Kurzbeschreibung: Septimus hat den Auftrag bekommen, das RUM-Archiv auf den neuesten Stand zu bringen. Ein todlangweiliger Job?
Dafür vergebene Note: 12
Lynkeus der Türmer
Zum Sehen geboren,
Zum Schauen bestellt,
Dem Turme geschworen,
Gefällt mir die Welt.
Ich blick' in die Ferne,
Ich seh' in der Näh'
Den Mond und die Sterne,
Den Wald und das Reh.
So seh' ich in allen
Die ewige Zier,
Und wie mir's gefallen,
Gefall' ich auch mir.
Faust II, V 11288-11299Der Herbst in Ankh-Morpork war blind vor Nebel. Alles war dunstig: Die scheckigen Stämme der Bäume im Hide Park, seine Wacholderbüsche, seine milchigen Kieswege. Etwas weiter entfernt zeigte eine wässrige Sicht zwischen den gezackten Ecken fahl bläulicher Häuser hindurch die fleckigen Schemen der Ankh-Brücke, deren Anblick sich in dieser Zeit am weitesten entfernte von der eigentümlichen Lieblichkeit, mit der die städtischen Postkarten um die Gunst der Touristen buhlten. Die Luft war windlos und von einer feuchten Kälte, die Gerüche von verrottenden Abfällen, Kinderkot, faulendem Wasser und Dingen, die verbrannt wurden, am Ufer entlang trug. Der Fluss kroch zäh voran, erstickte sich selbst im Schlamm.
Eine kleine Gestalt begleitete ihn gegen die Kriechrichtung. Sie ließ sich viel Zeit.
Man hätte meinen können, sie zähle jeden einzelnen Pflasterstein zwischen der Brücke und der Götterinsel, so langsam bewegte sie sich fort. Der Blick war auf den Boden gerichtet, der Rücken leicht niedergedrückt von dem Gewicht eines Bündels mit dicken Holzspänen, die Sandalen schlurften auf dem Untergrund. Die Gestalt hatte es nicht eilig.
Als sie den Pseudopolisplatz erreichte, war der Nebel bereits von einem leichten Wind in Fetzen auseinander getrieben worden. Die entstehenden Lücken machten Teile der Opernfassade und einige Händler sichtbar, die die Inhalte ihrer Bauchläden schon besonders früh am Morgen feilboten. Gemächlich zogen die Nebelschwaden weiter, genauso wie die Gestalt, welche nun den Blick träumerisch erhoben hatte. Sie sah die künstlich vergoldeten Fensterrahmen des Opernhauses; ein starker Kontrast zu den immer länger werdenden Rissen im Mauerwerk und der ergrauten blättrigen Wandfarbe.
Und da - da war er schließlich: Der Eingang zum Wachhaus, die Tore zu einem langen, langweiligem Arbeitstag.
*"Meinst du wirklich?"
"Natürlich! Ich muss es nur
hier und
hier befestigen."
"Und
womit willst du es befestigen?"
"Ganz einfach-", Braggasch Goldwart brach seine Erklärungen mitten im Satz ab und horchte auf. Normalerweise war es zu dieser frühen Stunde mucksmäuschenstill im F.R.O.G.-Bereitschaftsraum, aber jetzt war ein Geräusch zu vernehmen, das klang, als würde jemand mit rauem Stoff über Metall scheuern, gefolgt von enthusiastischem Schnaufen. "Hörst du das?"
Schlumpi ließ die Armbrust sinken, deren technische Ausbesserung Thema ihrer Unterhaltung gewesen war, und deutete auf die Rutschstange, welche hinunter in die Ställe führte. Das Geräusch wiederholte sich noch ein paar Mal, während der Späher und der Armbrustschütze gebannt auf die Öffnung blickten, ohne sich von ihren Sitzplätzen zu erheben. Ein kleiner glatter Schädel schob sich ins Blickfeld, dann ein brauner Haarkranz, eine vor Anstrengung in Falten gelegte Stirn, große braune Augen mit einem entschlossenen Funkeln darin, eine trichterförmige Nase und ein von Bartstoppelt bevölkertes Kinn.
"Guten Morgen!", grüßte Schlumpi Wurzelbach den Gnom. "Na? Wieder keine Lust auf die Treppe gehabt?"
"Dauert...zu...lange", sagte Septimus und schob bei jeden Wort den Strick, den er um die Stange gewunden hatte, höher, um sich mit den Füßen ein Stück weiter nach oben drücken zu können. Er schob seine Füße weit nach oben, ließ ein Ende des Strickes los und stieß sich heftig ab. Nach einem Rückwärtssalto landete er im zweiten Stock.
"Äh...guten Morgen", stotterte Braggasch, der die morgendliche Prozedur das erste Mal miterlebte.
"Morgen", erwiderte Septimus und sah sich nach ein paar Holzspänen um, die sich nach seinem Manöver aus dem Bündel gelöst hatten.
"Ich...äh...wusste gar nicht, dass du so...äh...athletisch bist", versuchte Braggasch ein Gespräch mit dem Neuankömmling anzufangen mit dem er erst ein Mal auf einer sehr chaotischen Mission zusammen gearbeitet hatte
[1]. "Ebel...äh...richtig?"
Septimus suchte konzentriert nach dem verstreuten Holz und murmelte. "Tja, es gibt so einige hier, die mich unterschätzen."
"Wie bitte?", horchte Schlumpi nach, weil die beiden F.R.O.G-Mitglieder nur Unverständliches vernommen hatten.
"Ich sagte", verkündete der Hauptgefreite lauter, "dass ich geübt habe."
"So so", machte Schlumpi und wandte sich wieder der Armbrust zu.
"Bei euch ist es wenigstens schön warm", sagte der Gnom, die Späne unter den Arm klemmend. "Diese plötzliche Kälte ist mir unerklärlich. Vor ein paar Tagen waren wir noch mitten im Sommer und jetzt - plötzlich - das!"
"Na ja, Spätsommer", kommentierte Schlumpi.
"Äh...ich glaube, ...äh ...eher Mitte Herbst. Und...äh...die Sonne hat sich auch schon seit zwei...äh...Wochen nicht blicken lassen."
Ruckartig richtete Septimus sich auf und strich mit einem leicht beleidigten Gesichtsausdruck seinen Flickenmantel sauber. "Von mir aus."
Daraufhin entstand ein kurzes Schweigen, das allen Anwesenden etwas peinlich zu sein schien.
Der Gnom räusperte sich und marschierte zur Tür. Er erreichte sie und konnte sie leicht aufstoßen, denn sie war nur angelehnt. Kurz bevor er den Raum verließ, fiel ihm noch etwas ein und er hielt inne. "Sagt mal", fragte er die beiden, "wo bekommt ihr eigentlich das Feuerholz her, für euren Bereitschaftsraum hier?"
"Meistens aus dem Arsenal oder aus dem Stall", gab Schlumpi Auskunft. "Jeder nimmt drei oder vier Scheite mit, wenn er von untern hoch kommt. Davon haben alle was. Warum?"
"Ach, ähm. Nur so. Aus Interesse", sagte Septimus schnell und begab sich in sein Büro.
*Vor Raum 207 angekommen holte er aus seinem Mantel zwei Drahtstücke hervor, die er sich zu einem dreiarmigen Haken zurecht bog, an dessen Ende er einen Bindfaden befestigte. Gekonnt traf er die Türklinke beim ersten Versuch. Allerdings traf er bei dem Versuch die Türe aufzuschieben auf unerwarteten Widerstand. Unter Kraftaufwand gelang es ihm, sie einen Spalt breit aufzudrücken. Etwas fiel mit einem Rauschen zu Boden.
Jetzt wagte Septimus einen Blick ins Zimmer. Aber vom Zimmer war nur noch wenig zu sehen. Bis auf die Höhe der Schreibtische von Mina und Ayure versperrten Türme von Akten die Sicht.
Ihm entfuhr ein Seufzen.
Es war
viel schlimmer als er erwartet hatte.
*Eine gute Viertelstunde hatte der verdeckte Ermittler gebraucht, um sich in dem Labyrinth zwischen den Papiergebäuden einigermaßen zurecht zu finden. Zuerst suchte er nach dem kleinen Ofen auf der rechten Seite des Zimmers. Stolz betrachtete er den stattlichen Holzhaufen, den er sich in den letzten Tagen Stück für Stück hinauf geschleppt hatte. Mithilfe von Wachs, ein paar veralteten Memos und einem Streichholz entfachte er eine Flamme. Dann wurde der Ofen so ausgiebig gefüttert, dass die Topfpflanzen auf der Fensterbank durstig ihre Blätter hängen ließen.
Als nächstes bahnte sich Septimus einen Weg zum Fenster, stieg eine Gnomentreppe hinauf auf den Absatz und machte es sich auf einem roten Kissen bequem. An seinem Lieblingsarbeitsplatz angekommen ließ er den Blick langsam durchs Zimmer streichen. Es war frustrierend.
