Wunden

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von Korporal Braggasch Goldwart (GRUND)
Online seit 21. 01. 2011
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Was geschiet eigentlich mit jenen, die weder zur Wache gehören, noch das Opfer eines Anschlags sind? Dies ist eine definitiv nicht lustige Geschichte, sondern eher der Versuch, die "Realität" aufzuzeigen und ein wenig nachdenklich zu stimmen, was man eigentlich hinterlässt, wenn Personen in Geschichten ihr Leben lassen. Es ist fast unausweichlich wichtig, dass der geneigte Leser vorher Maganes "Auf ewig vereint" [ Hier ] konsultiert hat - was sich im übrigen sowieso sehr lohnt - da die nun folgende single im Hintergrund jener Geschichte läuft und viele Protagonisten und Geschehnisse dort erklärt werden.

Dafür vergebene Note: 11

~ 26.08. ~

Ich erwache von ihrem Schrei. Mühsam schüttele ich die Spuren des Alptraums ab, der mich gefangen hatte. Dieser Traum von verzerrten Bildern, langen Treppen und explodierenden Schädeln.
Sie schreit. Sie schreit und schreit und schreit. Ihr panischer Schrei schraubt sich in die Höhe und wird heiser. Er hat nichts mit dem üblichen, klaren Brüllen zu tun, welches auf eine definierte Situation der Angst folgt, sondern klingt schwankend und unbestimmt wie die kurzweiligen Ausbrüche eines Wahnsinnigen.
Nur, dass dieser nicht kurz ist.
Längst bin ich aufgesprungen und halte meine kleine Schwester in den Armen. Es hilft nichts. Sie sträubt sich nicht gegen mich, genauer gesagt wirkt sie körperlich völlig unbeteiligt, wenn da nicht dieser Schrei wäre, ausgestoßen mit geschlossenen Augen, das Gesicht zu einer Grimasse verzerrt, die mich mehr erschreckt als mein eigener Traum.
Mutter stürzt herein. Wie immer seid kurzem wirkt sie völlig übernächtigt, obwohl sie ihren Platz im Sessel bestimmt nicht verlassen hatte, nachdem sie ihn heute nach dem Essen einnahm. An niemandem von uns ist es spurlos vorbei gegangen, niemals wird es wieder wie zuvor. Alberne Worte, ein dummer Satz, doch wahr und zugleich so unzutreffend. Es wird zu keinem Zeitpunkt jemals wie zuvor, doch nach dem, was vorgestern Nacht geschah, wird alles, was nun folgt, zu unserer eigenen Hölle.
Tröstend nimmt Mutter mir Miri aus den Armen und drückt sie an ihre gewaltige Oberweite. Wieder einmal fällt mir nebenbei auf, wie sehr diese Frau, die doch gerade erst Mitte Vierzig ist, bereits beginnt zu einer Oma zu werden: Ihre Leibesfülle hat in den letzten Jahren stetig zu genommen, ihre Stimme wurde zunehmend flötender und ihr Geruch muffiger. Wie zur grausamen Ironie zeigen sich seit zwei Tagen vermehrt graue Haare in ihrer sonst dunkelbraunen Mähne.
Leise murmelt sie Worte ohne Sinn, die den Tränenfluss meiner kleinen Schwester ersticken. Schon seltsam: Manchmal verhielt sich unsere Mutter völlig normal, als sei nie etwas passiert, und dann wieder versank sie stundenlang in Gedanken, als würde sie schlafen. Doch sie schlief nicht. Im Gegenteil, ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren und entspannte sich nie. Manchmal frage ich mich, wie lange sie das wohl noch durchhalten wird, bis sie einfach zusammenbricht.
Nun erreicht auch unser Vater die Türschwelle. Ohne jegliche Regung blickt er auf das Bild, welches sich ihm bietet und von dem er weiß, dass es sich auch in den folgenden Nächten immer wieder bieten wird. Mutter, Miri in den Armen wiegend, ich unbeteiligt daneben sitzend, meine Beine umschlungen.
Vater hatte niemals viele Worte verloren, aber nun ist er vollends verstummt. Seit Ani vorgestern Morgen nicht zum Frühstück erschienen ist, hat er kein Wort mehr gesprochen, da hat der Besuch des Wächters wenig später auch nichts geändert. Während Mutter, Miri und ich in Tränen ausbrachen, die Götter verfluchten und jeder auf seine Art versuchte seinen Schmerz hinauszurufen, saß Vater auf seinem Stuhl und sagte nichts, musterte nur mit unergründlichen Augen den Kerl in der Uniform, der uns mitteilte, wie sehr er unsere Trauer verstehen konnte und wie sehr er mit uns fühlte, bis er merkte, dass es besser war zu gehen.


