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Was wäre, wenn alles anders wäre? Wenn alles so verliefe, wie wir es uns erwünschten? Wäre dann alles anders? ...
Dafür vergebene Note: 12
Schock
Ein paar Tage nach diesem bedrückenden Nachmittag, als trotz des kalten und nebligen Wetters die Gefreite Coccinella Pyrrhula, tief in schwarzen Kreppschleier gehüllt, die ersten Schritte auf die Straßen der Zwillingsstadt setzte, eilte eine Rekrutin scheinbar ohne sie wahrzunehmen an ihr vorbei ins Haus der Näherinnen. Sie seufzte und sah ihr in depressiver Stimmung nach, wie sie die Treppen zum ersten Stock hinauf hastete. Es war still dort drinnen.
"Guten Tag, Rekrutin Maior.", begrüßte der D.O.G.-Abteilungsleiter den Neuling. Er sah irgendwie mitgenommen aus. Gefasst und von beinahe pädagogischer Strenge, dennoch beunruhigt.
"Es dürfte angebracht sein, dass du beim Herunternehmen der Koffer acht gibst. Und wenn der Kutscher dann gleich noch einmal vorbeikommt, will er auch noch seine drei Dollar haben. Gib ihm auch noch ein paar Cent Trinkgeld. Er war diesmal besonders behutsam."
Mit Bestürzung sah die Rekrutin den Hauptmann an.
"Ich verstehe das nicht, Sör,...", brach sie nach kurzer Zeit das Schweigen: "...meine Ausbilderin sagte mir...sagte mir, es sei nicht selten, dass Mitglieder der Wache sterben? Außerdem wundert es mich, Hauptmann, dass Sie so...kühl reagieren. Ihre Kollegin ist erst vor eine paar Tagen..."
Das Beste, dachte Humph in diesem Moment, wäre sicher, ihr die Wahrheit zu sagen und sie darüber aufzuklären, dass dies der Wahrheit entsprach. Seltener, musste er jedoch bereits gedanklich hinzufügen, war es einer der Kollegen. Meistens handelte es sich um Rekruten. Personen, die noch unerfahren waren und die wenigsten aus der Wache besser kannten. Es war eine unfaire Angelegenheit. Er konnte nicht damit rechnen, dass Nyria Maior diese Tatsache momentan verstehen würde.
Schon nächste Woche würde an der Bürotür wieder ein neues Namensschild hängen, Hab und Gut entfernt und der Geruch des ehemaligen Bewohners verlüftet sein. Humph fand schöne und reiche Worte der Hoffnung und Begeisterung, mit denen er sich selbst Mut zusprach. Im Fluss der Grabrede, die er gehalten hatte, entging ihm das Erstaunen, das sich auf seinem Gesicht gezeigt, und sich rasch in Abscheu und Entrüstung verwandelt hatte. Erst zu diesem Zeitpunkt war ihm aufgegangen, in dem Moment, in dem er einen geschätzten Mitarbeiter ein letztes Mal in dessen Anwesenheit geehrt hatte, wie makaber und aberwitzig es war, ausgerechnet in diesem einzelnen Fall unter Anwesenheit der gesamten Abteilung eines ihrer Mitglieder zu verabschieden. Bereits mehrmals war dies der Fall gewesen, alleine der Respekt und die Selbstachtung verdienten eine solche Ehrerbietung. Aber anderen Wächtern, und wieder waren viele von ihnen Rekruten, kam weniger Anteilnahme entgegen. Irgendjemand, Humph entsann sich, hatte einmal bemerkt, wie schade es gewesen wäre, als ein am Vortag erst zum Gefreiten beförderter Rekrut in einer Bandenschlägerei tot geprügelt wurde. Er glaubte sogar, dieser jemand habe noch ergänzt, dass man bitte die Straße kehren solle, natürlich im Scherz. Bedauernd sah Humph die Rekrutin vor seinem Schreibtisch an. Inzwischen wusste er, wie traurig das Schicksal eines Menschen sein konnte, der vom guten Willen seiner Mitmenschen abhing.
Lance-Korporal Breda Krulock und der Gefreite Glum Steinstiefel beobachteten die mit sich selbst hadernde Rekrutin, wie sie mit geduckten Schultern einige Koffer und Taschen die Treppe hinunter trug, um sie im Erdgeschoss zur späteren Mitnahme bereit zu stellen. Die stellvertretende Abteilungsleiterin schüttelte den Kopf. Sie schniefte, woraufhin die anwesenden Näherinnen die gesenkten Köpfe hoben. Wie gewöhnlich lächelten sie ein wenig, wahrscheinlich aus purer Angewohnheit oder weil sie nicht recht wussten, ob sie sich nun betroffen oder gleichgültig verhalten sollten.
Man lebte mit dem Haus.
Breda hingegen hielt seit mehreren Minuten Glums Hand umklammert, mit der anderen trocknete sie sich ihre rot umränderten Augen. Sie waren bereits wund von den vielen Taschentüchern, obwohl sie gar nicht richtig weinte. Glum konnte nicht beurteilen, ob die Vampirin wirkliche Anteilnahme bewies, oder ob sie sie nur vortäuschte. Vielleicht wollte sie mit diesem Schauspiel auch nur dazugehören. Oder sie machte sich einen Spaß daraus. Ganz egal, was es war: Sie war gut darin!
Ohne ein Wort des Abschieds und so rasch es ging, war Helmi Bernstein eben aus dem Haus gelaufen, bestimmt hatte er die Stimmung nicht mehr ertragen, als der Bestatter mit der gezeichneten Kutsche schwankend vor dem Haus gehalten hatte. Der schwarze Lack blätterte überall ab und die Gardinen der Innenfenster hingen schief und vergilbt in der Schiene. Dieser Mensch gab nichts auf den Tod.
Nyria diskutierte einige Augenblicke mit ihm, woraus sich ein heftiges Hin- und Herreden ergab, bevor sie sich hilfesuchend an die, an der Türschwelle wartenden Wächter wandte.
"Er will erst bezahlt werden.", sagte sie mit einem armseligen Versuch gekränkte Würde darzustellen. "Der unverschämte Kerl will nicht eher zurückfahren, ehe er seine drei Dollar hat!"
Leidig begriff Glum die traurige Komik der Lage. Der grübelnde Hauptmann hatte der Rekrutin vergessen die drei Dollar zu geben und sie selbst hatte keine. Rasch zog er seine Börse, eilte nach draußen und erledigte dieses, in seinen Augen morbide Geschäft mit dem unwirschen Mann.
