Eine Tote wird in einem verschlossenen Raum aufgefunden. Was war passiert?
Dafür vergebene Note: 13
Leise ächzte die weiße Kreide über den verdreckten Dielenboden, als Kathiopeja die Umrisse der toten Frau nachzog. Im Bereich der Haare gab sie ihrem verborgenen künstlerischen Drang ein wenig nach. Es war rot und umkranzte den Kopf der Frau in einem großen Bogen.
Fast wie ein Heiligenschein, dachte die Tatortwächterin, als sie schwungvoll dem Verlauf der Haare folgte und dabei ein oder zwei Löckchen nachzeichnete. Als sich jemand räusperte, beendete Kathiopeja ihre Arbeit an den Schattierungen der Kreidehaare, um den Umriss zu komplettieren. Kurz vor dem Ziel hielt sie inne, denn Huitztli Pochtli versperrte ihr mit seinem massiven Körper den Weg.
"Ohne Obduktion kann ich nichts Genaues sagen, aber als vorläufige Todesursache vermute ich die Wunde an der Hinterseite des Schädels." Er deutete auf die Blutspuren, die sich grell sichtbar von dem Stoff des weißen Nachtkleides der Toten abhoben.
Kathiopeja nickte. "Wir haben an dem Tisch dort drüben ebenfalls Blutspuren gefunden. Sie scheint gestolpert zu sein und ..."
"Sie wurde ermordet", unterbrach der Wasserspeier seine Kollegin. Er bemerkte das Runzeln auf ihrer Stirn. "Wenn sie gestolpert wäre, dann hätte sie die Tischkante mit der Vorderseite ihres Kopfes erwischt. Niemand fällt nach hinten, wenn er gegen etwas stolpert. Und wenn doch, dann krümmt sich der menschliche Körper üblicherweise, bedingt durch Reflexe und Erfahrung. Sie wäre bestenfalls auf den Hintern gefallen, nicht aber auf den Kopf."
Kathiopeja stand auf und verstaute das Stück Kreide in ihrer Tasche. "Aber warum war die Tür dann abgeschlossen?"
"Hm?"
"Na die Eingangstür. Sie war verriegelt. Von innen."
"Und der Schlüssel steckte im Schloss", mischte Laiza Harmonie sich ein, während sie den Türschlüssel vorsichtig in ein Beweistütchen. "Huitztli hat Recht: Wir können erst nach der Obduktion sagen, woran sie wirklich gestorben ist. Ich vermute aber, dass sie kurz vor ihrem Tod nicht allein war und sie starb, nachdem der Besucher gegangen war."
Sie blickte sich im Raum um, sah Details von einem Leben, das jung endete, sah den kalten Körper und das Blut. "Ich werde R.U.M. kontaktieren."
-----Der Frühling war noch jung und so hatte jeder, der es sich erlauben konnte, einen Teil des Tages in der Sonne verbracht. Selbst wenn das nur hieß, für fünf Minuten vor den Laden zu treten. Mit dem schwindenden Tageslicht zog auch die Kühle wieder in die Straßen und das geschäftige Treiben nahm ab.
Kolumbini entfachte ein Streichholz an der Mauer. "Sie geben also zu, dass Sie bei ihr gewesen sind?"
Durch den aufsteigenden Qualm seiner Pfeife konnte der Ermittler das schiefe Grinsen seines Gegenübers erkennen. Die hünenhafte Gestalt war ihm schon beim Betreten des Hier-gibt's-Alles-Platz aufgefallen und dass es sich bei Bruno Ludo im einen Schlachter handelte, machte die Befragung nicht angenehmer.
"Na aber sicher doch. Ich hab' sogar die Quittung dabei." Der Mann zog einen zerknitterten Zettel aus seiner Tasche. "Ich hatte eigentlich vorgehabt, heute Abend noch einmal zu ihr zu gehen. War ein scheiß Tag. Die Leute haben mich echt fertiggemacht heute." Er lachte. "Kaum sind ein paar beschissene Sonnenstrahlen zu sehen, kommen sie an und wollen frisches Fleisch, um es auf den Grill zu schmeißen. Da brauch ich abends ein bisschen Entspannung, wenn du verstehst, was ich meine!" Er zwinkerte und verzog dabei linkisch das Gesicht.
