Blond Gelockt

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von Wächter Boris Machtnichts (GRUND)
Online seit 23. 11. 2010
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Für Rekruten (erste Mission):
Auf dem heutigen Ausbildungsplan steht "Umgang mit dem Schwert". Mit Schwertern konntest du noch nie umgehen. Überzeuge deinen Ausbilder, dass du dich in dieser Übung mit anderen Methoden behaupten kannst!

Dafür vergebene Note: 12

Heute Morgen hatte er sich besonders gründlich gewaschen, soweit es mit einer gesprungenen Schüssel und einem Tuch ging. Ein ehrlicher Versuch, sich das noch leicht feuchte Haar zu kämmen, folgte, ehe Boris Machtnichts inne hielt und lauschte. Sein Blick glitt am Spiegel vorbei zu seinem schmalen Bett, die Wand hoch, bis er das Bild erblickte, welches dort hing. Eine Ikonographie seiner Familie. Seine drei Brüder, seine Mutter, mit vor Stolz geschwellter Brust, und, etwas verborgen im Hintergrund, er, Boris. Auf dem nächsten Bild würde er wohl noch weiter abseits stehen. Es war still. Wie so oft.
Es war schon seit einigen Tagen sehr still.
Man mag schon von einer erschreckenden Stille reden.
Betroffen dreinschauend knöpfte er sein Hemd zu, um es sich anschließend unter den Hosenbund zu stecken. Den Gürtel eng zuziehend, betrachtete er sich in dem Spiegel vor ihm. Ein Sprung zog sich von der oberen linken Ecke bis zur unteren rechten Ecke und verzog das Spiegelbild des jungen Mannes, der verzweifelt versuchte, ordentlich stramm zu stehen, ohne auf die Stille in der kleinen, schmuddeligen Wohnung zu achten. Doch schon beim Strammstehen ergaben sich die ersten Probleme: Sein ganzer Körper weigerte sich schlicht, dem Gehirn zu gehorchen. Groß und schlacksig gewachsen, hängen entweder die Schultern oder die Arme lose von ihren Gelenken. Sich räuspernd, nahm er den Waschlappen in die rechte Hand und rieb sich dann das Gesicht und den Nacken ab, bis die leicht gebräunte Haut feuerrot glühte. Dann versuchte er noch ein letztes Mal, sein Haar zu ordnen, ehe er aus dem Zimmer schlich und sich umsah. Niemand war zu sehen, weswegen er seufzend aus der Wohnung ging.

Nur wenige Minuten später bog Boris mit latschenden Schritten in die Ulmenstraße ein und sah sich um. Er sollte die Gassen vermeiden, sagte seine Mutter immer. Gehe niemals alleine in die Gassen der Schatten, sagte seine Mutter. Nun sagte sie nichts mehr. Und es ist seine Schuld gewesen. Doch was sollte er anderes machen? Einmal wollte er das tun, was er wollte...
Seine Schritte führten ihn immer weiter die Ulmenstraße entlang, bis er schließlich die Kreuzung erreichte, die in den Steinbruchweg, in die Bescheidene Straße und in die Kröselstraße am Viehmarkt führte. Nach rechts biegend, legte er den Kopf in den Nacken. Früher Vormittag, etwa 10 Uhr am Morgen. Viel zu früh. Boris war grundsätzlich zu früh. Besser zu früh als zu spät, sagte seine Mutter immer. Das macht einen guten, eifrigen Eindruck, sagte seine Mutter.

Seine Mutter sagte immer viele Dinge. Aber nun schwieg sie.

