Irgendwo auf der Scheibenwelt...Zuerst war es noch die kurze Stille, die immer dann folgt wenn sich Zuschauer nicht sicher sind, ob vom Vortragenden noch etwas zu erwarten ist. Normalerweise folgt darauf der Applaus. Jetzt aber blieb die Stille, zog sich in die Länge und wurde zu dem Phänomen, das allgemein unter dem Begriff "peinliche Pause" bekannt ist. Erst nach einer scheinbaren Ewigkeit erklang ein Räuspern.
"Nun ja, das war durchaus ... nett."
Der Sprecher richtete sich in seinem Stuhl auf und warf seinen Kollegen einen fragenden Blick zu. Oder besser der einen Hälfte seiner Kollegen: Die anderen waren zwar ebenfalls vom Fach, aber nicht das, was er unter dem Begriff "Kollegen" verstand. "Nachahmer", "Amateure", "Stümper" - das gefiel ihm schon eher.
Aber genau eine dieser Personen ergriff nun das Wort:
"Also in meinen Augen war es geradezu meister'aft! Ein vortrefflisches Beispiel quirmianischer Kunst!" Er warf dem jungen Mann, welcher noch immer vor ihnen stand und dessen Gesichtsfarbe zunehmend einer Tomate ähnelte, ein aufmunterndes Lächeln zu. "Aus dir kann noch etwas werden, mein Junge!"
"Pah!", tönte es da von der anderen Seite des Raumes. Die Blicke wandten sich einem äußerst voluminösen Herrn in schwarzem Frack zu, der sie verächtlich erwiderte. Hätte man sich hier nicht in feiner Gesellschaft sondern in irgendeiner schäbigen Spelunke befunden, hätte er wohl abfällig auf den Boden gespuckt. "Das nennst du Kunst? Entschuldige, aber es war schlicht erbärmlich, die armseligste Vorführung, die mir seit Jahren zu Ohren gekommen ist. In Ankh-Morpork würden solche Leute geteert und gefedert!"
"Womit wieder einmal bewiesen wäre, dass die Musiker in Ank'-Morpork über keinerlei künstlerisches Gespür verfügen. Aber man 'ört ja immer wieder, dass eure Klarinettisten nur drittklassig sind."
"Wenigstens haben wir Klarinettisten! Zu euch kommen sie ja gar nicht erst, da die Scham es jedem anständigen Künstler verbietet, im Stadtorchester von Quirm zu spielen!"
"Sagt wer?"
"Sag ich!"
Mittlerweile hatte sich alle Anwesenden von ihren Stühlen erhoben und in zwei Gruppen aufgeteilt, auch sehr schön zu unterscheiden an der Farbe ihrer Fräcke: Während die Abordnung aus Ankh-Morpork in traditionellem dirigentenschwarz gewandet war, hatte sich die quirmer Delegation ganz in tiefes bordeauxrot gekleidet, bis hin zu Schuhen und Socken. Man musterte sich feindselig und in einem weniger zivilisierten Gesellschaftssystem wäre man an diesem Punkt wohl aufeinander losgegangen. Und tatsächlich wurde hier und da der eine oder andere Geigenbogen gezückt und drohend nach vorn gerichtet - allerdings hatte niemand die Absicht ihn auch wirklich einzusetzen, es sei denn natürlich, ein Mitglied der Gegenseite wäre so dumm diesen Versuch zuerst zu wagen: Dann konnte man ihm immerhin die Schuld geben und für den entstandenen Schaden zur Rechenschaft ziehen. Denn der Preis von guten Instrumenten überstieg so manches Jahresgehalt bei weitem...
Das dachte sich wohl auch der junge Bratscher, der gerade sein Können - oder Nichtkönnen, dass kam auf den Standpunkt und somit die Farbe des Fracks an - unter Beweis zu stellen versucht hatte, packte sein Instrument bevor es doch noch irgendwelchen Schaden nehmen konnte und verschwand so schnell und leise wie möglich aus dem Raum. Er hatte gehört, dass es momentan in Gennua gute Berufsaussichten für seine Zunft gäbe...
Unterdessen hatten sich die Offiziellen aus Quirm und Ankh-Morpork auf ihre naturgegebenen Lauterzeugungsapparate besonnen und ließen es sich nicht nehmen, ordentlich Gebrauch davon zu machen.
"Für wen haltet ihr euch, dass ihr so über uns urteilen könnt? Und was denkt ihr, wen ihr hier vor euch habt?", schrie es auf der einen Seite.
"Na wen wo'l? Nischtskönner, absolute Nischtskönner!", brüllte es auf der anderen.
"Ihr könnt doch noch nicht mal eine Violine von einer Flöte unterscheiden!"
"Nur weil eure Stadt größer ist, seid ihr nischt unbedingt etwas Besseres! E'er im Gegenteil, diese verkommenen Metropole ist die Brutstätte des lizensierten Dilettantismus!"
"Ihr seid eine Schande für die Musik!"
"Ihr Anfänger! Ihr Nischtfachmänner!"
"Was ist denn das für ein Wort? Westentaschenmusiker, allesamt!"
"Jede Wette, dass wir eusch in jeder 'insicht in Grund und Boden stampfen würden!?"
"Ha, unsere Noten würden euch in den Staub zurückschicken aus dem ihr hervorgekrochen seid!"
"In 'undert Ja'ren nischt! Das ist einfach läscherlisch!"
"Na schön!"
"Na schön!"
***
Ankh-Morpork, einige Wochen später...Die Stadt glänzte. Zumindest hätte das ein argloser, zufällig vorbeikommender Reisender annehmen können, was ihn wohl dazu verleitet hätte, Ankh-Morpork zu betreten, um dort wahrscheinlich mehr als nur den Inhalt seiner Reisekasse zu verlieren. Denn tatsächlich war es nichts als ein schöner Schein - wie so vieles in der Zwillingsstadt - und das sogar im wahrsten Sinne des Wortes: Die Strahlen einer noch müden Frühlingssonne spiegelten sich auf den vom letzten Regen blank gewaschenen Dächern, vereinzelten Rinnsale tröpfelten noch aus kaputten Dachrinnen bevor sie langsam verebbten, die Straße war übersät mit Pfützen - und so manchen Karrenfahrer schien es mit geradezu diebischer Freude zu erfüllen, sein Gefährt genau dann durch diese hindurchzulenken, wenn ein Fußgänger seinen Weg kreuzte. Ankh-Morpork im Frühling - der allgegenwärtige Duft nach nassem Hund, traurige Haufen grauen Schneematsches am Straßenrand und der Ankh, der wenigstens für ein paar Tage die Bezeichnung "Fluss" wirklich verdiente.
Und doch ... an jedem anderen Tag hätte Kanndra die Wärme auf ihrem Gesicht wohl genossen; die Aussicht, nicht mehr Morgen für Morgen aus dem Fenster in den ewig gleich-grauen Himmel sehen zu müssen. Vielleicht hätte sie bei genauerem Hinsehen sogar die wenigen Exemplare der besonders robusten Ankh-Morpork-Fauna bemerkt, die schon wieder trotzig ihre Köpfe aus der Erde steckten. Doch nach derlei Beobachtungen stand ihr momentan nicht der Sinn, angespannt beobachtete der Leutnant das Deosil-Tor. Nun konnte es wohl nicht mehr lange dauern. Allerdings war sie sich nicht sicher, wie oft genau sie dies in den letzten drei Stunden schon zu sich selbst gesagt hatte - denn so lange stand sie nun schon hier herum und wartete auf den ... Besuch. Eine bessere Bezeichnung fiel ihr in diesem Zusammenhang nicht ein und wenn auch nicht ganz zutreffend, so versprach der Begriff doch, dass sich die betreffende Person nach einer gewissen Zeit wieder aus Ankh-Morpork entfernen würde. Und mit ihr hoffentlich auch all die anderen und das Chaos, das sie mit sich gebracht hatten, die verstopften Straßen, die endlosen Beschwerden wegen nächtlicher Ruhestörung, die grundlosen Diffamierungen und Beleidigungsdelikte ... und das natürlich zusätzlich zu dem üblichen Mord und Totschlag in der Stadt.
Kanndra seufzte. Hieß es nicht im Allgemeinen, Künstler seien empfindliche, feinsinnige Leute? Nun, seit die ersten Kutschen aus Quirm eingetroffen waren, war sie eines Besseren belehrt worden denn es war geradezu erschreckend, mit welcher Hingabe man versuchte, auf sich selbst und nur auf sich aufmerksam zu machen. Seit die Musiker aus Quirm begonnen hatten, die Nächte durchzuproben, hatten ihnen die Kollegen aus Ankh-Morpork natürlich in nichts nachstehen wollen und das Ergebnis war eine rund-um-die-Uhr-Beschallung von mehr oder weniger guter Qualität. Wo man auch ging oder stand, stets wurde man von Musik geradezu umwabert. Wenn es doch wenigstens Musik-mit-Steinen-drin gewesen wäre... Es war nicht so, dass Kanndra grundsätzlich etwas gegen klassische Musik einzuwenden gehabt hätte, aber mittlerweile wurde es doch etwas ... anstrengend. Der Leutnant freute sich schon jetzt auf das abschließende Konzert in drei Tagen, aber auch nur deshalb, weil der Wahnsinn dann hoffentlich ein Ende haben und das bessere Stadtorchester gekürt sein würde. Aber bis dahin hieß es noch durchhalten und Überstunden schieben - was aber im Grunde sämtliche Abteilungen der Stadtwache betraf. Es war in gewisser Weise paradox, dass diese verhältnismäßig kleine Gruppe an Personen schwerer in Zaum zu halten war als der übliche Mob. Überhaupt interessierte sich der größte Teil der Stadtbevölkerung eher mäßig für die Auseinandersetzung, das gab höchstens Anlass für einen interessanten kleinen Nachbarschaftsstreit vor der Haustür. Oder aber wenn es etwas zu sehen gab, dann wollte man es sich natürlich nicht nehmen lassen, ganz vorn mit dabei zu sein... Erst gestern wieder waren eine Gruppe quirmer Posaunisten und eine gemischte ankh-morporker Delegation volltrunken aneinander geraten. Ob es wohl ein Musiker-Äquivalent zum Begriff "Sängerkrieg" gab?
"Die kommt nicht mehr."
"Hmm?" Jetzt hatte sie sich doch tatsächlich von ihrer eigentlichen Aufgabe ablenken lassen! Kanndra wandte den Blick vom Tor ab und sah ihren Kollegen Norti Rabenpelz an, der bedächtig an seiner Pfeife zog und ein paar Rauchringe in die Luft blies.
"Na, 'Das Kreischen, das die Stille durchdringt'. 'Das Ende aller Trommelfelle'. Oder wie man die Staccata sonst noch so bezeichnet, Mä'äm." Der Zwerg grinste. In den letzten Tagen hatte er einige noch durchaus
interessantere Spitznamen für die quirmer Sopranistin auf der Straße aufgeschnappt.
"Ich weiß schon, wenn du meinst, Gefreiter. Aber du solltest solche Bezeichnungen wohl besser für dich behalten, wenn sie dann irgendwann endlich angekommen ist."
"Vielleicht hat Madame es sich ja anders überlegt. Wie man so hört, kommt das anscheinend öfter vor."
Ja, vielleicht ... hoffentlich! Auch wenn das bedeuten würde, einige Stunden Dienstzeit sinnlos vergeudet zu haben. Kanndra hatte bis jetzt nur gerüchteweise von Fortissima Staccata gehört, der Diva der Oper von Quirm, aber das was sie vernommen hatte, hatte nicht unbedingt dazu beigetragen, dass sie sich sonderlich darüber freute, nähere Bekanntschaft mit der Dame schließen zu dürfen. Auch wenn ihre Aufgabe eigentlich nur darin bestand, für deren Sicherheit auf dem Weg zu ihrer Unterkunft zu sorgen. Denn wenn
ihrer Primadonna, in
dieser Stadt auch nur das
Geringste zustoßen sollte... Die musikalische Leitung von Quirm war in diesem Punkt sehr deutlich gewesen. Wodurch sich natürlich die Frage ergab, was eine Sopranistin mit einem Orchesterwettbewerb zu schaffen hatte. Vielleicht brauchten die Quirmer ja tatsächlich jede Hilfe, die sie bekommen konnten... Gerüchteweise hatte Ankh-Morpork ähnliches vor, allerdings schien man sich hier nicht nur auf eine Person verlassen zu wollen, sondern war dabei einen ganzen Chor aufzustellen. Es waren die selben Gerüchte, die besagten, dass dies lediglich daran lag, dass man momentan schlicht niemanden hatte, dem man einer Fortissima Staccata entgegensetzen konnte...
In diesem Moment schoss eine Kutsche durch das Stadttor, der Kutscher, dessen gehetzter Gesichtsausdruck selbst auf diese Entfernung zu erkennen war, zerrte an den Zügeln und die Hufe der Pferde bohrten sich in den Boden. Durch die viel zu hohe Geschwindigkeit schlitterte das Gefährt allerdings noch ein gutes Stück weiter, bevor es mit einem Ruck und eingehüllt in eine Wolke aus Staub und Dreck zum stehen kam.
"Pass doch gefälligst auf!", erklang ein Kreischen aus dem Dunst. "Du wirst uns noch alle umbringen!" Es war eine dieser Stimmen, bei denen man Angst um jedes Glas im Umkreis von hundert Metern bekommen musste.
Ein weiterer Seufzer entrang sich Kanndras Kehle. Ja, wenn es darum gegangen wäre, für die Sicherheit der "Untoten Socken" zu sorgen...
