Eine Erzählung von der Beziehung zwischen zwei Wächtern. Oder: Wie sie einem Gnom den kleinen Finger reichte und er ihr sein Erbe vermachte. Vorsicht: Kitsch-Gefahr!
Dafür vergebene Note: 11
Der schüchterne Hauptgefreite und die Lance-Korporal saßen sich in der Kantine mittags oft gegenüber.
Anders gesagt: Seit der Gnom mit ihr zusammengearbeitet hatte
[1], nutzte er jede Gelegenheit, um in ihre Nähe zu kommen. Beide saßen an ihren jeweiligen Tischen, wobei er besonders darauf achtete, die Angebetete im Blickfeld zu haben. In den letzten Wochen hatte er sich erfolgreich einige Tischreihen nach vorne gearbeitet, traute sich aber nicht, die Lady anzusprechen.
Die beiden wussten nicht viel voneinander. Allerdings war zwischen ihnen so etwas wie eine stumme Bekanntschaft entstanden.
Die Wächterin empfand für den Gnom stillschweigendes Mitleid, da sie sah, dass er sehr allein war und ihm das Leben auf den kleinen Schultern lastete. Dazu mischte sich eine zwiespältige Neugier für diese skurrile Gestalt. Sie hatte schon vor längerer Zeit bemerkt, dass er einen enormen Aufwand betrieb, um sie betrachten zu können. Auf der einen Seite war ihr dieses Verhalten unheimlich, auf der anderen Seite war sein Durchhaltevermögen durchaus schmeichelhaft. Stumm und mit verhaltener Zuneigung sprach der Blick des Wächters eine leise jugendliche Eitelkeit in ihr an.
Unter den Kollegen galt er als verbitterter Sonderling. Sein Gesicht drückte die Spannung eines Wesens aus, das sich in einer fremden Welt am Leben erhalten muss. Er trug eine Art Kartoffelsack mit aufgenähten Stofffetzen. Und Sandalen. Immer.
Den meisten erschien er wie die personifizierte Stimme der Anklage.
Wochenlang schon hielt die wortlose Bekanntschaft der beiden an. Bis zu jenem verhängnisvollen Tag ...
*Frau Küchenmeister gilt als ein solider Stützpfosten des Kantinenpersonals. Niemand anderes kann bei der Essenausgabe mit einer solch unanzweifelbaren Grimmigkeit gucken. Es gibt nur wenige Beispiele, die die Grimmigkeit von Korpulenz deutlicher machen können.
Solange man keine Widerworte gibt, kann man mit Frau Küchenmeister recht gut auskommen. Dazu gehört, dass man sich, wenn sie an der Vergabe steht, auch mit grauem Brei zufrieden gibt und darauf verzichtet etwas zu bestellen, weil sie sich Wünschen gegenüber grundsätzlich taub stellt
[2].
Wenn Frau Küchenmeister eins hasst, dann sind das Scherben und auf dem Boden verteiltes Essen.
Abgesehen von ihrem Körperumfang ist sie eine sehr sparsame Frau und sie empfindet sowohl kaputtes Geschirr als auch verdreckte Lebensmittel als unverzeihliche Verschwendung.
Lady Rattenklein hatte sich ein paar Tage zuvor bereits einen Schnitzer in Frau Küchenmeisters metaphorischer Holzkeule verdient. Jene Keule, in die sie im Gedächtnis einritzte, wer bereits durch ungeschicktes, verschwenderisches Verhalten aufgefallen war.
Dem Lance-Korporal war ihre Kaffeetasse aus der Hand geglitten, weil sie sich an der überschwappenden heißen Brühe die Hand verbrannt hatte. Nun musste Frau Küchenmeister die Scherben und die dunkle Pfütze entfernen.
[3] Damit war Lady Rattenklein für Frau Küchenmeister zum Abschuss freigegeben.
In den vergangenen Tagen hatte die Gnomin nicht ein einziges Mal das bekommen, was sie tatsächlich bestellt hatte.
Außerdem musste sie sich, nach einer langen Standard-Predigt, bei jedem Treffen spitze Bemerkungen gefallen lassen, weil sie die berechtigte Befürchtung hatte, dass Frau Küchenmeister ihr sonst in die
Lassanje gespuckt hätte oder vielleicht noch Schlimmeres.