Der hochgewachsene, dünne Mann ging weiter die Kröselstraße entlang, mit schlurfenden, latschenden Schritten. Alles scheint an ihm nach unten zu hängen, außer die leicht abstehenden Ohren und die nun trockenen braunen Haare, welche in alle Richtungen abstanden. Das Gesicht länglich und pferdeartig, die lange, schmale Nase, die schmalen Lippen zu einem vagen Lächeln verzogen, stachen nur die hübschen, mandelförmigen Augen des jungen Mannes hervor. Helle, grüne Iriden erblickten die Welt, mit jenem Ausdruck naiver Unbekümmertheit. Das Gesicht eines dummen Mannes. Das Gesicht eines langsamen Mannes. Langsam war er. Doch durfte man das niemals mit Dummheit verwechseln.
Nun sah er nach rechts, vor dem Wachhaus in der Kröselstraße stehen bleibend, das Gesicht nach oben gewandt und die Fassade musternd. Fast liebkosend wanderte der Blick über die Tür, die Wand hinab, über die Fenster, in denen sich das Licht des Tages spiegelte... Ein leises Seufzen entglitt seinen Lippen, während er seine Gedanken schweifen lies, der Blick noch erhoben, fast verträumt. Es war schon eine Weile her, ungefähr.. .ja, er war gerade Zwanzig geworden, als er sie das erste Mal wirklich und wahrhaftig wahrnahm. Die ehrenhafte Stadtwache von Ankh-Morpork. Nur kurz hatte sein Blick die beiden Männer auf Patrouille gestreift, aber er konnte sich noch an jedes Detail erinnern. Einer von ihnen war ein Mensch, groß, hager, mit kurzen, dunklen Haaren, der andere klein wie ein Zwerg. In seiner Erinnerung waren die Haare des Zwerges wie aus gesponnenem Gold gewesen, doch das konnte auch am Licht gelegen haben. Heute vermutete Boris, dass es die Reaktion der Zivilisten war, die ihn so beeindruckt hatte. Oder auch das reflektierende Licht auf den polierten Brustharnischen. Nach dieser Begegnung hatte der kleine Boris fast jeden Tag nach den Wächtern Ausschau gehalten. Entweder auf der Straße, wenn er nicht gerade von seiner Mutter beansprucht wurde, ihr doch zu helfen, oder er lehnte sich aus dem Fenster der kleinen Wohnung, die Augen mit der Hand beschattend. Manchmal, wenn seine Mutter ihn einkaufen geschickt hatte, ging er einen Umweg, um an dem Wachhaus - diesem Wachhaus - vorbeizugehen, doch die beiden, Mensch und Zwerg, hatte er nie wieder gesehen. Er wusste nicht, wieso er so fasziniert von der Wache war. Es war einfach um ihn geschehen, wie ein junger Mann, der das erste Mal die sanften Kurven eines Mädchens erblickt und sich verliebt. Oder wie ein Zwerg, der den ersten Klumpen Gold in seiner Hand hält.
Nur langsam glitt sein Blick wieder herunter, zur Tür. Klopfen oder einfach eintreten? Er entschied sich für das Erstere und hob die zu einer Faust geballte, schmale Hand mit den langen, dünnen Fingern.
Nach einigen Minuten, die er wartend vor der Tür verbrachte, klopfte er erneut, den Kopf in eine leichte Schräglage bringend. Dann ein drittes Mal. Schließlich drehte er nicht ohne schlechtes Gewissen den Türknauf und trat in die Wachstube. Er sah...
Einen alten, zerkratzten Tisch direkt in der Wachstube. Dokumente, die sich auf jenem stapelten, Aktenschränke, Schubfächer mit unausgefüllten Fragebögen.
Mehrere Wächter, die geschäftig durch Türe gingen, durch den Raum eilten und ab und an auch eine Treppe hinauf gingen.
Ein einzelner Wächter, jung und mit Akne gesegnet, welcher an dem Schreibtisch saß und mit hoher Konzentration eine Eiterbeule untersuchte, indem er mit seinen Fingerkuppen jene betastete. Einige Momente beobachtete Boris das Tun des Fremden mit einer Mischung aus entsetzter Faszination, ehe er herantrat und sich räusperte.
"Entschuldigung?" Die Stimme war trotz der leichten Nervosität ruhig im Klang, mit einer penetranten Freundlichkeit und einem ständig fragenden Unterton.
Der Wächter hob den Blick, nahm die Hände vom Kinn und setzte sich auf, fahrig einige Dokumente aufnehmend, um in gespielter Geschäftigkeit jene einzuräumen.
"Jaah? Willst Du eine Anzeige aufgeben?" Ein mäßig interessierter Blick streifte Boris, der den Kopf schüttelte.
"Nein, Sör, Ich will ein Rekrut werden, Sör."
Ein abschätzender Blick traf Boris, und er wurde von Kopf bis Fuß gemustert. Merkwürdig, wie Boris dachte, denn der Wächter schien nicht viel älter zu sein als Boris. Aber eben ein Wächter... Merklich nervöser, richtete er sich gerade auf und versuchte erneut, Haltung anzunehmen. Er konnte schon beinahe körperlich spüren, wie der Wächter innerlich den Kopf schüttelte. Sicherlich hatte jener sehr viel Erfahrung und würde ihn sofort wegschicken. Es konnte gar nicht anders sein. Bestimmt ein Naturtalent. Bei allen Göttern, bitte, bitte...
"Du musst dich bei Feldwebel Feinstich melden, die Ausbilderin." Gelangweilt lehnte der Wächter sich wieder nach hinten, um sich erneut dem Pickel zuzuwenden. Aufschauend, hob er eine Augenbraue und setzte sich auf.
"Ist noch was?"
"Nein, Sör, Danke, Sör."
"Und warum stehst Du dann noch hier?" Der Wächter sah ihn zweifelnd an.
"Ähh... Ich weiß nicht, Sör, wo Ich Feldwebel Feinstich finden kann, Sör." Boris sah ihn mit nervöser Höflichkeit an, und ein schiefes Lächeln huscht über die schmalen Lippen.
Der Wächter seufzte.