***
"Neihinin! So kann ich nicht arbeiten! Herr Bleichstolz, wie oft habe ich dir gesagt, dass du auf deinen Einsatz warten sollst, das hier ist keine Improvisation! Und Fräulein Irmelgard, wenn sie noch einmal zu spät kommen, dann werde ich ..." Ein Knall ließ den hageren Mann herumfahren. Seine Augen wurden groß und seine Gesichtsfarbe verfärbte sich noch etwa zwei Nuancen mehr ins dunkelrote. "Was soll das, wer seid ihr, warum stört ihr die Probe?" Erbost schwang er seinen Taktstock in Richtung der Neuankömmlinge, die augenscheinlich nicht damit gerechnet hatten, von solch einer geballten Ladung Wut empfangen zu werden.
"Äh, wir ...", meinte schließlich der Kleinere von ihnen, "man hat uns gesagt, wir sollten die großen Pauken hier abliefern..."
"Aber doch nicht jetzt! Was denkt ihr eigentlich, was wir hier machen? Das ist Kunst! KUNST! Und das ist eine sehr ernste Angelegenheit!"
"Herr Paginani ..."
"Nein, nein, nein,
so nicht, nicht mit mir, niemals!"
Der Dirigent knallte seinen Taktstock auf das Pult vor ihm und stürmte von der Bühne. Betretene Stille legte sich über Saal.
Dann räusperte sich der Mann am Kontrabass.
"Vielleicht sollte jemand nach ihm sehen..."
Der Flötist schnaubte verächtlich.
"Ich bin doch nicht verrückt! Der Alte hat sie eh nicht mehr alle, am Ende fängt er nur wieder an, mit den Einrichtungsgegenständen zu werfen!"
Vereinzeltes Nicken.
Der gemaßregelte Herr Bleichstolz
[1] sah in die Runde.
"Schluss für heute?", schlug er hoffnungsvoll vor.
Zustimmendes Brummen.
"Aber jemand sollte ihm seinen Taktstock nachbringen", gab die Harfenspielerin zu bedenken, "ihr wisst wie er ist."
Der Flötist überlegte einen Moment.
"Wahrscheinlich hast du recht..." Er sah sich um. "Wo sind diese Ballettratten, wenn man sie mal braucht?"
***
Ja, tatsächlich, wenn der Primadonna in
dieser Stadt
nichts zustoßen sollte, dann wäre das
wirklich ein Wunder!!!
Mit finsterem Blick betrat Kanndra den Pseudopolisplatz und hielt auf das Wachhaus zu. Jetzt verstand sie das mit dem Personenschutz ... bei dieser Frau hätte ja so gut wie jeder ein Motiv! Madame Fortissima Staccata hatte sich nicht als unangenehme Person herausgestellt. Oh nein, selbst sie als unumgänglich zu beschreiben wäre eine glatte Untertreibung gewesen! Der Leutnant hielt sich für einen toleranten Menschen, aber es gab Fälle, da ... Fälle wie dieses rosarote Knallbonbon eben, dass sich vorhin aus der Kutsche gequetscht und sofort begonnen hatte, seine Umwelt zu schikanieren. In der Tat schien es sich bei der Sopranistin um eine Frau von mehr Masse als Klasse zu handeln und es schien nicht unwahrscheinlich, dass die Bezeichnung "Diva" speziell für sie erfunden worden war.
Vor dem Wachhaus hatte sich eine Art Mob gebildet: Menschen, Zwerge und Angehörige so ziemlich jeder anderen Spezies, eine unmöglich zu überblickende Anzahl drängelnder Individuen, welche das Erdgeschoss des Wachhauses am Pseudopolisplatz in Chaos und Lärm versinken ließen. Und man konnte regelrecht zusehen, wie die Menge wuchs: Jedes Mal, wenn es einer geschafft hatte sich seinen Weg wieder nach draußen zu bahnen, schoben sofort zwei neue Wartende nach. Obwohl das mit dem "warten" nicht ganz der richtige Ausdruck zu sein schien...
"He, Wächter, ich hab eine Beschwerde!"
"Warum tut die Wache nichts? Ich wurde bestohlen, jawohl!"
"Und mir wurde Gewalt angetan! Sieh nur, meine Nase ist ganz geschwollen!"
"Schau es dir doch an! Meine arme Violine! Dieser ... dieser Schuft hat die ... die Saiten einfach durchgeschnitten! Stell dir vor! Sie war ein Erbstück!"
"Geklaut hat er sie! Vor meinen Augen! Verhaftet ihn!"
Mühsam zwängte sich Kanndra durch die Menge in den überfüllten Vorraum, und schaffte es schließlich sogar bis zum Tresen, wo zwei Rekruten verzweifelt versuchten, der Sache Herr zu werden. Allerdings schienen sie in dem Chaos schon lange den Überblick verloren zu haben und nun nur noch der Form halber - oder aber schlicht aus Angst von der wütenden Menge zerdrückt zu werden - zu versuchen, eine wie auch immer geartete Ordnung in die Angelegenheit zu bringen. Zumindest schaffte es einer von ihnen sogar zu salutieren, als er Kanndra sah, während der andere nur ein schwaches Nicken zustande brachte. Er schien den Tränen nah. Daneben stand Chief-Korporal Ophelia Ziegenberger und schien zu überlegen, wie sie es mit dem hohen Aktenstapel auf dem Arm am besten bis zur Treppe schaffte - selbst diesen Bereich hatten die aufgebrachten Bürger mit Beschlag belegt.
"So schlimm war es selbst in den letzten Tagen nicht", meinte sie resigniert.
"Wie lange geht das hier schon so?" Die stellvertretende Abteilungsleiterin von FROG arbeitete sich zu ihrer Kollegin durch.
"Laut dem Rekruten Sorgenvoll schon den ganzen Vormittag. Vielleicht sollten wir beim Kommandeur um die Bewilligung der vorübergehenden Verlegung des Tresens nach draußen bitten. Ansonsten sehe ich die Leute schon den ersten Stock blockieren." Sie runzelte die Stirn. "Ich werde dann wohl noch einmal mein Glück versuchen... " Sie packte die Akten fester und benutzte sie als eine Art Rammbock um sich Platz zu verschaffen. "So ein Wahnsinn ... als ob wir nicht schon so genug zu tun hätten."
In diesem Moment drängte eine neue Welle Beschwerdewütiger von hinten nach, presste Kanndra gegen den Tresen und ihr damit die Luft aus den Lungen. Es war wohl wirklich eine gute Idee, von hier zu verschwinden und sie beeilte sich zu Ophelia aufzuschließen, die die Treppe nun tatsächlich fast erreicht hatte.
"Und da grinst der verfluchte Kerl mich an und kippt den verdammten Inhalt seines verdammten Bierglases über mein verd... teures Cello!"
"Mir hat jemand hinterrücks eine Flöte an den Kopf geworfen! Einfach so!"
"Wir können ... können doch hier nicht, nicht einfach so rumstehen, t-tu doch was!"
"Ja, doch! Äh ... Entschuldigung, Bleichstolz mein Name ... in der Oper ist jemand ermordet worden."
"Das war Sabotage und jetzt ist er total verstimmt und ich werde wieder Tage brauchen, bis ich das wieder in Ordnung gebracht habe!"
Der Leutnant hielt inne und drehte sich um, wobei sie den letzten Schreihals geflissentlich ignorierte.
Ein kleiner untersetzter Mann mit Halbglatze sah sie ernst an. Im Arm hielt er eine in Tränen aufgelöste junge Frau, die kurz davor schien, zusammenzubrechen.
"Mord, sagst du? Bist du sicher?"
Er legte den Kopf schief und verengte die Augen zu Schlitzen.
"Sicher bin ich sicher. Das dort ist übel. So richtet man sich nicht aus Versehen selber zu. Und derart depressiv war er auch nicht."
Kanndra nickte.
"Gut, dafür ist die Abteilung RUM zuständig, sicher wird sich das gleich jemand anschauen kommen..." Ein entsetzter Blick Ophelias traf sie, die von dem Stapel in ihrer Hand zu Kanndra und wieder zurück schaute, ein stummes Bitten auf den Lippen.
"... aber andererseits kann auch ich das übernehmen. Wenn die Kollegin ein paar Tatortwächter zur Sicherung der Spuren hinterher schicken könnte?"
Die stellvertretende Abteilungsleiterin von RUM nickte erleichtert und verdoppelte ihre Anstrengungen, den Aufgang zu den höher liegenden Etagen zu erreichen - während sich Kanndra schicksalsergeben wieder in die entgegengesetzte Richtung auf den Weg machte.
***
Es war eng in der Garderobe, zwischen Schrank und Spiegel blieb nur ein schmaler Zwischenraum, den schon eine normale Person gut ausfüllte. Umso problematischer gestaltete sich der Versuch einer effektiven und vorallem gründlichen Spurensicherung - zumal eine Person am Boden die strategisch günstigste Stelle blockierte. Allerdings konnte ihr dafür niemand einen Vorwurf machen, abgesehen einmal davon, dass Tote generell durch nichts mehr zu beeindrucken sind. Der Mann lag auf dem Rücken und aus einer Brust ragte ein dünner Stab von schwarzbrauner Farbe, den man mit ziemlicher Sicherheit schon jetzt zur Ursache seines Dahinscheidens erklären konnte. Gerade wurde er von Charlie Holm mit aller gebührenden Vorsicht entfernt, während sich die Zwergin Avalania von Gilgory ihren Platz auf dem schmalen Fensterbrett gesucht hatte und von dort aus den Raum inspizierte.
"Dort ist noch ein Blutfleck", meinte sie und wies auf eine Stelle auf dem ausgetretenen Teppich.
Olga-Maria Inös machte ein unglückliches Gesicht und versuchte schon zum wiederholten Mal, den Ikonographen in eine Position zu bringen, die es ihr ersparte, das Gerät über den Tatortwächter Holm hinweghieven zu müssen - beim ersten Mal hatte dies beinahe Schaden an Mensch als auch Maschine und, nicht zu vergessen, Tatort verursacht. Kein Wunder, dass die Stimmung nicht die allerbeste war.
Kanndra lehnte am Türrahmen und sah geistesabwesend dabei zu, wie Charlie nun ein Haar in einem Beweismitteltütchen versenkte. Ihre Zeugin, die junge Frau von vorhin mit Namen Ludmilla Sperling, hatte noch derart unter Schock gestanden, dass sie einfach nicht vernehmungsfähig gewesen war. Und ob Kanndras Bitte, doch im Wachhaus vorbeizukommen sobald es ihr besser ging, bis zu ihr durchgedrungen war, blieb abzuwarten.
Schritte näherten sich eilig und als die Späherin den Kopf drehte, sah sie ein schmächtiges Männlein durch den Gang auf sie zu hasten. Wirres graues Haar stand nach alles Seiten ab und umrahmte das in tiefe Sorgenfalten gelegte Gesicht wie eine drahtige Wolke.
"Hallo! Du bist doch sicher die hier zuständige Frau Wächterin, nicht?"
"Jaaa?", erwiderte Kanndra gedehnt. Solche Fragen ließen schon von vornherein nichts Gutes ahnen.
Mittlerweile hatte das Männlein sie erreicht und nestelte nervös an seiner Krawatte.
"Angelbrecht Saitenfein, ich bin von der Musikergilde und zuständig für die Organisation unserer ... Festspiele." Er schluckte und die Falten auf seiner Stirn vertieften sich zusehends. "Du weißt noch nicht zufällig, was dem armen Paginani widerfahren ist?"
"Nein, wir stehen noch ganz am Anfang unserer Ermittlungen, aber ...", der Leutnant warf einen kurzen Blick in die Garderobe, "... von Mord ist wohl auszugehen."
Nun begann sich eindeutig Panik in Saitenfeins Gesicht abzuzeichnen.
"Aber die Wache wird die Sache doch ... vertraulich behandeln, ja?", stammelte er. "Ihr werdet doch diskret vorgehen und die ... die Öffentlichkeit da heraus lassen? Keine Meldung an die
Times? Bitte?" Er sah sie flehentlich an.
"Solange es für die Ermittlungen nicht notwendig ist, aber ich schätze, dass ich ..."
Der Organisator ließ sie den Satz jedoch gar nicht erst beenden.
"Du musst nämlich wissen, wenn das die Quirmer erfahren ... dann sind wir am Ende! Schlimm genug, dass unser Dirigent tot ist, wenn ich bis in drei Tagen keinen Ersatz für ihn auftreiben kann ..." Er tupfte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
Kanndra sah ihn ungläubig an. Manchmal setzten die Leute schon seltsame Prioritäten.
"Dann ... viel Glück dabei", war dann auch das Erste, was ihr als Antwort einfiel.
Doch Saitenfein hatte den schneidenden Tonfall in ihrer Stimme wohl gar nicht wahrgenommen, er schien in Gedanken schon wieder ganz woanders.
"Probe heute nachmittag ...", murmelte er, " ... die Verbeugungsordnung ist noch nicht fertig
[2] ... der Vorhang ... ihr werdet den Übeltäter schon finden, ich verlasse mich auf die Wache." Mit diesen Worten drehte er sich um und ging.
"Moment, vielleicht kannst du mir noch ein wenig mehr über Herrn Paginani ...", hob die Gennuanerin zu sprechen an, als just in diesem Moment Charlie Holm den Kopf aus der Garderobe steckte.
"Ich hätte da etwas, das dich interessieren wird."
Die Späherin seufzte und ging hinüber zu ihrem Kollegen, der ihr eine Tüte mit einem blutverschmierten Etwas unter die Nase hielt.
"Die Tatwaffe", erklärte der Korporal sachlich, "Ein Taktstock, offenbar Holz mit Einlegearbeiten aus Elfenbein soweit ich das beurteilen kann. Etwa 35 Zentimeter lang und ..."
"Und was ist daran so besonderes?", unterbrach Kanndra ihn.
Der Tatortwächter legte die Stirn in Falten, verkniff sich aber einen Kommentar zum Thema "Ungeduld und die daraus resultierenden Ermittlungsfehler".
"Bis auf das so etwas bestimmt nicht gerade preiswert zu bekommen ist", meinte er nur pikiert, "und er ungewöhnlich schwer für seine Größe ist: Es steht ein Name drauf." Er tippt auf das untere Ende des Taktstocks und reichte der Späherin gleichzeitig eine Lupe: Dort zeichnete sich verschmiert aber doch erkennbar ein Schriftzug ab.