~ 27.08. ~

Belinda hatte ihn vor einigen Wochen das erste Mal im Gottesdienst gesehen. Ein Wanderpriester, der das Wort Oms verbreitet. Seine Augen hatten sie direkt fasziniert - so wissend, so klar und so voller Glauben. Mit deutlichen Predigten hatte Lukas Müller von den Taten und Geboten des Einen gesprochen, hatte seine Zuhörer mitgerissen und ihnen das Gefühl gegeben gemeinsam und geborgen zu sein. Dann war sie zu ihrer ersten Beichte bei ihm gegangen. Belinda Flugfarn war immer eine eher seltene Kirchenbesucherin und somit auch eine schwach frequentierte Beichtstuhlgängerin gewesen, daher hatten sich einige Sünden angesammelt. Nichts Großes - die gebürtige Morporkianerin, die sich mit ihrem neunzehnten Lebenjahr freiwillig zu Om bekehrt hatte und seinen Geboten nun bereits sieben Jahre folgte, war ein Gutmensch - sie wollte niemandem Schaden und hasste sehr selten. Somit waren die Sünden, die sie zu beichten hatte, eher geringfügiger Natur: Hier einmal ein böses Wort über eine Nachbarin, dort ein kleine Schlückchen zu viel auf einer Geburtstagsfeier. Frau Flugfarn mochte einfach das Gefühl, dass ihre Seele rein gewaschen wurde - schließlich wusste man nie, ob man nicht morgen unter den Karren kam!
Vater Müller empfing sie an der Tempelpforte. Obwohl sich Belinda sicher war, dass dieser Mann schon den ganzen Tag für das Seelenheil anderer zuständig gewesen war, die Priester unterstützt und seine neue Predigt für den Abend vorbereitet hatte, machte er mit keinem Wort und keiner Mimik deutlich, dass er es eilig haben könnte. Freundlich begrüßte er sie mit Namen und geleitete sie in den Raum des Versammlungshauses, des Tempels, welcher für die stetig wachsende Gemeinde des Om langsam zu klein wurde. Auf dem kurzen Weg plauderten Priester und Gläubige unverfänglich über den Alltag. Lukas erkundigte sich nach Gesundheitszustand von Mutter und Vater und ob diese sich mit der Entscheidung der Tochter immer noch nicht einverstanden zeigten, er schwärmte von den Keksen, die Belinda laut Erzählungen alljährlich buck und die er auf jeden Fall probieren wollte, bevor er wieder weiter zog und er empfahl ihr ein wenig mehr zu essen, auf dass sie keine gesundheitlichen Probleme bekommen würde. Kurz um: Belinda fühlte sich bei ihrem Seelsorger vom ersten Moment an so geborgen, wie sie bei seinem Anblick erhofft hatte.
Der enge Holzbau mit der schweren Tür wirkte bedrückend wie eh und je, doch der leichte, würzige Geruch nach verbranntem Tabak, den der Wanderpriester ausströmte und der nun durch die kleine Verbindungsklappe zwischen ihnen drang, beruhigte die Sündige auf nachhaltige Weise.
Die Beichte verlief angenehm und reibungslos. Müller lies die junge Frau reden, sagte selber fast nichts, ermutigte sie nur hin und wieder durch ein geflüstertes Wort oder ein brummendes Murmeln zum weiterreden. Am Ende trug er ihr auf zwanzig Mal das 'Om kommet!' zu beten sowie zwei Dollar an die Kirchenkasse zu spenden und erteilte ihr Absolution.
Als die Tür hinter Belinda ins Schloss fiel, nachdem der Vater sie abermals höflich hinausbegleitet hatte, fühlte sie sich erfüllt wie schon lange nicht mehr. Dies war etwas völlig anderes gewesen als die seltenen Beichten bei dem alten, verknöcherten Vater Kniggebock.
Frau Flugfarn hoffte inständig, dass Lukas Müller noch lange in Ankh-Morpork verweilen würde.