"Ich lasse mir das Geld morgen zurückbringen.", erklärte er seinen Kollegen, die stumm nickten. Der Zwerg und die beiden Mädchen standen am Eingang des Freudenhauses und sahen zu, wie die Leichenkutsche langsam schwankend die Rückfahrt über die stille Springstraße begann.
Mit gepeinigter Unruhe warf Humph MeckDwarf vom Flurfenster aus einen Blick auf die Straße, wo die Rekrutin die Koffer bereits auf der Schwelle niedergesetzt hatte. Wenn das Büro erst einmal frei war, würde alles andere sich ergeben. Die depressive Stimmung würde hoffentlich gemeinsam mit den Koffern Auszug halten. Coccinella Pyrrhula, die es sich anders überlegt hatte und wieder hinein gegangen war stand zusammen mit Harry und Daemon hinter dem Hauptmann.
Daemon wagte es.
"Sör. Ich kannte sie nicht besonders gut...war sie...ich meine..."
Hilflos sah er auf den Gnom hinab.
"...schon gut."
"Ich glaube, ich verstehe, was du andeuten wolltest, Dae.", sagte Humph und wandte sich mit einem schmerzlichen Stirnrunzeln zu ihm um. Mit einem Schlage fühlte er sich müde, so müde, dass er dringend nach Ruhe und Einsamkeit verlangte, um Ordnung in seine Gedanken zu bringen.
"Das Verrückte daran ist...wir alle waren niemals besonders gut mit ihr befreundet oder so etwas...sie war einfach da...gut vielleicht waren Stiefel und Bernstein es. Man hörte es zumindest."
"Und dennoch diese...", begann Daemon und Coccinella schaute ihn böse an.
"Ach was weißt du denn schon? Was kümmert es dich?"
Humph legte die Hände an die Schläfen, als Harry ihn kritisch beäugte.
"Ich habe dich nicht beschimpfen wollen. Ich war nur erschrocken und bin mir vorhin über etwas klar geworden. Nein, ich wollte dich beschimpfen. Geh mir aus den Augen!"
"-OhmeinGott."
Hatscha al Nasa erschrak sich beinahe zu Tode, als Ptupekh ihr von hinten auf die Schulter tippte.
" 'tschuldigung, Määm.", lautete die verschüchterte Antwort.
"Bitte mach das nicht noch einmal."
Zittrig strich sie sich eine Strähne aus den Augen und schloss für einen Moment die Augen. Da war sie. Direkt hinter ihr. Die Tür. Jetzt war der Augenblick gekommen, jetzt musste sie das Zimmer betreten und es genauestens kontrollieren. Sie rieb sich die Schläfen.
"Ptupekh, was gibt es?"
"Ich habe mich nur gefragt, Määm, ob ich das Büro bekommen könnte, jetzt wo es wieder frei wird. Dann bräuchte ich mir keines mit Glum mehr zu teilen."
"Sag mal, empfinden Untote eigentlich noch etwas für Verstorbene?"
"Eher selten, Määm. Uns fehlen die entsprechenden Gefühle."
"Ah. Aber es ist nicht unmöglich?"
"Nein."
"Bei Breda habe ich schon fast einen Eindruck. Was wolltest du?"
"Das Zimmer.
"Es macht dir nichts aus, wie?"
"Nein. Nur das ich mit Glum eines teile."
Hatscha nickte verstehend.
"Na dann komm mal mit hinein. Ich mag es nicht allein machen."
Die Mumie nickte.
Als sie das Schloss klicken hörte, schloss sie noch einmal kurz die Augen und schüttelte den Kopf. Sie drehte den Türgriff, ihre kalte, halb kraftlose Hand schlug die hölzerne Türe zurück, und sie atmete den bekannten Duft des Zimmers, in dem sie noch letzte Woche mit der ehemaligen Bewohnerin diskutiert hatte: der Duft von brennendem Öl, alten Büchern und feuchten Algen.
Aber dann erschrak sie wiederholt und stand regungslos im Kampf mit dem Trieb, davonzulaufen, weit weg von dem Schrecken dieses Augenblicks. Vor dem großen, breiten Schreibtisch sah sie die Besitzerin, deren Gestalt sich in scharfen Linien vor dem Fenster abzeichnete - nicht wie sonst in gerader Haltung wartend, ein warmes Lächeln im Gesicht, sondern mit dem Kopf, den die weißen Hände umspannten, vornübergebeugt auf der grün bezogenen Tischplatte liegend.
Hatscha würgte und krallte sich in Ptupekhs bandagierten Arm, was ihr dieses Gefühl nicht gerade nehmen konnte.
"Määm, geht es dir gut?"
Er hatte ja recht. Gerade jetzt während der Erkenntnis, dass da niemand auf dem Tisch lag, dass dort bloß die gefalteten D.O.G.-Uniformen verteilt waren, die dem Eckschrank von der Rekrutin entnommen worden waren, hatte sie deutlich empfinden lassen, wie sie sich noch am Grab gefühlt hatte. Sie musste den Mut und die Selbstständigkeit zeigen, die man von ihr erwartete - sonst machte sie diese Sache noch zu einem schwachen, empfindelnden und nervenzerrütteten Wesen.
Sie holte tief Luft und schniefte.
"Na Hauptsache...Hauptsache ist, dass du dich hier wohlfühlen kannst."
Kontrolle
Helmi Bernstein stapfte durch den Schlamm der Zwillingsstadt.
Er fühlte sich direkt betroffen. Er hatte die Tote persönlich gekannt. Gemeinsame Zeiten lasteten eben auf der Püsche.
Helmi blieb vor einer Regenwassertonne stehen. Er konnte sich noch ganz klar daran erinnern, an ihre Paranoia, mit der sie jeden Tag irgendwie bewältigt hatte. Stets hatte sie selbst mit dem Tod leben müssen. Ihr Mann war ihr früh verstorben sowie die meisten ihrer Familie. Und der Rest zog sich zurück, suchte seinen Trost an anderen Orten. So war sie selbst nach Ankh-Morpork gekommen, stets Witwenschwarz tragend, aus Furcht des Vorwurfes.
Er hörte noch einmal die Bestürzung, dann aber die jauchzende Freude in ihrer Stimme. Alles, was sie ihr Jungmädchenleben aus vornehmem Hause gelehrt hatte, war in G.R.U.N.D. von ihr abgefallen, hatte Platz gemacht für ein Leben in Ankh-Morpork. Ein kurzes Leben im Schlamm.
