen, sündigen Blutsauger ... denke ich ... "
"Bitte wie hast du mich gerade genannt?"
"Oh, einen sündigen Blutsauger. Aber immerhin hast du das schwarze Band ... irgendwo ... "
Dagomars sonst blasse Gesichtsfarbe änderte sich zu dem einer Tomate mit bösartigem Sonnenbrand.
"Verfluchter, verblendeter Schwatzkopf! Sehe ich aus wie ein Vampir?"
"Aber, ich dachte ... du seist nicht gut auf den großen Gott-"
"Ja, das stimmt auch! Aber nicht, weil ich ein verdammter Untoter bin!"
"Und ... die Gesichtsfarbe ... "
"Ich bin ein Edler! Es geziemt sich für einen Edlen, eine vornehme Blässe zu behalten!"
"Oh ... Verzeihung ... "
"Verzeihung! Verzeihung! Die kannst du von deinem Gott vielleicht erhoffen, nicht von mir, du ... du ... Ach, ich gehe jetzt zu Hauptmann Pismire, meinen Bericht abgeben."
Eilend hastete Dagomar in Richtung Pismires Büro, die Luft mit ganz und gar nicht edlen Flüchen erfüllend. Er hoffte, nie wieder mit diesem dämlichen Omnianer zusammen arbeiten zu müssen. Er holte tief Luft, klopfte an Pismires Tür, wartete diesmal ein "Herein" ab und betrat das Büro.

[1]  Eine Chaiselongue ist quasi eine Couch. Es klingt nur edler.

[2]  Der Bäcker war nicht etwa besonders hilfreich, sondern einfach nur daran interessiert, dass dieser komische Kerl so schnell wie möglich so weit wie möglich von ihm weg kam.

[3]  Er sagte es wirklich. Buchstabengetreu.

Zählt als Ausbildungsmission zum/zur .



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Feedback:

Von Braggasch Goldwart

26.03.2011 09:58

:D Hervorragend!Belustigend, nachvollziehbar und spannend trotz ausbleibender Schießereien. :P Genau der Stil, den ich gern lese. Besonders das Ende hat mir großartig gefallen! Friede-Freude-Eierkuchen wäre auch zu langweilig. :)

Von Kannichgut Zwiebel

26.03.2011 09:58

Ein sehr guter Einstieg in die Wache-Karriere! Rechtschreibung und Erzählstruktur sind auch in Ordnung, was will man mehr? Einzig etwas zu souverän löste Dagomar mir den Fall. Und auch wenn die Arroganz zu deinem Charakter gehört, lass ihn ruhig irgendwann damit auflaufen. Das macht ihn sympatischer, weil authentischer.

Von Sebulon, Sohn des Samax

26.03.2011 09:58

Unterhaltsam, mir ging der Schluss aber zu schnell; ich würde das am Ich-war's-Monolog festmachen, der alle Fragen beantwortet. Und der Wechsel von "ich habe keine Ahnung von der Realität" zu "ich sehe die Details, die dem Langzeitrekrut entgangen sind" scheint mir ähnlich spontan. Mir fällt übrigens beim Lesen auf, dass meine erste Single damals ähnlich funktioniert hat ... *sich an die eigene Nase fasst*Ich freue mich auf weitere Geschichten über Dagomar. Mögen sie den Unterhaltungswert beibehalten. :)

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