Befriedigt schloss Lukas die Tür. Die junge Seele, die ihre Alltagssünden soeben gebeichtet hatte, war ein Glanzstern in Oms Augen. Obwohl ihre Eltern dem Einen nicht folgten und lieber an ihrem heidnischen Mehrgötterglauben festhielten - ein Umstand, den der Priester durch ein Gespräch zu beheben gedachte - war Belinda Flugfarns Glauben schlicht und stark. Müller zweifelte nicht daran, dass sie sich das Paradies Oms verdient hatte, sollte ihre Zeit in ferner Zukunft kommen.
Schnellen Schrittes durchwanderte er das Gemeindehaus und trat zum Hintereingang hinaus. Er hasste seine eigene Sucht nach Zigaretten, die ärgerlicher Weise nur von Ungläubigen hergestellt wurden, und wollte keinesfalls die Gemeinde damit belästigen, dass er in ihrer Gegenwart oder in den Räumen, in den sie sich aufhielten, rauchte. So entzündete er das dünne Röllchen erst, als er in der stinkenden Gasse stand und sich die Hintertür leise schloss. Mit jedem Glimmstengel fragte sich Lukas, warum ihn diese Angewohnheit plagte. Ja, die omnianische Kirche verbot den Genuss von Rauschmitteln nicht, doch der Wanderpriester empfand es als Schwäche, die er von Missionierungsmissionen im fernen Klatsch mitgebracht hatte. Stets kam er zu dem Schluss, dass Om ihm schließlich eine besondere Aufgabe hatte zu Teil werden lassen, als er sich ihm seinerseits in einem Sandwirbel offenbarte - und diese nicht einfache Queste erforderte ein Ausgleich, etwas, das ihn wieder beruhigte. Heute würde er nicht tätig werden müssen, denn jener Marco war noch auf See und würde erst in drei Tagen mit dem Schiff einlaufen - dann würde er Sabine folgen müssen, wie stets, und warten. Müller hoffte inständig, dass er sich täuschen würde, doch die Art, in der die junge Frau von einer eventuellen Hochzeit gesprochen hatte[1], verriert, dass sie sich nicht aufsparte, wie Om es wollte - schlimm genug, dass sie sich einem Heiden hingab. Wie sollte es der Ungläubige auch besser wissen? Immerhin blieb ihm der einzige Weg verborgen. Um ihn war es nicht schade - und Sabine Schreibers Seele würde ihm dankbar sein, sobald sie die Möglichkeit hatte zu bereuen.


~ 29.08. ~

Schweigend sitzt mir der Wächter gegenüber und mustert mich. Er versucht meine Gedanken zu lesen damit er abschätzen kann, was er sagen muss, um mir zu helfen. Ein Püschologe nennt er sich. Ich weiß wirklich nicht, warum ich das hier tue, aber als jener Uniformierte kam und uns mitteilte das Ani... nicht mehr ist, bot er Hilfe an. Kostenlos. Allerdings scheint er sich selbst zu schade dafür zu sein, so dass er die lästige Pflicht an einen Kollegen weiter geschoben hat, einen Zwerg mit schwarzen Haaren, der mir jetzt gegenüber sitzt.
Als ich schüchtern in das Wachhaus kam hat er bereits gewartet, mich in diesen Raum hier geführt und geplappert, unsinniges Zeug, wohl, um eine angenehme Atmosphäre zu schaffen. Es ist ihm nicht gelungen. Er erzählt, dass dies hier eigentlich gar nicht mehr sein Dschob ist, dass er längst für die Sicherheit zuständig ist, sich aber für mich gerne Zeit nimmt.
Ich würde mit ihm reden, ich habe das Bedürfnis zu reden, glaube ich. Einfach dieses große, schwere, dunkle, stinkende Etwas von meiner Seele rollen, ein wenig Luft schnappen können, bevor es mich wieder niederdrückt. Aber ich tue es nicht. Wo sollte ich auch anfangen? Soll ich erzählen wie sehr ich Ani geliebt habe, dass sie eine tolle große Schwester gewesen ist - immer für mich da, verständnisvoll und in den richtigen Momenten unerbittlich, dass ich mehr von ihr gelernt habe als von Mutter? Oder möchte dieser jovial lächelnde Bartträger wissen, dass ich mir Sorgen um Mutter und Vater mache? Um ihre geistige Abwesenheit und sein Schweigen? Ich könnte auch erwähnen, dass ich mich gestern schon wieder mit Vaters Rasiermesser geschnitten habe, und dass es mir gut getan hat, zu sehen, wie mein Lebenssaft aus meinem Arm tropft, ganz so, wie es bei Ani der Fall gewesen sein muss. Ich habe das Gefühl aus mir hervorquellendes Blut würde ein bisschen den Druck lindern, der mich von Innen aufpustet wie eine Wasserleiche und mich zu zerquetschen droht.
Ich sage nichts. Ich sitze da und sehe ihn herausfordernd an - und hinter meinen Augen hoffe ich, wünsche ich, erflehe ich, dass er durch meine Fassade hindurchblickt und sieht wer ich bin und was mich quält, dass er irgendwelch Worte findet, die mich wirklich trösten.
Jetzt beginnt er wieder zu sprechen. Nennt mich Frau Koch, um seinen Respekt kund zu tun. Legt jedes Wort tastend vor mich hin, als wäre ich irgend ein wildes Tier, dass gezähmt werden muss! Jetzt behauptet er - er wagt mir zu sagen - dass Anja es sicherlich nicht gut hieße, wenn ich mein Leben nun wegwerfen würde! Als ob dieser Mistkerl meine Schwester gekannt hat!
Ich glaube, ich habe ihm noch einige beleidigende Worte ins Gesicht gespuckt, bevor ich aus dem Haus gerannt bin...