***
Ruppert ag LochMoloch schlenderte pfeifend durch den Blechdosenweg. Das war ja wirklich zu einfach gewesen, kaum hatte er die Räumlichkeiten der Musikergilde betreten und sein Anliegen auch nur ansatzweise vorgetragen, da hatte man ihn voller Begeisterung in ein Nebenzimmer zu einem Herrn mit einer Liste geführt, welcher ihn umgehend eingetragen hatte.
Vorspielen? Unnötig!
Dudelsack? Hervorragend!
Willkommen im Orchester, Junge; Probe heute nachmittag um drei Uhr. Danke, auf Wiedersehen!
Der Vektor grinste in sich hinein. Die schienen wirklich jede Unterstützung nötig zu haben!
Da war er nun also, auf verdeckter Mission um die musikalischen Herrschaften im Auge zu behalten - der Diebstahl an Musikinstrumenten nahm anscheinend mittlerweile ungeheure Ausmaße an und natürlich beschuldigte man immer "die Anderen". Er wusste, dass auch im quirmer Lager Kollegen unterwegs waren, um der Sache Herr zu werden, wobei "Lager" wörtlich zu nehmen war: Man hatte es von vornherein abgelehnt, sich unter den "Ank'-Morpork-Pöbel" zu mischen und stattdessen eine eigene Zeltstadt im Hide Park errichtet, auf dass ja niemand ihre Proben ausspionieren konnte. Nun, es reichte anscheinend nicht einmal aus, Diebe fernzuhalten.
Auch wenn es eigentlich nicht in sein sonstiges Arbeitsfeld fiel, so war Ruppert nicht böse darüber, diesen Auftrag bekommen zu haben. Wann bekam er sonst schon einmal Gelegenheit, Arbeit und Hobby miteinander zu verbinden? Allerdings lag das wohl vor allem daran, dass die ausreichend musikalisch Begabten in der Wache eher rar gesät waren...
"He, du!", drang da eine Stimme an sein Ohr. Überrascht drehte sich Ruppert um ... aber da war niemand. Schon glaubte der Vektor, sich einfach nur verhört zu haben, da wisperte es erneut:
"He, ja du, dich meine ich!"
Die Stimme kam offenbar aus einer kleinen Seitengasse, die er gerade eben erst passiert hatte. Und obwohl wächterliche Erfahrung früh genug lehrt, dass es selten eine gute Idee ist, allein derartigen Aufforderungen nachzukommen, trat Ruppert neugierig einen Schritt näher.
Im Schatten zeichnete sich der Umriss einer Person ab, die offenbar einen viel zu weiten Mantel trug, sodass man ihre eigentliche Gestalt nur erahnen konnte. Außerdem hatte sie sich einen großen Schlapphut so tief in die Stirn gezogen, dass vom Gesicht im Grunde gar nichts zu sehen war - zumindest dann nicht, wenn man wie der Wächter einen guten Kopf größer war als sein Gegenüber.
Dieser winkte nun ungeduldig, allerdings war Ruppert nicht so lebensmüde den - relativ
[3] - sicheren Sonnenschein auf der Straße zu verlassen.
"Kann ich etwas für dich tun?", fragte der Wächter stattdessen freundlich.
Die Gestalt schien einen Moment lang unentschlossen, tat aber dann ihrerseits noch einen Schritt nach vorn - ohne den schützenden Schatten jedoch ganz zu verlassen.
"Hör mal: Möchtest du vielleicht eine ... Bratsche kaufen? Beste Qualität und ganz billig. So was bekommst du das momentan nirgends mehr in der Stadt."
"Tatsächlich?", Ruppert zog skeptisch eine Augenbraue nach oben. "Und warum glaubst du, ich könnte an einer Bratsche interessiert sein?"
"Na hör mal, ich kenn mich doch aus! Du siehst aus wie ein Mann, der an Veränderung interessiert ist. Du kommst gerade aus der Musikergilde, nicht wahr, und wenn ich mir diese seltsame Tute über deiner Schulter so ansehe..." Er betrachtete Rupperts Dudelsack mit schiefgelegtem Kopf.
"Ach?"
"Ja. Pass auf ..." Der dubiose Händler sah kurz nach links und rechts - die Bewegung des Huts ließ keinen anderen Schluss zu - und senkte seine Stimme noch weiter: "Du bist mir sympathisch, deswegen bekommst du den Bogen gratis dazu, na was hältst du davon?" Er öffnete verschwörerisch den Mantel und präsentierte ein Sortiment an schlampig mit Pferdehaar bespannten Holzstangen. "Aber pssst!" Der Kopf hob sich ein Stück und unter der Hutkrempe erschien ein breites Grinsen aus beeindruckend fauligen Zähnen.
"Ich weiß nicht recht ..." Ruppert kratzte sich in gespieltem Überlegen am Kopf, während die andere Hand nach der in seiner Tasche versteckten Wachemarke kramte. Der Kerl sah nicht so aus, als hätte er eine Lizenz ... es hätte den Vektor nicht gewundert, wenn in seinem Angebot das ein oder andere als gestohlen gemeldete Stück wieder aufgetaucht wäre.
"Wenn ich ehrlich bin, würde mich interessieren ..."
"He, der Preis ist echt ok. Ich seh doch, dass du armer Kerl nicht mal genug Geld hast, um dir eine vernünftige Hose zu kaufen."
Stille folgte diesem Satz. Eine lange Stille, in der sich Ruppert eine nicht vorhandene Falte aus dem Kilt strich und mit betont gewichtiger Geste seine Marke hervorholen wollte ... doch da kam das Schweigen auch schon die Straße hinauf. Besser gesagt: Es war wie eine Wand, welche sich durch den Blechdosenweg immer weiter nach oben vorarbeitete. Die Menschen verstummten nacheinander, Instrumente wurden weggepackt und man setzte grimmige Mienen auf. Umso frappierender war die Wirkung dieses Phänomens, da es sich vorher um eine besonders belebte Straße gehandelt hatte: Die Nähe zur Musikergilde machte den Bezirk für Ankh-Morpork zu dem, was der Hide Park momentan für die quirmer Musikerdelegation war und wenn man dazu noch die übliche Betriebsamkeit der Zwillingsstadt hinzunahm...
"Oh, Mist ...", murmelte die Gestalt in der Gasse und linste um die Hausecke. "Nicht die schon wieder."
Am anderen Ende der Straße waren mehrere Gestalten aufgetaucht, die sich in einer geschlossenen Formation auf sie zubewegten: Sie trugen lange, hellblaue Kutten mit großen Kapuzen und außerdem hatte die Gestalt ganz vorn etwas bei sich, was Ruppert in Ermangelung eines besseren Begriffs einfach als "Trommel" bezeichnen musste: Man schlug zwar gleichmässig auf sie ein, aber sie erzeugte trotzdem nicht den geringsten Ton.
"Tja, Kumpel, ich muss dann mal wieder", wisperte der Händler hastig, "Wäre gern mit dir ins Geschäft gekommen, vielleicht ein andermal und so, nich? Und versteck lieber deine Tröte, bis die Brüder da vorbei sind ..."
"Aber was ...", begann Ruppert, doch da war sein seltsamer Gesprächspartner schon wieder in den Schatten der Seitengasse verschwunden.
***
Unterdessen war Leutnant Kanndra auf der entgegengesetzten Seite der Stadt in einer ganz anderen Angelegenheit unterwegs.
Emeritio von Mälzel - hatte ihr der Name auf dem Taktstock zu Anfang noch gar nichts gesagt, so hatte ihr schon der nächstbeste Musiker, der zufällig
[4] am Tatort vorbeigekommen war, weiterhelfen können - auch wenn es zunächst mehr ein wütender Aufschrei, als eine klar verständlichen Information gewesen war.
"Was, der? Was hat denn der hiermit zu schaffen? Dieser verräterische ... war der das etwa? Aber wen wundert es eigentlich?"
Nach der ersten Schimpftirade erfuhr sie dann aber doch noch, dass es sich bei dem Mann um den Dirigenten des quirmer Orchesters handelte.
"Und dabei hat er seine Ausbildung damals hier in Ankh-Morpork absolviert! Das kann man alles in den Akten nachlesen, die werden ordentlich geführt, jawohl!", schnaubte der Musiker empört und gestikulierte wild. Dass er dem Leutnant dabei um ein Haar seine Trommelschlegel um die Ohren geschlagen hätte, schien ihn nicht weiter zu beunruhigen. "Jetzt sitzt er dort bei diesen ... diesen Lackaffen und verspottet damit seine Lehrmeister!"
"Und wo sitzt er ... zur Stunde?", wagte Kanndra einzuwerfen und trat vorsichtshalber einen Schritt zurück.
"Tja, wenn ich das wüsste ... sein Glück, dass ich es nicht weiß. Aber sicher bei diesen Möchtegerns im Hide Park."
Dass es sich hierbei um einen Irrtum handelte, wurde der stellvertretenden FROG-Abteilungsleiterin allerdings auch erst genau dort mitgeteilt, als sie etwas später am Eingang zur Zeltstadt eintraf.
Nein, der Herr Dirigent wäre nicht hier, warum sie das denn wissen wolle? Stadtwache, soso. Kümmert euch doch lieber um die Zustände in den Straßen hier, das ist ja nicht mehr auszuhalten. Man sollte meinen, dass es wichtiger ist, diese Hundesöhne, die uns ständig die Instrumente klauen zu überführen, als ehrwürdige Künstler zu belästigen, oder? Was, der Herr von Mälzel? Ja ja, Trampelgasse 27a. Wieso er nicht mit im Lager kampierte? Du erwartest ernsthaft vom
Dirigenten mit uns
anderen Musikern auf so engem Raum zu hocken? Du kennst dich wohl gar nicht aus, wie? Das würde über kurz oder lang nicht gut gehen. Ja, Künstler, was fragst du eigentlich noch? War's das dann, wir haben hier noch wichtige Aufgaben zu erfüllen.
Wirklich nette Menschen... Doch im Nachhinein befand Kanndra, eigentlich immenses Glück gehabt zu haben, dass man ihr den Aufenthaltsort des Dirigenten überhaupt verraten hatte.
Die angegebene Adresse entpuppte sich als kleines Wirtshaus nur ein paar Straßenzüge weiter. Es handelte sich um eines der raren Exemplare in Ankh-Morpork, bei dem man zumindest vom rein optischen Eindruck her davon ausgehen konnte, dass die Betten weich und das Essen genießbar war. Allerdings war der Name weit weniger viel versprechend:
"Zur ewigen Einkehr". Doch all dies verlor schlagartig an Bedeutung, als eine Wächterin in einer SUSI-Uniform das Gebäude verließ und etwas auf einem Karren neben der Eingangstür verstaute. Kanndra runzelte die Stirn und beschleunigte ihren Schritt. Das würde doch jetzt bitte nicht genau das bedeuten, was sie befürchtete...
Die Tatortwächterin hatte sie mittlerweile ebenfalls bemerkt, drehte sich um und salutierte etwas lax.
"Leutnant."
"Hallo Magane." Die Gennuanerin beschloss, sich nicht mit vielen Fragen aufzuhalten sondern einen Schuss ins Blaue hinein zu wagen. "Gehe ich richtig in der Annahme, dass Herrn Emeritio von Mälzel etwas zugestoßen ist?"
Verwirrung zeichnete sich auf dem Gesicht des Korporals ab.
"Äh ... ja, genau. Aber woher weißt du das, Mä'äm, ich meine, außer RUM hat noch niemand irgendetwas ..."
"War nur so eine Vermutung", murmelte Kanndra und sah unglücklich an der Fassade des Wirtshauses nach oben und gleichzeitig die Klärung ihres Mordfalls in weite Ferne rücken. "Eigentlich hätte ich mich dringend mit ihm unterhalten müssen ..."
"Ja, das hat sich in der Tat vorerst erledigt." Magane zuckte mit den Schultern. "Und nun entschuldige mich bitte, Mä'äm, wir sind hier so gut wie fertig und ich muss noch den Rest zusammenpacken. Die Kollegen sind aber noch oben, also wenn du noch irgendwelche Fragen hast ..." Sie schob sich an der Späherin vorbei, irgendetwas von "Packesel" murmelnd.
Doch nun war es an Kanndra zu staunen.
"Was heißt hier "vorerst"?", wollte sie mit einigen Sekunden Verspätung wissen, aber da war die Tatortwächterin schon wieder in der
"Einkehr" verschwunden.
Nach kurzem Zögern folgte ihr Kanndra und begab sich durch einen engen Flur eine noch viel schmalere Treppe hinauf, um sich schließlich in einem winzigen Obergeschoss mit genau zwei Türen wiederzufinden. Eine davon stand offen und es waren Stimmen zu hören. Da das Absperrband für den Tatort schon entfernt worden war, schien nichts dagegen zu sprechen, das Zimmer zu betreten. Dort hatte Lance-Korporal Kathiopeja gerade zu Handfeger und Schaufel gegriffen und erläuterte irgendeinen kriminaltechnischen Sachverhalt, während sich eine RUM-Wächterin - offensichtlich Vampirin, der Kanndra momentan beim besten Willen keinen Namen zuordnen konnte - Notizen machte. Die Späherin klopfte am Türrahmen.
"Ich habe mir sagen lassen, ich hätte vielleicht doch noch die Aussicht, meinen Tatverdächtigen zurückzubekommen?", fragte sie halb ironisch, halb in der Hoffnung, dass an Maganes leicht irritierender Aussage doch etwas dran sein könnte.
Die RUMlerin wandte den Kopf, während Kathiopeja sich wieder ihrer Arbeit widmete.