Es war jener verhängnisvolle Tag, als die Wächterin zur Wiederholungstäterin wurde.
Kurz gesagt: Ein zu voller Teller Suppe. Viel Gedränge. Ein Stoß.
Schepper!Und das Unglück war geschehen.
Lady Rattenklein fluchte.
Frau Küchenmeisters spezialisierte Ohren hatten das Bersten der Keramik sofort wahrgenommen und die Übeltäterin geortet, bevor ihr unheilverkündender Blick auf die Gnomin traf.
"WARRRSTT DUUU DASSS ETWAA???", donnerte sie.
Ihre Augen schienen die Lance-Korporal mit einem Feuerstrahl in den Boden kokeln zu wollen. Als sie sich bedrohlich langsam nach vorne beugte, ächzte die Theke unter ihrem Gewicht. Ihre großen Lungen füllten sich mit einem wütenden Saugen. Die Anzeichen waren klar: Frau Küchenmeister machte sich bereit für eine lange hasserfüllte Predigt.
Unwillkürlich begann die Wächterin sich nach Unterstützung umzusehen. Ihr Blick glitt forschend, fast flehend, zu dem Gnom hinüber. Sein Gesicht war rot von Verlegenheit. Kurz starrte er sie nur ausdruckslos an. Dann machte er zwei Schritte nach vorne, hob entschlossen die Hand und verkündete theatralisch: "Das war
meine Schuld!"
*Nun gut, er hatte sie in gewisser Weise gerettet. Er hatte für sie eine Hasstirade über sich ergehen lassen. Aber sie war sicher, dass sie auch gut alleine mit Frau Küchenmeister hätte fertig werden können. Insofern war sein Einsatz zwar nobel, aber überflüssig.
Als sich die Szenerie aufgelöst hatte, stand der Gnom immer noch da und sah sie an, als warte er auf etwas. Sein Blick war so sehnsuchtsvoll, dass sie einfach etwas sagen musste.
Na schön, dachte sie sich,
wenn's ihm eine Freude macht.Sie betrachtete ihn verwundert und etwas ratlos. Eine leise Vorahnung regte sich in ihr, die davor warnte, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Dummerweise schaute er sie jetzt mit großen erwartungsvollen Augen an. Dieser starre Blick, endlos und subjektiv, kannte die Entspannung nicht.
Etwas Hoffnungsvolles hatte dieser Blick. Er sagte:
Heute lerne ich dich kennen. Bitte! Bitte! Bitte!Einfach zu gehen wäre... es wäre irgendwie gemein gewesen.
"Danke", sagte sie schlicht. "Aber du hättest das nicht tun müssen."
Dann verließ sie den Raum.
Septimus beeilte sich sie einzuholen. Er meinte, sie hätte nur kein längeres Gespräch mit ihm angefangen, weil die Anwesenheit der anderen, die schon vor geraumer Zeit ihr Gaffen unterbrochen und sich wieder ihren Mahlzeiten zugewendet hatten, so sehr auf dieser Situation lastete. Draußen auf dem Gang trat er sofort auf sie zu.
"Ebel", hob sie an, "ich danke dir wirklich sehr für dein taktvolles Verhalten. Aber du kannst jetzt ruhig - "
Er stellte sich genau in ihren Weg und damit zwischen sie und ihre Mittagspause.
"Das war nicht der Rede wert, Mä'äm." Stolz grinste der Gnom und begann mit der Fußspitze auf imaginärem Sand zu scharren wie ein schüchterner Hahn. Seine Unfähigkeit, eine Frau auch nur ansatzweise mit Aussicht auf Erfolg anzusprechen, fand die Gnomin abstoßend. Dann wiederum hatte sie plötzlich wieder Mitleid. "Sie dürfen mich ruhig Septimus nennen, Mäm."
Ein Seufzen. Noch wusste Lady Rattenklein nicht, dass er sie noch viele solcher Seufzer kosten würde.
"Gut. Von mir aus: Septimus."
Angesichts seiner großen erwartungsvollen Augen hatte sie den Wunsch noch irgendetwas zu sagen. Irgendetwas.
"Ähm", langsam versuchte sie an ihm vorbei zu kommen. "Jedenfalls: Danke sehr, Septimus. Ich sehe dich jetzt in völlig anderem Licht. Ganz bestimmt."