~ 30.08. ~

An diesem Abend führte Lukas die Predigt des Frauengottesdienstes nicht, obwohl man ihr glaubhaft versichert hatte, dass er abermals die liberale Gemeinde aufsuchen würde, nachdem er wohl an den vorangegangenen Tagen die Konservativen und Reformierten mit seiner Gegenwart erfreut hatte. Nun, nicht jeden machte die Gegenwart von Lukas Müller glücklich - besonders die älteren Herren in ihrer Gemeinde schienen dem frischen Wind gewohnt misstrauisch gegenüber zu stehen und ihre Frauen schlossen sich dieser Meinung an, anstatt selbst zu denken: 'Mein Humphrey hat gemeint...'. Im Einzelgespräch und bei Verabschiedungen sah man sie dennoch mütterlich lächeln, wenn Lukas seinen Witz spielen lies.
Seufzend gab Belinda sich ihren - zugegeben nicht immer keuschen - Gedanken an den jungen Wanderprediger hin, während vorne der alte Kniggebock seine Ansichten meckernd zum Ausdruck gab. Frau Flugfarn merkte sehr wohl, dass sie nicht die einzige war, die sich über die Abwesenheit des Priesters enttäuscht zeigte. Eben so wenig stand sie mit ihrem Versuch alleine da, heute besonders hübsch und reizend auszusehen. Natürlich würde sich niemals ein Kleriker des Om der Wollust hingeben und auch sie hatte nicht vor, Om bewahre, ihr Heiligstes schon vor ihrer Hochzeit zu verschenken. Doch ein Lächeln... Ein Blick, der vielleicht ein wenig zu lange auf ihrem Körper ruhte... Das würde ihr schon viel bedeuten.
Schlagartig wurde Belinda klar, was sie sich da gerade wünschte. Hatte dieser Lukas Müller wirklich einen derart charmanten Eindruck auf sie gemacht?
Ja.
Er war ein Mann, wie ihn sich jede Frau nur wünschen konnte: Verständig, sanft, gutaussehend, weise, humorvoll. Zudem wünschte Belinder sich in einsamen Nächten seinen Geruch herbei: Dieses herrlich aufregende, würzige Aroma.
Übergangslos schreckte die Sechsundzwanzigjährige aus ihren Gedanken auf, als neben ihr ein scharfen Räuspern erklang. Um sie herum schien die gesamte Gemeinde geschrumpft zu sein - sie hatte den Moment des Hinknieends verpasst! Hastig und unter den funkelnden Blicken in der Nähe sitzender, gläubiger Frauen holte sie den Fauxpas nach und hockte sich auf die harte Holzfläche nieder. Kniggebock, den Kopf auf die steinerne Fläche des Altars gelegt, hatte ihre Unachtsamkeit zum Glück nicht bemerkt, sonst hätte sie sich wieder minutenlange Strafpredigten über ihre Unachtsamkeit und den moralischen Verfall ihrer Eltern anhören dürfen.
Als der Gottesdienst endlich dem Ende entgegen ging, atmete Belinda erleichtert aus. Auch wenn der Frauengottesdienst vergleichsweise angenehm gestaltet wurde - so war das ewige aufstehen, setzen und hinknien immer wieder gewöhnungsbedürftig, auch wenn es in den meisten Fällen vor dem Einschlafen schützte. Seit sie wusste, wie Lukas seine Predigten hielt, wurden jene von Kniggebock nur noch unangenehmer.
Willig lies sie sich von einem Teil der anwesenden Damen zu dem Raum führen, der ihnen als "Tempelcafe" zur Verfügung stand und stets nach den Gottesdiensten für die Gläubigen geöffnet wurde. Eigentlich machte sich Frau Flugfarn nicht viel aus dem allgemeinen Getratsche, doch als noch immer argwöhnisch beäugtes Mitglied der Omnianischen Gemeinde musste sie an solchen Gesellschaften teilnehmen, um die übrigen Frauen von ihrer Aufrichtigkeit zu überzeugen.
Wie erwartet wurde das Thema Lukas Müller wohlweißlich verschwiegen und man begann über wichtige Themen, wie den verkommenen Vorgarten der Witwe Zander-Hemmbach, zu reden.
Da das Gespräch nicht mehr von ihr abverlangte als Lächeln und Nicken, vernahm Belinda am Rande ein geflüstertes Gespräch. Eine schwarzhaarige Frau mit einem etwas harschen Tonfall, die den Raum zusammen mit einer deutlich älteren Dame betreten hatte, begann sich nach Sabina zu erkundigen. Ein schneller Blick überzeugte Frau Flugfarn davon, dass Sabina Schreiber tatsächlich nicht unter den Anwesenden war, obwohl sie doch keinen der Gottesdienste verpasste. Belinda zuckte innerlich mit den Achseln. Vor einigen Wochen hatte sie Fräulein Dieselda lamentieren hören, dass Sabina bald ihren langjährigen Freund Marco heiraten wolle, der als Maat auf einem wichtigen Handelsschiff arbeite - wahrscheinlich war die junge Frau, mit der Belinda bisher kaum ein Wort gewechselt hatte, einfach in Vorbereitungen vertieft. Umso mehr überraschte es sie, als die Schwarzhaarige mitsamt ihrer Begleiterin hektisch das Cafe verließ.