Ein kurzzeitiger Anfall von Motivation bewegte ihn dazu, nach der obersten Akte eines nahegelegenen Turmes zu greifen und sie aufzuschlagen.
Dann war der Moment auch schon vorbei. Septimus hatte keinerlei Lust auf Schreibarbeit.
Sehnsuchtsvoll schaute er aus dem Fenster. Es gewährte einen großzügig weiten Blick über den Pseudopolisplatz, zwei Wände des Opernhauses und zwei abgehende Straßen. Der Nebel hatte sich mittlerweile zu blassen Schlieren verdünnt, sodass man die Personen auf dem Platz schemenhaft erkennen konnte. Von hier oben aus konnte man wunderbar das Kommen und Gehen der Wächter beobachten. Und noch so einiges mehr.
Septimus hielt nach vertrauten Schatten ausschau. Ganz weit rechts erkannte er den alten Invaliden, der sich auf einer Art rechteckigen Tischplatte täglich an der Ecke zum Unteren Breiten Weg über das Pflaster rollte und die Passanten ankeifte. Wie ein bissiger Haushund, der sein Revier zu verteidigen versucht - nur ohne Zähne.
Etwas weiter links sah Septimus eine schlanke Gestalt die Holofernes Straße hinauf kommen. Je näher sie kam, desto stärker leuchtete ihm ein kleiner roter Punkt entgegen, den sie in den Armen trug. Es war ein großer Strauß Rosen. Von früh bis spät bot die ärmlich gekleidete junge Frau ihre Blumen an. Sie mochte gerade einmal sechzehn Jahre alt sein. Und vermutlich war sie die einzige Einnahmequelle der Familie.
Wie sein Blick schweifte auch Septimus' Geist aus, sich immer neue Skizzen von den Lebensgeschichten der Leute dort unten entwerfend. Er fragte sich, woher der Fremde stammte, der drei Mal die Woche pfeiferauchend auf dem Platz herumlungerte. Oder auch, warum die beleibte Obstfrau ihre Ware immer in einer bestimmten Reihenfolge putzte und säuberlich sortierte. Er fragte sich, warum so viele Menschen an den Bettlern vorbeigingen, ohne sie eines einzigen Blickes zu würdigen und ob die Oper tatsächlich zu wenig Geld hatte, um ihr ehemaliges Prunkgebäude neu tünchen zu lassen.
Ein
Klonk und ein Rauschen, die den Fall eines Papierturmes ankündigten, rissen Septimus aus seinen Betrachtungen. Jemand hatte versucht die Tür zu öffnen. "Verdammt", zischte eine Frauenstimme.
"Morgen, Mina", grüßte er seine Zimmergenossin.
"Ähm. Guten Morgen", Mina versuchte sich durch den engen Türspalt hindurchzuzwängen. "Was ... ist denn ... hier los?"
"Hier wird mit der Vergangenheit aufgeräumt, Mina", meinte Septimus geheimtuerisch. "Alles muss raus!"
Er warf einen Blick auf die Akte vor sich, griff nach einem Bleistift und kritzelte auf das Papier. "Vollkommen veraltet!", murmelte er dabei abwesend.
Mina war es gewöhnt rätselhafte Antworten von Septimus zu bekommen. Seufzend versuchte sie eine Möglichkeit auszumachen ihren Schreibtisch zu erreichen - vergebens. "
Allerdings muss hier alles raus", pflichtete sie ihm bei. "Ich komme ja nicht einmal bis zu meinem Schreibtisch. Was ist hier überhaupt los?"
Es überraschte sie auch nicht mehr, dass Septimus mit einer unzusammenhängenden Gegenfrage antwortete: "Und? Warst du erfolgreich bei den Bettlern am Hafen?"
Die verdeckte Ermittlerin seufzte. "Das kann man nicht gerade behaupten."
"Hattest du Tabak mit?"
"Wie? Nein, warum?"
"Mh", machte Septimus und blätterte eine Seite um. "Nimm das nächste Mal Tabak für sie mit. Und wenn du wirklich wichtige Informationen haben willst, dann nimm einen halbwegs passablen Brandwein mit."
"Verstehe." Mina nickt. "In dieser Stadt gibt es nichts umsonst, richtig?"
Er nickte ihr zu.
"Und? Sagst du mir jetzt, was hier los ist?", erkundigte sie sich.
"Romulus hat mich dazu verdonnert jede einzelne verdammte
Karteileiche des RUM-Archivs zu aktualisieren."
"Was?" Mina schluckte. "Allein? Meine Güte, was hast du denn angestellt, dass er dich damit straft?"
Septimus wurde rot. Die Antwort war ihm sichtlich unangenehm. Er stand Fehler nicht gerne ein."Na ja, sagen wir, ich habe ein wenig zu viel Eigeninitiative gezeigt. Ein paar Dinge selbst erledigt, nicht abgesprochen und so." Sein Stimme versackte in einem Nuscheln
[2].
"Armer Kerl." Mina dachte sich einfach ihren Teil dazu. Romulus musste wohl besonders schlechte Laune gehabt haben.
"Außerdem, glaube ich, hat er schon eine ganze Weile nach einem armen Kerl Ausschau gehalten, der diese mühselige Arbeit hier erledigt."
Mina zuckte mit den Schultern und beschloss, da ihre Handlungsmöglichkeiten in ihrem Büro beschränkt waren: "Ich denke, ich werde meinen Bericht in der Kantine schreiben."
"Tu das", sagte Septimus trocken.
Sie war fast hinter der Tür verschwunden, plötzlich hielt sie inne. "Könntest du vielleicht den Akten zwischen hier und meinem Schreibtisch den Vorzug geben?"
An seinem Brummen war nicht zu erkennen, ob er einverstanden war oder nicht. Mina schüttelte leicht den Kopf. Die Tür war schon beinahe geschlossen, als Septimus rief: "Mina! Eine Frage noch!"
"Ja?"
"Hast du in den letzten zwei Tagen geheizt?"
"Oh, nein, nein. Die Kälte und ich, wir verstehen uns recht gut. Sie stört mich nicht, wenn du verstehst."
"Verstanden." Sie arbeiteten nun schon lange genug zusammen, dass Septimus oft vergaß,
was Mina von Nachtschatten war.
[3] Da sie ihm sowohl die Hoffnung auf Unterstützung bei der Aktenarbeit als auch bei der Beschaffung von Brennholz nahm (er hatte gehofft, sie an der Schlepperei beteiligen zu können), entließ er sie großmütig: "Du kannst jetzt gehen."
"Wie freundlich", kommentierte Mina ironisch und verließ den Raum.
*
Dankbar kniete die Stadt vor seinen Füßen nieder. Einem stolzen Vater gleich sah er auf sie herab und lächelte zufrieden. Sie war aus der Erde erwachsen, vom Himmelswasser gegossen und vom Licht der Güte genährt worden. Verwildert hatte er sie vorgefunden, gnaden- und sinnlos. Er hatte sie gepflegt, von Schädlingen befreit und verteidigt wie ein liebender Gärtner sein grünes Reich. Das war seine Stadt. Seine Schöpfung.
Er wandelte leicht über die Dächer. Dort, wo seine Füße den Boden berührten, sprießten Gänseblümchen und Löwenzahn. Der Wind umspielte sanft seine Wangen, einen Gruß der aufgehenden Sonne wispernd. Die begann, zögernd wie immer, mit goldgrellen Fingern nach den Häusern, den spiegelnden Fenstern, den Simsen, Straßen und Höfen zu greifen. Respektvoll nickend erwiderte der Grüne Baron ihren Gruß.
*Gelangweilt rieb Septimus seine Schläfen mit den Zeigefingern und versuchte sich auf die Zeilen zu konzentrieren. Ohne sich dessen bewusst zu sein, murmelte er leise vor sich hin: "Gefreite Lilli Baum ... Kontakt 0053 ... Jahr des kaltschnäuzigen Kaninchens ... Guido Guerra ... geeignet für OK, KK, Vorgänge in den Schatten ... nicht unbewaffnet aufsuchen ... TB Ecke Schweinestallhügel nutzen ... -"
Der letzte Eintrag war drei Jahr alt. Woher sollte der Hauptgefreite wissen, ob er noch aktuell war? Unmöglich konnte er sich in jedem Fall so gut auskennen, dass er die Unterlagen allein auf den neuesten Stand bringen konnte. Ein unzufriedenes Runzeln zerfurchte sein Gesicht bei der Feststellung, dass es entweder sehr vieler Memos oder sehr vieler Besuche in den Nachbarzimmern bedürfen würde, um die RUM-Mitglieder selbst zu befragen. Septimus seufzte wieder einmal tief. Das hatte er nicht verdient. Schließlich hatte er es nur gut gemeint. Und jetzt war er vermutlich wochenlang an sein Büro und diese öde Beschäftigung gefesselt.