Während sie sprach, hatte sie langsam einen Halbkreis beschritten und wollte nun den Ausweg aus dieser unangenehmen Situation suchen. Doch ehe sie den ersten Schritt getan hatte, spürte die Gnomin eine kühle Hand, die sich mit erstaunlicher Kraft, aber vorsichtig, um die ihre schloss. Lady Rattenklein war zu verblüfft, um ihn anzuschreien.
"Ich wollte auch danke sagen, Mä'äm", er ließ sie sofort wieder los. Die Berührung hatte nur einen klitzekleinen Moment angedauert. "Und nun, will ich Sie mit meinem Dank nicht weiter aufhalten." Nervös rieb er sich die Hände. "Ich will mich ja nicht aufdrängen - obwohl ich Ihnen noch mehr zu sagen hätte, Mäm."
*Lady Rattenklein stieg das Blut in den Kopf. Ein lautes Rauschen pochte an ihren Schläfen. Für sie, die zwar ranghöher aber nicht besonders erpicht darauf war, dies allen immer deutlich zu machen, war es ungewohnt, dass ein jüngerer Gnom in einem solchen Ton der Unterordnung mit ihr sprach. Sie war sich auch ziemlich sicher, dass er auf diese Weise nicht mit anderen Wächtern redete. Er galt eher als männliche Kratzbürste und nur wenige nannten ihn 'Freund'. Sie kam sich angelogen vor, weil sie sich des Gefühls nicht erwehren konnte, dass er sich ihr gegenüber verstellte
[4].
Der letzte Satz jedoch machte sie neugierig, denn darin lag etwas Geheimnisvolles. Halb in Verlegenheit antwortete sie vorschnell mit einer Floskel: "Ich weiß nicht, was du meinst, Septimus." Sie machte Anstalten zu gehen. "Aber wenn sich hier jemand aufgedrängt hat, so war ich das vermutlich. Es war schön, sich mit dir zu unterhalten."
Die Wirkung dieser Worte ging in eine ganz andere Richtung als jene, welche Lady Rattenklein vorgesehen hatte. Der Gnom gesellte sich nun zu ihr und ging dann langsam neben ihr her. Er wusste, dass - wollte er diese Begegnung in die Länge ziehen - Weitschweifigkeit seine einzige Kontaktmöglichkeit war und er bediente sich ihrer mit langem Atem und detaillierter Sachkenntnis über Themen, die Lady Rattenklein nicht im Geringsten interessierten.
Ruhiges Mittagessen - mach`s gut, schoss es der Laborantin durch den Kopf.
Es hätte so schön mit uns beiden werden können."Wissen Sie, Mä'äm", begann Septimus nach einer Pause, als hätte er sich zu einem Entschluss überwunden, "dass ich Ihnen etwas zu gestehen hab?"
Bei den Göttern!"Seit langem schon habe ich Sie im Stillen betrachtet und mir gewünscht, Sie näher kennen zu lernen, Mä'äm. Ich, der sonst alle meidet. Und stets gemieden wird! Sie erinnern mich so sehr an meine...", er stockte, dann ergänzte er bewegt, "...meine Jugendliebe. Die gleichen Haare, die gleichen Brü-", er wurde rot und suchte nach einer Lösung für seinen Patzer. "...Brüauen...Brauen...ja."
Dann senkte er betrübt den Blick. "Sie ist schon lange, lange tot."
Lady Rattenklein lief ein kalter Schauer über den Rücken. Steif ging sie weiter. Dieser kleine Kerl tat ihr schon irgendwie leid. Der verdeckte Ermittler schwieg. Und sie, voll Teilnahme an dieser traurigen Existenz, zugleich geschmeichelt und doch von leichtem Ekel und etwas Enttäuschung geschüttelt, sagte benfalls nichts. Septimus las in ihrem Gesicht nur das Mitgefühl heraus, nicht aber den Ekel, und glaubte fortfahren zu können.
"Interessiert Sie die Geschichte, Mä'äm? Ich würde sie Ihnen gern erzählen. Aber nur Ihnen, Mä'äm."
Die hilflose Geste der Lady wurde als Zustimmung interpretiert.
Er redete lange, mit vielen Ausschweifungen.
Er redet wie ein alter Mann, musste sie immer wieder während seiner Ausführungen denken.