Mit ruhiger Hand drückte Müller den Glimstengel auf dem Dach aus. Schweiß rann ihm über die Stirn und tropfte von der Nase - obwohl die heißesten Tage vorbei waren und er erst seit der frühen Abenddämmerung auf seinem Beobachtungsposten verweilte, war jenes Ausharren eine wahre Tortur. Der reisende Prediger atmete ruhig und gleichmäßig. Om war sein Schild und er, Lukas, eine winzige aber wichtige Figur in dessen göttlichen Plan, wie eine Nadel, mit der die eiternden Beulen der Sünder und Ungläubigen ausgestochen wurden. So ertrug er die Qualen und konzentrierte sich auf seine Aufgabe.
Durch die Lamellen der hölzernen Fensterläden konnte der Lauernde die Silhouetten von Sabine Schreiber und Marco DaSilva erkennen. Im Moment schienen die beiden ein Gespräch zu führen - nicht verwunderlich, da der Seereisende sicher viel zu erzählen hatte. Ein Lachen drang aus dem Zimmer, dann näherten sich die Gesicherter der beiden Liebenden. Unbewusst streichelte Müller über die Armbrust in seinen Händen, die neue Munition würde ihm seine Aufgabe maßgeblich erleichtern, doch ein Kuss, auch an einen Ungläuben verschenkt, konnte von Om verziehen werden - wenn es dabei bleiben sollte.
Lukas gönnte sich einen gedankenlosen Moment, um, eine weitere Zigarette zwischen den Lippen, zu resümieren. Dieser furchtbare, wundervolle Tag vor nicht ganz einem viertel Jahr, an dem ihn die klatschianischen Schläger aufgegriffen und in die Wüste geschleppt hatten. Keinen klaren Gedanken hatte sein geschlagener Kopf fassen können und die zugeschwollenen Augen waren voll mit Sand gewesen. Zwei schleppende Tage ohne Wasser in glühendem Wüstensand später war ihm, einem unwichtigen Missionar, der Eine und Wahre erschienen und ihm seinen Weg gewiesen. Lukas hatte überlebt - zweifellos mit Oms Hilfe - und war eine Woche später wieder kräftig genug, um einem der Schläger zu folgen und ihn zusammen mit einer der wenigen gläubigen Frauen Klatschs in verfänglicher Form erwischt. Das erklärte zumindest, warum sie Müller aufgegriffen hatten - und so war dies damals seine erste Befreiung geworden. Die Tat erschütterte den Auserwählten, doch jemand musste sie tun. Wer war er, dass er eine solche göttliche Queste ablehnen und jemand anderem aufzwingen durfte? Om ermöglichte ihm, mit seinen Gefühlen fertig zu werden.
Die omnianische Gemeinde in Klatsch war sehr klein, so hatte er nur eine weitere Befreiung durchführen müssen, bis er im Sinne seiner Aufgabe weiter reiste. Nach Ankh-Morpork.
Ein Schrei riss ihn aus den Gedanken.
Ein Schrei der Lust.
Ruckartig hob Lukas Müller die Armbrust. Der Moment war gekommen. Die streifenhafte Sicht ermöglichte ihm einen Blick auf das schmale Bett Sabines und den kräftigen Männerrücken, der die unter ihm liegende Gestalt mit zarten Stößen bearbeitete. Mit einer fahrigen und doch innigen Bewegung führte er sein Om-Amulett an den Mund und drückte einen trockenen Kuss auf das vergoldete Metall.
Dann zielte er.
Dünnes Holz splitterte, ein überraschter Seufzer wurde ausgestoßen.


