Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens rollt Hegelkant einen Stein einen Berg hinauf.
Dafür vergebene Note: 12
"Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen."[1]ALBERT CAMUS
Der Berg sah aus wie ein liegendes Dreieck. Von einigen Unebenheiten abgesehen verlief sein mittwärtiger Hang gleichmäßig flach, während auf der anderen Seite ein steiler Abhang einen Auf- oder Abstieg unmöglich machte.
Unsicher stand Hegelkant am Fuße des Berges und fragte sich, was er wohl hier über den Sinn des Lebens erfahren würde.
"Aaachtuuung!"
Hegelkant schaute sich um. Wer hatte da gerufen?
"Stein roooollt!"
Als Hegelkant sich umdrehte, sah er einen riesigen, kugelförmigen Stein auf sich zurollen. Gerade noch rechtzeitig konnte er zur Seite springen.
Nachdem er sich aufgerappelt hatte, sah er einen kräftigen Mann mittleren Alters den Berg hinunterlaufen. Neben Hegelkant blieb er stehen und lächelte ihn an.
"Bist du Physisos?" fragte Hegelkant.
"Das bin ich. Und du bist..."
"Hegelkant."
"Freut mich, dich kennenzulernen, Hegelkant", sagte Physisos und musterte den angehenden Philosophen. "Du bist sicher hier, um zu erfahren, was der Sinn des Lebens ist."
"Das stimmt tatsächlich. Ich bin weit gereist..."
"Gut. Dann komm mit." Physisos führte Hegelkant zu einem großen, runden Stein, der am Fuße des Berges lag. Er sah genauso aus wie der, der Hegelkant beinahe überrollt hätte. "Das hier ist der Stein der Weisen", erklärte Physisos. "Alle großen Philosophen haben diesen Stein den Berg hochgerollt."
Hegelkant versuchte sich vorzustellen, wie sein ehemaliger Herr Sillybos den Stein hinaufrollte, scheiterte aber dabei.
"Und ich soll es ihnen gleichtun?"
"Bist ein kluger Kerl", sagte Physisos. "Die meisten fragen mich, was sie mit dem Stein machen sollen." Er zuckte mit den Schultern. "Richtig, deine Aufgabe ist, den Stein bis zur Spitze des Berges zu rollen."
"Weiter nichts?"
"Weiter nichts."
"Und dadurch lerne ich den Sinn des Lebens?"
"Genau", sagte Physisos feierlich. "Aber vorher...", er kramte in seinen Taschen und holte ein Stück Kreide hervor und reichte es Hegelkant, "vorher musst du noch was auf den Stein schreiben."
Irritiert sah Hegelkant auf das Stück Kreide, dann auf Physisos. "Und was?"
"Tja, das musst du selbst entscheiden. Ich hab dir deine Aufgabe geschildert, jetzt bist du dran."
Hegelkant überlegte kurz, zuckte dann mit den Schultern, und schrieb
Hegelkant auf den Stein.
"Ha, das macht fast jeder."
"Alle schreiben Hegelkant?"
"Nein, fast jeder schreibt seinen Namen."
"Mir ist nichts Besseres eingefallen."
"Nun denn, dann können wir loslegen", sagte Physisos und ging zu seinem eigenen Stein herüber. "Ich begleite dich dabei."
Hegelkant setzte seine Hände an der breitesten Stelle des Steins an und stemmte sich dagegen. Langsam setzte sich der Stein in Bewegung.
Sie rollten los.
Hegelkant war stark und kräftig, und die ersten Meter fielen ihm leicht.
"Rollst du oft Steine den Berg hinauf?"
"Oh ja, ich mache eigentlich nichts anderes", sagte Physisos fröhlich.
"Kannst du mir irgendwelche Tipps geben?"
"Was für Tipps?"
"Naja, wie ich am besten und leichtesten den Berg hochkomme."
"Tut mir Leid, da kann ich dir nicht helfen."
Es war anstrengend. Mehr als anstrengend. Nach der Hälfte des Berges tat Hegelkant alles weh. Der Rücken. Die Arme. Die Beine. Ermattet ließ er seinen Kopf zwischen seinen Armen hängen, die weiterhin unermüdlich den Stein den Berg hinauf rollten. Er konnte nicht mehr. Warum nur hatte er sich auf diese Aufgabe eingelassen? Was brachte das alles? Warum konnte Physisos ihm nicht einfach sagen, worin der Sinn des Lebens bestand? Mit jeder Umdrehung des Steins las er seinen Namen. Hegelkant. Er verspürte große Lust, einfach aufzugeben. Einfach zur Seite zu gehen. Hegelkant. Einfach den Stein wieder runterrollen zu lassen. Sich hinzulegen und sich auszuruhen. Hegelkant. Aber will ich das wirklich? fragte er sich. Wenn ich aufgebe, werde ich nie erfahren, was der Sinn des Lebens ist. Hegelkant. Ich muss... Er stöhnte. Ich muss weitermachen. Hegelkant.