Als sie das Labor erreicht hatten, kam er zu einem Ende: "Andere finden die Geschichte langweilig. Es ist ja auch schon einige Jahre her. Aber bei Ihrem Anblick, Mä'äm, ist sie wieder belebt geworden."
Die Lance-Korporal nickte steif lächelnd und versuchte, der Sache ein Ende zu setzen, indem sie sich und ihn auf unterschiedliche Seiten der Labortür manövrierte. Kurz bevor die Tür sich schloss, fiel Septimus etwas ein: "Wie geht es eigentlich meiner 'Schlafenden Schönheit'?"
Lady Rattenklein blickte zu dem kleinen Blumentopf, dessen Inhalt in einer dunklen Ecke des Raumes vor sich hin vegetierte. In den letzten Wochen hatten sich immer mehr Pilze in grellen Gelb-und Violetttönen auf der Erde angesiedelt. Von ihnen ging ein seltsam fauliger Geruch aus. Die feinen, gläsern wirkenden Stängel, die Septimus ihr in der Zeit der gemeinsamen Zusammenarbeit überreicht hatte, machten einen schwachen Bogen. Winzige Blüten neigten traurig ihre Gesichter nach unten.
Zu Lady Rattenkleins Leidwesen erspähte der Umweltschützer einen schnellen Blick auf die Überreste der kostbaren Pflanze. Mit halb panischer, halb freudiger Miene erklärte er, am nächsten Tag wieder zu kommen, um nach ihr zu sehen.
*Zur gleichen Zeit am nächsten Tag stand Septimus Ebel im Labor und salutierte schüchtern. Die Laborantin hatte ihre Arbeit gerade erst beendet und daher keine Ausrede, um ihn auf einen anderen Zeitpunkt zu vertrösten. Es sah ganz so aus, als müsste sie wieder eine kostbare Pause mit ihm verbringen. Der Gnom tat ihr einfach leid. Außerdem konnte die kleine Pflanze seine professionelle Fürsorge gut gebrauchen. Liebevoll kümmerte er sich sogleich um die 'Schlafende Schönheit'. Dabei fing er auf eine krampfhaft sorglose Art an, vor sich hin zu erzählen. Der ruhige, schlichte Ton seiner Stimme ließ sie ihren inneren Widerwillen überwinden. Lady Rattenklein seufzte resigniert. Sie hatte immer noch das Gefühl sich für die Geschichte von gestern dankbar erweisen zu müssen. Also machte sie es sich bequem, holte ein Butterbrot aus der Tasche und bemühte sich sehr so auszusehen, als würde sie zuhören. Manchmal stellte sie ein paar Fragen, auf die Septimus mit lebhafter Freude antwortete.
Nach einer halben Stunde brummte Lady Rattenklein der Kopf. Erleichtert bemerkte sie, dass der Gnom hoffnungsvoll nach etwas suchte, das er an der Blume noch verrichten konnte. Sie nutzte dies, um ihm höflich den Abschied aufzudrängen. Sie verabschiedeten sich, doch Septimus ging nicht, sondern blieb stehen, als habe er Wurzeln geschlagen. Er sah Lady Rattenklein verträumt lächelnd an.
"Septimus?"
"Mh.Mh."
Sie ging zur Tür und deutete ihm den Weg nach draußen. "Es ist Zeit zu gehen."
"Mh.Mh."
Peinliche Stille.
Die Wächterin seufzte. "Vielleicht trifft man sich ja noch mal bei Gelegenheit."
In diesem Moment erwachte der Träumer und grinste breit. Zackig salutierte er und verließ den Raum. Sie sah ihm kurz hinterher und schüttelte den Kopf.
Ein Blick auf die 'Schlafende Schönheit' sagte ihr, dass Septimus ganze Arbeit geleistet hatte. Die Blume sah bereits viel besser aus.
Plötzlich bemerkte sie ein Papierstück, das unter dem Blumentopf hervor lugte. Neugierig zog sie daran: Es waren zwei Zettel. Bei dem bunteren von beiden schien es sich um eine Eintrittskarte für das Stadttheater zu handeln. Der andere war mit einer handschriftlichen Mitteilung versehen:
Bitte gehen Sie hin. Es ist ein gutes Stück. Keine Angst, ich tauche schon nicht auf. Hinter den letzten Satz hatte er ein lächelndes Mondgesicht gezeichnet. Es hatte einen Haarkranz, der dem seinen sehr ähnelte.