Er starrte in die Wassertonne. Sie war voll. Frühlingstau, schoss es ihm durch den Kopf. Davon hatte sie oft geredet. Wenn es im Frühling in der Stadt taute, sagte sie, könnte man sich einbilden sie werde reingewaschen. Dann würden Pflichten und Untaten hinfort gespült werden, immer ein wenig mehr, so wie der Tropfen vom Blatt kullert. Helmi hatte damals ergänzt, dass wenn er schließlich auf dem Boden zerplatzte, deutlich werde, dass er den Staub des Bodens nur verwische, verflüssige, nicht aber hinfort spüle. Dazu hätte es eine große, eine äußerst große Putzkolonne benötigt. Wäre übrigens noch etwas von dem Kaffee da?
Er stöhnte. Sie war ohnehin immer so zuversichtlich und rechtschaffen gewesen.
Helmi glaubte ein Quaken zu hören, als er versuchte über den Tonnenrand zu spähen, der ihm bis zur Nasenspitze reichte. Als er noch einmal lauschte, hörte er das Kreischen.
Mord war es gewesen.
Glum fühlte die stoßenden Schläge seines Herzens. Er seufzte schwer, faltete das Blatt zusammen und ließ es in den Papierkorb fallen. Der Schimmer des Lichts gab durch die Schichten der zugezogenen Gardinen, gerade noch soviel Licht her, dass er die helle Frauenhand, die das Blatt schnell ergriff, hätte bemerken können.
"Nun, daran kann gar kein Zweifel bestehen.", sagte Breda Krulock in weniger sanftem Tonfall, als sie beabsichtigt hatte. "Bloß können wir da natürlich nicht mehr zu weiteren Untersuchungen ran. S.u.SI. meinte ja auch, da gäbe es nichts mehr."
Im Raum der gelben Froide hatte sich die blasse Untote gerade zum Gehen umgewandt.
"Die Geschichte mit dem Kaffeefleck tut mir Leid.", bemerkte der Zwerg noch.
Breda, die kurz in Glums Büro vorbeigesehen hatte, um ihm die Laborberichte vorbeizubringen, die sie noch zur Bearbeitung benötigt hatte, winkte mit einem Blick auf ihre bekleckerten Stiefel ab.
"Ich habe sie Lady Rattenklein noch einmal kontrollieren lassen. Sie meint auch, dass das alle wichtigen Daten zu ihrem Tod waren. Das heißt: alle, die sie durch die Autopsie feststellen konnte. Jetzt ist sie unter der Erde."
Wenn Glum nun widersprochen hätte, so hätte ihm dies unbedingt einen vampirtypischen, hochmütigen Blick aus zwei wunderschön-grünen Augen, an denen seine Karriereträume hingen, beschert. Nun...weshalb sollte er auch widersprechen? Aus Trotz? Oder aber auch weil...
"Wir sind noch keinen nennenswerten Schritt weitergekommen in dieser Sache.", stellte er fest, dabei die Arme verschränkend. Inzwischen war ein Abglanz untergründiger Besessenheit in seinen Augen erschienen, und Breda hatte die Empfindung, dass es die Augen eines Spielers waren, der jetzt seinen höchsten Einsatz wagte und nun wie ein fanatisch Verzückter sprach.
"Willst du mir damit etwa dezent sagen, das läge an mir?"
Matte Deutlichkeit schwang unverkennbar in jedem Wort mit und beinahe glitt dem Zwerg die Schreibfeder aus der Hand. Mit bleischweren Füßen rutschte er von seinem Stuhl und schlurfte irritiert zur Tür.
"Nein, natürlich nicht. Wie kommst du darauf?"
"Sie war deine Freundin, nicht meine."
"Siehst du? Deshalb ist es ja so bedrückend, dass uns noch immer Spuren fehlen..."
"Ja."
Ein wenig unschlüssig standen sie nun beide vor der Türe.
"Hm...ich denke, ich mache für heute Schluss.", sagte Glum.
Geräuschlos zog er die Tür auf und trat in den trist-hellen Flur. Breda folgte ihm, als Goldi ihnen im Vorbeigehen zunickte und in Richtung Lager schlurfte.
"Mein Gott. Hier laufen ja alle herum, als sei das zum ersten Mal passiert. ", klagte Breda mit melancholischem Klang in der Stimme.
Sie macht das wirklich gut!, dachte Glum, kommentierte dann jedoch: " Sag das lieber nicht zu laut. Ich habe das Gefühl, Hatscha ist ein wenig schreckhaft geworden."
Er stöhnte und warf dabei den Kopf in den Nacken.
"Ich hätte Lust auf den Eimer. Was ist mit dir, Määm?"
Glum schielte hinüber zu seiner Vorgesetzten.
Doch als er keine Reaktion deuten konnte, zuckte er mit den Schultern.
"Ich frage die anderen mal."
Er verschloss er die Türe und das Büro versank in Dunkelheit.
Mit glänzenden Augen hatte sie zugehört und nun schüttelte Coccinella Pyrrhula im Düsteren den belockten Kopf. Sie warf das Blatt Papier ärgerlich wieder zurück in den Korb.
"Nur Kritzeleien. Sieht so etwa Ermittlungsarbeit aus?"
Helmi stand mit kalkweißem Gesicht über der Frauenleiche. Ein Messer steckte zwischen ihren Brüsten, die Bluse war geöffnet und ihre feine weiße Haut schien neben dem dunklen schwarz-roten Blut beinahe zu blenden. Langsam fanden sich um den Zwerg Schaulustige ein. Unendlich langsam hob er den Blick zum Balkon im ersten Stockwerk über ihm, über den die Braungelockte gestürzt, vielleicht auch gestürzt worden war. Dort standen die Türen offen und feine, weiße Gardinen wehten wie Leichentuch hinaus in die graue Luft. Der Atem Helmis entwich in weißen Wölkchen, als er sich vor die Frau kniete. Prüfend streckte er Zeige-und Mittelfinger aus, um die Halsschlagader der jungen Frau zu berühren, doch kurz bevor er sie berührte fiel ihm etwas auf.
Am oberen Griff des Messers war an einem Stück Kordel eine Quittung gebunden.
Helmi drehte sie, sodass er sie lesen konnte.
Zitternd und mit weitaufgerissenen Augen starrte er noch immer darauf, als Ruppert ag LochMoloch keuchend seinen Umhang abwarf und mit fahrigen, überhasteten Bewegungen den Zwerg am Arm fasste.
"Nein, Helmi.", erklärte er mit aufsteigender Furcht: "Du darfst die Leichen nicht berühren. Erst müssen die SUSEN da ran. Das ist keine echte Quittung."
"Ruppert, w-woher...?", begann Helmi paralysiert, während er hoch und ein paar Schritt weit von der entblößten Frau gezogen wurde.
"Auf Patrouille, ich hab's auch gehört. Hör zu.", sagte er und zwang Helmi ihm in die Augen zu sehen.