"Ja?"
Das Klopfen verklang, dann konnte man ein Räuspern von der anderen Seite der Tür vernehmen. Boris stand vor dem Büro von Feldwebel Feinstich, Ausbilderin der Rekruten und Abteilungsleiterin in der Kröselstraße, und starrte eine Weile auf die Tür. Anscheinend wartete er darauf, hereingebeten zu werden, und vertrieb sich die Zeit damit, zu versuchen, das Namensschild zu entziffern.
"Waf ift?" Die Stimme klang nun zunehmend gereizt, was Boris dazu veranlasste, sich zu besinnen, warum er hierher gekommen war.
"Äh, Ich bin Boris Machtnichts, Sör! Ich will ein Wächter werden, Sör!", rief er gegen die Tür an, noch immer keine Anstalten machend, jene ohne Aufforderung zu öffnen.
"Borif Machtnichtf?"
"Boris, Sör."
"Willft Du mich fum Narren halten?"
"Ich wusste nicht, dass Du ein Narr bist, Sör."
Schwitzend stand er vor der Tür, das Namensschild anstarrend. Schweigen erfüllte die Räumlichkeiten, ehe sich der Türgriff drehte und ein leises Quietschen ankündigte, dass man die Tür von innen öffnete.
Das Gesicht, welches sich nun mitsamt dem dazugehörigen Körper vor dem jungen Mann aufbaute, war von Narben durchzogen, die wie magisch den Blick des angehenden Rekruten auf sich zogen. Doch nicht nur die Narben schienen eines Blickes würdig, auch die Augen faszinierten den Menschen auf eine perfide Art und Weise. Ein braunes und ein blaues Auge. Und ein Gesicht wie die Felder auf der Stoebene: Fleckig und verschieden farbig.
Während seine Augen immer größer wurden, wurden die von Feldwebel Feinstich gefährlich schmal, als die kleinere Igorina trotz mangelnder Größe auf den hochgewachsenen Mann hinabzublicken schien.
"Komm rein", meinte sie schließlich und drehte sich um, um sich wieder hinter dem Schreibtisch zu setzen, welcher im Raum stand. Boris harrte noch zwei oder drei Sekunden aus, ehe er den Wink verstand und hinter der Igorina hertrabte. Die Tür sorgsam hinter sich schließend, blieb er wenige Fuß vor dem Schreibtisch stehen, wobei er wieder einige Versuche unternahm, seinen Körper in eine stramme Position zu zwingen.
Nachdem es beim dritten Mal noch immer nicht geklappt hatte, sackte Boris in seine normale, eher mehlbeutelartige Körperhaltung, wobei er nicht nur die Schultern hängen ließ, sondern scheinbar auch alles andere, wobei er sich kurz umblickte. Schwarz schien in diesem Büro zu dominieren, und ein Alchemist schien sich hier auch breit gemacht zu haben, wenn man die Dinge im Regal dort vorne näher betrachtet. Nun, wahrscheinlich sah für Boris alles nach Alchemie aus, was wenigstens über ein gläsernes Objekt verfügte. Und was ist wohl in dem Einmachglas...?
Jemand räusperte sich. Boris wandte sich wieder Feldwebel Feinstich zu, und nun schien das Gesicht ein Ausdruck aus Bestürzung und Verlegenheit, um von den Armeen des schlechten Gewissens nicht zu sprechen.
"Tut mir Leid, Sör", sagte er hastig und senkte den Blick, sich am Kinn kratzend. "Äh, Ich bin, äh, Boris Machtnichts."
"Daf fagteft Du fon mal. Du willft alfo ein Wächter werden?"
"Ja, Fö... Sör."
"Machft dich immer noch luftig über mich, he?"
"Nein Sör. Ich würde mich nie über jemanden lustig machen, Sör."
"Ich habe daf Gefühl, daff Du dich über mich luftig machft."
Schweigen breitete sich erneut zwischen den beiden aus. Boris wand sich hin und her unter dem Blick des Feldwebels, dann jedoch schien er etwas bemerkt zu haben, was ihn nur noch mehr beunruhigt. Irgendwie schienen vier Daumen für zwei Hände ein wenig seltsam...
"Waf ift?"
"Du hast zwei Daumen pro Hand, Sör."
"Gut beobachtet. Waf haft Du noch bemerkt?"
"Die Augen, Sör. Und die Narben."
"Und waf fließt Du darauf?"
"Ein schrecklicher Unfall?"
"..."
"Sör?" Boris beugte sich etwas vor, den Kopf leicht neigend. Hatte er etwa Recht? War die Frau vor ihm - falls man Frau sagen konnte, aber Boris ist da sehr großzügig - wirklich Opfer eines schrecklichen Unfalls und ist seit jenem Tage schrecklich entstellt durch vier Daumen? War sie etwa an einen Pfuscher geraten, oder noch schlimmer, an einen freischaffenden Arzt?
"Kennft Du die Igorf, Machtnichtf?" Feldwebel Feinstich beobachtete den jungen Menschen, welcher nun einen Ausdruck angestrengten Nachdenkens angenommen hatte. Dann klärte sich die Miene, und Boris lächelte.
"Nein, Sör. Hört sich fremdländisch an, Sör."
Der Feldwebel schüttelte leicht den Kopf und lehnte sich leicht zurück.
"Laffen wir daf, Machtnichtf. Und ef heift Ma'am. Alfo, warum willft Du ein Wächter werden?"
Erneut machte sich jener Ausdruck fast schmerzhafter Nachdenklichkeit auf dem Gesicht breit, die Augenbrauen wurden leicht zusammengezogen, und es sah alles in allem so aus, als würde Boris über Magenprobleme klagen.
"Ja, Mä'äm. Ich... äh, Ich will ein Wächter werden, weil Ich so den... Bürgern helfen kann...?" Der fragende Unterton seiner eher kargen Erklärung schien darauf hinzuweisen, dass der junge Mann sich nicht sicher ist, ob das ein akzeptabler Grund war, der ehrenwerten Wache Ankh-Morporks beizutreten. Ein wenig hilflos war der Blick, den er der Igorina zuwarf, was jene wohl ein wenig verwirrte, mehr jedoch auch stresste.
"Ah ja. Nun, wie alt bift Du, Machtichtf?"
"Ich bin 22, Mä'äm."
"Waf haft Du vorher gemacht, Machtnichtf?"
"Nichts, Mä'äm."
Feldwebel Feinstich hob ihre ungleichen Augenbrauen zu einem leicht ungläubigen Blick, doch das Gesicht des Menschen zeigte keine Anzeichen einer Lüge. Anscheinend hatte sie ihre Frage nicht präzise genug formuliert, weswegen sie einen zweiten Versuch wagte.
"Haft Du fon einmal etwaf gearbeitet, Machtnichtf?"
"Nein, Mä'äm."
"Warft Du in einer Ftrafenbande, Machtnichtf?"
"Nein, Mä'äm."
"Haft Du fon einmal gegen daf Gefetf verftofen, Machtnichtf?"
"Ich weiß nicht, Mä'äm. Wann verstößt man gegen das Gesetz, Mä'äm?"
Das überraschte die Igorina, denn einerseits zeigte das Gesicht Boris noch immer keine bewusste Lüge, und andererseits hatte der Mann tatsächlich verstanden, was sie gesagt hatte. Dann aber zuckte sie nur mit den Schultern.
"Viele Dinge verftofen gegen daf Gefetf, Machtnichtf. Aber daf wirft Du hier allef lernen..."