Es fing an zu regnen, und der Weg nahm einfach kein Ende. Hegelkant Glieder schmerzten so sehr, dass er das Gefühl hatte, sie würden ihm bald abfallen. Regen lief ihm über die wulstigen Augenbrauen ins schmerzverzerrte Gesicht, Es fiel ihm immer schwerer, den Stein Meter für Meter den Berg hochzurollen, aber er konnte natürlich auch nicht aufgeben. Der Grund, der
verdammte Grund für sein Dilemma war der Stein. Der gnadenlose Stein, der sich ungeduldig den Berg hinaufrollen ließ. Hegelkant verfluchte den Stein innerlich. Meter für Meter stapfte er den feucht gewordenen, mit wenigen Grasbüscheln bewachsenen Hang hinauf, den fordernden Stein vor sich herschiebend. Hegelkant hasste den Stein, oh ja, er hasste ihn von ganzem Herzen. Er bürdete dem Stein die Summe der Wut und des Hasses der ganzen Menschheit auf
[2]. Manisch sah er den Stein an. Der Regen hatte seinen Namen auf dem Stein verwischt, so dass er nun fast wie ein Gesicht aussah, das Hegelkant anstarrte.
"Drei Viertel des Weges hast du geschafft", sagte Physisos neben ihm mit heiterer Stimme.
Nach sieben Achtel des Weges gab es für Hegelkant nur noch den Berg, den Stein und ihn selbst. Er gegen den Stein, und der Berg entscheidet über den Sieger. Er wusste nicht, wie weit es noch zum Gipfel war, und er spürte auch seine Arme und Beine nicht mehr, aber das spielte keine Rolle mehr. Er würde nicht aufgeben, nicht gegen den Stein. Er würde nicht verlieren. Er hasste den Stein so abgrundtief, und er wusste, dass er, sobald er den Stein hinunterrollen ließe, er verloren hatte. Der Regen hatte den Boden aufgeweicht, aber Hegelkant hatte festes Schuhwerk und kam nicht ins Rutschen. Dass sich der Stein immer schwerer Rollen ließ, merkte Hegelkant nicht. Mit unglaublicher Willenskraft stieß er den Stein weiter dem Gipfel entgegen.
Der Stein aber lachte Hegelkant aus.
"Du kannst mich nicht besiegen", sagte der Stein.
"Doch, das kann ich", sagte Hegelkant, "gleich bin ich am Gipfel."
"Und dann hast du mich besiegt?"
"Ja!" rief Hegelkant voller Inbrunst.
"Vergiss nicht", sagte der Stein, "ich bin dir stets einen Meter voraus."
"Was willst du mir damit sagen?"
"Wo ich bin, wirst du kurz nach mir sein -
was ich bin, wirst du kurz nach mir sein."
Der Stein zeigte Hegelkant eine grässliche Fratze. Es war sein zur Unkenntlichkeit verwaschener Name, den er zu Beginn auf den Stein geschrieben hatte.
Hegelkant erschrak. Und ließ den Stein los.
Physisos hielt mit seinem Stein neben Hegelkant an und sah dem rollenden Stein nach. Dann sah er zu Hegelkant.
"Fast hättest du es geschafft", sagte er. "Es ist nur noch ein Sechzehntel des Weges bis zum Gipfel."
"So kurz war ich davor, den Sinn des Lebens zu ergünden."
"Tatsächlich?"
"Hattest du nicht gesagt...?"
"Nein, durch das Hochrollen lernst du was über den Sinn des Lebens, nicht durch das Ankommen."
"Was passiert eigentlich, wenn man mit dem Stein den Gipfel erreicht?"
Physisos lehnte sich gegen seinen Stein, so dass er nicht runterrollen konnte. "Keine Ahnung, hab ich noch nie gemacht."
"Warum nicht?"
"Weil mein Leben einen Sinn hat, dem das Ankommen entgegenstehen würde."
"Und was
ist der Sinn des Lebens?" fragte Hegelkant.
"Fitness!" sagte Physisos munter. "Das Steinerollen trainiert Arme, Beine, Rücken und Po. Es gibt kaum eine vielseitigere Übung. Und mit jedem Hochrollen fällt es mir beim nächsten Mal leichter."
Hegelkant dachte darüber nach. Er ließ seine Gedanken kreisen um die Suche nach dem Sinn des Lebens und um das Hochrollen des Steins. Ist vielleicht nicht die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, sondern die Suche danach der eigentliche Sinn des Lebens? Einfach dass man lernt, immer besser zu suchen? Und wäre nicht tatsächlich, wenn man die Antwort finden würde, alles vorbei? Hegelkant versuchte, den Knoten in seinen Gedanken zu entwirren, war aber zu erschöpft dafür.
"Für mich war das Hochrollen eher eine Qual", sagte er. "Ich entwickelte Gefühle, die ich nie zuvor erlebt habe.
"Diese Erfahrung machen fast alle, die das erste Mal den Stein hochrollen."
"Tatsächlich?"
"Es kommt darauf an, was du auf den Stein schreibst."
Hegelkant nickte nachdenklich. "Ja, während des Rollens fokussiert man sich sehr darauf."
"Was würdest du beim nächsten Mal draufschreiben?" fragte Physisos.
Hegelkant dachte darüber nach. Ihm fiel nichts ein.
"Was steht auf deinem Stein?"
Physisos lächelte. "Nichts", sagte er.
ENDE
[1] Siehe
Der Mythos des Sisyphos[2] Wie es Käpt'n Ahab bei
Moby Dick tat
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