* Am nächsten Tag fing Septimus sie am Kantineneingang ab und erklärte, dass er mit seiner Löwenzahnsuppe auf sie gewartet habe. Sonst war niemand Bekanntes anwesend. Achselzuckend ließ die Gnomin sich gegenüber von ihm nieder. Sie achtete darauf, ja nicht zu lächeln und nicht
zu freundlich zu klingen.
Lady Rattenklein war hin und her gerissen.
Sollte sie das Geschenk wirklich annehmen? Konnte sie ihm diese Bitte abschlagen? Sie und Theater - passte das zusammen?
Nun ja, dachte sie,
mit genügend Wein ...Sie freute sich über das heimliche Geschenk, obgleich es ihr auch unangenehm war. Erwartete er ein bestimmtes Verhalten von ihr?
Der Kleine musste gemerkt haben, dass sie ihm nur pro forma zugehört hatte. Warum hätte er sonst schreiben sollen: 'Keine Angst'?
Eigentlich war es einfach nur nett von ihm, ihr eine Karte zu schenken, ohne dafür eine Verabredung einzufordern. Aber vielleicht wusste er, dass sie niemals einem privaten Treffen zugestimmt hätte? Vielleicht war er gar nicht so weltfremd? Vermutlich bekam der Gnom mehr mit, als er einen glauben ließ. Irgendetwas Geheimnisvolles hatte dieser Egozentriker durchaus an sich. Eine kleine, eisige Regung streifte durch ihr Inneres. Sie vergaß sie schnell wieder.
Zu Recht befürchtete sie, ihm falsche Hoffnungen zu machen, wenn sie das Billet einlöste. Obwohl - wenn er selbst nicht hingehen würde, wie sollte er wissen, ob sie da gewesen war?
Septimus stellte keine Fragen darüber, wie sie sich entschieden hatte. Er fürchtete wohl eine Enttäuschung. Nach dem Essen begleitete er sie erneut ungefragt bis zum Labor. Dort warf er einen kurzen zufriedenen Blick auf die 'Schlafende Schönheit' und verabschiedete sich.
Am dritten Tag lief es ähnlich ab.
*Der Laborantin war dies eigentlich nicht sehr lieb. Aber als der Gnom fragte, ob er sich aufdrängen würde oder ob sie etwas anderes vorhätte, antwortete sie ehrlich: Nein.
So ging es die ganze Woche lang. Dann kam ein Tag, da sich der Hauptgefreite plötzlich sehr in sich gekehrt und einsilbig zeigte. Die Gnomin irritierte dieses Schweigen, sie fragte ihn nach dem Grund.
Erst drückte sich Septimus vor der Antwort, doch dann sagte er in fast feierlichem Ton: "Ich denke schon die ganze Zeit darüber nach
[5]. Bin ich nicht zu aufdringlich, Mä'äm, raube ich Ihnen nicht kostbare Zeit? Darf ich erwarten, darf ich hoffen, dass ich bald noch mehr davon stehlen werde? Obwohl ich es noch nicht ganz glauben kann: Ich habe das Gefühl, dass wir Freunde werden können."
Er sprach diese Worte mit großem Pathos und einem Leuchten in den Augen, das auch dem härtesten Troll weiche Knie gemacht hätte. Wieder tat er der Laborantin sehr, sehr leid. Durfte sie eine so warmherzige und gleichzeitig obskur förmlich dargebotene Freundschaftseinladung überhaupt ablehnen?
Sie fühlte sich durchaus geschmeichelt, dass ein Gnom, der um einige Jahre jünger war als sie, um sie warb. Sollte sie nicht wenigstens etwas Höfliches erwidern?
Es wäre roh von mir, nein, es würde ihn seelisch zerschmettern, wenn ich ihm antworten würde, dass ich ihn bei Weitem nicht so gut leiden kann, wie er mich, dachte sie.
So versuchte sie eine Antwort zu formulieren, die sie zu nichts verpflichtete, ihn aber trotzdem nicht verletzte. Bedauerlicherweise gelang es ihr nicht: "Es...äh...es ist wirklich nett, Zeit mit dir zu verbringen, Hauptgefreiter."