"Von Mälzel ist dein Tatverdächtiger?" Die Vampirin schloss ihr Notizbuch und kam zu Kanndra hinüber. "Hauptgefreite Mina von Nachtschatten", salutierte sie, "und ja, eventuell könntest du das, Mä'äm ... sobald wir den Rest von ihm gefunden haben."
"Den Rest?" Kanndra sah sich unwillkürlich nach einer nicht vollständigen Leiche um, was ihr aber schon im nächsten Moment reichlich albern vorkam.
Die Hauptgefreite nickte und wies auf ein graues Häuflein neben einem Schreibsekretär in einer Ecke des Zimmers. Dieser wurde gerade von Kathiopeja mit aller gebührenden Vorsicht zusammengekehrt und in einem Glas verstaut. "Es fehlt ungefähr die Hälfte", meinte sie.
In Kanndras Gehirn setzten sich die letzten Puzzlesteine zusammen und sie musste sich beherrschen, um sich nicht mit der Hand gegen die Stirn zu schlagen - unglaublich, wie verbohrt man manchmal sein konnte. Der quirmer Dirigent war Vampir ... gewesen. Nun ergab das "vorerst" wirklich einen Sinn.
"Allerdings wissen wir noch nicht sicher, ob das überhaupt von Mälzel ist oder ob nicht jemand ein Häuflein Kaminasche hier deponiert hat. SUSI muss das noch überprüfen."
"Ich verstehe", Kanndra nickte nachdenklich. "Hat sich sonst schon etwas ergeben?"
"Na ja, die Tatortwächter haben einen halben Schuhabdruck in der Asche gefunden und abgegossen, aber ansonsten ..." Ein unzufriedener Ausdruck machte sich auf dem Gesicht der Hauptgefreiten breit. "Natürlich hat hier niemand etwas gesehen und der Wirt kann sich auch nicht daran erinnern, in diesem Teil des Hauses einen Fremden bemerkt zu haben - was ich ihm bei seiner Alkoholfahne sogar abkaufe. Andere Gäste gibt es zur Zeit nicht und die Putzfrau hat heute schon Feierabend." Sie seufzte. "Wie du siehst, Mä'äm, ich wäre auch dankbar für ein paar Informationen mehr."
Doch diese würden zumindest an diesem Ort wohl nicht mehr zu finden sein, und so verließen die beiden Wächterinnen wenige Minuten später das Gebäude. Neben dem Eingang drückte sich eine Gestalt herum, ein Junge mit blondgelocktem Haar und mehr Sommersprossen als für einen einzelnen Menschen vorgesehen sein sollten. Er sah ihnen erwartungsvoll entgegen, trat dabei aber nervös von einem Fuß auf den anderen. Nach Kanndras Einschätzung konnte er nicht viel älter als 17 sein.
"Ist der Herr von Mälzel jetzt zu sprechen?", erkundigte er sich vorsichtig.
Mina verdrehte sie Augen.
"Nein. Und nein, wir geben dazu keinen Kommentar ab und
nein es nützt auch nichts, wenn du morgen noch einmal nachfragst."
Der Junge machte ein bedrücktes Gesicht.
"Na gut, dann ... na gut", meinte er und verschwand um die Straßenecke.
"Wer war das?", wollte Kanndra wissen und sah ihm argwöhnisch hinterher.
"Ein Reporter von der
Times, er nervt uns schon eine ganze Weile, weil er angeblich einen Termin für ein furchtbar wichtiges Interview mit dem Dirigenten hat. Er wollte gar nicht verstehen, weshalb das nicht mehr möglich sein sollte." Sie schnaubte. "Er hat dann versucht, ersatzweise uns seine Fragen aufzuzwingen. Als hätten wir keinen anderen Probleme als diese blöde Sekte."
Kanndra horchte auf.
"Sekte?"
"Hast du schon einmal etwas von den "Unentschlossenen Brüdern der nicht festgelegten Entitätsverehrung" gehört, Mä'äm?"
"Nein ... hätte ich das denn?"
"Oh, ich glaube nicht, Mä'äm. Bis vor ein paar Tagen haben das wohl die wenigsten, mich selbst eingeschlossen." Mina überlegte kurz. "Es handelt sich im Grunde um eine kleine Gruppe von ... Opportunisten, die anscheinend mindestens einmal im Monat ihre Glaubensausrichtung ändern, je nachdem, was sich gerade anbietet", erklärte sie, während die Wächterinnen durch den späten Nachmittag in Richtung Pseudopolisplatz unterwegs waren. "Momentan sind sie als die "Brüder vom leuchtenden Schweigen" unterwegs, tragen blaue Kutten und vertreten die Ansicht, Musik sei unheilig und die Erleuchtung nur durch absolute Stille zu erlangen oder so ähnlich. Sie versuchen rechte erfolglos Musikinstrumente zu konfiszieren und sind anscheinend eher ein Ärgernis als eine ernstzunehmende Bedrohung. Ich habe mich heute morgen mit Breda Krulock von DOG unterhalten und dort rechnet man damit, dass sich das Problem von selbst lösen wird: Offenbar ist diese Gruppierung derart wankelmütig, dass sie es noch nicht einmal geschaffte haben, eine religiöse Symbolik zu entwickeln." Die Vampirin lächelte humorlos. "Worüber ich persönlich ja nicht böse bin."
Kanndra wiegte unsicher den Kopf.
"Vielleicht sollte man sich diese "Brüder" trotzdem einmal näher ansehen", meinte sie langsam, "denn wenn sie schon nicht konfiszieren können ... wie weit ist der Weg dann noch bis zum Diebstahl?" 'Oder zum Mord?', fügte sie in Gedanken hinzu. Aber das wäre ein denkbar schwaches Motiv ... obwohl ja schon ein Fanatiker ausreichen würde. "Das wäre zumindest eine Erklärung für die derart drastisch angestiegene Zahl unlizensierter Vorfälle in den letzten Tagen."
"Hmm", Mina starrte nachdenklich vor sich hin, riss sich dann aber sichtbar zusammen, "Momentan treiben sie SEALS zur Weißglut, wenn sie mit ihren ständigen Prozessionen die Hauptverkehrsadern blockieren." Dann wechselte sie das Thema. "Aber wie auch immer, sobald sich etwas im Fall von Mälzel ergibt, werde ich es dir zukommen lassen ... oder ich gebe dem entsprechenden Kollegen Bescheid ... weißt du, Mä'äm, im Grunde bin ich heute nur die Vertretung für Korporal Kolumbini, der Janders vertritt, weil der ..." Sie zuckte mit den Schultern. "Wir sind einfach knapp mit dem Personal."
Kanndra nickte. Welche Abteilung war das momentan nicht?
"Solange ich es irgendwie bekomme ... momentan weiß ich auch nicht viel mehr, als dass unser Dirigent mit dem Taktstock des Quirmers erstochen worden ist."
Mina sah sie groß an.
"Die Organisatoren werden durchdrehen.", stellte sie dann fest, "und nicht nur die, wenn das erst einmal bis zu den Musikern durchgesickert ist."
"Ich hatte ja fast gehofft, dass der Wahnsinn damit ein baldiges Ende findet ..."
Sie betraten den Pseudopolisplatz: Der Eingang zum Wachhaus war schon wieder - oder immer noch? - von einer Menschentraube verstopft.
"... oder aber es geht jetzt erst richtig los."
***
"He! He, Heinrich!"
Genervt drehte sich der Angesprochene um und sah dem kleinen Mann, der auf ihn zugeeilt kam mit hochgezogenen Augenbrauen entgegen.
"Was ist denn jetzt schon wieder, Bleichstolz?"
Der Kleine sah sich hektisch um, wohl um sicherzugehen, dass sie nicht beobachtet wurden.
"Hast du schon gehört? Das mit Maximilian ... die absolute Katastrophe, bald wird es hier von Schnüfflern nur so wimmeln!"
Heinrich verschränkte die Arme und starrte den anderen böse an. "Und was schlägst du vor? Übrigens war er mein Bruder, schönen Dank auch", knurrte er.
Sein Gesprächspartner wurde blass, fing sich aber schnell wieder.
"Oh, ja, stimmt, ich vergaß ... aber wir müssen etwas tun. Vielleicht sollten wir die Sache abbrechen, solange es noch geht. Das würde niemandem weiter auffallen."
"Warum denn, wir haben doch ohnehin nur noch ein paar Tage." Für Heinrich schien die Angelegenheit damit erledigt und er wandte sich zum Gehen.
"Aber ... dein Bruder ...", wagte der kleine Mann zu erwidern.
Heinrich ließ den Wischmob schwungvoll in den Eimer fallen.
"Dass er mein Bruder war heißt noch lange nicht, dass ich ihn sonderlich mochte, klar? Natürlich ist es ... tragisch in gewisser Weise ... aber ich sehe keinen Grund, deswegen den Kopf in den Sand zu stecken. Wir haben nicht geschlampt, wer sollte uns auf die Schliche kommen?"
"Na ja, äh, also ..." Herr Bleichstolz wrang die Hände, "Der von Mälzel war gestern nicht unbedingt begeistert, als ich ihm den Vorschlag ..."
Ihm blieb die Luft weg, als Heinrich ihn am Kragen packte.
"Der von Mälzel? Bist du bescheuert? Wer hat dir gesagt, dass du mit dem von Mälzel darüber sprechen sollst? Der ist ein Künstler! Der Mann hat mehrfach die goldene Quirmania für herausragende Verdienste an der Musik seiner Heimatstadt bekommen, der würde sich nie auf derartige Geschäfte einlassen!"
"H-hör auf m-mich zu schü-schütteln!"
Heinrich ließ ihn los und trat frustriert gegen den Eimer mit dem Wischwasser, dessen Inhalt sich prompt im ganzen Gang verteilte.
Herr Bleichstolz versuchte unterdessen zu Atem zu kommen und glättete seinen Kragen.
"Ich dachte ja nur", murmelte er beleidigt. "Schließlich hat auch Maximilian ..."
"Nein, dein Problem ist eben, dass du nicht denkst! Es war nicht abgesprochen, die Quirmer mit einzubeziehen. Wenn Emeritio von Mälzel redet, dann haben wir wirklich ein Problem!"
"Ich glaube eher nicht, dass er das wird ..."
Heinrich fuhr herum.
"Was willst du damit sagen?"
"Na, hast du noch nicht davon gehört?"
***
Zwei Tage vor dem Konzert...Kühler Morgennebel waberte zum Fenster hinein und hinterließ feine Wassertröpfchen auf dem Scheibenglas.
Tyros y Graco fröstelte leicht, atmete jedoch gierig ein paar Mal tief durch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war nicht leicht gewesen bis in den FROG-Bereitschaftsraum zu kommen, im Erdgeschoss des Wachhauses tobte schon um diese Zeit eine regelrechte Völkerschlacht. Nur gut, dass das Fenster hier zum Hof hinausging, da war der Lärm weitaus erträglicher und größtenteils auch anderer Art: Es tönten nur ein paar gequetschte Töne irgendeines gequälten Instruments an seine Ohren und das war nach dem Geschrei geradezu entspannend. Der Alchemikexperte beneidete die Kollegen, welche heute die Proben auf der Bühne auf am Henne-und-Küken-Feld überwachen sollten, nicht im geringsten: Wie man hörte, waren schon die musikalischen Leiter beinahe aufeinander losgegangen als man die Frage erörtert hatte, wer denn zuerst proben dürfe. Doch ob die Arbeit hier im Wachhaus wirklich um so vieles besser sein würde ... zu den Anschuldigungen wegen Diebstahls und Sabotage flatterten nun noch stapelweise Verdächtigungen und Anzeigen zu den beiden Dirigentenmorden ins Haus. Es war rekordverdächtig, wie schnell die Nachricht die Runde gemacht hatte und das wollte in Ankh-Morpork schon etwas heißen! Die Schreibtische bogen sich unter Stapeln von Papier ... und mit Grausen musste Tyros daran denken, dass das auch seinen eigenen betraf. Dafür war er nicht zu FROG gegangen! Aber momentan war man ohnehin eher Wächter im allgemeinen Sinne des Begriffs, die Arbeit abteilungsübergreifend ausgerichtet und irgendjemand hatte ja schließlich die Niete ziehen müssen, zum Aussortieren sämtlicher Angelegenheiten ohne große Priorität eingeteilt zu werden und im Haus den Boten zu spielen ... aber warum ausgerechnet er?
Seufzend wollte der Hauptgefreite das Fenster schon wieder schließen, als ein seltsames Geräusch seine Aufmerksamkeit erregte: Es war ein Quietschen, unterlegt von unverständlichem Gefluche ... und es kam von weiter unten.
Tyros steckte den Kopf nach draußen.
"Kann ich dir helfen, Mä'äm?"
Kanndra schaute in einer Mischung aus Verärgerung und Erleichterung zu ihm hinauf. Offenbar hatte sie die vom Morgentau noch feuchte Kletterstange zum Bereitschaftsraum eindeutig unterschätzt. Auf der einen Seite war es zwar peinlich, als gestandene Späherin hier so auf halber Höhe zu hängen; andererseits konnte sie nun auf eine helfende Hand für wenigstens das letzte Stück bis zum Fenster spekulieren.
Und so stand sie einige Minuten später auch im Zimmer, keuchend, mit nass verschmierter Uniform, aber zumindest wieder mit festem Boden unter den Füßen. Tyros wartete höflich, bis seine Vorgesetzte zu Atem gekommen war, konnte sich die Frage aber dann doch nicht verkneifen:
"Was wolltest du denn da draußen, Mä'äm?"
Kanndra machte ein ärgerliches Gesicht und putzte vergeblich an ihrem Mantel herum.
"Den Tresenbereich umgehen", knurrte sie.
Der Alchemikexperte schwieg dazu diplomatisch. Denn die Idee an sich war ja so schlecht nicht gewesen...
"Da wartet eine junge Frau auf dich, Leutnant", meinte er stattdessen. "Sie will mit dir über den toten Dirigenten sprechen. Heißt Sperling, oder so."
"Ludmilla Sperling?"