Er flüchtete mit einem Blick aus dem Fenster. Inzwischen bewegte sich das bunte Leben dort unten schneller. Mehr Leute überquerten den Platz, feilschten, unterhielten sich. Septimus sah weiße Turbane, sternenbesetzte Spitzhüte, glänzende Helme, schlichte Hauben und lässige Mützen herumwimmeln. Ankh-Morpork fand seine Einigkeit in der Vielfalt. Den Invaliden konnte er nicht mehr sehen, auch den rauchenden Fremden nicht. An ihrer Stelle standen nun weitere Händler mit Bauchläden, der eine verkaufte Honig, der andere Keramikbecher, die aussahen als seien sie von einer sehr unruhigen Hand getöpfert worden. Da, an der Opernecke sah er das Rosenmädchen. Sie war gerade dabei einer Dame, ihrer Kleidung nach zu urteilen aus gut-bürgerlichem Hause, eine Blume zu verkaufen. Die Magd der Dame bezahlte, ein paar Worte wurden gewechselt, die Kunden gingen, Rosmarie - so nannte er sie insgeheim - küsste dankbar die erworbene Münze.
Plötzlich schepperte es so laut, dass es sogar Septimus auf seinem Beobachtungsposten ins Mark fuhr. Pfeifen-, Pauken- und Trompetentöne eilten einer Gruppe von Schaustellern voraus, welche sich tanzend, schreiend, jonglierend, feuerspuckend eine Bresche durch das Gewühl verschaffte. Ein altersschwacher Esel schleppte einen mit Krempel vollgestopften, vierrädrigen Karren mühevoll bis zur Mitte des Platzes. Die Peitsche des Kutschers, ein etwa sechzig jähriger Mann mit albern hohem Zylinder und grauschwarzen Spitzbart, trieb das kläpprige Zugtier erbarmungslos voran. Neben dem Kutscher saß eine beleibte Frau in einem ozeanblauen luftigen Kleid, dessen Ärmel- und Ausschnittränder auffällig glitzerten. Auf ihrem Kopf thronte ein zitronengelber Turban, dem es nicht gelang die schwarzen Locken darunter zu verbergen. Septimus vermutete, das die beiden auf dem Kutschbock verheiratet waren, denn die Hand der Frau ruhte auf eine sehr vertraute Art auf dem Oberschenkel des Mannes. Dann, schlussfolgerte er, handelte es sich bei den anderen um die restliche Familie. Der unbeholfen als Musik getarnte Krach wurde von einem Greis verursacht. Schaukelnd saß er ganz oben auf dem Plunder und versuchte vier Instrumente gleichzeitig zu spielen. Ein schlanker Halbstarker ging neben dem Gefährt. Er jonglierte mit fünf Äpfeln, während er dem Publikum etwas zu rief. Bis auf einen langen blutroten Umhang war er ganz in Schwarz gekleidet. Seine Schwester, ihre lange schwarze Haarflut herumwirbelnd, versuchte vor allem das männliche Publikum mit ihren Rundungen zu locken. Verführerisch langsam kreiste ihre Hüfte. Die langen Wimpern ließ sie genauso gekonnt klappern wie ihre Kastagnetten. Ganz zuletzt schlurfte ein großer muskulöser Mann, der seinen Geschwistern nur in der dunklen Haarfarbe ähnelte. Anders als sie war er nicht athletisch, sondern muskelbepackt, die Linien seines Gesichts waren nicht fein geschnitten, sondern wie von einem Kind gekritzelt, seine Augen funkelten nicht wach und lebendig, sondern stierten stumpf und dümmlich vor sich hin. Er hielt eine schwere Kette, deren anderes Ende an einem eisernen Halsband befestigt war. Bekümmert betrachtete Septimus den schwarzen Bären, der an seinen Fesseln nach vorne gezogen, hinter dem Zug her trottete.
Weil er nicht ertragen konnte zu sehen, wie ein Wildtier so gequält wurde, wandte er seinen Blick ab. Um sich auf andere Gedanken zu bringen, beschloss er Raum 207a einen Besuch abzustatten. Dort würde er Lilli persönlich fragen, ob Guido Guerra noch ein aktueller Kontakt war. Er wollte sich für die künftige Informationsbeschaffung so viel Laufarbeit wie möglich sparen, deshalb kritzelte er gleich ein paar Fragen für Jack, Frän und Mimosa auf. Flink rollte er die Papiere zusammen und verließ das Zimmer.
*Mimosa hatte es sich gerade mit einer brühend heißen Tasse Kaffee an ihrem Schreibtisch bequem gemacht als es an der Tür klopfte. Sie schaute vom
Kurier auf und bat den Besucher herein. Ein Moment verging, in dem nur ein leises Kratzen zu vernehmen war. Dann bewegte sich die Klinke nach unten und die Tür öffnete sich knarrend. Ganz unten im Rahmen sah sie Septimus Ebel wie er einen Bindfaden mit improvisiertem Enterhaken zusammen rollte. "Morgen, Mimosa."
"Guten Tag, Septimus", erwiderte Mimosa freundlich.
"Du liest sowas?", fragte der Gnom, angewidert auf die Zeitung deutend.
"Nur zu Reschärschezwecken", erwiderte die verdeckte Ermittlerin. "Wie kann ich dir weiterhelfen?"
"Ich muss mit Lilli sprechen."
Mimosa legte den
Kurier zur Seite und schaute Septimus erstaunt an. "Aber die ist doch schon seit Wochen weg."
"Wie weg?"
"Ja, weg. Abgeordnet zu GRUND. Hast du das nicht mitbekommen?"
Es war dem Hauptgefreiten deutlich anzusehen, dass ihm diese Information überhaupt nicht passte. "Offensichtlich nicht."
Innerlich schüttelte Mimosa den Kopf über ihren kleinen Kollegen. Was seine Spezialisierung anging, wusste sie, dass er sehr professionell arbeiten konnte und viel Wissen besaß, von dem sie sich, wenn sie zusammen arbeiteten, eine hohe
Gewinnbeteiligung versprach. Diesbezüglich glaubte sie, viel von ihm lernen zu können. Aber über Dinge, die weder das verdeckte Ermitteln angingen noch die Natur, konnte man mit ihm nur schwer reden. Er schien sich wirklich nur für die Fälle zu interessieren, die gelöst werden sollten. Alle anderen Vorgänge in der Abteilung waren für ihn kaum von Bedeutung. Von sich aus fragte er fast nie nach solchem 'Beziehungskram'. Und da er sich meistens von seinen Kollegen zurück zog, bekam er auch die üblichen Wächter-Lästereien nicht mit.
"Nun...ähm...na schön", gab Septimus unbeholfen von sich. "Ich muss ein paar Dinge wissen. Von euch. Also von dir und Jack und Frän. Es geht um die Aufarbeitung vergessener Pflichten."
Er trat an den Schreibtisch und streckte ihr einige Papierröllchen entgegen. "Sagt mir einfach, ob die letzten Einträge noch aktuell sind."
Die Obergefreite nahm Zettel und Auftrag entgegen. "Bis wann brauchst du das?"
"Bis sofort", antwortete Septimus trocken und verließ den Raum ohne die Tür hinter sich zu schließen.
*Kälte schlug Septimus entgegen, als er in Raum 207 zurückkehrte. Über seine Träumereien am Fenster hatte er ganz vergessen neues Brennmaterial nachzulegen. Das wollte er nun nachholen, doch vor dem Ofen stehend musste er feststellen, dass sein Holzvorrat offenbar unter Schwindsucht litt. Er war deutlich abgemagert und eingefallen. Wie hatte das in der kurzen Zeit passieren können? Mina heizte nicht und Ayure, die schon seit Tagen nicht im Büro gewesen war, hatte den Holzhaufen sicherlich auch nicht aufgebraucht. Waren den Scheiten etwa zwischenzeitlich Beine gewachsen? Waren sie vor dem endgültig vernichtenden Feuer geflohen? Argwohn keimte in Septimus auf.
Aber der würde das Zimmer nicht wärmen. Also nahm der Hauptgefreite ein paar Scheite, schob sie in das Ofenmaul und fachte die Glut durch kräftiges Pusten neu an.
Danach machte er es sich wieder auf seinem Kissen gemütlich. Und wieder war der Blick aus dem Fenster deutlich interessanter als die zähe Schreibarbeit. Um die Schausteller hatte sich ein Ring von Publikum gebildet, das neugierig dabei zu sah, wie der Zylinder-Mann und Julio - so nannte Septimus den jungen Burschen in dem blutroten Mantel - eine Apparatur aufbauten. Ein solches
Ding hatte auch Septimus noch nie zuvor gesehen. Es stand auf einer Fläche von etwa einem Quadratmeter und ragte gute zwei Meter in die Höhe. Der Familienvater brachte seitlich an dem Ding hölzerne Pfeile an, die untersten waren hellblau, etwas höher wurden die Pfeile orange und ganz oben feuerrot. Auf jeden stand etwas in großen Lettern geschrieben. Ganz oben befestigte sein Sohn ein großes hölzernes Herz und eine Glocke.