Verwirrung stand im Gesicht des Rekruten. Feldwebel Feinstich hatte seine Personalien aufgenommen, seine Adresse, sein Geburtsdatum und einige andere Angaben, ehe er den Eid leisten sollte und seine Dienstmarke annahm. Nun, er hat zwar den Eid feierlich geleistet, doch wirklich verstanden, worum es im Detail nun ging, hatte er allen Anschein nach nicht. Er verließ das Büro der Igorina, die Marke in der Hand, und betrachtete diese.
"He, Boris!"
Boris sah auf, mit jenem leichten Schock im Gesicht, welches wohl viele neue Rekruten zierten, welche Feinstich das erste Mal begegnet waren. Das, was er sah, vertiefte den Schrecken nur noch. Die Augen wurden groß und rund, der Mund klappte auf, und da entfuhr ein spitzer Schrei den jungen Mann, ehe er herumwirbelte und gen Treppe eilte.
Was er gesehen hatte? Eine Hand. Eine Hand ohne Körper. Von jeher hatte er schon immer eine fürchterliche Angst vor Körperteilen, welche ohne restlichen Körper zu sehen waren. Eine um die Ecke winkende Hand, abgetrennte Füße und Köpfe... Wenn kein Arm oder Bein daran befestigt war, war es ein ekelerregender und furchtbringender Anblick für den jungen Rekruten. Das die Hand, die ihm da um die Ecke zuwinkte, dem jungen Fynn Düstergut gehörte, ahnte er nicht, auch wenn jener in ihren Kindertagen sich schon immer einen Spaß aus der seltsamen Phobie Boris gemacht hatte und keine Gelegenheit ausgelassen hatte, ihn damit zu erschrecken.
Heute sollte es aber kein freudiger Spaß werden, denn Boris stolperte in seiner Panik über die eigenen Füße, als er an der Treppe ankam, und drohte damit, kopfüber jene hinunter zu fallen. Die Tatsache, dass zwei Paar Hände nun nach ihm griffen, machte dies nicht besser, und schlussendlich rollten, polterten und fielen drei Gestalten die Treppe hinab, nur, um unten angekommen, eine Vitrine zu treffen. Glas zersprang, Schmerzen blühten... Boris öffnete benommen die Augen und sah sich um. Er und zwei weitere Wächter, Fynn Düstergut und Ilja Gänseknecht, bildeten einen Klüngel am Fuße der Treppe. Die beiden hatten versucht, den Sturz des Mannes aufzuhalten. Fynn, weil er ihm den Streich gespielt hatte und ihn fallen sah, und Ilja, da jener gerade daneben stand und mit seinen tierischen Instinkten ebenfalls helfen wollte. Jedoch kam nicht einmal der Werwolf dazu, die Benommenheit des Sturzes ganz abzuschütteln, als sich auch schon ein bedrohlicher Schatten über die drei legte. Synchron hoben sich drei Gesichter, als in der schockierten Stille eine Stimme erschallte.
"Waf ift hier lof?"