~ 01.09. ~

Mutter hatte einen Zusammenbruch. Ich denke, deshalb bin ich wieder hier und blicke dem Zwerg ins Gesicht, der sich dieses Mal sein Lächeln spart, wofür ich irgendwie dankbar bin. Nachdem Mutters Abwesenheit in den letzten Tagen schlimmer und schlimmer wurde, bis sie nicht einmal mehr dazu zu bewegen war sich mit uns an den Tisch zu setzen und zu essen, bis es Vater nicht mehr gelang ihr irgendwie Wasser einzuflößen, klappte sie gestern völlig tonlos in ihrem Sessel zusammen.
Der kaltherzige Mediziner, den ich holte, forderte Vater mehrfach auf ihm zu berichten was geschehen sei, doch Vater blieb stumm. Nachdem ich dem Mann gesagt hatte, was ich wusste, ließ dieser zwei Träger holen und brachte Mutter in irgendeine Klinik, wo nun versucht wird sie am Leben zu erhalten. Miri ist bei ihr, sie traut sich sowieso nicht mehr zu schlafen.
Mir tut alles weh. Mittlerweile merke ich schon gar nicht mehr, wenn ich weine. Auch jetzt fällt eine Träne in die Tasse, die ich mit beiden Händen fest halte - der Püschologe hat mir einen Kakao gemacht. Mit verschwommener Sicht sehe ich ihn an. Bisher habe ich noch immer wenig gesagt. Ich weiß auch nicht, was aus meinem Mund kommen soll, außer die beiden Fragen, die ich schon gestellt habe: 'Warum Ani?' und 'Wann hört das auf?'. Der Mann leidet darunter, dass er mir nicht helfen kann, aber ich kann ihn dabei nicht unterstützen, ich bin zu schwach. Immer wieder fordert er mich auf zu reden.
Ich mache den Mund auf. Meine Gedanken sind zugeschwollen, mein Hals vom Schreien trocken. Habe ich etwas gesagt? Als ich wieder auf die Tasse hinunter blicke sehe ich, dass ich Kakao verschüttet habe, also muss ich mich bewegt haben. Ich sage ihm, dass es mir leid tut, wegen dem Kakao und er antwortet, dass das kein Problem sei.
Er fragt mich, ob ich gerne irgendetwas kaputt machen würde. Ich würde gerne alles kaputt machen, alles. Den Mörder von Ani, das ganze dämliche Wachhaus, dass ihn nicht findet, diesen Zwerg und mich gleich dazu. Wenn ich könnte, würde ich die ganze Welt kaputt machen. Frieden. Das wäre schön.
Wie kann es nur so schwer sein, einen gottlosen Mörder zu finden? Wieso quälen uns die Wächter so lange mit ihrer Unfähigkeit? Da müssen doch Spuren von schmutzigen Stiefeln sein oder die Waffe oder Zeugen.
In einem Ausbruch werfe ich die Tasse an die Wand. Kakao spritzt über die Steine. Ich glaube, ich schreie. Mein Rachen brennt. Mir steigt ein ekliger Geruch in die Nase. Mundgeruch. Von mir.
Warum habe ich das getan? Ich fühle mich nicht erleichert, nicht besser. Aber es war ein Anfang.
Ob mein Kopf auch so zerplatzt, wenn ich ihn gegen die Wand haue? Ob mein Gehirn genau so wie diese braune Flüssigkeit mit leisen Platschen zu Boden tropft?
Der Zwerg ist nur leicht zusammen gezuckt. Wieder entschuldige ich mich, aber er sagt nichts. Warum auch? Er weiß bestimmt genau so gut wie ich, dass ich es nicht ernst meine und eine zweite Tasse genau so kaputt machen würde.
Ein anderer Wächter kommt rein. Irgend so ein großer, schlacksiger Kerl mit einem dümmlichen Gesicht. Er legt dem Zwerg einen Zettel auf den Tisch und lächelt mich kurz scheu an, das gleiche Lächeln, dass ich immer sehe, wenn die Leute nicht wissen, wie sie mit einem Mädchen meines Alters umgehen sollen. Jetzt liest der Püschologe den Brief und seufzt dann. Dumpf erklärt er mir, dass irgendeine Anzeige gegen irgendeinen Rekruten wegen irgendeiner Schlägerei erhoben wurde und er nun ermitteln muss.
Sehe ich wirklich Bedauern in seinen Augen?
Er bittet den Schlacksigen, mich hinaus zu begleiten.