Die Gesichtszüge des Gnoms verklärten sich zu einem verträumten Lächeln, beruhigt und dankbar.
*Zunächst aßen sie weiter miteinander in der Kantine - immer dann, wenn Septimus es organisiert hatte, dass sich seine Pause mit ihrer kreuzte. Dann aber war es schließlich so weit, dass er sich traute, sie in ein Restaurant einzuladen. Sie willigte ein.
Für den Abend wählte sie ein Kostüm, das ihm nicht zu viele Hoffnungen machen würde aber auch zeigte, das sie kein faltiges Mütterchen war: ein Mieder mit roten und gelben Rauten, am Rücken tief ausgeschnitten, die weißen Ärmel angekraust, ein langer weinroter Rock und schwarze Schnürstiefel.
Septimus hatte ein kleines Restaurant gewählt, welches ihr bis dahin völlig unbekannt gewesen war. Es hieß "Zur grünen Ecke" und befand sich in einer versteckten Seitengasse in der Nähe der Straße "Grunmarkt". Ein dreieckiges Loch in einer Hauswand führte in das mit wenigen Tischen und Stühlen ausgestattete Etablissement. Die Wände waren minzgrün gestrichen und mit kitschigen Gemälden versehen. Es wirkte nicht so, als würden sich die Gnome der Stadt darum prügeln, hier verkehren zu können. Doch war es ungewöhnlich ordentlich und sauber.
Ein blauhäutiger alter Gnom mit vollendeten Manieren bediente sie.
Septimus trug das einzige Kleidungsstück, das er neben seiner Kutte gerne am Leib hatte, eine frappierende Mischung zwischen seiner ganz eigenen Romantik und Religion: Einen grünen Anzug aus ökologisch angebauter Baumwolle und - Sandalen.
Im Restaurant bestand Septimus darauf, dass sie sich die besten Dinge von der Speisekarte aussuchte. Vorläufig gefiel das alles Lady Rattenklein durchaus ganz gut. Sie versuchte die unbehagliche Stimmung, die sie empfand, und eine kriechende Langeweile zu unterdrücken
[6]. Bei einem so guten Tropfen und so gutem Essen konnte sie sich überreden, der einen oder anderen Geschichte über Hühnerhaltung in Ankh-Morpork oder aussterbende Braunbären zu lauschen.
Zuerst hörte sie ihr Gegenüber nur reden und verstand nicht, warum er eigentlich so viel redete. Schrittweise erst
[7] kam sie zu der Einsicht, dass er neben seiner Ich-Bezogenheit auch ein Gnom von verzweifelter Selbstlosigkeit und tiefer Demut für das Lebendige war. Seine Demut kam nicht besonders oft zum Vorschein aber sie war da und trat manchmal schimmernd an die Oberfläche. Es war sein Weg, sich aus der natürlich gegebenen Angespanntheit dieser Situation zu retten, indem er eine Redeflut von sich gab.
Obwohl sie vieles von seinem Gerede gar nicht aufnehmen konnte, bemühte sie sich Interesse zu zeigen. Diesmal ehrliches Interesse. Sie lauschte - gezwungenermaßen, da sie nicht zu Worte kam - und verstand dabei allmählich, was es für ihn bedeutete, sich jeden Tag verausgaben zu müssen, ohne die geringste Belohnung zu erhalten. So etwas konnte einen rasend machen. Dabei versuchte er im Grunde genommen nur das Elend dieser Welt etwas weniger erbärmlich zu machen. Septimus lebte wie alle intelligenten Wesen, die - durch Zufall oder durch eigene Wahl von einem freundschaftlichen sozialen Umfeld abgenabelt - sich in einer Welt zurechtfinden müssen, deren Elemente, da sie ihnen abstrus und unverständlich sind, die Seele zur Niederlage vor einem übermächtigen Pöbel zwingen. Im Leben tat er alles, um die Kluft des Unmöglichen zu überbrücken. Der traurigste aller Versuche war die Vorspieglung kleiner Erfolge. Sie glaubte, seine hyperaktive Zunge würde erst dann zufrieden sein, wenn sie sich an eine ganze Nation wenden konnte, um sie für die Liebe zur Natur zu begeistern.
Jetzt war der Gnom überglücklich, wenigstens eine Zuhörerin zu haben.