"Du gehst jetzt zum Pseudopolisplatz und gibst den SEALS und SUSEN Bescheid, klar? Mach schnell, man soll dir dann dort sagen, was Sache ist, verstanden?"
"J-ja-"
"Gut, dann lauf."
Helmi lief taub los.
Und er fand es furchtbar, jemandem so etwas anzutun.
Die Dämmerung zog über den grauen Himmel der Scheibenwelt und vertiefte die Schatten des blassen Tages. Heute hatte er Angst im Dunkeln.
Rückzug
Ach was, Patrick hatte natürlich alles in seiner übergroßen Phantasie übertrieben. Nach einem guten Schluck Hochprozentigem kramte er immer gerne alte Märchen hervor. Wer glaubte ihm schon, er wäre einmal in einem Einsatz ganz aus Versehen in das Umkleidezimmer in der Näherinnengilde gekommen und der Schlüssel wäre dabei abgebrochen? Dalja jedenfalls nicht.
Lauter Lacherfolg von Seiten der anwesenden Herrenabteilung lohnte den wohlgezielten Bericht des Redners. Unter den Damen versuchten ungläubig erstaunte Gesichter einander zu finden und ein allgemeiner Wettstreit im Naserümpfen entbrannte. Zum Glück hatte sie sich an dem Lachausbruch nicht beteiligt, aber auch der Ausdruck beseligtem Hingegebenseins, mit dem sie zu Patrick vorhin noch aufgeblickt hatte, war aus ihrem Gesicht, das jetzt nur mehr ruhige Aufmerksamkeit verriet, verschwunden. Der große Mann war jetzt zum Kern seiner Ausführungen gelangt.
"Natürlich stand ich dann da und alle starrten mich an. Und dann kam die Blonde zu mir und meinte, ob ich hier nicht falsch wäre und ich sagte ihr, das glaubte ich auch und dann hat sie mir den Zweitschlüssel holen wollen und als sie sich dann umgedreht hat..."
"He, Herr Käse, wir hätten gerne noch eine Runde Bockbier für alle.", rief Humph dazwischen, sah dann wieder fasziniert zu Patrick auf, der inzwischen auf seinen Stuhl gestiegen war und die Arme ausgebreitet hatte. Er sah ärgerlich zu seinem Vorgesetzten hinunter.
"Also Hauptmann...", sagte er beleidigt: "...du hast meine Pointe vermasselt."
"Entschuldige, Pat. Rede weiter."
"Danke. ...also sie drehte sich um und dabei verr-"
"Herr Käse, bitte auch noch etwas von der Tintenfischsauce, ja?"
"Arwan!"
"Ja?"
Jetzt hast du mich unterbrochen!"
"Ja."
"Ich nehme an, du weißt wie die Geschichte ausgeht?"
"Ja. Wahrscheinlich ist ihr das Kleid verrutscht."
"Nein, wie denn, sie trug ja keines."
"Jetzt will ich's wissen.", neckte Arwan den Korporal mit vollem Mund, der nun wieder die Arme erheben wollte um fortzufahren.
"Ja. Gut. Schön. Wer nicht? Also ihr Tuch verrutschte..."
"Dann hatte sie ja doch etwas an."
"Ich bin mir ziemlich sicher, Arwan."
Genervt rollte Patrick mit den Augen und setzte sich mit hochrotem Kopf auf seinen Platz.
Arwan nickte eifrig.
"Ja? Was war denn das für ein Tuch?"
"Ein Leintuch! Ein schwarz-..."
Die allgemeine Stimmung sank augenblicklich zurück auf ihren Tiefpunkt und jeder starrte gebannt in sein jeweiliges Getränk. Auf einmal fiel ein Schatten über Patrick. Mit lähmendem Schrecken hörte er eine etliche Monate alte Stimme.
"Verzeihung? Bist du vielleicht der stellvertretende Abteilungsleiter? Ich soll mich hier melden..."
Noch bevor er den Mut aufbrachte, um das Gesicht, das er hinter sich befürchtete anzusehen, war ihm klar, wer die Worte sprach, wessen Hand sich schwer auf seinen Arm legte. An der lieben, weichen Stimme erkannte er sie. Wilde Empörung stieg ihm bis an den Hals. Er sah in ihr den bösen Geist, der für diese miserable Stimmung sorgte. Wie kam sie nur hierher und trat ihm in den Weg, im letzten Augenblick, der ihn noch von der Heiterkeit trennte? Er stieß die Hand beiseite, wirbelte herum und schrie zum Entsetzen aller und zur Verunsicherung Herrn Käses hinter ihm: "Verdammt! Tote reden nicht!"
Immer schneller flossen die warmen, schwachen Tränen über sein frostkaltes Gesicht - und Helmi hatte nicht einmal eine Hand frei, sie zu trocknen. Mit ihnen musste er sich den Bauch halten, in dem es laut rumorte. Als er das Straßenschild zum Leichenweg las, hörte er sein eigenes gallenbitteres Lachen. Er warf einen Blick hinaus auf den gurgelnden Ankh, auf dem ein schlankes Schiff gemächlich durch den wasserhaltigen Schlamm schmatzte. Ein Deckarbeiter stand auf dem Vorderdeck und signalisierte mit blendenden Lichtern zu beiden Seiten des Kanals den anderen Arbeitern, welche Masten und Takelagen sie senken mussten, um die neue Brücke passieren zu können. Obwohl er in dieser Stadt aufgewachsen war, verspürte er bei diesem Anblick ein gewisses Heimweh. Und er stellte sich vor, dass sie dort oben stehen würde und ihm mit den Lichtern winkte, dass ihr plötzliches Fehlen in seinem Leben dadurch zu begründen war, dass sie die Stadt verließ. Vielleicht für einen kleinen Urlaub. Und er dachte an das abendliche Zimmer mit dem stillen Frauengesicht unter dem goldleuchtenden Schein der Öllampe. Er glaubte den Duft des Zimmers förmlich zu spüren. Auch sie hatte zu den wenigen Personen gehört, die ihn so mochten, wie er war. Gewissen...? Reue...?... Nein, nein, an so etwas zu glauben lenkte nur ab.
Doch das Bild einer lieben Freundin, ihr ruhiges friedvolles Gesicht, lächelte ihn mit schmerzvoller Greifbarkeit an. Jetzt hatte er noch seine Kollegen. Und natürlich den Zwerg von nebenan. Dieser alte Zwerg mit den unergründbaren Gefühlen. Er war in diesem Sinne kein Ersatz. Glum Steinstiefel konnte zwar die gleiche treue Schulter für ihn darstellen, an der er sich trösten konnte, doch ihm fehlten das behutsame Paar Arme, die bereit waren, ihn zart und schützend zu umschließen.