~ 02.09. ~

Betend kniete Belinda Flugfarn vor dem Altar. Der Tempel war verwaist und still, ein Küster hatte die verzweifelte Frau hinein und allein gelassen.
Erst gestern hatte sie sich noch mit Lukas unterhalten - Vater Müller, ermahnte sie sich. Keine Beichte, sondern ein einfaches, schönes Gespräch. Nach dem Gottesdienst hatte sie gewartet, bis sie die Letzte war. Keine leichte Aufgabe, denn mindestens zwei weitere Frauen hatten die gleiche Idee gehabt, doch trotzig hatte Belinda ausgeharrt, um L... Vater Müller bei der Verabschiedung in ein Gespräch zu verwickeln. Kurze Zeit später hatten sie auf einer der Tempelbänke gesessen und eine Diskussion über die vergangene Predigt geführt. Zwischenzeitlich war es ein wenig persönlicher geworden und die junge Frau hatte von ihrer Angst vor Ratten und Krankheiten erzählt, er ein wenig von seinen Reisen durch die Länder. Bereits acht Jahre durchstreifte er die ganze Scheibe im Auftrag von Om, zuletzt in Klatsch. Eine lange Zeit, die man ihm gar nicht ansah, wie Belinda fand.
Nun das.
Die alte Dame, dieses mal ohne Begleitung der Schwarzhaarigen, hatte es brühwarm nach dem Frauengottesdienst erzählt. Ihre Enkelin war wohl Wächterin oder so etwas ähnliches. Eine Tatsache, die einige Rädelsführerinnen zu einem abwertenden Kopfschütteln veranlasst hatte - aber die Neuigkeiten wollten natürlich alle hören. Anscheinend war... Lukas verhaftet worden. Man hatte ihn in seinem Haus gestellt und zur Wache geschleppt.
Die Wächter legten ihm zur Last, dass er sechs Menschen ermordet haben sollte. Ihr Lukas. Undenkbar.
Viele Stimmen wurden laut. Belinda hörte eine der Frauen, die zuvor noch mit ihr im Tempel gewartet hatten um alleine mit den Priester zu sein, sagen, dass sie dem Mann vorher noch nie getraut habe mit seinem falschen Lächeln und seinem unangenehmen Geruch.
Belinda hatte entschieden, nach Hause zu gehen und zu kotzen.
Jetzt war sie wieder hier. Schweigen breitete sich in ihr aus, doch es war kein beruhigendes Schweigen, es war das Schweigen auf Fragen, die sie sich selber stellte. Wenn ein solcher Mensch zu so etwas fähig war, wie konnte es dann überhaupt eine Sinn im Ganzen geben? Alles, woran sie geglaubt hatte, zerbröselte in diesem Moment. Die Welt hatte in diesem Moment nichts mehr zu bieten. Und Om? Einer seiner glänzensten Sterne war ein Mörder. Was für ein schwachsinniger Gott konnte so etwas zu lassen? War nicht eines der obersten Gebote, dass man nicht töten solle? Stöhnend rieb Belinda sich die Schläfen, um das stechende Pochen, welches von ihrem Kopf Besitz ergriffen hatte, zurück zu treiben. Dann traf sie eine Entscheidung.
Mit Nachdruck schob sie sich vom Altar fort.
Als erstes würde sie zu ihren Eltern zurück kehren und ihnen eröffnen, dass ihre Entscheidung vor sieben Jahren falsch war und sie um Verzeihung bitten.
Und dann? Vielleicht die Ponsbrücke?

"Om schenke mir Kraft für die folgenden Stunden. Sei mein Schild und mein Schwert. Sprenge die Fesseln der Ungläubigen, die mich zu binden versuchen, vernichte ihre Arroganz. Zu deiner Ehr will ich streiten und nicht weichen, zu deinem Ruhm will ich meinen Geist gegen ihre Lügen stählen und meine Zunge wie Feuer führen. Om komme und richte die Sünder. Und sollte mein Ende nahen, so ist mir nicht bang, denn Du bist bei mir und geleitest mich in dein Paradies. Omen"