Als sie sich nach dem Dessert trennten, sagte er: "Das war wirklich sehr schön. Ich fühle mich, als wäre ich ein verrottender Baum gewesen und plötzlich hab ich wieder überall Sprösslinge. Kleine grüne Sprösslinge, verstehen Sie, Mä'äm?"
*Für Lady Rattenklein begann jetzt eine Zeit, in der sie durch und durch verwöhnt wurde. Mittlerweile fand sie kaum noch einen Abstellplatz für die vielen `Schlafenden Schönheiten`, die Septimus ihr regelmäßig schenkte. Der ersten Theaterkarte folgten weitere, wenn sie in die Kantine kam, stand ihre Mahlzeit schon bereit. Wann immer er konnte, tat der Gnom ihr einen Gefallen und schließlich wurde es fast eine Selbstverständlichkeit, dass er ihr sofort jeden Wunsch erfüllte, den sie andeutete. Er ließ Lobeshymnen über sie hervorsprudeln, wie ein Wasserspeier Regenwasser
[7a].
"Aber ich kann das doch nicht alles von dir annehmen", sagte sie schließlich, als sie wieder einmal in der Kantine saßen und das dunkle Gefühl, welches von Anfang an in ihrem Inneren geruht hatte, sich stärker regte.
"Sie können es, Mä'äm", erwiderte er beharrlich und schob ihr mit zärtlicher Vorfreude über den Tisch eine kleine Schatulle zu.
Es war ein Paar kleiner runder Ohrringe. Sie bestanden beide aus einem silbernen Ring, der einen zart schimmernden Rosenquarz umfasste. Lady Rattenklein spürte Scharlachröte in sich aufsteigen. Ein hingerissenes Seufzen entwich ihr. Sie liebte Rosa. Ihr blieb gar nicht anderes übrig, als ihren Dank zu nuscheln.
Ich bin doch eigentlich viel zu alt für ihn, dachte sie manchmal nach solchen Treffen, bei denen sie sich die meiste Zeit langweilte. Unvorstellbar es ihm zu sagen. Und irgendwie mochte sie ihn schon ein wenig...ein wenig wenig.
Mag ich ihn wirklich?, fragte ihre innere Stimme.
Oder mag ich nur, dass er um mich wirbt? Dass er mir das Gefühl gibt, doch nicht so alt und knitterig zu sein, wie ich mich manchmal fühle? Natürlich mag ich ihn. Basta. Alles andere wäre undankbar.*Immer öfter machte Lady Rattenklein Gebrauch von den Theaterkarten, die der Gnom ihr schenkte. Das lag nicht daran, dass das Schauspielhaus von Ankh-Morpork besonders gute Stücke brachte, sondern daran, dass sie Gefallen an einem der Hauptdarsteller gefunden hatte und ihm einfach nur gerne zusah. Am Anfang war sie bei ihren Theaterbesuchen allein. Doch dann kam der Abend, an dem Septimus sie bereits am Eingang erwartete, mit großen Augen und diesem hoffnungsvollen Blick.
Das spontane Gefühl, das Lady Rattenklein wie ein wildes Tier ansprang, als sie ihn erkannte, war ein unheimlicher Schreck.
Bei den Göttern!, dachte sie,
wenigstens hier hat er mich bis jetzt in Ruhe gelassen! Was sollte sie tun? Verzweifelt hielt sie Ausschau nach einem Versteck. Dort im Schatten? Oder da hinter dem Karren?
Im nächsten Moment kam sie sich lächerlich vor, vergaß den Plan sich zu verstecken oder die Flucht zu ergreifen und trat mit einem freundlich erstaunten Lächeln in sein Sichtfeld.
Nachdem der Vorhang der Bühne sich geschlossen hatte, fragte der Gnom die Lady über das Stück aus. Dabei geriet sie in Verlegenheit. Ihre größte Aufmerksamkeit hatte dem Hauptdarsteller in seinem Barbarenkostüm gegolten. An die Handlung konnte sie sich kaum noch erinnern. Um sich dieser Verlegenheit zu entziehen, betonte sie, wie sehr ihr die Aufführung gefallen habe.
*So kam es, dass Septimus es sich von nun an zur Gewohnheit machte, am Theatereingang auf sie zu warten. Manchmal führte er sie nach der Vorstellung noch zum Essen aus. Dabei ließ er sich jedes Mal neue Lobesworte für sie einfallen. Der Drang, ehrerbietig von ihr zu sprechen, wurde allmählich zur Folter.