Nun war sie fort. Und er war frei von dieser Abhängigkeit. Frei. So musste er es sehen. Freiheit bedeutete etwas Positives. Frei.
...Wo war sein Selbstvertrauen?
Goldie war nicht mit den anderen mitgegangen.
Sie wollte später dazu stoßen und sich vorher noch ein kurzes Nickerchen gönnen. Jetzt, wo sie allein im Boucherie war, abgesehen vom bewegten Leben im Erdgeschoss fühlte sie sich...nun, allein. Aufrecht saß sie in ihrem Bett, die Decke so gewickelt, dass nur der Kopf heraus schaute und seufzte. Ihre klaren blauen Augen, in denen nach 122 Jahren noch immer die neugierige Lebenslust der Kinderjahre aufflackern konnte, verloren ihren Glanz, als sie sich von dem Spiegelbild ihrer Selbst abwandte, das sie in der Scheibe an der gegenüberliegenden Wand betrachten konnte und den Holzdielen begegneten.
Sie hob die Arme an, strich die Decke beiseite und griff zu dem kleinen Beistelltisch, goss sich ein drittes Glas Bourbon ein, dass sie in einem Zug hinunterstürzte. Es war ja nur ein Schnapsgläschen voll.
"Als ob es nicht das Allergesündeste für die Stadtwache wäre,...", murmelte sie: "...dass man ein bisschen Bescheid weiß über die Unglücksfälle, die einen hier erwarten können. Dann steht man nicht mit offenem Mund da, wenn wirklich einmal etwas passiert. Apropos...offener Mund..."
Ein viertes Gläschen folgte.
"Vielleicht ein Kursus? Einmal im Jahr? Gott, schmeckt das widerlich..."
Sie wippte ein wenig mit den Zehen, ehe sie sich erhob und die Flasche verkorkte. Dann brachte sie sie hinüber zu einer Kommode, begann mit umständlicher Vorbereitung einen Schlüssel hinter einigen Büchern hervorzukramen und drehte das Türschloss auf. Mit einem Stöhnen beugte sie sich hinunter, die Flasche in das obere Fach zu schieben, als ihr Blick auf einen Brief fiel, der glatt gestrichen, allerdings mit einigen anderen Papieren zusammen in das Fach darunter gestopft worden war. Sie zog es heraus und überflog es. Noch immer vornübergebeugt, die Bourbon-Flasche in der rechten Hand, den Brief in der linken starrte sie zwischen ihren Füßen hindurch am Blattrand vorbei auf die Dielen. Im Stockwerk unter ihr war sie noch vor ein paar Tagen herumgeschlichen. Nach ihrem Tod hatte man sie in ihrem Büro einen Tag lang aufgebart, ehe sie zur Autopsie gebracht worden war. Die ganze Abteilung hatte nicht schlafen können. Goldie hielt die alte Ausbildungsbescheinigung in der Hand.
Was für ein Verlangen nach Bildung, nach Ausbildung legten alle diese Rekruten an den Tag. Schlimmer noch, nach selbstständiger Bildung verlangten sie. Sie wollten die harte Praxis der Gerechtigkeit erleben. Und dann starben sie. Was für ein Unwert des Daseins!
Genau genommen...konnte man dies für vieles auslegen.
Goldie seufzte, schob beides in die Kommode, verschloss sie wieder und deponierte den kleinen Schlüssel hinter ihren Büchern.
Es war ihr für einen Moment, als liefe jemand über den Flur...
Hatscha hatte beschlossen, diesen Abend nicht mehr von Ptupekhs Seite zu weichen.
Ihre eigene Ängstlichkeit hatte sie derart geärgert, dass sie ihm aus Versehen eine Binde gelockert hatte, als sie sich in seinem Arm verkrallt hatte. Es hatte sich merkwürdig angefühlt. Nun saß sie mit der Mumie, Hauptmann Llanddcairfyn, Laudes und Kannichgut Zwiebel im Eimer an einem Ecktisch. Der große Tisch in der Mitte hatte sich aufgelöst und sich in Grüppchen zusammen gefunden.
Um die Wächter, die nicht der D.O.G. angehörten tat es ihr Leid, so zum Beispiel um Kannich, aber auch er erblickte in den verschlossenen und abgetragenen Uniformen der Anwesenden heute Abend nicht gerade Prachtstücke der Wachebelegschaft.
Während die gespannte Aufmerksamkeit der Versammlung ein wenig nachließ, da der Alkohol die Glieder und Gemüter allmählich schwer werden ließ, wanderten Hatschas Gedanken aufs Neue umher.
"Hm...", machte sie. Sie blickte hinüber zu dem Tisch, an dem Humph, Dalja und Fähnrich Mambosamba irgendein Kartenspiel spielten. Gerade gesellte sich Arwan zu ihnen.
"Da ist Kanndra. Hab ich ja noch gar nicht bemerkt...", murmelte sie.
"Hm?", horchte Daemon auf. Er hatte aus einer Laune heraus heute wieder etwas mehr getrunken.
"Ich sagte, da ist Kanndra. Sie soll mit Julian ja sehr glücklich sein. Ein Kind ist unterwegs."
Chief-Koporal al Nasa wandte den Kopf.
"Ob sie auch schon einmal jemanden...hatte?"
"Warum nicht?", warf Laudes ein. "Vielleicht hatte sie ja das Glück ihren Märchenprinzen zu treffen. Ihr wisst schon. Der mit dem großen weißen Pferd. Der die holde Maid mit sich nimmt...um sie dem Glauben zu bekehren und so..."
"Na sie wird ihn wohl nicht gehabt haben, sonst wäre sie ja nicht bei der Wache gewesen, sondern mitgenommen worden."
"Wohin denn?", erkundigte sich der einzige S.E.A.L. am Tisch, hoffnungsvoll etwas Konstruktives beizutragen. "Wohin reiten Märchenprinzen mit weißen Pferden?"
Laudes zuckte mit den Schultern.
"Dahin, wo es schön ist, nehme ich an."
"Und dafür muss man ein Prinz sein?"
Kannichs Ohren begannen zu glühen.
"Naja, das nicht gerade...", bemerkte Llandcairfyn und griff verwegen zu seiner Flasche 'Kronenbräu'. Das Bockbier stieg ihm allmählich wirklich zu Kopf. "Man muss nur die passenden...Argumente haben...als Mann..."
Ptupekh blickte irritiert seine Tischgenossen an, die allesamt zu verstehen schienen.
"Was?", fragte er. "Was denn für Argumente?"
Daemon schielte ihn an.
"Gewisses Gerät...äh...Wunderstäbe."