Einsatzbericht von Korporal Braggasch Burkhardssohn Goldwart
Spaeher der Freiwilligen Retter ohne Gnade mit Teilversetzung als Ausbilder zu Generelle Richtlinien und Neuzugangsdesorientierung
Zum Fall MuellerMorde am zweiten August, Zwoelf Uhr Fuenf
Von Feldwebel Valdimier van Varwald zugewiesen in Observationsgruppe zusammen mit Leutnant Kanndra Mambosamba. Zielgebaeude wies ein Geschoss mit drei Fenstern sowie einer Vorder- und einer Hintertuer auf. // Anm. d. Vf.: Hintertuer wurde von mir als zur Not schnell oeffnebar eingeschaetzt. // Haben Gefahr einer Flucht gemeldet und auf Befehl von Feldwebel Valdimier van Varwald Stellung bezogen. Feldwebel Romulus von Grauhaar fuehrte die Verhaftung persoehnlich durch. Habe vorsichtshalber durch ein Fenster gesichert. Verdaechtiger kniete an einem hoelzernen Gestell, dasz keinen mechanischen Nutzen aufwies, und an dessen menschenbrusthoher Spitze eine grosze kupferne Schildkroete angebracht war. Er schien unbewaffnet und schaute beim Klopfen von Feldwebel Romulus von Grauhaar verwirrt auf, machte eine komiche Geste mit den Haenden, die aber keine Auswirkung hatte, und oeffnete die Tuer. Feldwebel Romulus von Grauhaar konfrontierte die Zielperson mit den Fakten, woraufhin sich diese widerstandslos abfuehren lies. Eine Durchsuchung des Hauses ergab nichts besonderes: Die Tatwaffe, eine Armbrust Typ Zweiunddreißig mit verstaerkter Sehne, sowie siebzehn Bolzen omnianischer Hochgeschwindigkeitsmunition. // Anm. d. Vf.: Ein Waffentyp, der das Zielen erleichtert, die Schussfrequenz jedoch senkt, der Taeter wird kein geuebter Schuetze sein. // Fanden zudem viele religioese Gegenstaende. // Anm. d. Vf.: Leutnant Kanndra Mambosamba schrieb ihnen Eigenschaften zu, die ich nicht an ihnen erkannte. Vgl. Bericht von Leutnant Kanndra Mambosamba. // Es wurde alles vorschriftsmaeszig verpackt und in das Labor von Suchen und Sichern transportiert. Gebaeude wurde abgesperrt und versiegelt. Buerger zerstreut. Einsatz Ende.


* Beilage: Ich bitte um eine Erklaerung des Ganzen, Sir, wenn Ihre Zeit es erlaubt. Was hat den Taeter getrieben? Ich verstehe nicht viel von Religion, aber bisher hatte ich den Eindruck, sie solle die Menschen schuetzen und ihnen einen festen Halt bieten, den Menschen brauchen. Nicht so wie wir Zwerge, die wir davon ausgehen, dass der Boden ein genuegend fester Halt ist. Was fuer ein Motiv steckt dahinter, Sir? Ist Lukas Mueller einfach nur verrueckt? Er machte bei seiner Verhaftung keinen entsprechenden Eindruck. Ich meine, er lachte nicht irre oder so. Bitte helfen sie mir, die Menschen zu verstehen, Sir.
B. B. Goldwart

[1] nicht zu ihm, aber die wachen Ohren und fleißigen Münder der weiblichen Gemeinde hatten es an ihn weitergetragen, als käme es von der jungen Frau selbst




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Feedback:

Von Lilli Baum

30.01.2011 11:55

Nette Geschichte, Feedback per Mail verschickt.

Von Ruppert ag LochMoloch

30.01.2011 11:55

Das war eine ausserordentlich beeindruckende Single. Schon allein die Idee die Geschichte von Magane als Vordergrund einer eigenen - ja, was ist es eigentlich? - Geschichte(?) zu machen ist toll. Und die Ausführung hat mich beeindruckt - auch wenn ich mich wiederhole.Du zeigst sehr gut, dass von jedem Fall (ob real oder in einer Geschichte) ein großer Kreis an Auswirkungen ausgeht. Leider wird das normalerweise, in den Geschichten, kaum berücksichtigt. Insofern ist es auch ein guter Impuls für mich selber als Geschichtenschreiber, das mal vor Augen geführt zu bekommen.Noch was Kritisches? Mal überlegen... Ja! Zu wenig Fußnoten! ;)Es wäre eine übrigens interessante Idee für eine Coop: Einer schreibt eine Geschichte und der andere beschreibt die Wirkung und die Sicht anderer Figuren darauf.

Von Sebulon, Sohn des Samax

30.01.2011 11:55

Ich enthalte mich einer Note, weil ich mich beim besten Willen nicht in diese Aufzeichnungen hineinfinde. Die Geschichte bleibt für mich schwer überschaubar.Mir als Leser hätte es zugesagt, wenn du nicht Episoden [i]verschiedener Perspektiven[/i] zur Erhellung der Geschichte genommen hättest, sondern die Story aus Sicht einer einzigen Person parallel (wenn auch nur in Ausschnitten) verfolgen würdest.

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