"Äh... weißt Du, wie man mit einem Schwert umgeht, Rekrut?"
Boris blinzelte, dann starrte er auf die Klinge herab, die er ungeschickt in der rechten Hand hielt. "Nein, Sör", sagte er dann wahrheitsgemäß und blickte wieder hoch [1], in das Gesicht des Wächters, der seinerseits Boris anstarrte. Der Wächter hielt ein Buch und schien im Großen und Ganzen genauso verwirrt wie der Rekrut. Boris runzelte die Stirn, ehe er etwas unbeholfen das Schwert hob.
Das hier sollte seine erste Lektion sein. Nach dem Schrecken diverser unkörperlicher Hände und der Begegnung seines alten Freundes [2] hatte man ihn eine Strafe aufgehalst: Archivarbeit. Dies hat sich ziemlich hingezogen, doch schließlich hatte er es hinter sich gebracht, und Feldwebel Feinstich hatte einen älteren Wächter angehalten, ihm einige grundlegende Dinge des Schwertkampfes beizubringen. Wie hatte sie ihn noch mal genannt? Braggasch, nicht? Braggasch Goldwart. Anscheinend ein Zwerg. Deutliche Anzeichen wiesen Boris schreiend darauf hin, dass es ein Zwerg war. Nur wenige ausgewachsene Menschen reichten dem jungen Mann bis zur Hüfte. Auch der Bart und der Helm dienten als Erkennungszeichen. Im Moment blätterte der Zwerg nervös in einem Buch, in dem einige Holzschnitte zu sehen waren.
"Äh... Ich glaube, äh, Du hältst das Schwert nicht ganz richtig, Rekrut. Sieh mal hier... äh, siehst Du den Mann hier? Der hält es anders. Nein, nein... Den Daumen nicht spreizen, Junge, genau, und... äh, der Daumen kommt nicht dorthin, siehst Du? Er umgreift das Heft hier, Ich glaube, äh, damit man mehr Schwung... Ah, hier steht, dass es dafür ist, damit das Handgelenk nicht gegen das, äh, das Heft stößt. Hier, siehst Du?"
Boris schielte auf das Bild, ehe er mit bedächtigen Bewegungen seine Hand um das Heft legte und es dann verglich. Doch er war ein wenig abgelenkt, denn einige Komponente des Äußeren schienen bei Braggasch nicht... nun, sie passten eben nicht ins Bild. So zum Beispiel das blonde Haar. Hatten die meisten Zwerge nicht dunkleres Haar? Und er sah irgendwie zu dünn aus. Und waren das etwa Locken...?
"Lass mal sehen, Junge, äh... ja, das scheint, äh, zu stimmen. Gut, sehr gut! Und jetzt..."
Eindeutig Locken. Blondes, lockiges Haar erschien Boris reichlich unpassend für einen Zwerg, und dennoch zerrte etwas an seiner Aufmerksamkeit. Irgendein Gedanke versuchte, an die Oberfläche zu gelangen..
"...schwingst Du es gleich so, und dann, äh, hier, wie in diesem Holzschnitt..."
Ob es viele Zwerge mit blonden Haaren gab? Locken oder Krause war sicherlich nicht unüblich, aber soweit Boris sich erinnern konnte, hatte er in Ankh-Morpork nur Zwerge mit anderen Haarfarben gesehen. Schwarze Haare, braune Haare, rote Haare, keine Haare, dafür recht viel Bart... Aber er war sich sicher, schon einmal solche Haare gesehen zu haben...
"...äh, und dann ein Schwung nach oben, wie hier zu sehen ist, äh, genau hier... dann sollte es eigentlich keine Probleme mehr geben, hoffe Ich..."
Braggasch verstummte und sah sich einem Boris Machtnichts gegenüber, welcher starr auf seine Locken glotzte, mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck, welcher Konzentration ausstrahlte, und zwei großen, runden Augen. Der Zwerg räusperte sich mehrmals, sichtlich nervöser werdend, und als auch darauf eine Reaktion ausblieb, hob der Korporal eine Hand und wedelte damit vor Boris Augen herum.
Dieser schien endlich aus seinen Gedanken aufzutauchen und blinzelte mehrmals, ehe er sich am Kinn kratzte und verwirrt auf den Zwerg hinunterblickte.
"Was ist, Sör?"
"Äh... hast Du mir zugehört?"
"Ich soll das Schwert so umgreifen, Sör, wie Ich es halte, damit mein Handgelenk nicht gegen das Heft stößt, Sör."
Braggasch sah Boris eine Weile schweigend an, ehe er den Kopf leicht schüttelte.
"Äh.. .ja, richtig. Hör zu, ja? Ich... äh, da vorne steht eine Strohpuppe. Versuch sie zu... äh, treffen. Am rechten Arm." Er deutete etwas bestürzt auf eine der vielen stark lädierten Strohpuppen, welche an einer Seite des Hofes in Reih und Glied aufgestellt wurden.
Boris nickte bloß, ehe er das Kurzschwert in der Hand wog und dann mit einem nachdenklichen Blick zu der ersten der Puppen ging, ehe er ungeschickt ausholt und dann auch tatsächlich den rechten Arm trifft. Und Tatsächlich löste sich auch ein wenig Stroh vom Arm.
"War das so richtig, Sör?"
Braggasch blickte zu dem Arm, welcher nicht wirklich anders aussah als vorher. Dann sah er zu Boris, welcher daneben stand, das Schwert in der Hand.
"Nuuun... äh... Rekrut?"
"Ja, Sör?"
"Weißt Du, wofür man ein Schwert gebraucht?"
Boris blinzelte, ehe er die Augenbrauen zusammen zog und die obligatorische Denkfalte entstand.
"Männer... tragen sie, Sör?"
"Und?"
"Männer... halten sie in der Hand?"
"Und?"
"Männer zeigen sie, um Kämpfe zu vermeiden?"
Braggasch seufzte, ehe er eine Hand hob und sich über die Augen wischte.
"Man kämpft damit, Rekrut... äh... Machtnichts."
Boris hob nun die Augenbrauen. Und öffnete den Mund.
"Nein, Sör. Man kämpft mit Messern, Dolchen, Wurfäxten, gebrochenen Flaschen, Stühlen, Tischen, Bratpfannen, Händen, Ellbogen, Knien, Beinen, Füßen, Köpfen, Ohren, Geschirr, Messer, Gabel, Löffel, Stöcken, Zahnstochern, Ästen, kleinen Bäumen, Menschen, Zwergen und Trollen."
Ein Zögern lähmte die Zunge Braggasch, als dieser den jungen Mann korrigieren wollte. Irgendetwas..
"Äh... hast Du eben Trolle erwähnt?"
"Ja, Sör. Man bezahlt sie, Sör. Das habe Ich gesehen, Sör. Ich habe solche Kämpfe gesehen, Sör, und man verwendete diese und andere Dinge, Sör. Ist das Falsch, Sör?"
"Nun, äh, manchmal verwendet man auch Schwerter, Rekrut. Und, äh, auch andere klassische Waffen. Du weißt doch, oder? Armbrüste? Pfeil und Bogen? Hellebarden?"
Boris betrachtete Braggasch eine Weile, mit einem recht nachdenklichen Blick, ehe er die linke Hand hebt und sich am Kopf kratzt. Dann jedoch scheint ihm etwas eingefallen zu sein: Sein Gesicht hellt sich auf, ein wissendes Lächeln legt sich selig auf den Lippen, und die Augen funkeln stolz auf.
"Ja, die kenne Ich! Aber Sör, man kämpft nicht mit solchen Waffen. Mit solchen Waffen tötet man Leute."
"Äh... ja, schon... aber Trolle sind auch recht tötlich, äh..."
"Je nachdem, wie viel man ihnen zahlt, Sör", antwortete Boris ernst.
Braggasch blinzelte. Ja, das stimmte soweit. Dann aber schüttelt er den Kopf. "Wir verwenden die Schwerter, um mit ihnen äh, zu kämpfen. Und das muss Ich dir beibringen."
Braggasch wedelte mit seinem Buch über die Kunst des Schwertkampfes, und blätterte dann darin herum.
"Äh... so, wo waren wir nun, äh... Ja, genau... Also, äh, stell dir vor, diese Strohpuppe ist ein... äh, genau, ein Dieb ohne Lizenz! Und er will dich, äh, angreifen, und Du musst ihn, nun ja, kampfunfähig zu machen. Na los, Bursche, schlag zu!"
Hoffnungsvoll sah er Boris an, der das Gesicht verzieht, ehe er sich konzentriert der Puppe zuwendete, das Schwert vorsichtig gehoben.
Ein Husten erklang.
Und noch eines.
"Äh... Machtnichts?"
"Ja, Sör?"
"Warum greifst Du nicht, äh, an, Rekrut?"
Boris sah noch immer mit einem aufmerksamen Blick gen Puppe, ehe er antwortete.
"Ich warte, bis der Dieb ohne Lizenz mich angreift, Sör!"