"Wunderstäbe? Die man anzünden kann? Die dann oben solche Funken versprühen?"
Nachdenklich sah er auf die Tischplatte.
"Ich glaube, ich hab' mal einen in einem Geburtstagskuchen gesehen..."
Unter den ungläubigen Blicken gab er etwas Seufzer-Ähnliches von sich.
"Ist mir zu gefährlich. Was, wenn meine Binden Feuer fangen?"
"Ich glaube es geht dabei ums Feuerfangen, ja.", ergänzte Hatscha nach kurzem Überlegen.
Das Lachen der anderen ließ sie aufatmen.
Na endlich, dachte Hatscha. Sie lockern sich auf und denken an andere Dinge.
"Requiescat in Pace.", zitierte sie flüsternd den Grabstein. "Sie ruhe in Frieden."
Rückkehr
Harry überflog rasch die Unterlagen. Man hatte Ikonographien dazugelegt, die wahrscheinlich nur den an solche Anblicke gewöhnten S.u.SI.-Mitarbeitern nichts mehr ausmachten. Natürlich sah er solche Bilder nicht zum ersten Mal, allerdings war er auch nicht gerade in der Stimmung, sich mit Leichen zu beschäftigen. Neuerdings reagierte er ein wenig überspitzt auf bleiche Mädchen. Himmel, das konnte einen aber auch im Griff halten.
Lady Rattenklein schielte ihm über die Schulter. Allmählich schien sie Gefallen daran zu finden, dem Gnom solche Schauerlichkeiten vorzuhalten. Mit Grausen erinnerte er sich an eine der jüngeren Obduktion, in der mit ansehen musste, wie Huitztli einer Leiche die Brust aufsägte.
"Jedenfalls haben sie sich auf eine bestimmte Art der Weiblichkeit spezialisiert. Das ist verdammt auffällig. Merkwürdig, dass das noch niemandem aufgefallen ist, hm..."
Harry neigte den Kopf.
"Und das wären Mädchen welchen Typs?"
"Etwa 1,70 groß, braune Haare, oft gelockt, blass und mit schönen Lippen. Außerdem hatten drei von ihnen Magengeschwüre, wahrscheinlich weil sie so unverschämt dünn waren.", sagte Lady Rattenklein, ihren Bauch betrachtend. Nachdem Harry mit verzogener Miene aufgrund eines Würgereizes die Ikonographien beiseite gelegt hatte, nickte sie gehässig.
"Recht so!"
"Ich hoffe, Ratti, das galt nicht den Toten. Oder mir. Oder doch?"
"Weil die so dünn sind? Nö."
"Was?"
Sie blickten sich irritiert an.
"Ich finde es schrecklich,...", begann Harry schließlich und seine Augen zuckten dabei nervös: "...dass es dich nicht abschreckt und nicht die weibliche Scheu in dir wachruft, die normale Menschen für solche Dinge empfinden."
Die Gnomin blinzelte, setzte mehrmals zu einer Antwort an. Nach einigen Sekunden erhellte sich dann allerdings ihre Miene und sie klopfte laut lachend auf Harrys Schulter. Eine weiche Wehmut hatte sein sonst so klug-scharfes Gesicht völlig verändert.
"Aber Harry, alter Sologänger..." Die Laborantin war entrüstet und zu Harry Unmut, sehr nahe an die Schreibtischkante gesprungen, führte mit ihren anmutigen Armen eine etwas theatermäßige Gebärde aus. "Lass dir bitte ein für allemal gesagt sein, dass meine Arbeit mit dem, was mich anreizt nicht das mindeste zu tun hat. Wovon ich spreche ist, dass wir einen Hinweis auf mögliche Opfer haben." Auf unverschämt schlanke Opfer! "Und außerdem haben wir den Beweis ja quasi im Haus, nicht wahr?"
Harry fing an ungeduldig zu werden.
"So in etwa, ja. Erinnere mich bitte nicht an diese Sache. Das macht mich noch ganz kirre. Aber...bitte; du weißt ja - ich lasse mich gerne belehren."
In der Spiegelung eines Bilderrahmenfensters sah die Gnomin wohlgefällig den Biegungen und Dehnungen ihres schlanken Körpers zu. Miststücke!
"Du scheinst ja einen gründlichen Lehrgang in Lebensweisheit durchgemacht zu haben in den...ja, es sind drei Wochen, dass ich dich das letzte Mal gesprochen habe.", sagte sie.
"Verkneife es dir bitte. Und jetzt stell dich gerade hin oder ich muss weggucken."
Eingeschnappt wedelte die Lady mit der linken Hand in der Luft herum und schob mit der rechten die Berichte noch einmal zu ihrem Vorgesetzten hinüber.
"Also, wenn wir uns den Sachverhalt noch einmal ansehen, dann lässt sich folgendes sagen: Diese Typen erstechen einen bestimmten Typ Frau, vielleicht ein Faible, vielleicht für die Pablissitie, auf jeden Fall gehen sie dabei nach den Markenzeichen der Assassinengilde vor. Will heißen: sie stellen Quittungen aus. Somit soll es den Anschein haben, als handle es sich um bezahlte Auftragseingänge, die die richtige Gilde erhielt, nicht um eine Organisation, die auf eine Manipulation hinaus ist. Irgendwelche Einwände?"
"Lass dich nicht aufhalten.", kommentierte Harry und hob abwehrend die Hände.
"Was sie tatsächlich bezwecken, wissen wir nicht, sind aber an der Sache dran. Die von der Streife sind außerdem der Meinung, die Bande, die dahinter steckt wäre allgemein hochgefährlich. Denn wie auf diesem Bild hier zu sehen ist...nein, das ist kein Bild von 04...da ist es, sieh es dir ruhig noch einmal an, ich glaube, du kennst es noch nicht...was fällt dir da auf?"
Harry beugte sich über die Abbildung.
"Sie äh,... hm, also...das Messer würde ich sagen, es steckt noch...das vielleicht?"
"Wohl auch, hm...eigentlich meinte ich ja eher worauf sie liegen. Nämlich auf der Straße. Sie liegen immer auf der Straße. Ein weiteres Anzeichen für mögliches Sendungsbewusstsein."
"Verstehe.", stellte Harry fest. "Sie legen es auf Provokation an."
"Ja. Und sie wollen sichergehen, dass ihre Opfer auch wirklich tot sind. Die Messer sind vergiftet. Deshalb haben sich schnell Entzündungen an den Lungenflügeln gebildet. Selbst im Nachhinein noch."
"Ach du je...und das schon bei fünf Mädchen...bleibt nur zu ho..."
Er unterbrach sich und schielte mit einem zu einem 'O' geformten Mund zur Tür hinüber.