"Ja, genau. Ich habe ihr gesagt, sie soll vor deinem Büro warten, bis du kommst ... zu den Verhörräumen war leider kein Durchkommen und wenn ich sie unten gelassen hätte, könnten wir sie jetzt wohl vom Boden kratzen."
Kanndra nickte.
"Danke, ich kümmere mich gleich darum. Aber vorher ... vielleicht erstmal ein Glas Wasser ..."
Sie verließ eilig den Raum und erst jetzt hoben sich die Mundwinkel des Hauptgefreiten zu einem fast schon als schadenfroh zu bezeichnendem Grinsen. Der Anblick da draußen war wirklich für die Götter gewesen!
***
Er hob seine Arme und strahlte in die Runde.
"Und schon wieder ein neuer Tag im Dienste des Schweigens!", verkündete er voller Inbrunst.
Niemand antwortete. Alle Anwesenden starrten ihn nur an, hier und da erklang ein verlegenes Hüsteln.
"Was ist denn, gibt es etwa schon wieder ein Problem?" Frustriert ließ der oberste Abt der Stille die Hände sinken und ballte sie zu Fäusten. Irgendetwas war immer! "Was ist es diesmal?", fragte er in betont gelangweiltem Tonfall.
Eine der Gestalten räusperte sich laut und vernehmlich.
"Na ja, nimm es mir nicht übel, aber du, äh ...
sprichst gewissermassen die ganze Zeit vom, nun ja,
Schweigen ... du verstehst unseren Konflikt?"
Der oberste Abt widerstand nur schwer der Versuchung, aufzustampfen und sich die Haare zu raufen - solch ein Verhalten hätte ihn nicht unbedingt in seiner Position bestätigt.
"Wie oft denn noch?", erwiderte er stattdessen, "es geht hier um ... widernatürliche Klangerzeugung, die Stimme ist von Geburt an eingebaut."
"Das scheint mir immer noch ziemlich konstruiert!" Diese nörgelnde Stimme war eindeutig als die des zweiten Unterabts zu erkennen. Er war noch nicht lange auf diesem Posten, doch der oberste Abt plante bereits seine Ersetzung. Allerdings gestaltete es sich schwieriger als gedacht, einen geeigneten Nachfolger zu finden - was vielleicht auch daran lag, dass dann eine andere Position freigeworden wäre, den man nicht so einfach mit einem dahergelaufenen Novizen ersetzen konnte. Es fehlte ihnen eindeutig an Mitgliedern! Besonders an fähigen Mitgliedern, die ihr Gehirn auch einmal abschalten konnten.
"Jajajajaja, aber darum geht es doch nicht!" Der oberste Abt verlegte sich nun auf eine Taktik, die zumindest in den letzten Tagen stets den gewünschten Erfolg gebracht hatte.
"Kommt schon Leute, die Sache hier ist besser als alles davor, denkt doch mal nach, wenigstens werden wir ernstgenommen ..."
"Unsere Kutten sind
babyblau!"
"... ganz abgesehen vom finanziellen Aspekt."
Schweigen. Er hatte sie. Nun ja ... vielleicht nicht alle.
"Ja, das sehe ich!" Der zweite Unterabt ließ bedeutungsvoll den Blick im Raum schweifen: Über die marode Decke, zu den schiefen Wänden und den vereinzelten Regenwasserpfützen auf dem Boden. Für mehr als einen alten Dachstuhl hatte es als Versammlungsort der Bruderschaft einfach noch nicht gereicht.
Der oberste Abt überging diesen unangenehmen Gedanken ebenso wie den Einwurf des zweiten Unterabts.
"Los, nur noch ein paar Tage und dann können wir uns bald einen richtigen Tempel für einen richtigen Orden zulegen."
"Für eine richtige Gottheit?"
"Ja."
"Mit Kutten in vernünftigen Farben?"
"Ja, meinetwegen."
"Darf ich dann endlich mit der, übrigens längst überfälligen, Ausarbeitung von ein paar offiziellen Ordensregeln beginnen?"
"Natürlich, erster Mittelabt, du bekommst dafür sogar eine eigene Kammer im Tempel zur Verfügung gestellt."
"Mit Blick auf den Innenhof?"
"Selbstverständlich."
Die Gruppe schien kurz nachzudenken, dann folgte kollektives Nicken.
Der oberste Abt lächelte zufrieden.
"Gut, dann also heute das übliche Prozedere: Die Hälfte geht in der Prozession, die andere Hälfte in zivil. Lasst uns der Stille zu noch mehr Ruhm verhelfen! Auf geht's, Jungs!"
"Und Mädchen!", meldete sich eine Stimme von ganz hinten.
"Ja doch!"***
Sie sah immer noch nicht wieder viel besser aus als am Tag zuvor, doch zumindest konnte man wieder deutlich verstehen was sie sagte, ohne auf die Pausen zwischen den Schluchzern warten zu müssen. Ludmilla Sperling umklammerte das Täschchen auf ihrem Schoss mit der einen und ein Taschentuch mit der anderen Hand. Sie war eine sehr kleine, zierliche Person, deren in Ballettschuhen steckenden Füße nur mit Mühe den Boden erreichten, sobald sie sich auf den Besucherstuhl vor Kanndras Schreibtisch gesetzt hatte. Wortlos starrte sie vor sich hin und man musste über keine besonders gute Menschenkenntnis verfügen, um zu erkennen, dass sie in der vergangenen Nacht wohl nicht viel geschlafen hatte. Das würde wohl kein einfaches Gespräch werden.
"Fräulein Sperling, wie gut kanntest du Herrn Paginani?", fragte Kanndra mit sanfter Stimme. Die junge Frau zuckte mit den Schultern und strich sich fahrig eine blonde Locke aus der Stirn.
"Wie gut kennt man den Dirigenten?", meinte sie unsicher, "Wir haben im gleichen Haus gearbeitet und er war auch erst seit etwa einem Jahr bei uns. Ich habe ab und an bei den Proben zugesehen ... vorallem in letzter Zeit, da das Ballett nicht viel zu tun hatte." Sie wackelte unglücklich mit den Zehenspitzen.
Das lenkte Kanndras Blick auf den Boden, wo noch immer einige Kartons herumstanden, die sie noch nicht geschafft hatte auszupacken. Überhaupt war seit ihrer Rückkehr zu FROG und nach dem Umzug in ihr neues Büro noch so einiges liegen geblieben.
"Auch gestern?", fragte sie, während sie versuchte, möglichst unauffällig eine kleine Kiste mit dem Fuß unter den Schreibtisch zu schieben.
Ludmilla nickte.
"Herr Paginani hat sich manchmal während der Proben so aufgeregt und oft abgebrochen ... aber die, die Musiker, die kümmert das doch einen Dreck ... ich wollte ihm doch nur ein Glas Wasser bringen, als er gar nicht mehr auftauchte." Sie fing an zu zittern. "Und da hab ich ..." Ein erneutes Aufschluchzen kündete von einer weiteren Tränenflut.
"Ein gewisser Herr Bleichstolz hat dich dann vor der Garderobe gefunden und ins Wachhaus gebracht", half Kanndra ihr schnell weiter.
"Spielt momentan die Triangel im Orchester", erklärte die junge Frau unaufgefordert, "Er hat Herrn Paginani nicht gemocht. Die beiden sind oft aneinander geraten ... wie unser Dirigent auch mit den Cellisten, den Klarinettisten, der Harfenistin ... eigentlich mit allen." Mit tränenumflorten Blick sah sie Kanndra an. "Er hatte eigentlich niemanden außer mir und seinem Bruder."
"Ein Bruder? Das trifft sich gut, wir haben noch keine weiteren Verwandten ..."
In diesem Moment begann Ludmilla erneut haltlos zu schluchzen und Kanndra blieb nichts anderes übrig als zu warten, bis das Schlimmste wieder vorbei war. Sie zog sich den ersten Bericht von SUSI heran, den sie auf ihrem Schreibtisch vorgefunden hatte und überflog ihn kurz. Haare vom Opfer plus ein noch nicht identifiziertes; Blut ebenfalls vom Opfer; zusätzlich Fingerabdrücke von allen möglichen anderen Leuten in der Garderobe sowie von zwei Personen am Taktstock, der Abgleich mit denen der Mitarbeiter des Opernhauses würde noch erfolgen - sobald man sie denn alle genommen hätte. Bis jetzt habe sich aber noch keine Übereinstimmung mit der Fingerabdruck-Kartei ergeben. Kanndra seufzte. Das wäre ja auch zu schön gewesen!
Mittlerweile waren aus dem Weinkrampf des Fräulein Sperling wieder halbwegs verständliche Worte herauszuhören.
"... hätte nicht gedacht, dass es soweit kommt ... wenn ich das geahnt hätte ... ich wäre doch nie ..."
"Fräulein Sperling, was ist mit dem Bruder?", hakte Kanndra vorsichtig nach.
Die Balletttänzerin biss sich auf die Unterlippe.
"Er arbeitet zur Zeit als Assistenzhausmeister an der Oper. Ist vor kurzem aus der Diebesgilde hinausgeworfen worden soweit ich weiß."
"Ein Name wäre hilfreich ..."
Schweigen. Ludmilla nestelte nervös an ihrer Tasche und schien nicht recht zu wissen, wie sie reagieren sollte. Sie sah Kanndra an und dann trat langsam so etwas wie Entschlossenheit in ihr Gesicht.
"Fräulein Sperling?"
"Sein Name ist ..."
***
"Heinrich Paginani?"
Langsam ließ der rothaarige Mann den Hammer sinken und sah auf.
"Wer will das wissen?"
Kanndra hielt ihm ihre Dienstmarke vor die Nase.
"Leutnant Mambosamba, Stadtwache Ankh-Morpork. Ich hätte einige Fragen an dich."
Kanndra fiel auf, dass er um einiges jünger war, als sein Bruder. Aber die Ähnlichkeit im Gesicht war dennoch unverkennbar.
Heinrich seufzte und erhob sich. Hinter ihm gähnte der Zuschauerraum wie ein großes, hungriges Maul.
"Hat das nicht Zeit, bis ich den Bühnenboden fertig ausgebessert habe?", brummte er unwillig.
"Ich fürchte nein. Doch zunächst mein herzliches Beileid zum Verlust deines Bruders ..."
Der Rothaarige winkte ab.
"Nicht nötig, ich gebe nicht vor, um den eingebildeten Schnösel zu trauern. Wir haben uns nie besonders gut verstanden."
Kanndra runzelte skeptisch die Stirn.
"Aber du weißt schon, dass er ermordet worden ist?"
"Ja und? Kann ich etwas daran ändern? Ich war's zumindest nicht." Heinrich Paginani verschränkte die Arme. "Oder bist du nur hier um mir genau das zu unterstellen?"
"Eigentlich nicht." Kanndra richtete sich kerzengerade auf, musste aber immer noch nach oben schauen, um ihrem Gesprächspartner ins Gesicht sehen zu können. "Aber da du es erwähnst: Wo warst du denn gestern um die Mittagszeit?"
Heinrich schnaubte.
"Hier, wo auch sonst? Kannst du dir vorstellen, wie viel Arbeit in so einer Oper anfällt?" Mit einer weiten Geste schloss er den gesamten Raum ein. "Aber wenn du es genau wissen willst, zu dem Zeitpunkt müsste ich gerade einen Flaschenzug auf dem Schnürboden repariert haben und nein, dafür gibt es keine Zeugen. So viele Dumme habe sie hier nicht, die da oben herumklettern und ihren Hals riskieren."
Er wies nach oben, wo sich allerdings nach einigen Metern die Sicht in einem Gewirr aus Schatten und Schemen verlor und man nur mit viel Fantasie Seile und vielleicht eine nach oben gezogene Kulisse erahnen konnte. Allerdings interessierte sich Kanndra im Moment mehr für den Tonfall des Mannes, denn ein zufriedener Angestellter klang definitiv anders. Aber das war vielleicht kein Wunder, wenn man bedachte, was Heinrich Paginani vorher gemacht hatte... Doch das spielte hier vorerst wohl keine Rolle und anstatt ihn mit einer Frage nach seiner Vergangenheit vielleicht noch mehr zu reizen, entschied sich Kanndra für das Übliche:
"Kannst du dir vielleicht vorstellen, wer einen Grund gehabt haben könnte, deinem Bruder etwas anzutun?"
Der Rothaarige lachte kurz auf.
"Wenn du mich so fragst: Eigentlich jeder. Es ist doch so: Der Dirigent hält sich selbst für etwas besseres als das Orchester, die Musiker hassen ihn dafür und fühlen sich bevormundet, doch sie alle zusammen verachten den Chor, der im ständigen Clinch mit dem Ballettensemble liegt und sich mit denen um die Bühnennutzung streitet, wenn die Solisten gerade einmal eine Kaffee trinken sind und gegen die Organisation des Ganzen meutern. Das bekommt man hier ziemlich schnell mit, auch wenn man nur der Hausmeister ist. Und weißt du was? Man lernt, sich da herauszuhalten. Ich weiß nicht, wer ihn umgebracht hat. Ich kann dir nur sagen, dass mein Bruder Maximilian selbst für Dirigentenverhältnisse extrem unbeliebt war. Seine Launen sind allen gehörig auf die Nerven gegangen."
"Nun, das Fräulein Sperling scheint hier eine Ausnahme gebildet zu haben ..." Kanndra ließ den Satz absichtlich unbeendet und wartete auf eine Reaktion - welche aus einem entnervten Stöhnen bestand. Heinrich fuhr sich in einer müden Geste über die Augen.