So sehr er seine Augen auch zusammenkniff, konnte der Beobachter im zweiten Stock jene Wörter nicht erkennen, welche die Lettern auf den Holzpfeilen bildeten. Eilig sprang er vom Tisch und suchte in der großen Kiste zu der er über eine weitere Gnomenleiter gelangte nach seinem Fernrohr. Es war zwar klein, aber es ließ sich doch sehr weit ausfahren und würde sicher ausreichen, um den Apparat näher betrachten zu können. Septimus eilte zurück und schaute durch das Vergrößerungsglas. Jetzt konnte er den untersten Schriftzug lesen. Dort stand "kalt wie ein Fisch", auf dem Pfeil darüber "nett", dann in folgender Reihenfolge "niedlich", "ansprechend", "reizvoll", "bezaubernd", "fesselnd", "begehrenswert", "verführerisch", "heißblütig" und ganz oben "unwiderstehlich".
Julio demonstrierte wie diese
Messstation funktionierte: Er legte seine Handfläche auf eine eigens dafür vorgesehende Ablage, woraufhin eine Flüssigkeit in einem Röhrchen hinaufschoss, wie Quecksilber in einem Fieberthermometer. Der Pegel blieb bei "verführerisch" stehen. Julio erntete Applaus. Daraufhin forderte er jemanden aus dem Publikum auf, es ebenfalls zu versuchen. Der Liebes-Messer hielt bei "begehrenswert", die Leute klatschten, Julio bekam eine Münze in die Hand gedrückt. Es sammelten sich immer mehr Neugierige um den spektakulären Apparat, der angeblich Auskunft über die eigene Attraktivität gab. Septimus sah bereits einige Wächter in der Schlange anstehen.
Einer von ihnen, ein Rotschopf in einem knielangen karierten Rock, positionierte sich gerade vor dem Instrument und versuchte sein Glück. Septimus konnte nicht verhindern zu schmunzeln als er durch die Iris den SEALS-Vektor Ruppert ag LochMoloch erkannte. Die quecksilbrige Substanz erreichte bei ihm gerade einmal den Pfeil "niedlich". Er schien sich sehr darüber zu ärgern und schimpfte mit Julio. Sehr zur Belustigung des restlichen Publikums stapfte er beleidigt davon.
Es klopfte.
Septimus ließ das Fernglas sinken und bat herein.
"Hallo Ebel", grüßte ihn die stellvertretende Abteilungsleiterin als sie sich ins Zimmer schob.
Septimus sprang auf, ließ das Fernrohr fallen und salutierte. "Guten Morgen, Chief-Korporal Ziegenberger!"
"Nachmittag, Ebel. Es ist schon Nachmittag", sagte Ophelia ruhig und ließ ihren Blick über die papierne Turmlandschaft gleiten. "Ich habe gehört, das RUM-Archiv ist hierhin verlegt worden."
"Sozusagen", seufzte der Gnom und entspannte sich ein wenig. "Aber bitte nicht nach einer bestimmten Akte fragen."
"Eigentlich hatte ich genau das vor. Ich brauche dringend einen Informanten, der mir erklären kann, wer hinter dem Mord an Janosch Jasager steckt. Unser eigentlicher Verdächtiger hat ein Alibi und ist damit aus dem Schneider. Es könnte aber sein, dass jemand aus den Schatten damit zu tun hat. Und ich muss wissen, wer das sein könnte."
"Ist das nicht eigentlich Kontakter-Sache?", erkundigte sich Septimus.
Ganz leicht schimmerte ein gereizter Tonfall durch Ophelias Antwort hindurch. "Hätten wir einen, würde ich ihn fragen. Aber Pyronekdan ist vorübergehend nicht mehr im Dienst und unser Nachwuchs hat die Ausbildung noch nicht beendet. Ich denke, es ist noch zu früh, um ihn auf Fälle anzusetzen, bei denen keine Fehler gemacht werden dürfen. Mord ist schließlich kein Puppentheater."
Sie sah Septimus fest an und er merkte, dass sie mehr meinte als sie sagte. Sie schien auch auf die Qualität seiner eigenen Arbeit anzuspielen. Er begann zu schwitzen. Sie wusste also vom Grünen Baron. Natürlich wusste sie es. Ophelia entging nichts in der Abteilung.
"Ich...ähm." Septimus sah sich nach Hilfe suchend um. Jetzt ohne Lösung dazustehen würde seine Vorgesetzte nicht gerade milde stimmen. Erleichtert griff er nach der Akte von Guerra. "Ich habe hier
genau das, was du brauchst."
Übermütig warf er ihr die Akte zu, sie wie einen Diskus schleudernd.
Geschickt fing Ophelia sie auf. "Etwas mehr Behutsamkeit mit unserem Arbeitsmaterial, bitte", sagte sie mit erhobener Augenbraue, aber ohne ein leichtes Lächeln ganz verhindern zu können. "Sonst artet das noch zu einem Sport aus."
"Tschuldigung." Septimus räusperte sich. "Übrigens kann ich noch nicht garantieren, dass der Kontakt aktuell ist. Mir fehlen noch viele Informationen, um diesen Sauhaufen in Ordnung zu bringen."
Das sanfte Lächeln verschwand aus Ophelias Gesicht. "Ich verbitte mir eine solche Ausdrucksweise, Ebel. RUM ist eine straff organisierte Abteilung. Gründe für einen erhöhten Aktenaufwand kann es viele geben."
Seine Wangen wurden kirschrot. "Natürlich. Tschuldigung, Mäm."
Die stellvertretende Abteilungsleiterin nickte ernst. Er flüchtete vor ihrem durchdringen Blick, indem er aus dem Fenster schaute. Dort tanzte der bemitleidenswerte Schwarzbär. Jemand hatte ihm eine Halskrause und ein Tutu in der demütigenden Farbe Rosa angezogen.
"Wusstest du, Mäm, dass wild lebende Bären ein Streifgebiet von bis zu hundert Millionen Quadratmeter haben?"
"Wusstest du, Hauptgefreiter, dass du hier für's Arbeiten bezahlt wirst und nicht dafür aus dem Fenster zu schauen?", erwiderte Ophelia trocken und verließ das Büro.
*Er spürte, dass etwas nicht stimmte. Ein Parasit hatte sich in der Stadt niedergelassen. Jemand, der die Regeln brach. Jemand, der die Ordnung störte. Der Grüne Baron konnte es fühlen, als wäre ihm selbst ins Herz gegriffen worden. Sein Pulsschlag, der Pulsschlag der Stadt, vibrierte, das Blut verdreckt, das Ansehen beschmutzt. Das konnte er nicht zulassen. Nicht einen Moment konnte er still stehen bei dem Gedanken, dass ein Mensch Hand anlegte an die Wesen unter seiner Obhut.
Geschwind gab er ein Zeichen, denn er befehligte die Tiere und Pflanzen seiner Welt und sie folgten ihm bedingungslos aus freien Stücken. Sogleich kam ein williger Helfer herangeflogen. Finis, der Hühnerfalke, landete auf dem Dach, gab einen freudigen Schrei von sich, als würde er zur Schlacht rufen, und beugte sich hinab, um seinen Reiter den Aufstieg zu erleichtern. Dieser sprang geschickt hinauf, streichelte behutsam die braunen Federn und flüsterte dem treuen Vogel etwas ins Ohr. Mit kräftigen Flügelschlägen erhoben sie sich, trotzten dem Sog der Erde, zerflossen im windigen Element. *Die Sonne begann bereits sich von der Götterinsel zu verabschieden. Doch der Kreis um die Schausteller wurde nicht im Geringsten kleiner. Ganz im Gegenteil: Er vergrößerte sich. Das Liebes-Messgerät schien außerordentlich beliebt zu sein, aber auch die Kunststückchen des Bären, die virtuose Messerjonglage von Julio und der hypnotisch kreisende Nabel seiner Schwester begeisterten das Publikum jetzt schon seit Stunden. Selbst die Obstverkäuferin und einige der Bauchladenbesitzer schielten von ihren Standorten immer wieder interessiert herüber. Septimus bemerkte, dass eine Zuschauerin sich ganz besonders für Julio interessierte. Schüchtern tauschte Rosmarie vielsagende Blicke mit Julio aus. Diesem hätte sich einmal beinahe ein Messer in den Schenkel gebohrt, weil er mehr auf die hübsche junge Frau als auf seine Hände geachtet hatte. Schon mehrere Male war der Hut des Zylinder-Manns von dem vielen verdienten Münzgeld befreit worden - immer mit einem zufriedenen Lächeln.
Septimus bemerkte ein Frauenzimmer, das sich mit spitzen Ellenbogen Platz in dem Gedränge verschaffte. Ihr Kleid, hochgeschlossen und pechschwarz, ließ außer dem blassen spitz geformten Gesicht keinen Flecken nackte Haut sehen. Die ebenfalls schwarz behandschuhten Hände rückten ihren festen Dutt gerade, bevor ihre Besitzerin sich vor dem Zylinder-Mann aufbaute. Sie schien eindeutig empört oder sogar erbost zu sein.
Der Mann erwiderte etwas und zuckte mit den Schultern.
Die Frau schien daraufhin zu schreien und gestikulierte wild.