Mit gemischten Gefühlen legte Boris sein Rekrutenschwert in seinen Spint, ehe er den rostigen Brustharnisch ablegte und auch den rostigen Helm. Nun, eher angerostet, zum größten Teil eher zerkratzt von unzähligen Händen, die versuchten, den ansetzenden Rost zu bekämpfen. Seine Hände öffneten geschickt die drei Knöpfe des schwarzen, kurzärmeligen Hemd, ehe er auch jenes abstreifte und, ordentlich gefaltet, in den Spint legte. Auch die Hose folgt, ehe er in seine normale Kleidung schlüpfte, eine verwaschene, braune Hose und ein schon altes, fadenscheiniges Hemd. Den Gürtel straff ziehend, betrachtete er sich in der kleinen Spiegelscherbe, die er auf der Innenseite seiner Spinttür geklebt hatte. Dann schloss er den Spint, wendete sich um und strich sich das Haar glatt.
Alles in allem, dachte Boris, war das doch kein schlechter Tag gewesen. Er hatte einige freundliche Leute kennen gelernt. Feldwebel Feinstich, welche wohl schon viel gekämpft hatte, wenn er es nach den Narben beurteilte; seinen alten Freund Fynn und den etwas seltsamen Ilya, aus dem er nicht ganz klug wurde; Braggasch, der Korporal, ein seltsamer Zwerg mit seltsamen Haaren... Ja, eigentlich ein ganz guter Tag, auch wenn alles an ihm weh tat und sein Kopf brummte. Das er nun wirklich selbst ein Rekrut war, also ein Mitglied der Wache... Er blinzelte, ehe er ein breites Grinsen aufsetzte und stolz die Marke in seiner Hosentasche befühlte.
Er traffte seine Schultern und verließ den Umkleideraum, um sich auf den Weg nach Hause zu machen. Er würde versuchen, mit seiner Mutter zu reden und ihr von seinem Tag in der Wache zu berichten. Wieder auf der Straße - es war schon recht dunkel, weswegen er zügiger ging - versuchte er sich noch einmal darin, stramm zu marschieren.