"Ein Lauscher.", flüsterte Lady Rattenklein ihrem Kollegen zu und stemmte die Hände in die Seiten. Sie nickte auffordernd zu der Person im Türrahmen, die sich mit verstörtem und gerötetem Gesicht orientierungslos im S.u.SI.-Laboratorium umsah, und dabei die beiden Gnome nicht bemerkte.
"H-Hallo?", stammelte Helmi in die kurze, nur von leisem Blubbern unterbrochene Stille hinein.
Nachdem das eifrige Stühlerücken verklungen war, empfing die zum großen Teil angetrunkene Gruppe eine frische Kühle. Dalja wandte beschämt den Blick von Patrick ab, der vom ebenfalls leicht wankenden Daemon gestützt wurde.
"Vier bemerken mehr al...ls ein Anseischen,...", drang es an ihr Ohr. "...dass...dass bei der schöneren 'älfte der Menschheit ein Akt vorgenommen wird, der da-has Bestreben...äh, ne das die Ermutig'nung findet, das nach dem bisher allein dursch das männliche Geschlecht betreuten Gebiets der ge...geleerten Studein oder wie man das jetzt nennt,...jedenfalls in der Ausbildung schum Wächter...alscho...Proscht!"
"Darauf lasst uns trinken.", zitierte Arwan hicksend und kreuzte torkelnd Daemons Navigationsversuche.
Ein leises Summen, das die geweckte gute Laune verriet, machte sich in der Gruppe breit, lächelnde und frohgemute Gesichter wandten sich gegenseitig zu. Dalja sprach Glum an, der ein wenig weiter vor ihr lief.
"Ob so oder so, Gefreiter, aber ich werde hier noch verrückt. Er hier macht mich verrückt. Sie macht mich verrückt. Alle beide machen mich verrückt."
Der Moloss blickte über die Schulter zu ihr. Obwohl er an diesem Abend mit Sicherheit so einiges an Bockbier intus hatte, gelang ihm dies ohne zu straucheln, torkeln oder nennenswert zu schwanken.
"Ob er nun dich verrückt macht, oder du ihn verrückt machst, tut wenig zur Sache, findest du nicht? Worauf es ankommt, ist, dass es ein für allemal mit dieser tristen Stimmung aus sein muss!"
" 'e...'e Gefreiter,...", ließ sich dessen früherer Ausbilder von weiter hinten vernehmen. "...ich bin kein grüner Junge mehr und ich peife auf...'uch, da is mir wohl was ausgekippt..."
Auch Humph war noch weitestgehend in nüchternem Zustand. Unter Arwans verkniffenem Grinsen lugte er, der zuvorderst ging nach hinten.
"Na, Pat? Geht der junge Herr heute Abend etwa auf Freiersfüßen?"
Stille folgte.
Dann verfielen sie in lautes Lachen, bis auf Patrick, der den Grund nicht verstanden hatte. Er blieb auch für die nächsten Minuten noch still, selbst als ihm Breda aufmunternd auf die Schulter klopfte. Offenbar hielt er dies noch immer für einen minderwertigen Scherz.
"So.", rief Glum mit rötlicher Nase irgendwann ins Gemurmel der einzelnen Grüppchen. "So, auf geht's in zweite Runde. Wer morgen nicht arbeiten muss, ist herzlichst eingeladen."
"Was ist mit da vorn?", sagte Laudes angeheitert und deutete in eine Straße rechts von ihnen."Da scheint was los zu sein."
Sie sahen genauer hin.
Ruppert riss es von den Beinen, als er beiseite gestoßen wurde. Er spürte einen heißen Schmerz, ein Knacken, dann das harte Kopfsteinpflaster der nassen, verdreckten Straße. Für einige Sekunden lang blitzte es unangenehm grell vor seinen Augen, dennoch rollte er sich augenblicklich zur Seite und trat vorsichtshalber nach dem Angreifer. Er trat in leere Luft. Schnell hob er den Kopf, nur um einen in Schwarz gekleideten Mann mit Kapuze zu erhaschen, der sich mithilfe von Drohgebärden und einem Messer eine Gasse durch den Mob bahnte, dann fiel er schmerzerfüllt wieder zurück.
Laute Rufe und Applaus kündigten von der Ankunft weiterer Uniformierter und der S.E.A.L. vernahm durch den Schleier, der seine Sinne vor dem Hier und Jetzt abschirmte eine bekannte Stimme.
"Weg da! Aus dem Weg, sag ich!", brüllte Humph MeckDwarf.
Ruppert schmeckte halb benommen sein Blut auf seinen Lippen und lies sich sinken. Er schloss kurz die Augen und als er sie wieder öffnete, beugte sich ein Engel über ihn. Sein Kopf wurde vorsichtig angehoben und auf weichen Knien gebettet.
Hatscha winkte mit einer Hand vor seinen Augen.
"Hallo? Ruppert, bist du noch bei Sinnen? Zwinker mal!"
"...'a...", murmelte er. "...Mörder...da...weg...binnichtot?"
Er hob zitternd den rechten Zeigefinger und streckte ihn von sich weg.
"Ja, schon gut.", beruhigte ihn die D.O.G.-Mitarbeiterin. "Wir sind dran. Pass auf, ich lege jetzt deine Beine anders..."
Sie winkte jemanden herbei, den der Hauptgefreite nicht erkennen konnte.
"Laudes, mach mal das Taschentuch hier nass..."
Breda, Humph, Ptupekh und Glum wetzten hinter dem Flüchtling her.
Es war verwunderlich, wie viele Passanten um diese Zeit noch unterwegs waren.
"Zum Donnerwetter noch einmal!", brüllte der Abteilungsleiter. "Bleib stehen, du Hund!"
Eine ältliche Dame mit weiß-blondem Haar diente dem flinken Mörder als Hindernis. Er stieß die kreischende Frau schlichtweg beiseite, sodass die Verfolger über sie hinweg springen mussten. Ihr Blütenhut segelte auf die Straße und Ptupekh schlitterte einige Meter weit, bevor er sich bemühte zum Rest aufzuschließen. Etwas krachte. Und ein verlassener Stand brach zusammen. Fische rutschten über den Boden, was Ptupekh endgültig stürzten ließ, während Breda die Gelegenheit nutze zum Sprung anzusetzen und ihrem Selbst eine neue Bestimmung zu geben. Der Himmel über Ptupekh verdunkelte sich, als ein Schwarm Fledermäuse gen Himmel stob. Der Vorsprung des Mörders wuchs.
"Ptupekh ist draußen.", rief Glum.