Der verdeckte Ermittler griff nach einem Etui mit verschiedenen Linsen, wählte das Gleitsichtglas und steckte es vorne ins Fernrohr. Mehrere Male verschob er das Fernglas, um die ideale
Progressionszone, jene Einstellung, an dem das Bild scharf wurde, zu erreichen.
Jetzt konnte er die wütenden Blicke deutlich erkennen, mit denen die Frau den Familienvater strafte. Sie deutete auf den Eingang der Oper. Dort war zu sehen, wie einige der Besucher aus der Schlange für die Abendvorstellung zum Publikumsring um die Schausteller abwanderten. Sie beschwerte sich wohl darüber, dachte Septimus, dass die Eindringlinge ihr die Kunden abjuchzten.
Der Zylinder-Mann stand ruhig da, mit vor der Brust verschränkten Armen, und ließ scheinbar alles über sich ergehen. Als Septimus seine Miene näher betrachtete, merkte er allerdings, dass es ihm nicht ganz so leicht fiel, wie er es den Zuschauern weiß machen wollte. Der Umweltschützer rechnete jeden Moment damit, dass der Spitzbärtige auf das rabiate Frauenzimmer losgehen würde.
Aber nichts dergleichen geschah. Nur ein energisches Kopfschütteln drückte seinen Unwillen aus, von diesem lukrativen Ort abzuziehen. Er deutete mit einer Handgeste auf die Menschen um sich herum, offenbar hielt er ihr das Argument vor, dass der besseren Unterhaltung auch das meiste Publikum gebührte.
Plötzlich fasste sie seinen Arm und hielt ihn fest.
Daraufhin setzte sich der dümmliche Sohn, ein Berg von einem Mann, in Bewegung. Demonstrativ stellte er sich neben seinen Vater, verschränkte die Arme und sah auf das Frauenzimmer herunter. Diese stille Drohung reichte vollkommen aus, um die Frau zu überzeugen von den Schaustellern abzulassen. Sie drehte ab, keifte aus sicherer Entfernung noch ein paar Worte mit erhobener Faust und verschwand in der Oper.
*Wie ein einzelner verschmolzener Körper brausten sie über die Stadt. Die Silhouetten der Fassaden, nicht alle der Horizontalen treu, schoben sich im schwindenden Licht zusammen. Sein Geist inhalierte süchtig die Eindrücke des Lebens unter ihm, es nach Vertrautem und Fremden durchforstend. Menschliche Konturen schnellten an ihm vorbei, blasse Farben reihten sich im hektischen Wechsel aneinander, wellenartig stiegen Wortfetzen, Radklappern und Geschrei hinauf in die Luft. Alles bewegte sich auf den gepflasterten Äderchen, in den eckigen Nestern, unter der steinernen Haut.
Wieder fühlte er einen stechenden Schmerz im Herzen. Sie näherten sich dem Ziel. Der Grüne Baron verlangsamte die Geschwindigkeit mit nur einem kurzen Wort. Seine Augen suchten angespannt die Erde ab. Da! Dort sah er seine Beute. Es waren mehrere. Sie waren es, die er ausfindig machen wollte. Sie waren die Täter.*Jemand rannte über den Flur "Neiiiin! Die Muffia! Ihr kriegt mich nicht! Ihr kriegt mich nicht!" schreiend. Die vertraute Stimme Sebulons, von Verfolgungswahn bis ins Hysterische krächzend, zerrte Septimus aus der Traumwelt in die sogenannte Realität.
Sie versuchte es jedenfalls. Es gelang ihr nicht ganz. Wach war er nicht. Seine Augen öffneten sich, überrascht kein Tageslicht mehr wahrzunehmen. Sein Denken waberte noch in der angenehm trüben Zone zwischen
dort und
hier oder
hier und
dort, ohne sich so recht entscheiden zu können. Daher kam es, dass er das nun Folgende zwar sah, aber nicht beobachtete.
Seinen Augen war es möglich, durch die schwach flackernden Straßenlaternen einige Bilder widerzuspiegeln. Diese kamen auch in seinem Gehirn an. Aber das war auch schon alles. Die weitere Verarbeitung der Reize wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Diese Taktik hatte Septimus' Denkmuskel schon vor langer Zeit gelernt.
Er
sah einen Zweispänner, der vor dem Operneingang hielt. Der restliche Platz war absolut nachtleer
[4]. Er
sah auch das prüde Frauenzimmer, wie sie die nach hinten gehenden Flügeltüren der Kutsche öffnete. Zwei Männer trugen einen besonders großen Teppich aus dem ehemaligen Prunkgebäude und verstauten ihn unter großen Mühen in dem Gefährt. Sie sah nicht nur zu. Sie spornte an zu größerer Eile, sich fiebrig umsehend. Nachdem die Männer die Stoffrolle hinein geschoben hatten, kontrollierte die Frau, ob alles in ihrem Sinne durchgeführt worden war. Dann schloss sie die Flügel und blickte selbstzufrieden, als hätte sie die ganze Arbeit eigenhändig erledigt. Sie wechselte kurze Worte mit den Möbelpackern, übergab jedem einen kleinen Beutel und gab dem Kutscher das Signal zur Abfahrt.
Das alles sah Septimus. Aber er begriff es nicht.
Schon senkten sich seine Lider wieder, wie von Gewichten heruntergezogen. Schon trat er wieder ein in die Welt der Fantasie. Dort, wo er sich selber gefallen konnte.
*Sachte landete Finis auf einem eisernen Lichtspender. Der Grüne Baron dankte ihm für den erbrachten Dienst, entließ ihn dann in die Dunkelheit, wo der Schlag seiner Flügel langsam in der Ferne erstarb.
Der Held schwang ein Lasso um die Laterne, seilte sich geschwind ab, landete katzengleich, suchte Deckung. Geduckt wie ein Raubtier auf der Jagd schlich er sich zu dem vollgestopften Karren über den ein großes Leinentuch gespannt war. Darunter schliefen die Täter. Ihr selbstzufriedenes Schnarchen zerriss knatternd die Stille. Er würde ihnen nicht weh tun, oh nein. Er würde ihnen anders eine Lektion erteilen. Zuerst galt es dem zu helfen, der sich nicht selbst helfen konnte.
Der Grüne Baron näherte sich behutsam dem atmendem Berg.
'Ich werde dir nichts tun. Ich werde dich erretten', vermittelte er den traurigen Augen. Die Augen antworteten ihm nicht. Jede Art hatte seine eigene Sprache. Wenn der Bär ihn nicht verstand, dann musste er von sehr weit her kommen. Jemand hatte ihn seiner Heimat entrissen, hatte ihm das Plätschern der Bäche, das Grün des Waldes, die klare Luft, die Weite, die Freiheit geraubt. Vermutlich hatte man ihn gestohlen als er ganz jung gewesen war, hatte seine Mutter ermordet, ihn in Eisen gezwungen, sein gutmütiges Wesen gebrochen. Vielleicht war er schon vor langer Zeit verstummt.
Leise versicherte sich der Grüne Baron, dass die nackten Riesen, die Wächter der Qual, schliefen. Dann kletterte er behutsam das dunkle Fell hinauf bis er dem Tier auf der Schulter saß. Es dauerte einen Moment das widerspenstige Schloss zu öffnen. Als er das Eisen entfernte, sah er die blutigen Wunden, die es in den Hals des Gefangenen geschnitten hatte. Benarbt war der haarige Rücken, benarbt auch das sanfte Gesicht.
Der Retter sprang hinab und wandte sich stolz seinem neuen Schützling zu: 'Du bist frei!'
Nichts bewegte sich.
'Lauf! Herrscher des Waldes! Lauf! Kehre zurück in deine Heimat!'
Der Grüne Baron sah den Bären an.
Der Bär sah den Grünen Baron an.
Und blieb, wo er war.*Gefreiter Glimbal Stur betrat Raum 207 nur zögerlich. Mühsam quetschte er seinen etwas pummeligen Körper durch den engen Türspalt und sah sich nicht mit dem erwarteten neuen Kollegen, sondern mit Aktenstapeln konfrontiert, welche die Höhe seines Scheitels problemlos erreichten. "Hallo?"
Niemand antwortete. Aber dem Kontakter in Ausbildung erschien es einen Moment so, als würden die Niederschriften ihn erwartungsvoll anstarren. "Hallo?", wiederholte er etwas lauter. "Ist hier jemand?"
"Du bist frei ... Geh nach Hause!", vernahm er plötzlich, ohne die Quelle dieser Worte ausfindig machen zu können. Ein Schmatzen drang von der Fensterseite zu ihm herüber, dann ein Gähnen und ein verschlafenes "... ähm ... räg ... ja ... was?"
"Hallo?", wiederholte Glimbal jetzt ungeduldiger. "Ich bin doch gerade erst gekommen. Soll ich gleich wieder gehen?"
"Ähm ... krög ... was? Was?!", machte die Stimme. Dann gab sie ein triumphierendes "Ha!" von sich.
"Wie 'Ha'?"