Kolumbini ließ sich nicht beirren. "Auf der Quittung steht, dass Sie die Dienste von 'Madame Lissy' von sechs bis neun Uhr abends in Anspruch genommen haben. Wirklich drei Stunden?"
"Allerdings!" Bruno strich sich selbstgefällig über die Brust. "Ich bin ein ausdauernder Bursche und die Kleine ..."
"Bitte." Kolumbini hob gereizt die Hand. "Keine Details! Es interessiert mich nicht,
was Sie in ihrer Freizeit treiben. Mich interessiert nur, dass Sie der letzte waren, der sie lebend gesehen hat. Damit sind Sie unser Hauptverdächtiger und wenn sich dieser Verdacht bestätigt, werden Sie des Mordes angeklagt. Wenn Sie also bei der Sache bleiben würden?"
Der Schlachter hob abwehrend beide Hände. "Hey, is' ja ok. Wollte das Ganze nur ein wenig auflockern."
"Sie ist tot, da gibt es nichts aufzulockern."
Der Schlachter blinzelte kurz und rieb sich dann mit seinen wuchtigen Pranken übers Gesicht. "Mann, ich war zum zweiten Mal bei ihr." Seine Stimme klang nun beinahe sanft. "Sie war 'ne echt Liebe. Vor allem musste man nicht in eines dieser Etablissements gehen. Bei ihr Zuhause war das alles viel entspannter. Kein Zeitdruck, keine störenden Nebengeräusche."
"Und das alles zum vereinbarten Gildensatz?" Kolumbini hatte einen Nerv getroffen.
"Äh, nein", sagte Bruno nach kurzem Zögern. "Wir haben verhandelt. Sie wissen schon: Ich sag einen niedrigen Preis, sie einen höheren. Am Ende treffen wir uns in der Mitte."
"Sie haben sie also schwarz bezahlt."
Bruno nickte. "Aber ich habe sie nicht umgebracht. Als ich gegangen bin, war sie noch putzmunter. Müde, aber am Leben."
Der Ermittler blätterte kurz durch seine Notizen. "Wo sind Sie danach gewesen? So zwischen neun und elf?"
"Ähm." Bruno senkte verlegen den Blick. "Zuhause. Bei meiner Frau."
Der Stift kritzelte über das Papier. "Bei ihrer Frau?"
"Hey Mann, ich weiß, was Sie jetzt denken. Aber ich bin kein schlechter Mensch, nur weil ich ...", erneut stoppte ihn die Hand des Wächters.
"Wie ich schon einmal betonte: Es interessiert mich nicht, was Sie in ihrer Freizeit tun." Kolumbini klappte den Notizblock zu. "Vielen Dank, Herr Ludo. Das war's."
"Das war's? Was meinen Sie?"
"Damit meine ich, dass ich keine weiteren Fragen mehr an Sie habe. Sie haben ein Alibi, das wir natürlich überprüfen werden. Hoffen wir, dass Ihre Frau die nächtlichen Ausflüge ebenso locker sieht wie Sie. Schönen Abend noch." Mit zwei Fingern zum Gruß an der Stirn drehte sich der Ermittler um und ging.
-----"Was meinst du, wie lange du brauchen wirst?" Ophelia Ziegenberger betrachtete ihre Kollegin durch einen Nebel verschiedenster Gedanken. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und die Schultern unbewusst nach vorne gezogen. Es war eine merkwürdige Situation.