"Ludmilla? Ja, tatsächlich, der allgegenwärtige Schatten. Sie ist eigentlich nur scharf auf eine Stelle im Orchester und dachte, wenn sie sich bei meinem Bruder ein wenig lieb Kind macht und ihm die Wassergläser hinterherträgt sieht er vielleicht irgendwann darüber hinweg, wie grauenhaft sie Klarinette spielt. Und bevor du jetzt weiterfragst: Nein, ich persönlich mag sie nicht, auch wenn sie angeblich ganz schrecklich in mich verknallt ist und mir dauernd an den Hacken hängt. Wenn dir ständig jemand in seinen Ballettschühchen hinterhertappst, wird das auf Dauer ziemlich lästig. Aber ich glaube mittlerweile, dass auch das nur Berechnung war, damit ich bei Maximilian ein gutes Wort für sie einlege - was sich ja jetzt erledigt hat."
Es war eine Menge Wut in dieser Rede gewesen, Heinrich hatte die Hände zu Fäusten geballt und in den Augen funkelte es böse.
"Ist jetzt noch irgendetwas oder kann ich dann gehen?", raunzte er nun nicht weniger unfreundlich. "Ich habe heute noch ein paar sehr wichtige Dinge zu erledigen."
Kanndra sah sich halbherzig auf der Suche nach einem weiteren Anhaltspunkt um, doch natürlich war da nichts. Sie würde wohl einen weiteren Tag ohne konkrete Ergebnisse beenden müssen.
***
"Erneut ist uns ein großer Triumph für die Stille gelungen! Gelobt sei das Schweigen ... das Schweigen der unnatürlichen, von Menschenhand erschaffenen Lauterzeugungsgerätschaften!"
Dieses Mal hatte er zwar gerade noch die Kurve gekriegt ... doch auch dieser Ansprache folgte nichts als Stille. Der oberste Abt seufzte leise und wartete auf das altbekannte Räuspern. Er wurde nicht enttäuscht.
"Also, ich will ja nichts sagen, aber ein Triumph ... das würde ich nicht so sehen."
Wie auf Kommando wandten sich alle Köpfe einem mit Tuch verhangenen Stapel in einer Ecke des Raumes zu, doch die Blicke verharrten dort nur kurz, bevor man sich wieder geschlossen dem obersten Abt zuwandte.
"Bei dem Chaos in der Stadt ist das eine geradezu erbärmliche Ausbeute", murrte jemand. "Und wenn wir es wirklich ernst mit der Stille und so meinen würden, müssten wir die Dinger eigentlich verbrennen. Zumindest wäre es hier drin dann endlich mal warm."
Zustimmendes Gemurmel.
Nun trat der zweite Unterabt einen Schritt vor und hob anklagend die Arme - er witterte seine Chance.
"Außerdem hätte mich heute fast so ein dämlicher Wächter erwischt, die stecken ihre Nasen mittlerweile schon zu tief in Dinge, die sie nichts angehen", wetterte er. "Die Sache wird allmählich zu riskant."
Mit wachsendem Unbehagen bemerkte der oberste Abt der Stille, wie sich seine Untergebenen hinter dem zweiten Unterabt zusammenscharrten. Eine Meuterei! Das hatte es noch nie gegeben! Besonders vom ersten Mittelabt war er enttäuscht, waren sie doch zusammen aufgewachsen und trafen sich noch immer einmal in der Woche zum Leg-Herrn-Zwiebel-rein-Stammtisch ... aber der Mann hatte den Posten nun einmal bekommen, weil er eben über so gar kein Rückrat verfügte.
Inzwischen hatte der zweite Unterabt seine Kapuze zurückgeschlagen und grinste dem Anführer unverfroren ins Gesicht. Er spürte die Unterstützung der anderen hinter sich und das ließ ihn um gefühlte zehn Zentimeter wachsen - was zusammengenommen eine doch sehr beeindruckende Größe ergab.
"Ich sage, wir schlagen morgen noch so viele Stücke wie möglich los und fangen etwas mit dem Geld an, bevor wir am Ende nichts mehr davon haben."
"Aber unser Auftauchen beim Konzert wird
erwartet. Wie sieht das denn aus, das stellt doch sonst unsere gesamte Glaubwürdigkeit in Frage!" Der oberste Abt versuchte zu retten, was noch zu retten war.
"Das Einzige was dort vielleicht auf uns warten könnte, sind Handschellen und die halte ich für wesentlich glaubwürdiger als das, was wir zur Zeit hier tun." Der zweite Unterabt wandte sich an die versammelten Kutten. "Oder was sagt ihr, Brüder?"
"Und Schwestern!", erklang es aus der letzten Reihe.
"Natürlich."
Der oberste Abt musste hilflos zusehen, wie sich sämtliche Aufmerksamkeit von ihm abwandte und als neues Zentrum den zweiten Unterabt wählte. Da gingen sie hin, seine Träume vom Dasein als Hohepriester!
Unterdessen schwirrten hoffnungsvolle Stimmen durch den Dachstuhl.
"Er könnte Recht haben!"
"Ja, machen wir Schluss solange es sich noch lohnt."
"Ein echter Tempel, ich kann's kaum erwarten!"
"He, habt ihr das von dem Dirigenten in der Oper gehört?"
Schlagartig verstummte jede Diskussion und man sah sich nach dem Rufer um. Er musste eine blaue Kutte tragen, so viel war sicher ... und genau darin bestand das Problem.
Der Noch-oberste-Abt räusperte sich.
"Von wem stammte dieser unqualifizierte Kommentar?", verlangte er zu wissen und stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen besseren Überblick zu erlangen.
"Ich meine ja nur ... ist schon übel, wie der Typ abgemurkst wurde."
Diesmal war die Stimme ganz eindeutig aus den Reihen der Novizen gekommen. Natürlich, woher auch sonst, respektloses Gesindel!
"Sprich mit etwas mehr Respekt von unserem geschätzten Geistesvater, jenem großen Mann, ohne den dies hier nie zustande gekommen wäre", mahnte der oberste Abt mit ernster Stimme, "Es war ihm leider nur für kurze Zeit vergönnt, die Saat seiner Überzeugungen zu ernten. Lasst uns eine Schweigeminute einlegen."
"Überzeugungen, dass ich nicht lache ..."
"Was? Auch du, erster Mittelabt?"
"Aber eigentlich ist das doch nur ein Grund mehr, das Unternehmen jetzt zu beenden", griff der zweite Unterabt den Faden auf, ohne sich um die Worte des obersten Abts zu scheren. "Am Ende kommt man uns noch über diesen Weg auf die Schliche, weil der alte Trottel irgendwelche ...
Saatkörner verloren hat."
"Schweig zweiter Unterabt, wie kannst du nur!"
"Für dich ab jetzt
Herr zweiter Unterabt, besten Dank."
***
"Hallo? Ist hier noch jemand?"
Eine einsame Gestalt betrat das Wachhaus, kratzte sich nervös die sommersprossige Nase und ließ den Blick durch den Raum schweifen - bis dieser am Wachtresen hängen blieb, von wo aus ihn jemand neugierig beobachtete.
Für Theodosius von Buttenhaim war es bisher eine eher langweilige Nachtschicht gewesen, nach den Aufregungen vom Tag hätte man doch annehmen können, dass auch jetzt am Tresen noch etwas mehr als sonst los war. Aber den Leuten schien ihre Nachtruhe dann doch wichtiger zu sein, als irgendwelche Beschwerden. Der da versprach die erste Abwechslung des Abends - zumal sein Kollege Turgrim Kurzarm neben ihm schon vor einer Weile die Füße auf den Tresen gelegt hatte und seit geraumer Zeit mit offenem Mund schnarchte.
"Ja, kann ich dir weiterhelfen?", fragte der Vampir daher freundlich und nippte an seinem Tee.
Der Neuankömmling machte ein paar Schritte und zuckte unsicher mit den Schultern.
"Ich weiß nicht so recht. Mir ist da etwas ziemlich blödes passiert ... etwas ganz und gar dämliches und es tut mir auch ganz furchtbar leid, aber ..." Er gestikulierte hilflos. "Ich habe keine Ahnung, an wen ich mich da wenden kann", gab er schließlich zu.
"Tja, um die Zeit ist kaum noch jemand hier", Theodosius sah auf einigen Papieren nach. "Aber vielleicht schilderst du einfach mir dein Problem und ich versuche es zu lösen. Schließlich bin ich auch Wächter." Er zauberte eine zweite Teetasse hinter dem Tresen hervor und hob einladend seine Thermoskanne. "Tee?"
***
Ein Tag vor dem Konzert...Sie starrte jetzt schon seit einer guten Stunde auf das Papier vor sich, doch anstatt dass ihr ein Licht aufgegangen wäre, schienen die Zeichen darauf eher immer weniger Sinn zu ergeben. Kanndra rieb sich die Augen und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Hatte man nicht im Normalfall eher zu wenig Tatverdächtige als zu viele? Hier hatte sie nun eine Liste mit Namen und seitenweise Aussagen, aber ihre Notizen schienen sie regelrecht auszulachen und das zu verstecken, wonach sie die ganze Zeit Ausschau hielt. Irgendetwas musste sie doch übersehen haben! Es wäre frustrierend gewesen herauszufinden, dass es da wirklich nichts gab und sie in die vollkommen falsche Richtung gedacht hatte. Wenn doch nur endlich der abschließende SUSI-Bericht käme...
Kanndra hatte gerade beschlossen, eine kurze Pause einzulegen und sich einen Kaffee zu genehmigen, als es an der Tür klopfte.
Resigniert ließ sie sich wieder in ihren Stuhl sinken.
"Herein!"
Valdimier van Varwald betrat das Büro: "Störe ich?"
Kanndra sah ihn fragend an.
"Nein, wieso?"
"Dein Gesichtsausdruck spricht Bände."
"Hmm." Da hatte sie sich also doch nicht so gut unter Kontrolle gehabt, wie sie angenommen hatte. Die Späherin versuchte es mit einem unbekümmerten Lächeln, welches allerdings auch nicht ganz so ausfiel, wie sie sich das vorgestellt hatte. "Ich komme mit dem Fall hier nicht weiter", erklärte sie, "aber das wird schon noch. Was gibt's?"
"Dein Versuch vom Thema abzulenken ist auch gar nicht weiter aufgefallen", grinste der Vampir, "aber nach einer kurzen Frage bin ich sowieso wieder weg."
Seine Stellvertreterin sah ihn aufmerksam an.
"Ich bin ganz Ohr."
"Na ja, ein gewisser Herr Saitenfein hat angefragt, ob die Stadtwache nicht ein Mitglied für die unparteiische Jury zum großen Abschlusskonzert morgen stellen würde. Mit anderen Worten: Sie wollen eine "vollkommen objektive Bewertung" ... die natürlich bestenfalls dem eigenen Stadtorchester die größte Genialität zuerkennt."
Kanndra stöhnte gepeinigt auf und vergrub das Gesicht in den Händen.
"Und da denkst du ausgerechnet an mich?", murmelte sie, ohne einen gewissen Grad an Grauen aus ihrer Stimme verbannen zu können. "Ich und objektiv? Wenn es nach mir ginge könnte man die ganze Bande auf den Mond schießen, ich bin froh, wenn das ganze Theater vorbei ist!"
"Was in gewisser Hinsicht auch wieder eine Art Objektivität verspricht", schmunzelte Valdimier noch immer, "aber ich habe damit fast gerechnet. Du bist auch die Erste die ich frage; ich hatte mir nur überlegt, dass du vielleicht Benjamin mitnehmen könntest, klassische Musik soll ja angeblich gut für die Entwicklung kleiner Kinder sein. Von wegen musikalischer Früherziehung und so."
"Ich befürchte eher, dass es ihn traumatisieren würde." Kanndra seufzte. "Sagen wir es so, ich wäre nicht enttäuscht, wenn sich jemand anderes freiwillig für diese Aufgabe melden würde, ja?"
"Geht in Ordnung Kanny, es war nur ein Vorschlag." Er ließ seinen Blick über den mit Unterlagen übersäten Schreibtisch gleiten. "Kann man dir irgendwie helfen?"
"Willst du auch traumatisiert werden?" Kanndra warf ihm einen gespielt bösen Blick zu. "Reicht es nicht schon, wenn ein Mitglied der Abteilungsleitung in den Wahnsinn getrieben wird?"
Der Vampir hob abwehrend die Hände.
"Schon gut, schon gut, ich geh ja schon." Er erhob sich. "Aber mal Spaß beiseite, wir werden morgen Abend trotzdem am Henne-und-Küken-Feld sein und die Veranstaltung sichern. Nicht, dass noch irgendjemand aus lauter Übereifer der gegnerischen Seite zu schaden die Bühne in die Luft jagt. Ich will, dass du von einem Dach aus den Überblick behältst. Aber die Einzelheiten gehen wir vorher in der Besprechung noch einmal durch."
Kanndra nickte und der Abteilungsleiter der FROGs verließ das Büro.
Allerdings hatte sich die Tür noch gar nicht wieder richtig geschlossen, als schon die Nächste den Kopf um die Ecke steckte.
"Also du kannst uns wirklich, wirklich,
wirklich einmal loben, Mä'äm", begann Kathiopeja und wedelte mit zwei dünnen, aber dennoch sehr verheißungsvoll aussehenden Mappen. Die SUSI-Ergebnisse, endlich!
"Ja, ich lobe euch, was habt ihr herausgefunden?", erwiderte Kanndra ungeduldig und forderte die Tatortwächterin mit einem Wink auf, sich zu setzten. Aber die Tatortwächterin ließ sich Zeit und trat gemächlich an den Schreibtisch des Leutnants heran.
"Zuerst habe ich hier eine Abschrift der Ergebnisse vom Von-Mälzel-Tatort, mir wurde gesagt, das würde dich interessieren." Ein grünes Mäppchen landete vor der Späherin.
"Dann habe ich hier auch alles, was die Vergleiche der restlichen Fingerabdrücke mit den Spuren aus der Oper ergeben haben." Das zweite, ein ockerfarbenes Mäppchen, folgte.
"Danke, Lance-Korporal."
"Moooment, ich bin noch nicht fertig."
Kanndra warf ihr einen fragenden Blick zu, doch Kathiopeja stellte sich erst noch gerade hin, grinste wie ein Honigkuchenpferd und schien den Moment in vollen Zügen zu genießen.