"Ha! Jetzt hab ich dich! Du elender Dieb! Glaubst wohl, ich erwisch dich nicht, he? Dachtest, du könntest hier einfach rein schleichen, he? Und mein Holz klauen, he? Aber so läuft das nicht! Nicht mit dem Grü - nicht mit mir!"
Stur war verwirrt. Vielleicht hatte er es hier mit einem der Streiche zu tun, die alteingesessene Abteilungsmitglieder Neuzugängen gerne spielten. Einige der Anekdoten, die in Rekrutenkreisen umhergingen, waren wirklich witzig
[5], andere glichen eher Schauergeschichten. Er wusste nicht genau, mit was von beidem er es hier zu tun hatte. Daher versuchte er erst einmal ruhig zu reagieren, so wie er es in der Schule für Problemfälle gelernt hatte. "Gefreiter Glimbal Stur meldet sich zum Dienst. Ich soll hier einem Ebel bei der Aktenarbeit helfen. Irgendetwas zu stehlen war nie meine Absicht."
"Ha! Von wegen! Das würde ich auch sagen. Es gibt gar keinen Stur in unserer Abteilung. Alles Ausreden. Gibs zu! Du bist der Dieb!"
Der Gefreite rieb seine Handflächen aneinander. Tatsächlich war es in diesem Büro kühl. "Dass sich meine Zugehörigkeit zu RUM noch nicht herumgesprochen hat, heißt nicht, dass ich nicht Mitglied der Abteilung bin. Und: Nein, ich gebe nichts zu."
"Gibs zu, du warst es!"
"Nein."
"Doch!"
"Nein!"
"Doch!!"
Eigentlich hatte Glimbal Stur keine Lust sich gegen die körperlosen Vorwürfe zur Wehr zu setzen, aber er war durchaus bereit dieses Spiel so lange zu spielen, bis er das letzte Wort hatte. "Nein!!"
Stille.
"Doch."
"Nei-hein."
Noch einmal: Stille.
"Doch."
"Nein."
Wieder Stille. Endlich schien jemand nachzudenken. "Du", fragte die Stimme lauernd, "hast etwas von Aktenarbeit gesagt?" Leise schwang ein Ton von Hoffnung in diesen Worten mit. Sehr leise.
"Ja", bestätigte der Gefreite. "Chief-Korporal Ziegenberger schickt mich. Ich soll mich um die Informanten-Akten kümmern. Mir eine Übersicht über Kontakte verschaffen, mich vertraut machen mit-"
"Du kannst mit den Stapeln aus dem Jahr der unzuverlässigen Krücke anfangen", unterbrach die Stimme ihn harsch. "Außerdem heißt es: Hauptgefreiter Ebel."
"Sehr erfreut", erwiderte Glimbal, ohne den ironischen Ton verschleiern zu wollen. "Und wo bitte finde ich die Akten aus dem Jahr der - oh - sehr witzig. Es gibt kein Jahr der-"
"Hihihi!"
"Wirklich witzig. Ich kann
gerne wieder gehen, wenn meine Hilfe nicht benötigt wird."
"Folge dem gelben Pfad!", brachte Ebel rätselhaft hervor, als er sich von seinem neckischen Kichern erholt hatte.
"Beim nächsten Witz, geh ich", drohte Glimbal.
"Den Maiskörnern, Küken. Dem Mais sollst du folgen."
Der Gefreite blickte auf den Boden und sah vier verschiedene Sorten von Körnern, eine jede verschwand ordentlich hintereinander aufgereiht in eine andere Richtung zwischen den Stapeln.
"Der Mais führt zum Schreibtisch der Hauptgefreiten Mina von Nachtschatten", erklärte der Unsichtbare. "Die Sonnenblumenkerne führen dich zu mir, die Haselnüsse zu Ayure und der Sesam zum Ofen. Aber dahin würde ich an deiner Stelle nicht gehen. Ich habe ein paar Nadeln in den Boden vor den Ofen gesteckt. Zur Sicherheit."
"Ohhhkäääii", machte Stur und schob sich vorsichtig den gelben Pfad entlang. An einer Stelle angekommen, an der er sich halbwegs sicher bewegen konnte, ohne einen Blätterturm umzuwerfen, begann er die Aufzeichnungen grob zu sortieren.
Nach einer Weile raschelnder Ruhe hörte Glimbal wieder die Stimme. Diesmal deutlich nachdenklicher: "Irgendetwas stimmt nicht."
Hektisch versicherte sich Stur, dass er sich nicht in der Nähe des Ofens befand. "Ähm, was denn?"
"Die Schausteller da unten. Einer von ihnen fehlt."
*"Das muss aber nicht unbedingt heißen, dass ein ... Verbrechen stattgefunden hat", schloss Glimbal ab und legte eine weitere Akte auf den Stapel der Informanteninformationen.
Es klopfte.
"Aber du musst zugeben, dass dir das Mord...ähm...das Wort bereits in den Sinn gekommen ist", verteidigte sich Septimus. "Herein!"
"Ich muss gar nichts zugeben", gab Glimbal ernst von sich.
Sebulon, Sohn des Samax, hatte es nicht so schwer das Zimmer zu betreten, wie seine Vorgänger, denn der Gefreite Stur hatte schon so viel Platz geschaffen, dass die Tür sich problemlos öffnen ließ. Viel sehen konnte der Zwerg allerdings nicht, weil sich der Papierbestand noch weiter in die Höhe geschraubt hatte. Er vermutete, dass Septimus auf seinem Lieblingsplatz saß und richtete daher sein Wort in diese Richtung, nachdem er Stur freundlich zugenickt hatte. "Hallo Septimus, ich muss mit dir reden."
"Eigentlich habe ich gerade-"
"-Wichtigeres zu tun. Ja, das kann ich mir denken", vervollständigte Sebulon den Satz des Gnoms und schloss die Tür hinter sich. "Aber ich
muss mit dir reden. Es steht auf meine Liste, verstehst du?"
"Ich brauche keinen Püschologen!"
"Romulus hat es angeordnet."
"Arghg!"
"Ich bin hier, um einen Termin mit dir zu vereinbaren, und, um dich um etwas zu bitten." Der RUM-Püschologe fasste sich nachdenklich in den Bart. "Nun, eigentlich ist es keine Bitte."
"Ich habe bereits einen Termin gemacht. Bei Frän", behauptete Septimus.
"Das ist nicht wahr."
Aufgeregt sprang Septimus auf einen Papierstapel, wo Sebulon ihn deutlich sehen konnte. "Woher willst du das wissen? Kannst du etwa schon in meiner Seele lesen, wie in einem offenen Buch? Pah! Püschologen. Bilden sich ein, sie könnten-"
"Frän ist weg", sagte Sebulon ganz ruhig.
"Wie weg?"
"Weg. Sie arbeitet nicht mehr für die Wache."
"..."
"Du hast also die Wahl zwischen mir", ergänzte Sebulon mit einem verschmitzten Grinsen, "und Jack."
Tock. Tock. Tock. Es pochte kraftvoll an der Tür. Kurz darauf platzte Ruppert ag LochMoloch rasch atmend herein und sah sich verdutzt um. "Oh, Entschuldigung. Und Hallo zusammen. Ich muss das falsche Zimmer erwischt haben. Wollte eigentlich zum Büro des Kommandeurs. Dieser verdammte Umzug."
Septimus konnte sich die Situation einfach nicht entgehen lassen. "Wie
niedlich!", kommentierte er besonders laut.
Der SEALS-Vektor sah den Gnom fragend an, dann blickte er zum Fenster und wieder zurück. "Oh nein. Du hast es gesehen, nicht wahr?"
Septimus grinste schadenfroh.
"Es war mit Sicherheit eine
Messungenauigkeit. Vermutlich ist der Apparat kaputt."
"Aber
sicher doch. Eine Messungenauigkeit." Septimus nickte übertrieben bestätigend. "Klar."
"Ich ... muss jetzt gehen. Bin in Eile."
Damit war das SEALS-Mitglied auch schon wieder verschwunden.
Sebulon räusperte sich. "Wer war das?"
Septimus ignorierte seine Frage. "Deine
Bitte?", erkundigte er sich, die Arme vor der Brust verschränkend.
"Nun, eigentlich ist es keine-"
"Sag schon!"
Der Zwerg holte tief Luft, als müsste er sich für ein Geständnis zusammenreißen: "Ich bin in der unglücklichen Lage ... also ... Wie soll ich es nur sagen? Momentan kann ich nicht exakt auseinanderhalten, welche meine eigenen Gedanken sind und welche nicht. Trotzdem will ich meine Arbeit so gut wie möglich ausführen. Daher wünsche ich, dass du eine...eine Selbsteinschätzung abgibst. Ja, ein von dir selbst erstelltes Profil von dir selbst. Und nicht zu kurzatmig. Ich würde sagen in ... vier Wochen."