"Ich denke, in drei, vier Stunden weiß ich mehr. Die Wohnung ist sehr übersichtlich, sollte also nicht allzu lange dauern. Ich geb' deinen Leuten Bescheid, wenn ich etwas Brauchbares gefunden habe." Breda Krulock wartete, ob die verdeckte Ermittlerin noch etwas zu sagen hatte, doch ihre Wortwahl schien der jungen Frau schwer auf der Seele zu liegen.
Deine Leute.
"Du kannst mich auch direkt kontaktieren." Ahnungen von Vorwurf und Unverständnis schwangen in den Worten mit.
Durch ihre Posten als stellvertretende Abteilungsleiter hatten die beiden Wächterinnen in den letzten Jahren immer weniger miteinander zu tun gehabt und während Breda zum Einzelgängertum tendierte, scheute Ophelia weder neue Bekanntschaften noch Kontakte. Vor allem innerhalb der Abteilung hatte sich ein kleiner Kreis von Vertrauten um die Stellvertreterin von R.U.M. gebildet. Von den früheren Gemeinsamkeiten der beiden Freundinnen war nicht viel geblieben. Breda hatte die wachsende Distanz schnell erkannt und schließlich akzeptiert. Ophelia hingegen schwelgte zu sehr in guten Erinnerungen, als dass sie den Verfall der Beziehung frühzeitig hätte erkennen können. Sie ahnte, dass es zu spät sein könnte, das Ruder noch herumzureißen.
"Von mir aus", quittierte Breda die Antwort und wandte sich schulterzuckend an die auf dem Bett ausgebreiteten Notizen. Sie ignorierte das psychische Durcheinander ihrer einstigen Freundin. Sie nahm einen Zettel in die Hand, den sie sich demonstrativ vors Gesicht hielt, und begann konzentrierter als nötig mit Ihrer Arbeit.
Ophelia indes ballte ihre Hände zu Fäusten. Sie erkannte ihre ehemalige Freundin nicht wieder und zuckte zusammen, als ihr bewusst wurde, Breda unbewusst als "ehmalige Freundin" betitelt zu haben. Ihr Kinn ruckte, als ihr klar wurde, dass ihr Kopf den Schritt über den Abgrund längst vollzogen hatte und nur ihr Herz es war, das hinterher hechelte.
Auf dem Bett, mit dem Rücken zur Tür schloss Breda die Augen, bis die Schritte leiser wurden und schließlich ganz verhallten, als der Chief-Korporal den Tatort und somit auch eine langjährige Freundschaft hinter sich ließ.
Breda verharrte einen Augenblick reglos. Nur der gedämpfte Lärm der Straße war im Zimmer zu hören. Als sie die Augen wieder öffnete, verzerrte ein trockenes Lachen ihre Lippen. Sie drehte den Zettel in ihrer Hand so, dass die Buchstaben nicht mehr auf den Kopf standen, und begann im Auftrag von R.U.M. die Notizen der Toten durchzusehen.
-----Romulus von Grauhaar beäugte den Schlüssel in seiner behandschuhten Hand und kniff die Augen zusammen. "Keine Fingerabdrücke?"
"Nur die des Opfers. Sie hat sich in der Wohnung eingeschlossen, bevor sie gestorben ist."
"Vielleicht kam jemand durch das Fenster?"
Rea Dubiata schüttelte den Kopf. "Nein. Die Spurensicherung hat festgestellt, dass die Fenster schon seit Monaten, wenn nicht sogar seit Jahren nicht mehr geöffnet wurden. Die Nägel sind derart verrostet, dass es unmöglich ist ein Fenster zu öffnen, ohne dabei den ganzen Rahmen aus der Wand zu reißen."
Der Werwolf blätterte mit der freien Hand durch die Untersuchungsergebnisse. "Und die Obduktion hat keine Fremdeinwirkung ergeben?"
"Nicht direkt. Sie starb an einer Hirnblutung. Das hat der Hauptgefreite Pochtli bei seiner Arbeit festgestellt."
"Die blutende Wunde am Hinterkopf war also nicht die Todesursache, wie zu Beginn vermutet?"