Merkwürdig... die Leute schienen guter Laune zu sein, dem Lachen nach zu urteilen.


ENDE
[1] jedoch nicht sehr weit

[2] im Detail nachzulesen in Fynns Erste Single




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Feedback:

Von Jargon Schneidgut

06.12.2010 10:17

Echt super geschrieben, sehr unterhaltsam! Weiter so, dein Charakter ist sehr interessant!

Von Huitztli Pochtli

06.12.2010 10:17

Auf den ersten Blick mag man erwarten "Eine typische Rekrutensingle", aber allein die Länge deiner Geschichte fällt da schon aus dem Rahmen.Deine Geschichte hat mir grundsätzlich gefallen und ich denke, dass wir von dir noch einige gute Stories erwarten dürfen.Meine Bewertung erfolgte daher auch mit einem gewissen Rekrutenbonus.Was mir gefiel:- Die Einleitung, wie Boris zur Wache kommt.- Die Art, wie du von Boris beobachtete Details beschreibst.- Die amüsanten Fehleinschätzungen, die Boris leicht vertrottelt wirken lassen.Was mir nicht gefiel:- Du springst innerhalb deiner Sätze zwischen Vergangenheit und Gegenwart.- Das Einbinden der Vorlage wirkt etwas hölzern, wie angehängt, ohne eine richtige Verbindung zur vorherigen Handlung herzustellen.