Septimus lachte. Erst aus voller Brust mit dem Finger auf Sebulon deutend, dann schwang das Lachen in Verzweiflung um, als er auf die Aktenstapel deutete. "Aber natürlich, Eure Majestät. Ich werde einfach dieses ganze nutzlose Papier in den Ofen schmeißen. Dann hab ichs warm und wir können uns bei einer Tasse Tee zum Plausch hinsetzen."
Diesmal verschränkte Sebulon die Arme vor der Brust. Die Geste wirkte bei ihm etwas imposanter als bei dem Gnom. "Glaubst du wirklich,
ich bin besonders scharf darauf, viel Zeit mit
dir zu verbringen? Du stehst nunmal auf der Liste."
Septimus funkelte Sebulon böse an. Plötzlich wanderte sein Blick den Bart des Zwerges entlang bis hin zu seinem Bauch. "Pass auf, ich mache dir einen Vorschlag", sagte Septimus und rieb sich die Hände. "Du leihst mir das da aus und ich schreibe dir deinen Selbstbericht,
sobald ich Zeit dafür habe. Einverstanden?"
"Den hier?" Sebulon deutete auf seinen Gürtel.
"Ja genau und das daneben. Das kann ich auch gut gebrauchen. Du kriegst, was du willst. Versprochen."
Sebulon zögerte, er traute dem Angebot noch nicht. "Und wann kriege ich sie wieder?"
"In wenigen Tage. Ich gehe gut damit um. Versprochen. Jetzt gib mir sie schon."
"Einverstanden", sagte Sebulon zögern und legte die gewünschten Werkzeuge schweren Herzens auf einen soliden Blätterturm vor sich. "Aber lass dir damit nicht zu viel Zeit. Und die Selbstbeschreibung hab ich in vier Wochen."
"Ja ja", machte Septimus ungeduldig, sprang wieder auf die Fensterbank und griff nach seinem Fernrohr. "Und ich sage es dir, Stur, sie
hat ihn umgebracht."
"Von welchem Fall sprecht ihr?", erkundigte Sebulon, die Bürotür langsam öffnend.
"Von gar keinem Fall", kommentierte der Gefreite, "Es sind nur Spekulationen."
"Pah! Spekulationen!", baffte der Gnom. "Seit gestern schlägt hier eine kleine Gruppe von Schaustellern auf."
"Oh, du meinst diese Vagabunden. Die hab ich auch schon gesehen. Nette Leute. Sie-"
"
Ich rede!" Septimus fasste sich wieder und räusperte sich etwas verlegen. "Sie sind ziemlich beliebt und scheinen der Oper dort drüben ein paar pekuniäre Schwierigkeiten zu bereiten. Gestern gab es einen Streit zwischen dem Zylinder-Mann und Frau Meidemich. Und heute ist der idiotische Klotz unter ihnen verschwunden."
"Frau Meidemich?" Sebulon hielt inne.
"So nennt er die Frau von der Oper", erklärte Glimbal. "Er weiß eigentlich nicht mehr über sie, als dass sie dort arbeitet, sehr streng ist und handgreiflich werden kann."
"Da!" rief Septimus und starrte gebannt durch das Fernglas. "Da ist sie wieder!"
"Wie groß ist sie?", wollte der Zwerg wissen.
"Etwa ein Meter siebzig", murmelte der verdeckte Ermittler.
"Und sie soll den Großen ermordet haben? Der, der immer den Bären hält?"
"Jepp."
"Und wie hat sie das gemacht?"
Jetzt war es Septimus, der stutzte. Brauen zogen sich verstört zusammen.
Sebulon trat wieder einige Schritte in den Raum. "Ich meine, wie bringt eine relativ kleine Frau einen so großen Typen um, mh?"
"Das", gab Septimus widerstrebend zu, "schließt einige Varianten des Tathergangs aus." Dann widmete er sich wieder seiner detektivischen Observation.
"Wir
haben doch noch gar keine
Tat", erinnerte Stur. "Vielleicht macht der Große einfach nur Urlaub."
"Pah! So ein Mann macht keinen Urlaub. Der weiß nicht einmal, dass es das Wort Urlaub gibt. Außerdem würde sich seine Familie sicher für ihn freuen, wenn er Urlaub macht. Ich sehe unter ihnen aber kein einziges freudiges Gesicht. Dabei sind freudige Gesichter ihr
Tschob. Sie sind alle vollkommen niedergeschlagen!" Er fummelte an der Länge des Rohrs herum und fügte hinzu: "Außer der Bär, der sieht ziemlich zufrieden aus."
Sebulon zog Notizblock und Stift hervor. Dabei sagte er nachdenklich: "Schon seltsam, Septimus, dass dir das Verschwinden eines Landstreichers im Getümmel auffällt, aber du nicht merkst, wenn jemand aus deiner Abteilung fehlt."
Langsam notierte er: '
ämotionale Entfrämndung vom sotzialen Umfelt.'
"Da! Sie streiten wieder!" Septimus hielt den Atem an. "Diesmal ist es heftiger. Der Dicke ist ja nicht da, um dazwischen zu gehen. Frau Meidemich zeigt auf den Platz von dem Großen. Oh Wahnsinn! Habt ihr das gesehen? Das war ein klarer Beweis! Sie hat ihn umgebracht!"
Als Septimus bemerkte, dass außer ihm keiner nah genug ans Fenster gelangen konnte, um hindurch zu sehen, sprang er wieder auf die Unterlagen vor sich. "Sie hat
so gemacht!" Dabei zog er mit dem Zeigefinger eine horizontale Linie zwischen seinem Kopf und seinen Schultern.
"Das ist ja wohl eine eindeutige Geste!", rief Septimus triumphierend aus.
"Ganz genau. Nur eine Geste", gab Glimbal zu bedenken. "Das bedeutet nicht, dass jemand umgebracht worden ist."
"Nein", sagte Sebulon nachdenklich, "aber das macht es auch nicht unwahrscheinlicher."
*am Tag daraufIn Raum 207 befanden sich der Gefreite Glimbal Stur, Chief Korporal Ophelia Ziegenberger und die Hauptgefreiten Ebel, Samaxsohn und von Nachtschatten. Man hatte sich mehr oder weniger zufällig dort getroffen. Es hatte sich mehr oder weniger zufällig eine Diskussion um den Fall Meidemich entwickelt. Jeder, der das neue Archiv besucht hatte, war irgendwie dort hängen geblieben. Eine ungefährliche Art von Neugier und der Eifer dabei ein Verbrechen durch Worte zu enträtseln hatten sie dort festgehalten. Septimus' Betrachtungen hatten sich vom gelangweilten Zusehen, zum Hinschauenmüssen bis zu einer detektivischen Obsession entwickelt. Das Spekulieren über das mögliche Verbrechen hatte sie alle angesteckt. Es war eine Berufskrankheit.
"Sie könnte ihn erst in die Oper gelockt haben und da hat sie es getan!"
"Aber sie ist doch viel zu schwächlich für so eine Tat!"
"Och, mit einigen spitzen Waffen könnte sie durchaus-"
"Außerdem hat Größe gar nichts zu bedeuten!", warf Septimus in die Runde.
"Pah!", machte Glimbal.
"Du musst zugeben, dass du den Mord selbst nicht gesehen hast", gab die stellvertretende Abteilungsleiterin zu bedenken.
Weil er dankbar war, dass Ophelia Mitleid mit ihm gezeigt und ihm etwas Unterstützung geschickt hatte, verkniff sich der Gnom einen bissigen Kommentar. Ganz still konnte er aber doch nicht bleiben: "Sie wäre dümmer als ich sie einschätze, wenn sie den Mord direkt auf dem Platz vor den Augen der Wache begangen hätte."
"Frau Meidemich hat vermutlich durchaus nicht den schlechtesten Intellekt", gab Sebulon murmelt von sich, während er seinen Notizblock vollkritzelte. "Bei jemanden, der in ihrer Position für die Oper arbeitet, kann man ein gewisses Mindestmaß voraussetzen."
"Anders als bei unserem großer Freund, der war dumm wie ein Kübel Torf. Sie hat ihn vermutlich mit was Süßem ins Haus gelockt und dann -
Bähm!" Er schlug mit der Faust in die hohle Hand.
"Es
gibt doch gar keinen Mord", seufzte Stur und blätterte in einer Akte.
"
Irgendetwas muss da draußen passiert sein!", verteidigte Septimus seinen Standpunkt in das Fernglas stierend. "Die Stimmung da unten ist total gruselig. Rosmarie und Julio sitzen ganz betrübt zusammen. Die Familie ist am Boden zerstört. Die Händler mit den Bauchläden tuscheln über sie. Die Obstfrau ist heute so verwirrt, dass sie die
Durchmusterungsreihenfolge ihres Obstes durcheinander gebracht hat. Das Publikum um die Vagabunden ist viel größer geworden. Keiner will mehr in die Oper. Niemand will sich dort amüsieren, wo ein Blutbad stattgefunden hat. Oh, ich sag es euch. Da ist etwas im Busch!"
"Ich glaube, du übertreibst ein wenig, Septimus", sagte Mina, verträumt über ihren Schreibtisch streichelnd, der ihr endlich wieder zur Verfügung stand.