Laiza Harmonie beugte sich nach vorn und schob Romulus mehrere Fotos zu. "Das kann man so nicht sagen", nahm Sie ihren Gerichtsmediziner in Schutz. "Ohne den Schlag auf den Kopf hätte es kein Hämatom gegeben. Eine Gehirnblutung kann zwar ohne fremde Einwirkung entstehen, aber unser Opfer war kerngesund. Von einer harmlosen Pilzinfektion einmal abgesehen war Ihr Körper in guter Verfassung. Das Erbrochene, das wir auf dem Küchenfußboden in der Wohnung der Toten fanden, bestärkt die These. Hirnblutungen führen zu starkem Kopfschmerz, der Übelkeit und Ohnmacht hervorrufen kann."
"Sie bekommt also einen heftigen Schlag an den Kopf, wodurch ihr Gehirn zu bluten anfängt. Sie schmeißt Ihren Angreifer aus der Wohnung, schließt ab, bekommt Kopfschmerzen, übergibt sich und fällt dann in Ohnmacht, in der sie letztendlich stirbt." Romulus hob die Hand grübelnd zum Kinn.
"Aber die Wunde am Hinterkopf rührt nicht von dem harten Schlag her, richtig?" Humph MeckDwarf, der bis dato stumm zugehört hatte, zog sich eines der Bilder heran. "Außer Ihr Angreifer hat sie mit dem zwanzig Pfund schweren Tisch erschlagen, der Blutspuren und Haarbüschel aufweist." Er hustete heiser, bevor er das Bild an Laiza zurück gab.
"Äh, nein. Das ist richtig. Eine Rekonstruktion des Tathergangs zeigt, dass sie in Ohnmacht fiel, hervorgerufen durch die Blutung, und gegen den Tisch prallte. Nur so ist die Wunde am Hinterkopf zu erklären."
"Wer hat die Leiche entdeckt?"
"Das war ein Nachbar." Rea blätterte in Ihren Notizen. "Michael Mergo. Er wurde bereits befragt, seine Mutter bestätigt dass er bei ihr war. Der Bericht liegt noch in der Kröselstraße."
"Also tappen wir im Dunkeln?"
-----Ursula Wegschmelz kaute nervös auf ihrer Unterlippe. Im Gegensatz zu den Damen aus dem Boucherie war Uschi, wie sie sich Breda vorgestellt hatte, den Umgang mit der Stadtwache nicht gewohnt. Sie argwöhnte die Befragung, ließ sie aber ohne Gegenwehr über sich ergehen.
"Seit mehreren Monaten. Vielleicht ein halbes Jahr. Sie hat es gut vor Frau Palm verheimlichen können. Sie kam ja trotzdem regelmäßig zur Arbeit."
Uschi seufzte entschuldigend. "Sie sagte, sie weiß, was sie tut."
Der Chief-Korporal nickte und nahm ein Bündel Papiere aus der Tasche. Die Blätter waren zerknittert und auf der Vorder- wie auch auf der Rückseite dicht mit einer zierlichen Handschrift beschrieben, wodurch sich das Papier irritierend anfühlte. Die Vampirin hielt es der Näherin vor die Nase.
"Erkennen Sie das?", fragte sie knapp.
"Das sind ihre Tagebücher." Ein kurzes, spöttisches Lachen drang über die wulstigen Lippen der Frau. "Wenn man das so nennen will."
"In der Wohnung wurden hunderte solcher Seiten gefunden. Alles Einträge und Berichte über ihre Arbeit, ihre Kunden. Warum hat sie alles niedergeschrieben?"
Breda hatte die letzten Stunden damit verbracht, die Dokumente zu sortieren, sie in relevant und irrelevant zu unterteilen und den mächtigen Inhalt in möglichst kurzer Zeit zusammenzufassen. Es standen viele interessante, teils delikate Informationen in den Schriftstücken. Breda war überrascht zu lesen, wer
tatsächlich alles die Dienste einer Näherin in Anspruch nahm. Sie las darin auch, dass es anscheinend eine Art Drückerbande innerhalb der Gilde gab, die den Frauen mehr Geld abknöpfte, als in den Gildenregeln vereinbart war. Frau Palm konnte nicht überall sein. In einigen Etablissements wurden die Gildenregeln gelockert. Zum Nachteil der Frauen.