"Er will aufs Tölpelpflaster!", rief der Hauptmann atemlos, in der Hoffnung dass mehrere Dutzend Fledermäuse besser hörten als eine Frau, der man das Einkaufen verbot. Er grinste schief, als er seine Antwort in Form eines sich auflösenden Schwarms bekam. Der dunkle Himmel über ihm lichtete sich und nahm die Verfolgung auf. Keuchend blieb Humph stehen und stützte seine Hände auf die Knie als er versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Breda würde den Kerl schon zu fassen bekommen. Er hatte keine Chance.
'Eine Stunde lang saß der Täter im Haus fest.', hieß es später in Rupperts Bericht. 'Offensichtlich traute er sich nicht hinaus, nachdem sich immer mehr Leute zusammengefunden hatten, die ihm seinen Fluchtweg versperrten. Er hat sich gewissermaßen seine eigene Grube geschaufelt. Sein plötzlicher Ausbruch lässt sich dadurch vermuten, dass er durch eines der oberen Fenster die Kollegen von der D.O.G. kommen sah. Er wurde panisch.'
Die Fledermäuse materialisierten sich. Im nächsten Moment wurde dem Flüchtling der Weg durch eine blasse, nackte Frau mit ausgestreckten Armen versperrt. Der Pseudo-Assassine reagierte jedoch überraschend schnell und zog einen spitzen Gegenstand, mit welchem er nach vorne auf die Entblöste stürzte. Die Vampirin wollte reagieren, doch sie wurde von einem braunen Schatten abgelenkt, der sich zwischen ihren Angreifer und sie schob.
Breda Krulock konnte nichts mehr tun. Die Person, die sich unglücklicherweise zwischen den beiden befand spürte nun das blutige, kalte Metall des Messers zwischen Ihren linken Rippen.
Ein Moment der Stille ließ die Zeit gefrieren.
Humph und Glum verlangsamten ihre Schritte, als sie von hinten im vollen Lauf in die Straße liefen. Breda riss in Zeitlupe den Mund auf und setzte sich eben so langsam in Bewegung. Alle starrten gebannt auf das neue Opfer. Die braunen gelockten Haare fielen ihrem Mörder ins Gesicht, unter ihrer Bluse zeichnete sich deutlich ihr Dekolleté ab. Die roten, zarten Lippen formten einen Laut des Überraschens und ihr rechter Arm streckte sich theatralisch aus.
Die Wächter stürzten los, eine Mumie tauchte mit flatternden Binden in der Straße auf.
Alles geschah unendlich langsam, noch langsamer, als sich ihr das Messer ins Herz bohrte.
Die Braungelockte keuchte.
Ihre vermeintlichen Retter schrien auf, während ihr Blick zum Mond glitt, und liefen als verblassende Schemen durch sie hindurch.
In Wahrheit war die Straße leer.
Leer bis auf den Mörder und sein Opfer.
...
Ein kleiner Gegenstand rutschte aus ihrer Hand, landete klackernd auf dem Pflaster.
Sie wollte sich zur Wehr setzten, sich verteidigen gegen dieses Schicksal, welches das Schwerste von ihr verlangte. Ende. Und im selben Augenblick sah sie es als einen schneidenden Widerspruch vor sich, dass erst vor ein paar Stunden ein neues Licht am Horizont für sie aufgeflackert war. Sie hatte etwas geschafft, woran derzeit viele andere scheiterten. Sie hatte ein Rätsel gelöst. Im innersten Ihres Herzens aber wusste sie um ihren Selbstbetrug. Wenn sie erst einmal fort war und dort draußen irgendwo ein neues Leben begonnen hatte, wenn sie ihren eigenen zwingenden Willen nicht mehr fürchten musste, wenn kein Einfluss sie mehr antrieb...wo sollte sie noch einmal die Kraft hernehmen dies hier zu beenden? Sie hatte die fehlende Information.
Eine kleine Rolle kullerte über den Kopfstein in eine Pfütze.
Ein Kryptogramm. Die übliche Form streng geheimer Informationsweitergabe.
Sie kannte ihre Mörder. Sie kannte sie alle. Alles stand in dem Papierröllchen auf dem Boden. Dafür hatte sie nachgeforscht. Dafür starb sie.
Noch einmal holte sie tief Luft.
Ganz langsam wich ihr hoffnungsloser Zweifel einer silberhellen Freude, der Freudigkeit des Opfers, der Freude aller Todgeweihten, ehe der Freiheitsdrang in ihnen erwachte. Denn ab sofort war sie frei. Frei von allem. Auch von...von...
Weiße Fetzen bewegten sich vor ihren Augen, als sich die Kälte in ihrem Körper ausbreitete.
...von...
Eine letzte Erkenntnis überkam sie.
Nichts von allem war wahr! Nichts!
In Wahrheit ist dies alles nie geschehen.
Sie sah ihre Eltern, ihre Kindheit, ihre Jugend...bis zu dem Tage an dem sie der Wache beigetreten war. Sie sah sich, wie sie am Morgen das Gebäude verlassen hatte, ganz in Schwarz, so wie immer. Noch wusste niemand von ihrem Tod. Ihre Freunde, ihre Vorgesetzten, ihre Familie würde dies erst in einiger Zeit erfahren. Dabei war sie sich ganz sicher gewesen, dass alle um sie trauerten. Dass sie gestorben war und dennoch mit ihren Kollegen ihre Zeit verbrachte. Wie sie alle an sie dachten...und dann vergaßen. Jemanden vergaßen, der an ihrer Seite stand...und dennoch fort war.
Bevor sie mit einem letzten Ausatmen auf den Stein fiel, lächelte sie. Sie lag wieder in den Armen ihres Geliebten, ihres verstorbenen Ehemannes, geborgen wie ein Kind, wie ein Kind gestreichelt und geliebkost. Und wie ein Stern senkte sich das Wissen in ihre Brust, dass sie jetzt den Weg kannte, den sie sich zu beschreiten entschieden hatte.
Diese Geschichte ist bloß eine Version dessen, was sie in den wenigen Sekunden ihres überraschten Todes übermannt hatte. Vielleicht weil sie geschätzt werden wollte. Vielleicht weil sie sich selbst nicht unwichtig vorkommen wollte. Weil Vergessen etwas Schlimmes war.
Und selbst wenn sich alles so zugetragen hätte - in dieser Version war sie von niemandem beachtet worden. Sie war nicht da. War niemals da gewesen. Diese Geschichte ist niemals passiert.
Denn in Wahrheit war Coccinella Pyrrhula gerade erst gestorben.
Einfach nur liegen
und langsam erstarren,
die Augen geschlossen,
des Todes zu harren,
die Sinne schweifen,
langsam scheiden,
Vergesst mich nicht!,
ein Tod ohne Leiden.
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