Einen Moment sagte niemand etwas. Würden Gedanken Geräusche machen, das Zimmer wäre voll von Ratter-, Klacker-, Schleif- und Huptönen gewesen.
Plötzlich schien Septimus etwas einzufallen. Er begann aufgeregt auf und ab zu hüpfen. Manchmal glaubte er, das half, die Gedanken beisammen zu halten. Es ist nicht sicher, ob es Belieben oder Taktik war, aber in diesem Moment beschloss sein Unterbewusstsein, dass es Zeit für gewisse Nachrichten war. Bilder kamen an die Oberfläche. "Die Kutsche! Die Kutsche! Ich erinnere mich!"
In aller Schnelle berichtete der verdeckte Ermittler von seiner nächtlichen Beobachtung. Er erzählte von der Kutsche, den Männern, dem besonders großen Teppich und dem auffälligen Umherblicken Frau Meidemichs.
"Und du glaubst, sie hat so die Leiche weggeschafft?", fragte Mina kritisch.
"Aber es
gibt doch gar keine Leiche", stöhnte der Gefreite und ließ sich von der Vampirin ein Protokoll reichen. "Sie könnte einfach neue Teppiche verlegt haben."
"Mitten in der Nacht?", entgegnete Ophelia mit einem leicht verschmitzten Lächeln. Dieses Lächeln schenkte sie langsam der ganzen Runde. "Ist eigentlich einer von euch einmal auf den Gedanken gekommen, die Leute, die wir beobachten, selbst zu fragen, was vorgefallen ist?"
*Zwei Stunden später hatten sich die sechs Wächter im Bereitschaftsraum der Abteilung eingefunden. Man hatte sich für diesen Treffpunkt aus Platzgründen entschieden und, weil er ein Stockwerk tiefer lag, was weniger Treppen für den Gnom bedeutete.
"Dann lasst mal hören", forderte Ophelia. Sie hatte dabei ein Funkeln in den Augen, welches verriet, dass sie mehr zu wissen schien als die Wächter unter ihrer Obhut. "Ich bin sehr gespannt auf eure Ergebnisse."
"Gefreiter Stur und ich haben versucht Arthur zu befragen", berichtete Sebulon. "Aber ich habe kein einziges Wort von ihm verstanden."
"Meinst du Altzhaimer Arthur, das Vergessen auf vier Rädern?", fragte Mina nach. "Das hätte ich dir gleich sagen können. Von dem kriegst du keine vernünftige Auskunft. Sei froh, dass er nicht versucht hat, dich mit seiner rollenden Schranktür zu überfahren, auf der er immer sitzt."
"Er hat es versucht", sagte Glimbal, "und er hat dabei ständig gerufen: 'Ich fresse alle'!"
"Nicht besonders informativ." Entschuldigend zuckte der Püschologe mit den Schultern.
"Mina?" Ophelia sah die verdeckte Ermittlerin fragend an.
"Ich habe die Obstfrau befragt", antwortete Mina. "Sie wirkte tatsächlich etwas verwirrt. Sie sprach von dem Bären, nannte ihn ein Untier, was man auf der Stelle schlachten sollte. Sie wiederholte öfter den Satz: 'Die arme Frau Schnürt. Die ist ruiniert, wenn das rauskommt.' Aber Näheres konnte oder wollte sie nicht erzählen."
Ophelias Blick wanderte nach unten. "Septimus? Mit wem hast du geredet?"
"Mit Rosmarie." Der Gnom saß blass und trübsinnig auf dem Boden.
Er sah hinauf. Sein Gesicht gehörte jemandem, der nicht fassen konnte, was er in Erfahrung gebracht hatte. "Der Bär war's."
Einen Moment war es ruhig. Dann kam das obligatorische: "Der
Bär?"
"Keine Ahnung, warum, aber der Bär lief nachts in die Oper. Sein Dompteur ist ihm gefolgt. Er hat ihn gefressen." Er fuhr sich abwesend über den nachwachsenden Bart und ergänzte: "Also, der Bär den Dompteur. Nicht umgekehrt, meine ich."
Die stellvertretende Abteilungsleiterin nickte ernst. "Zuerst wollte ich mit den Schaustellern selbst reden. Aber sie sprachen keine Sprache, die ich ebenfalls beherrsche. Tatsächlich wirkten alle Familienmitglieder sehr traurig und bedrückt. Trotzdem forderten sie mich scheinbar immer wieder auf, etwas mit ihnen zu essen. Sie deuteten in den Mund und wiederholten immer wieder das gleiche Wort. Als ich mit Zeichensprache nicht mehr weiter kam, beschloss ich Frau Meidemich einen Besuch abzustatten. Die Dame heißt übrigens Frau Schnürt, Inge Schnürt." Sie machte eine künstlerische Pause in ihrem Bericht, um die Spannung zu erhöhen. "Frau Schnürt erzählte mir viel von den finanziellen Sorgen der Oper. Und von dem großen Schaden, den sie durch die - nun, sie benutzte ein Wort, das ich nicht wiederholen möchte - Landstreicher erleiden müsse. Vor allem empörte sie sich über die Sauerei, die das zottige Vieh mit seinem Mitternachtsimbiss in der Eingangshalle veranstaltet hat. Der Bär hat sich seinen Meister schmecken lassen. Warum, weiß niemand. Frau Schnürt hat sich auch bei mir beschwert, dass die Vagabunden sich sträuben, die Rechnung für den Abtransport der Überreste zu bezahlen. Sie hat zwei Leute von Herrn König beauftragt, das, was von dem Großen übrig geblieben ist, wegzuschaffen. Eine Quittung konnte sie vorlegen."
"Und warum hat sie den Vorfall nicht gemeldet? Die Wache ist ja wohl wirklich in der Nähe", sagte Septimus vorwurfsvoll.
"Sie hatte Angst, es würde sich schnell rumsprechen, dass es in ihrem Haus der Künste nicht sicher ist", erklärte Ophelia.
"Außerdem handelt es sich streng genommen nicht um Mord", sagte der Zwerg.
Ein langes Schweigen brachte Ruhe in den Bereitschaftsraum. Jeder von ihnen sah etwas bekümmert in die Luft. Keiner wusste so recht, was jetzt zu tun war.
"Schon seltsam." Ophelia war die erste, die wieder Luft holte. "Es gab kein Blutbad, keine
Messerstecherei, keinen Giftmord, keinen Totschlag, kein Attentat. Und wir sind
enttäuscht."
Nachdenkliche Stille folgte auf diese Worte. Jeder einzelne machte sich in diesem Moment Gedanken über seine ganz eigene Fenstermoral. Außer Septimus. Der dachte an etwas Anderes.
Zufrieden blickte der Grüne Baron von den Dächern aus auf seine Stadt. Es war nicht einfach gewesen, aber er hatte es geschafft. Es gab einen Tierquäler weniger. Der Held öffnete die Arme und ließ kräftige goldene Sonnenstrahlen seine Seele wärmen. Es war ihm, als würde er die ganze Stadt umarmen. Die Natur hatte gesiegt."Septimus? Septimus?! Bist du noch da?" Sebulon winkte langsam vor dem Gesicht des Gnoms.
"Wie? Wie bitte?", stotterte Septimus' durchgeschütteltes Bewusstsein, als es bemerkte, dass es sich wieder im Bereitschaftsraum befand.
"Ich habe gefragt, wie lange du mein Werkzeug noch brauchst." Der Zwerg griff an die leeren Stellen im Gürtel. "Ich vermisse es doch etwas mehr, als ich gedacht hätte."
"Du kannst es sofort wieder haben", sagte Septimus.
"Wofür hast du es eigentlich gebraucht?", erkundigte sich Sebulon.
"Och", gab Septimus im Plauderton von sich. "ich habe die Nacht damit verbracht, einige der Holzscheite meines Vorrats auszuhöhlen, sie mit Schwarzpulver zu füllen und zuzustöpseln. Ich dachte mir, wenn der Dieb nicht zu mir kommt, komm ich zum Dieb. Ich bin schon sehr gespannt, wessen Wand bald neu gestrichen werden muss."
Entsetzt richteten sich alle Blicke auf Septimus.
"Was denn? Es war nur ein kleines bisschen Pulver!"
Ein Knall, ein Grollen erklang, Steine vibrierten, Staub wurde unter der Tür hinein geweht, dann roch es nach verbrannten Dingen.
ENDE
[1] Siehe Live:
Feuer!!!.
[2] Wer wissen will, warum, lese:
Quis custodit custodes?[3] Eigentlich hatte es für ihn keine Große Bedeutung. Er fühlte sich generell nicht bedroht durch Vampire. Sein Blut hätte ohnehin nur für eine Zahnfüllung gereicht.
[4] Abgesehen von dem obligatorischen Betrunkenen, der den Weg nach Hause nicht fand. Oder nicht finden wollte, weil er wusste, was ihn dort erwartete.
[5] Wenn man nicht selbst derjenige war, der sie erlebt hatte.
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