Sie würde sich mit Hatscha al Nasa in Verbindung setzen müssen, denn die Sache schien einige Mädchen in die unfreiwillige Selbstständigkeit zu drängen, vollkommen schutzlos den Macken Ihrer Kunden ausgesetzt und sich selbst überlassen. Dies führte das ganze Gildenregularium ad absurdum und bedurfte dringend einer Einschreitung.
"Warum hat sie jeden ihrer Kunden schriftlich festgehalten? War ihr nicht bewusst, dass sie dadurch zu einer Bedrohung wurde?"
Der dümmliche Blick Uschis ließ sie fortfahren.
"Ist Ihr nie in den Sinn gekommen, dass es Leute gibt, die nicht möchten, dass ihre Besuche publik gemacht werden
könnten?"
"Ich ... ich denke nicht, nein. Sie hat gerne geschrieben. Sie sagte, es hilft ihr beim Vergessen."
Breda konnte nicht verstehen, wie jemand Dinge vergessen konnte, indem er sie aufschrieb. Dadurch durchlebte man alles doch nur ein weiteres Mal.
"Wusste jemand von diesen Aufzeichnungen?"
"Außer mir?" Uschi überlegte. "Ich glaube nicht. Und ich habe es auch nur mitbekommen, weil wir eine zeitlang zusammengearbeitet haben, bis sie sich dazu entschloss, zuhause schwarz zu arbeiten. Wir waren nie befreundet oder so."
"Hatte sie Notizen über ihre privaten Sehnsüchte? Über Ihre Familie, Freunde, Partner?"
Erneut schob sich eine tiefe Furche zwischen die viel zu schmal rasierten Augenbrauen
[1]. "Hm. Vielleicht. Ich weiß nicht. Manchmal sah ich, wie sie in ein kleines Büchlein schrieb. So ein kleines Schwarzes."
Breda verharrte.
"Ein kleines schwarzes?"
Ja", wiederholte Uschi. "Ein kleines schwarzes. Echt schick. In Leder gebunden, mit einem Band darum, damit die Seiten nicht ungewollt aufblättern."
"Kennen Sie ihren Nachbarn, Michael Mergo?"
Diesmal lachte Uschi laut auf. "Michael? Ja, den kenn' ich", sagte sie. "Von dem kann ich Ihnen ein paar wilde Geschichten erzählen!"
-----Humph MeckDwarf lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf.
"Und du hast nicht gesehen, ob er etwas mitgenommen hat?"
Breda schüttelte den Kopf. "Ich war ... abgelenkt."
Der Abteilungsleiter hob erstaunt die Brauen. "Durch was?"
"Privates", war die die knappe Antwort und er beließ es dabei.
"Michael Mergo klopfte an, als ich mit einer besonders pikanten Notiz zugange war. Er ist der Sohn der Vermieterin und der, der die Tote entdeckt hatte. Genau genommen hat er uns gerufen, nach drei Tagen ohne Lebenszeichen von der Verstorbenen. Er sagte, dass er die Tote kaum kannte und sie nur ab und zu im Flur gesehen hätte. Seine Mutter mochte es wohl nicht, wenn er mit Frauen zu tun hatte und schon gar nicht mit Frauen ihrer Art."
"Ein kleines Muttersöhnchen, hm?"
Breda zuckte mit den Schultern. "Er durchstreifte langsam die Wohnung, berührte aber nichts. Er schien Trauer in sich zu tragen. Ob wegen der Wohnung oder wegen der Verstorbenen weiß ich nicht, also ließ ich ihn gewähren und widmete mich wieder meine Arbeit. Bevor er ging, sagte er noch, dass sie einen eleganten Kleidungsstil hatte. Besonders mit dem kleinen Schwarzen sah sie immer so bezaubernd aus."