Zu lange für die gespannte Kanndra.
"Was ist denn nun?"
"Also, das kam heute morgen ein junger Mann zu uns, von der
Times ..."
"Nicht der schon wieder!", murmelte Kanndra entnervt. Doch Kathiopeja ließ sich nicht beirren.
"... oder besser gesagt, wir haben ihn aus der Zelle geholt, in die ihn der diensthabende Rekrut gestern Nacht gesteckt hatte - auf eigenen Wunsch, damit er es sich nicht nochmal anders überlegt." Der Lance-Korporal verdrehte die Augen. "Leute gibt's! Aber gut, auf jeden Fall hat der uns unter viel Gestotter gebeichtet, dass er Schuld an Herrn von Mälzels misslichem Zustand ist."
"
Der Typ hat ihn pulverisiert?" Kanndra klappte beinahe die Kinnlade nach unten.
"Gewissermaßen. Der Junge macht seit kurzem Bilder für die Zeitung und sollte im Vorfeld eines Interviews mit dem Dirigenten schon einige Ikonographien anfertigen. Aber anscheinend hatte er ein paar Probleme mit der Belichtung ..." Die Tatortwächterin machte eine Kunstpause. "... und als er sich dann plötzlich nur noch einem Häuflein Staub gegenübersah, hat er die Panik bekommen und angefangen, Herrn Mälzels Überreste zusammenzukratzen. Dann ist ihm wohl schlagartig bewusst geworden, was er da eigentlich machte und er ist Hals über Kopf aus dem Wirtshaus geflohen. Die Sache war ihm ziemlich peinlich und er hat sich dann noch eine ganze Weile in der Nähe herumgedrückt, wohl in der Hoffnung, dass sich die Sache wie durch ein Wunder von selbst lösen würde."
"Ein Unfall", murmelte Kanndra, "alles nur ein Unfall."
"Zumindest hat er uns die fehlende Hälfte der Asche quasi frei Haus geliefert und rate mal wer jetzt gerade putzmunter unten im Verhörraum sitzt und darauf wartet, von dir vernommen zu werden." Kathiopeja grinste. "Na, sind wir gut oder sind wir gut?"
"Und was ist mit dem Schuhabdruck?", wollte Kanndra noch völlig verdattert wissen.
Der Lance-Korporal nickte eifrig.
"Steht alles in dem grünen Mäppchen, Mä'äm", meinte sie bedeutsam.
"Emeritio von Mälzel ... doch, ihr seid gut, wirklich!" Kanndra war schon auf halbem Weg zur Tür, die SUSI-Berichte fest unter dem Arm. Der Kerl würde hoffentlich eine gute Erklärung parat haben, wie sein Taktstock in Paginanis Brust gelangt war!
***
Der quirmer Dirigent schnippte ein imaginäres Staubkorn von seinem Ärmel und sah Kanndra unter hochgezogenen Augenbrauen an.
"Isch glaube nischt, dass isch mir das 'ier bieten lassen muss", meinte er in schneidendem Tonfall.
"Herr von Mälzel, wer könnte denn die Möglichkeit gehabt haben ..."
"Wo'er soll isch das wissen? Soweit isch es verstanden 'abe, Madame, war isch zum Todeszeitpunkt von Maximilian Paginani schon nischt viel me'r als ein 'aufen Staub auf dem Fußboden. Isch glaube nischt, dass sisch jemand vorstellen kann, wie das ist, der es noch nischt am eigenen Leib erfa'ren 'at. Und das nur weil irgend so ein Jungspund ein 'andwerk nischt be'errscht! Wie viel Probenzeit isch versäumt 'abe!"
So langsam drängte sich Kanndra das unangenehme Gefühl aus, erneut in eine ermittlerische Sackgasse getappt zu sein. Dennoch versuchte sie es erneut:
"Aber gibt es vielleicht jemanden, der einen Grund gehabt hätte ..."
Doch erneut wurde sie von dem Vampir unterbrochen.
"Einen Grund, mein Arbeitsgerät so schändlisch zu entwei'en? Non! Dieses großartige Stück Kunst wurde mir seinerzeit von der Herzoginwitwe von Quirm persönlisch überreischt, es ist ein Vermögen wert! Aber das scheint man in dieser Stadt nischt zu schätzen zu wissen ..."
Während sich der Dirigent weiter über die mangelnde Klasse Ankh-Morporks ereiferte und im Gegenzug den Glanz und die Glorie Quirms in höchsten Tönen lobte, hatte Kanndra begonnen in den SUSI-Berichten zu blättern: Oberfeldwebel Sillybos hatte sich offenbar des halben Schuhabdrucks angenommen. Es hatte sich als der eines Ballettschuhs herausgestellt und Vergleiche mit dem Ensemble der Ankh-Morpork Oper waren angestellt worden. Kanndra stellte sich den Tatortwächter vor, wie er mit Gipsabdruck und Maßband inmitten einer Meute kichernder Balletttänzerinnen Schuhe verglichen hatte und musste unwillkürlich grinsen. Der Arme hatte danach bestimmt kurz vor einem Nervenzusammenbruch gestanden. Dann fiel ihr Blick auf die Namen von drei Damen und ihr Gesichtsausdruck erstarrte. Es waren diejenigen die als Besitzerinnen des Schuhs in Frage kamen, doch ein Name stach zumindest für den Leutnant besonders hervor.
"... was eigentlisch eine Unverschämt'eit darstellt, isch werde misch ganz bestimmt beschweren! In Quirm wäre so etwas nie ..."
Hastig schlug Kanndra die ockerfarbene Mappe auf, fand nach kurzem Suchen die Liste mit den abgeglichenen Fingerabdrücken ... nur um ihren Verdacht bestätigt zu finden. Aber wo war da das Motiv?
" ... werde isch wohl sofort abreisen und ..."
"Herr von Mälzel?"
"Was ist denn?"
"Sagt dir der Name "Ludmilla Sperling" etwas?"
"Nie von dem Mädschen ge'ört. Wer soll das sein?"
"War in den letzten Tagen jemand in der
"Ewigen Einkehr", der sich irgendwie seltsam verhalten hat?"
"Nein. Aber erst vor ein paar Tagen, da 'at so ein komischer Kuttenträger das Gespräsch mit mir ersucht. Er 'at mir ein ziemlisch unmoralisches Angebot unterbreitet, isch 'abe i'm gesagt, er soll es sisch da'in stecken, wo die Sonne nischt scheint! Diesem 'undeso'n mit dem gierigen Blick 'abe isch von Anfang an nischt getraut, das kann isch wo'l be'aupten; bestimmt 'at auch der schon nach meinem Taktstock geschielt."
Kanndra starrte den Dirigenten an.
"Welche Farbe hatte diese Kutte?", fragte sie dann langsam.
"Bleu clair ... oder wie sagt man 'ier? Ja, genau 'ellblau ... wo ge'st du 'in?"
Doch Kanndra war schon aus der Tür und halb die Treppe hinauf. Hoffentlich waren Valdimier und vorallem Bregs im Haus!
***
Der Himmel war nicht bedeckt in dieser Nacht, was den großen Nachteil hatte, dass man auf den Dächern Ankh-Morporks ziemlich leicht zu entdecken war, wenn man nicht aufpasste. Nichtsdestotrotz fühlte sich Kanndra fantastisch, nach der langen Zeit bei GRUND war es angenehm, wieder in ihrer eigentlichen Spezialisierung arbeiten zu können: Mit den Fröschen im Außeneinsatz.
Sie tastete sich über die Dachziegel und näherte sich behutsam einer gläsernen Luke, aus welcher ein schwaches Glühen nach draußen drang. Irgendwo weiter unten warteten ihre Kollegen auf einen Lagebericht, auf ein Zeichen, dass sich die Verdächtigen tatsächlich in diesem Gebäude aufhielten. Was das betraf waren sie sich noch nicht zu einhundert Prozent sicher: Von DOG hatten sie zwar den letzten bekannten Versammlungsort der "Unentschlossenen Brüder" bekommen und die ersten Observationen am Nachmittag waren optimistisch stimmend gewesen, dennoch wollte man lieber auf Nummer sicher gehen. Man konnte schließlich nicht so mir nichts, dir nichts fremde Häuser stürmen, das warf in der Regel einige sehr unangenehme Fragen auf. Obwohl in diesem speziellen Fall die weitaus größere Gefahr darin bestand, dass nach einer typischen FROG-Stürmung nicht mehr viel von dem Haus übrig war: Das ganze Gebäude war marode, vom Fundament bis ins Dachgeschoss verwittert und die Späherin musste höllisch aufpassen, dass sie sich nicht plötzlich mit einem Teil des Dachs eine Etage weiter unten wiederfand.
Kanndra kroch weiter an die Luke heran, legte sich flach auf den Bauch und spähte durch das leicht beschlagene Glas hinunter. Trotzdem konnte sie einen kleinen Raum erkennen, in dem sich eine kleine Gruppe von in blaue Kutten gehüllte Personen versammelt hatte, die offenbar in eine hitzige Diskussion vertieft waren. Einige hatten sogar die Kapuzen zurückgeschlagen, aber um konkrete Gesichter zu erkennen, reichte die Sicht dann doch nicht. Doch das war wohl auch nicht nötig. Sie warf einen Blick zurück zu einem der Schornsteine, die sich als tiefschwarze Säulen vor dem dunkelblauen Firmament abzeichneten. Auch wenn sie ihn von hier nicht sah, so wusste sie doch, dass ihr Kollege Braggasch Goldwart dort saß und auf ihr Zeichen wartete. Auf dem ins Mondlicht getauchten Dach dürfte es ihm nicht schwer fallen, sie zu entdecken. Die Späherin hob die Hand und winkte wie vereinbart und der Erfolg gab ihr recht, als kurz darauf ein zugegebenermaßen sehr schlecht imitierter Käuzchenruf ertönte. Kanndra verlagerte ihr Gewicht auf die Knie, um sich halb aufzurichten und zurückzuziehen, als ein unheilverkündendes Knirschen an ihr Ohr drang. Aus der Befürchtung heraus, die Belastbarkeit des Daches schon zu sehr auf die Probe gestellt zu haben, fiel die nächste Bewegung wohl etwas zu schwungvoll aus, es krachte, ihre Hand griff ins Leere und dann rutschte die Späherin in einer Lawine aus Schutt, Staub und Dachziegeln nach unten. Sie schaffte es, sich auf dem Boden abzurollen, knallte aber mit dem Kopf gegen einen Balken und für einige Sekunden wurde ihr schwarz vor Augen. Als sich der Schleier schließlich lichtete gewahrte sie neben sich eine Ansammlung schlampig verhüllter Objekte verschiedenster Form. Hier und da spiegelte sich Kerzenlicht auf Messing und poliertem Holz und nur eine Armeslänge entfernt lag ein Geigenbogen ... den in diesem Moment jemand an sich riss und überflüssigerweise noch zu verstecken versuchte. Kanndra blinzelte, hob den Kopf und sah sich erstaunten bis entsetzten Gesichtern gegenüber.
"Äh ... bin ich hier richtig wegen der musikalische Früherziehung?", stammelte sie, da ihr beim besten Willen nichts besseres einfiel. In diesem Moment entdeckte sie ein Gesicht, welches sie ziemlich genau kannte.
"Herr ... Paginani?"
Der große Mann, zunächst noch käseweiß im Gesicht, lief nun puterrot an und deutete anklagend auf die Wächterin, während er gleichzeitig die Gestalt anfunkelte, die auf einem aus ein paar Kisten errichteten Podium an der Stirnseite des Raums stand und sich verwirrt am Kopf kratzte.
"Siehst du, das haben wir jetzt davon, ich habe von Anfang an gesagt, diese Bruchbude bringt nichts als Ärger!"
"Aber zweiter Unterabt, das ist doch kein Grund zu schreien!", erwiderte der oberste Abt unsicher, doch auf ihn achtete jetzt sowieso niemand mehr.
Heinrich Paginani hatte sich wieder Kanndra zugewandt, die noch immer leicht benommen nach dem kleinen Dolch in ihrem Stiefel tastete. Das schien ihm nicht entgangen zu sein, denn sobald die Waffe sichtbar wurde, trat er sie beiseite und packte die Wächterin am Kragen.
"Sind noch mehr von deiner Sorte da draußen?", knurrte er.
"Also ich ... nein." Es spielte keine Rolle, in wenigen Minuten würden ihre Kollegen hier ohnehin die Kontrolle übernehmen. Hoffentlich...
Der Rothaarige wandte sich unterdessen an die versammelten Kutten.
"Wir sind verraten worden, Brüder!", heulte er.
"Und Schwestern!", sagte jemand.
Die Augen des Mannes wurden schmal.
"Also schön,
Schwestern, dann kümmert euch doch gleich mal um unsere Besucherin hier, ja? Im Keller müsste genügend Platz sein. Vergesst nicht abzuschließen und den Schlüssel wegzuwerfen."
Er stieß Kanndra in die Reihen der Blaugewandeten; sie wurde von zwei Seiten ergriffen und fand sich kurz darauf im Treppenhaus wieder, während hinter ihr erneut ein Streit ausbrach. Noch immer war ihr schwindelig und das Denken fiel ihr schwer, doch sie wusste, dass sie sich auf keinen Fall in irgendein Kellerloch würde stecken lassen. Wo blieben nur die anderen FROGs?
Kanndra wollte gerade Kraft sammeln, um der Gestalt rechts neben ihr das Knie in den Magen zu rammen, als diese plötzlich stehen blieb und zurücksah.
"Das war aber ganz schön knapp", meinte sie, beide schlugen die Kapuzen zurück und Kanndra erkannte Mina sowie eine weiter Kollegin von RUM, an deren Gesicht sie sich aber nur dunkel erinnern konnte.
"Guter Auftritt, Mä'äm", meinte diese nun, "Noch einen Moment länger und die Herren wären sich wohl an die Gurgel gegangen. Geht es dir gut?"