Von Araghast Breguyar

06.12.2010 10:17

Eine gut zu lesende, solide Rekrutenmission mit schöner Charakterisierung, die neugierig auf mehr von Boris' Hintergrund macht. Nur springst du manchmal plötzlich mitten im Satz in die Gegenwartsform und wieder zurück. Und eine Sache habe ich mich noch gefragt: War der Zwerg, der Boris mit seinem Anblick zum Eintritt in die Wache animiert hat, Braggasch gewesen? Ich habe beim Lesen unterbewusst erwartet, dass zum Schluss noch eine Erkenntnis folgt. Es hätte der Geschichte einen etwas runderen Abschluss gegeben. Auf jeden Fall freue ich mich auf weitere Geschichten über Boris und seinen Werdegang in der Wache.Eine Sache habe ich mich noch gefragt: War der Zwerg, der Boris mit seinem Anblick zum Eintritt in die Wache animiert hat, Braggasch gewesen? Ich habe beim Lesen unterbewusst erwartet, dass zum Schluss noch eine Erkenntnis folgt. Es hätte der Geschichte einen etwas runderen Abschluss gegeben.

Von Braggasch Goldwart

06.12.2010 10:17

Eine, meiner Meinung nach, der gelungensten Rekrutensingles, die ich je gelesen habe... aber da ich sowohl einer der Korrekturleser als auch größtenteils in der Geschichte vorkommend bin, schätze ich mich als nciht ganz objektiv ein. :D Dennoch kann ich sagen, dass mir der Humor sehr gefällt, und zudem ist es wunderbar endlich mal wieder einen Rekruten zu sehen, der nicht gleich alles kann und sogar recht "unfähig" ist. ;) An der finesse der Satzstrukturen kann man noch arbeiten, aber das kommt von selbst mit der Zeit.

Von Sebulon, Sohn des Samax

06.12.2010 10:17

*nickt* Durchwachsen. Du kannst gern noch einmal so viel schreiben, wenn du deinen ersten richtigen Fall übernimmst und hier und da ließe sich noch an Grammatik und so feilen - aber ich hab mich angenehm unterhalten gefühlt. Für eine Rekrutengeschichte fand ich's also ziemlich gut.*Daumen hoch*(Ich find's auch gut, weil ich bereits ein paar Vorversionen kenne und du beim Feinschliff gute Arbeit geleistet hast.)

Von Kathiopeja

06.12.2010 19:15

Niemand hält dich davon ab im Präsens zu schreiben! Es ist zwar im Deutschen üblich, erzählerische Texte in der Vergangenheit zu schreiben, aber keine Pflicht (In irgendeiner Sprache, die ich gelernt habe, war das anders.. Latein?). Auch die Anleitung verliert dazu, soweit ich weiß, kein einziges Wort.

Also wenn du lieber in der Gegenwart schreibst, lass es raus wie es kommt. :D Manche nehmen das ja auch in einzelnen Geschichten als bewusstes Stilelement.

Von Rib

07.12.2010 14:57

Seltsam, geht mir genauso... meine mich auch daran zu erinnern, aber ich weiß nicht, wo.

Von Rogi Feinstich

07.12.2010 15:19

Vielleicht steht das im Leitfaden für die erste singlemission ;)

Die Vergangenheitsform ist allgemein der beliebtere schreibstil.. ich würde mich also nicht darauf verlassen, dass das Präsens nicht die note beeinflusst... ist halt ne Geschmacksfrage...

Von Braggasch Goldwart

07.12.2010 15:52

Und wie wir alle wissen ist die Note subjektiv... ;)

Ich wüsste nichtmal von mir selber, ob ich vielleicht iene schlechtere Note geben würde, weil es mir grade gedanklich ein wenig seltsam vorkommt, eine Geschichte im Präsenz zu lesen - ich hatte dir glaube ich auch den Tipp gegeben, in den Imperfekt zu wechseln - sorry, das ich da anscheinend nen falschen Tipp gegeben hab!

Am besten einfach mal ausprobieren. ^^

Von Kathiopeja

07.12.2010 23:06

Der Leitfaden dient aber nur als Hilfe.:-P Jedenfalls habe ich das so verstanden.

Mich persönlich stört es nicht, wenn jemand im Präsens schreibt. Nach einer kurzen Eingewöhnungsphase merke ich das gar nicht mehr. Die Geschichten um den guten Thraxas waren auch immer im Präsens und liesen sich trotzdem gut lesen.

Abwertungen kann man durch alles bekommen. Irgendjemandem wird immer was nicht gefallen. Also, Boris, ich bleib dabei: Mach, wie du denkst, ich lese dann gern auch Korrektur.

Von Kanndra

08.12.2010 11:59

Und ich habe es auch diesmal wieder überlesen :scheinheilig: ...

Von Kanndra

09.12.2010 10:21

Ich meinte, es ist mir nicht aufgefallen, dass du die Zeitform gewechselt hast. Sonst hätte ich dich natürlich darauf hingewiesen.

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