"Und du meinst also, dass das kleine Schwarze kein Kleid ist, sondern ein Notizbuch?"
"Das am Tatort unauffindbar war, ja. Er muss es mitgenommen haben."
"Aber er hat ein Alibi. Seine Mutter sagte aus, dass er die ganze Nacht bei ihr war."
"Wer hat mit der Mutter gesprochen?"
MeckDwarf nahm die Akte zur Hand und entnahm ihr einen Zettel. "Der Wächter Brocki."
"Ein Rekrut."
"Ja." Der Abteilungsleiter räusperte sich. "Er berichtete, dass
'der Befragte auf der Straße stand und zu einem Fenster seiner Wohnung zeigte. Dort winkte eine ältere Frau, die er als seine Mutter vorstellte.' Wächter Brocki rief der alten Dame zu, ob
'Michael die Nacht daheim war' und sie bejahte dies."
Noch während er den Bericht laut vorlas, überkam ihn ein ungutes Gefühl.
"Wer verdammt schickt Rekruten los, um solche Aufgabe zu erledigen?"
"Wir müssen seine Wohnung durchsuchen, bevor er die Notizen beseitigt. Nachdem, was Uschi mir erzählt hat, war dies Ihr privates Tagebuch und Michael hat sie mehrmals belästigt. Er war hinter ihr her wie TOD hinter seiner Sense. Er hat ihr nachgestellt und ich gehe stark davon aus, dass er sich in der Wohnung aufgehalten hat, nachdem ihr Freier ging und bevor sie bewusstlos wurde."
-----"Ich habe nichts Unrechtes getan!" Michael Mergo hatte seine Hände unschuldig im Schoß gefaltet und schaute die Wächter mit großen Augen an. Seine schmächtige Statur schien seine Worte nur zu untermauern. Das Hemd, das er trug, war zwei Nummern zu groß. Der Kragen fiel weit um seinen Hals und gab den Beginn seines knöchernen Brustkorbs frei. Er schwitzte.
"Was wollten Sie in der Wohnung als Chief-Korporal Krulock dort war?" Jack Narrator ging ein paar Schritte im Zimmer herum. "Sie haben etwas gesucht, nicht wahr?"
"N-nein. Ich wollte nur ... ich... ich war traurig, dass Lydia tot ist. Das bin ich immer noch! Traurig meine ich!", warf Michael hastig hinterher.
"Waren Sie zum ersten Mal in der Wohnung?"
"Ja, ich kannte Lydia nur vom Sehen her."
"Dafür hast du dich aber ziemlich sicher in der Wohnung bewegt. Und dafür, dass du sie nur flüchtig gekannt hast, hat der Chief-Korporal eine ziemlich große Trauer in deinen Gedanken gespürt. Wie erklärst du dir das?"
Jack hatte sich bei den letzten Worten zügig dem Mann genähert und beugte sich vorn über, beide Hände auf den Armlehnen des Stuhls.
Mit dieser Geste nahm der Psychologe dem Zeugen jeglichen Freiraum. Die eben noch vorhandene Privatsphäre, die sich Michael in den letzten Minuten aufgebaut hatte, zerbrach. Jacks Gesicht war nur wenige Zentimeter entfernt.
Eingelegte Heringe sind das beste Mittel vor Vernehmungen, dachte Narrator, als Michael das Gesicht verzog.
"Du warst bei ihr, nachdem ihr Freier ging. Warum? Wolltest du sie bekehren? Deiner Mutter beweisen, dass sie kein Flittchen ist? Na los, red' schon!"
Michael schüttelte mit verzerrtem Gesicht den Kopf. "Nein!"