"Ich ... glaube schon. Wenn ich mich kurz setzen darf ..." Die Späherin ließ sich an der Wand hinabsinken und schloss kurz die Augen, aber selbst so schien sich die Welt noch mit für sie ungebührlicher Geschwindigkeit weiterzudrehen.
"Was geht hier vor?", fragte sie matt.
"Bis jetzt sieht es so aus, als wären die Brüder da oben für einen gewissen Teil der Diebstähle an den Musikinstrumenten verantwortlich", meinte Mina. "Dabei gab es wohl eine Vereinbarung mit dem ankh-morporkischen Lager, die unsere Musiker vor dieser Art von Übergriffen schützte. Der Bruder deines Mordopfers ist auch irgendwie involviert, aber so weit waren wir mit unseren Ermittlungen noch nicht." Die Vampirin sah Kanndra fragend an. "Entschuldige die Frage, Mä'äm, aber was macht FROG schon hier? Wir sind hier eigentlich noch nicht fertig."
"Von Mälzel ... lange Geschichte", murmelte die Späherin.
"Von Mälzel ist wieder da? Gut. Aber das hat dann vielleicht doch Zeit bis später, denn mit Verlaub Mä'äm, momentan bist du noch blasser als ich." Sie warf einen Blick die Treppe hinunter. "Gehe ich richtig in der Annahme, dass wir alle in ein paar Minuten ohnehin festgenommen werden?"
Kanndra nickte schwach.
"Dann gehe ich den Kollegen schon einmal entgegen", meinte die andere Ermittlerin.
"Kannst du nachsehen, ob Rogi dabei ist, Mimosa?"
Die von dannen eilenden Schritte der RUMlerin waren das Letzte, was Kanndra noch wahrnahm, bevor sie tiefschwarze Bewusstlosigkeit umhüllte.
***
Die letzten Stunden vor dem Konzert...Mit einem dicken Eisbeutel auf dem Kopf saß Kanndra am anderen Morgen im Verhörzimmer und bedachte Heinrich Paginani mit ärgerlichen Blicken. Eigentlich war sie für die nächsten beiden Tage beurlaubt worden: Laut Rogi hatte sie bei ihrem Sturz in der vergangenen Nacht enormes Glück gehabt und nur eine gewaltige Beule davongetragen. Mit etwas Ruhe würde sie schnell wieder in Ordnung kommen. Doch zuvor wollte es sich die Späherin nicht nehmen lassen, den Fall Paginani noch persönlich zu beenden.
Sie klopfte mit dem Stift auf den Notizblock vor sich und schnaubte ungeduldig.
"Herr Paginani, deine kleine Freundin wurde noch gestern bei dem Versuch festgenommen aus der Stadt zu fliehen", setzte die Späherin nun schon zum dritten Mal an. "Sie hat ausgesagt, dass du sie beauftragt hast, den Taktstock zu stehlen, nein, da musst du gar nicht protestieren, wir haben ihre Fingerabdrücke auf der Mordwaffe und außerdem ihren Schuhabdruck aus dem Gasthaus
"Zur ewigen Einkehr". Was natürlich ihre Schuld recht nahe legt, aber sie schwört, den Stock dir gegeben und dann nicht mehr angefasst zu haben."
"Das ist nicht einfach nur ein Stock", raunzte der Rothaarige, "Das Ding ist mehr wert, als du in zwei Jahren verdienst." Er setzte sich auf und starrte düster vor sich hin.
"Dann hoffe ich, das Blut geht davon wieder ab. Wie auch von dem Haar am Tatort, das immer noch nicht identifiziert ist. Aber ich bin mir fast sicher, dass wenn sich unsere Laborantin die Mühe macht, es mit deinen zu vergleichen, eine interessante Übereinstimmung festzustellen sein wird."
"Was soll das,
meine Fingerabdrücke sind doch an der Mordwaffe gar nicht gefunden worden, also kann ich ja wohl schlecht der Täter sein."
"Wir wissen, dass du bis vor kurzem noch Mitglied der Diebesgilde warst. Da bist du bestimmt kein unnötiges Risiko eingegangen, dich erwischen zu lassen", konterte Kanndra. "Vermutlich hast du Handschuhe getragen, als du die Beute entgegengenommen hast."
Heinrichs Augen wurden zu schmalen Schlitzen.
"Das hat sie euch wohl auch gesteckt, was? Elende kleine ..."
"Gut, wenn du schon nichts mit Diebstahl und Mord zu tun hast, dann erklär mir doch wenigstens deinen Aufenthalt in der Bruderschaft." Kanndra sah ihn fest an. "Der erste Mittelabt, ein gewisser Herr Bleichstolz, hat uns da eine interessante Geschichte erzählt ..."
Heinrich Paginani verschränkte die Arme, aber ihm schien langsam zu dämmern, dass er ohne eine gute Erklärung aus der Sache nicht mehr herauskam.
"Ich habe meinen Bruder nicht ermordet, damit das klar ist", meinte er mit finsterer Miene. "Maximilian hatte von den "Unentschlossenen Brüdern" gehört und nach einer Probe Herrn Bleichstolz zur Seite genommen; wie er von dessen Verbindung zu diesen Typen erfahren hat weiß ich auch nicht. Da man in diesem Verein gerade einmal wieder sehr
unentschlossen und auch sehr knapp bei Kasse war, hat er ihm den Vorschlag mit der Musikersache gemacht. Er war sich von vornherein im Klaren darüber, dass sein Orchester gegen Quirm nur wenig Chancen hat. Wenn also der gegnerischen Seite zusätzlich ein wenig Schaden zugefügt würde, von dem die Verursacher selbst auch noch finanziell profitieren, wären eigentlich alle glücklich. Außerdem hat er sich eine Beteiligung am Gewinn ausbedungen, wenn er regelmäßig zusätzliche Ware liefert. Allerdings waren die alten, noch brauchbaren Bestände im Opernhaus selbst bei weitem nicht so umfangreich, wie er sich das zu Anfang vorgestellt hat. Tja, da kam es ihm zugute, dass ich gerade aus der Gilde geflogen und auf Tschobsuche war. Er war eher auf teure Einzelstücke aus und ich habe dafür ein bisschen recherchiert ... von der Umsetzung einmal abgesehen. In der Bruderschaft konnte ich dann einen direkten Einfluss auf das Geschehen nehmen, ohne große aufzufallen. Und wenn nicht der Bleichstolz in einem Anfall von Übermotivation den von Mälzel bequatscht hätte, um ein doppeltes Spiel aufzuziehen, wäre das alles doch nie herausgekommen!!!" Heinrich schlug frustriert mit der Faust auf den Tisch, beruhigte sich aber recht schnell wieder und zuckte dann mit den Schultern. "Wie auch immer, der Taktstock des quirmer Dirigenten war ganz klar das Wertvollste, was es momentan überhaupt in dem Zusammenhang zu holen gab. Und Ludmilla fraß mir ja ohnehin aus der Hand, es war relativ einfach sie zu überzeugen. Mit dem zusätzlichen Versprechen, ich würde mich bei Maximilian um eine Stelle für sie kümmern, ist sie sofort losgerannt. Wie du schon so schön sagtest: Ich konnte kein
unnötiges Risiko eingehen. Natürlich habe ich mich gewundert, dass das so reibungslos über die Bühne gegangen sein soll ... aber dass die Kleine bei all dem sogar zu blöd ist aufzupassen, wohin sie ihre Füße setzt! Und so was will eine Tänzerin sein." Er schnaubte verächtlich. "Ich habe den Taktstock dann gleich zu Maximilian gebracht, aber meinem verehrten Herrn Bruder war das dann schon wieder ein zu heißes Eisen, er hat ziemlich die Nerven verloren. Das Ding könne man nicht so einfach verhökern und wenn die Spur zurückverfolgt würde ... um eine Disqualifikation vor dem Konzert gegen Quirm zu riskieren war er zu sehr Künstler. Na ja, und als er mir den Stock abnehmen wollte, ist er über eine Falte im Teppich gestolpert und das war's dann. Noch Fragen?"
***
Die Sonne der Scheibenwelt hatte erneut erfolgreich ihren täglichen Lauf beendet und glühte nun nur noch als schwaches Feuer am Horizont. Geradezu blendend erschienen dagegen die Lichter, welche aus einiger Entfernung vom Henne-und-Küken-Feld herüber strahlten.
Kanndra strich die Decke unter sich glatt und griff dann nach dem Weinglas, welches Julian ihr reichte.
"Eigentlich sollte ich jetzt dort drüben auf irgendeinem Dach hocken und zusehen, wie sich ein paar Frackträger gegenseitig mit Blicken aufspießen", meinte sie.
"Ja, eigentlich ... aber dein Chef hat dir die freien Tag aufgebrummt, also darfst du dich jetzt entspannen." Ihr Mann verdrehte die Augen. "Die Welt können auch einmal andere für dich retten."
"Ich habe nicht versucht die Welt zu retten!", protestierte Kanndra. "Wenn dieses blöde Dach ..."
"Ja, aber denk bitte bei der nächsten derartigen Aktion daran, dass du jetzt einen Sohn hast, der es sicher begrüßen würde, seine Mutter noch eine Weile um sich zu haben. Ganz abgesehen von einem Ehemann."
"Hmm." Kanndra nippte an ihrem Wein. Irgendwie hatte Julian ja Recht. Aber wenn sie noch vorsichtiger im Einsatz wäre, würde sie das über kurz oder lang auch zu einem Hindernis für die anderen machen. Sie seufzte. Die Arbeit bei FROG war wirklich nicht auf Familienfreundlichkeit ausgerichtet...
"Und sie haben also einfach die Sensationsgier der Leute als Ablenkungsmanöver benutzt?", riss Julians Stimme sie aus ihren Gedanken.
Dennoch wusste Kanndra gleich, worauf er anspielte und nickte.
"Ja, sie haben sich zum Beispiel einen ander-kaffer ermittelnden Kollegen von SEALS herausgepickt und dann eine halbe Stunde auf offener Straße zu "bekehren" versucht. In der Masse der Schaulustigen fiel es gar nicht weiter auf, wenn jemand ein Instrument weggeschleppt hat, das ihm nicht gehört. Die Orte waren natürlich nicht willkürlich, aber direkt neben der Musikergilde wird sich das schon gelohnt haben. Obwohl ... der Plan scheint nicht ganz so viel Erfolg gehabt zu haben, wie sie sich das erhofft haben. Wer trägt schon ständig sein Instrument mit sich herum? Trotzdem sind wir ... also die anderen immer noch dabei, die sichergestellte Beute ihren Besitzern zuzuordnen."
Sie sah erneut zu dem Leuchten auf der anderen Seite des Ankh. Bald würde es dort wohl losgehen. Ab und an drang aus der Entfernung ein schrilles Kreischen an ihre Ohren und erinnerte Kanndra unangenehm an eine gewisse voluminöse Dame... Eigentlich erstaunlich, dass Fortissima Staccata die letzten Tage vollkommen unbeschadet überstanden hatte. Aber ob das so bleiben würde, wenn schon ihre Einsingübungen eine Belastungsprobe für die Ohren darstellten? Wenn jetzt auch noch die Musiker anfangen würden, ihre Instrumente zu stimmen...
"Müssen wir uns das wirklich antun?", fragte Kanndra zweifelnd. "Ich hatte in den letzte Tagen wirklich genug von dem Gefiedel um die Ohren."
Julian runzelte die Stirn.
"Darf ich dich daran erinnern, dass dich deine Familie in den letzten Tagen nicht gerade viel zu Gesicht bekommen hat, da kannst du jetzt ruhig mal etwas von deiner freien Zeit mit mir verbringen." Er lächelte sie an. "Komm schon, so schlimm wird das sicher nicht, vielleicht kann man ja sogar dazu tanzen, Platz genug ist hier."
Dem musste Kanndra allerdings zustimmen: Die Dachfläche, die Julian für die Beobachtung des Konzerts ausgesucht hatte war größtenteils eben und sah auch nicht so aus, als würde sie jeden Moment in sich zusammenbrechen. Der Vorschlag ihres Mannes hob Kanndras Laune gehörig und sie lehnte sich zufrieden an Julians Schulter.
Sie wusste nicht, ob Valdimier ein anderes Opfer für den Platz in der Jury gefunden hatte.
Sie wusste auch nicht, ob der für morgen geplante Abzug des quirmer Orchesters nicht noch ein viel größeres Chaos verursachen würde, als dessen Aufenthalt hier in der Stadt.
Und wer wusste schon, was sie bei der Rückkehr in die Wache erwarten würde?
Doch Kanndra beschloss, dass ihr diese Dinge wenigstens für den heutigen Abend vollkommen egal sein würden.
Und während die ersten mehr oder weniger schiefen Töne von der Konzertbühne aus in den sternenklaren Himmel stiegen, blieb eigentlich nur noch zu hoffen, dass eventuell lauschende Götter genug Watte für die Ohren parat hatten. Nicht, dass diese Veranstaltung noch mit einem Donnerschlag endete!
[1] Einen wie ihn gibt es in jedem Orchester und man sagt diesen Musikern tatsächlich einen gewissen Hang zur spontanen Improvisation nach, wohl einfach aus Angst davor, vergessen zu werden: Es handelt sich um die Herren und Damen an der Triangel.
[2] Verbeugungsordnung, die: Eine weit verbreitete Vorgehensweise, um das schlimmste Chaos am Ende einer Vorstellung zu verhindern. Paradoxerweise bewirkt er oft das genaue Gegenteil: Je genauer er ausgearbeitet ist, desto unsicherer sind sich die Künstler auf der Bühne.
[3] In Ankh-Morpork tut man gut daran, mit solchen Formulierungen etwas vorsichtig zu sein.
[4] Wobei das in diesem Fall als Synonym für "neugierig" zu verstehen ist.
Zählt als Patch-Mission für den Verdeckte Ermittlerin-Patch.
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