"Was war es dann? Hat sie dich gebeten, 'rüber zu kommen? Wollte sie dir einen kleinen freundschaftlichen Dienst erweisen?" Jack schoss eine Vermutung nach der anderen ab und seine Arbeit trug Früchte. Tränen rannen über Michaels Gesicht, als der wieder hastig den Kopf schüttelte. "Nein ..."
"Du hast wohl gehofft, auch mal zum Zug zu kommen, was? Vielleicht ohne zu bezahlen. Immerhin durfte der Dicke vor dir auch dr... "
Jack stolperte zwei Schritte rückwärts, als Mergo aufsprang und mit seinen Fäusten auf ihn einschlug. Ein Schlag traf ihn an der Schläfe und zuckende Blitze erfüllten sein Blickfeld.
"Sie war eine gute Frau!", schrie Michael. "Sie war ... GUT! Diese Schweine haben sie nicht verdient!"
Die zwei vor der Tür positionierten Wächter stürmten herein und zogen den Mann mit Leichtigkeit vom fluchenden Jack herunter. Er rappelte sich auf und blickte dann in ein Gesicht, das er bei jedem vermutet hätte, aber nicht bei Michael Mergo. Wutverzerrt starrte Mergo den Wächter an, die Augen nur noch zwei brennende Schlitze und bei jedem Wort spie er der Welt ins Gesicht.
"Sie gehörte mir! Meine Frau! Meine! Und wenn ich sie nicht haben kann, dann niemand!"
-----"Die Anklage lautet also nicht Mord?"
"Nein. Es war Totschlag. Seine Absicht war nicht, sie zu ermorden. Er wollte sie nur dazu bringen mit ihm zu kommen." Ophelia Ziegenberger massierte sich die Schläfen. Auch für sie schien das nicht richtig. "Er wollte sie aus diesem 'dunklem Loch' herausholen. Das ist schief gegangen. Er bekommt fünf, maximal sechs Jahre Freiheitsentzug. Er befindet sich zurzeit in einer unserer Zellen und wartet auf das endgültige Urteil."
"Und das nennt ihr gerecht?"
"Breda, ich weiß nicht, was dein Problem ist?"
"Ich habe kein Problem." Die Vampirin stand wütend im Türrahmen. "Aber Lydia ist tot ... wegen diesem Mistkerl! Weil er sie mit dem Kopf so hart gegen den Türrahmen geschmettert hat, das ihr verdammtes Hirn ausblutete. Er sagt, es wär' besser so und alles, was dieser Scheißkerl dafür bekommt, sind fünf Jahre? Dann ist er Mitte dreißig und kann sich sein nächstes Opfer aussuchen!"
"Das psychologische Gutachten hat ergeben, dass er zum Tatzeitpunkt unzurechnungsfähig war. Er war in Rage und wusste nicht, was er tat." Jack fuhr mit der Hand über die Platzwunde an seiner Schläfe. "Er muss weiterhin psychologisch betreut werden, das ist klar."
Breda war versucht, sich weiter mit ihren Kollegen zu streiten, sah aber keinen Sinn und auch kein befriedigendes Ergebnis in Aussicht. Für sie war Michael ein Mörder, egal wie man es drehte und nannte. Sie sah Ophelias Blick auf sich ruhen.
"Ach, vergesst es!" Die Vampirin winkte wütend ab und verließ den Raum.
Sie erreichte das Boucherie Rouge, als die Sonne gerade unterging. Schnellen Schrittes stürmte sie die Treppe ins zweite Stockwerk hinauf, grüßte niemanden und öffnete die Tür zu ihrem Büro, die hinter ihr krachend ins Türschloss fiel. Ohne eine Kerze zu entzünden ging sie hinüber zu ihrem Schreibtisch, entnahm ihrer Tasche einen kleinen Schlüssel und öffnete die verschlossene Schublade.
"Gerechtigkeit?", fragte sie die Dunkelheit, als sie das kleine Schwarze in die Schublade legte und sie wieder verschloss.
[1] Ein fürchterlicher Trend, der drohte Ankh-Morpork zu erobern.
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