Mittlerweile legte sich ein Ausdruck von hilflosem Erschrecken auf das Gesicht der Laborantin, wenn sie ihren Kollegen auf der Arbeit oder auf der Straße vor dem Theater sah. Eine unechte Maske der Freundlichkeit legte sich zur Begrüßung auf ihr Gesicht. Und sie fing an sich dafür zu verurteilen.
Bei der nächsten Einladung zum Theater tat sie so, als hätte sie an diesem Abend bereits etwas vor, obwohl diese Lüge durchaus etwas an ihr nagte. Aber sie hatte das Gefühl, sich vor ihm schützen zu müssen vor seiner überaus aufdringlichen, verschrobenen Liebeswürdigkeit.
"Schade", antwortete Septimus wirklich betrübt, sah zu Boden und fragte keck: "Und übermorgen?"
Zögerlich blickt sie ihm in die Augen und wusste wieder einmal nicht, was sie sagen sollte. Sein Blick zog jede Regung ihrer Mimik in sich ein und gab ihr das Gefühl, er könne alles sehen, was in ihr vorging.
"Ich...ich weiß nicht", antwortete sie stockend, "Ich...ich glaube...äh ja...das heißt nein...ähm...ich..."
Er sah sie immer noch an. Plötzlich wurden Züge auf seinem Gesicht erkennbar, wie bei einem gefesselten Tier, welches zuhört, wie der Metzger sein Schlachtmesser schärft.
"Nein", sagte sie schnell, "ich muss den Termin verwechselt haben. Übermorgen geht."
Der panische Ausdruck verschwand von seinen Zügen. Und Lady Rattenklein wurde - trotz ihres inneren Zwiespalts - mit Herzlichkeit gesprächig, um seine Laune wieder aufzuhellen.
*So geht das nicht weiter! Sie beschloss heute etwas früher Feierabend zu machen. Auf dem Weg zu ihrem Schuhkarton in Bredas Büro dachte sie:
So geht das nicht! Wie um alles in der Welt soll ich ihm das bloß klarmachen?!Allmählich wurde sie von einem einzigen Gedanken beherrscht:
Wie komme ich hier wieder raus?Aber was tun? Immer, wenn sie diese großen Augen sah, machte sie das vollkommen kampfunfähig. Mittlerweile spürte sie schon ein Gefühl der Verzweiflung, wenn sie seine kleine Gestalt ankommen sah. Sie wurde zunehmend nervöser und merkte, wie die Versuche, ihm aus dem Weg zu gehen, sich häuften. Sie hatte nicht mehr die Kraft seinen Monologen zuzuhören.
Septimus ist in Wirklichkeit ein Vampir. Ein Energie-Vampir. Ein Beziehungs-Vampir! Jawohl!Auch in ihren Träumen verfolgte der Gnom sie. Dort erzählte er entweder endlose Geschichten oder sah sie nur stumm mit seinem schweren Blick an.
Wie soll ich ihm das nur sagen?!Nichts. Gar nichts fiel ihr ein. Zumindest nichts, was ihn seelisch nicht vollends ruiniert hätte.
Alle kleinen dezenten Ansätze, die sie nach dem ersten misslungenen Versuch machte, schlugen fehl.
Das ist doch absurd!, fluchte sie innerlich.
Er ist vierzehn Zentimeter groß und kontrolliert mein Gewissen!Langsam bekam sie das leise Gefühl, dass sie nicht allein damit fertig wurde.
Jetzt reiß dich zusammen, Ratti!, sagte sie ermutigend zu sich.
Du wirst diese Situation meistern! Und zwar mit sowohl geistiger als auch körperlicher Überlegenheit, Selbstbeherrschung und Willenskraft!* Auch wenn Septimus einen großen Mangel an Einfühlungsvermögen ausmachte, so entging ihm trotzdem nicht, dass Lady Rattenklein im Umgang mit ihm etwas gehetzter wurde. Er merkte wie sie geistig abschaltete, wenn er sprach. Das Interesse einer aufmerksamen Zuhörerin brachte sie schon seit ein paar Tagen nicht mehr auf. Etwas musste sie belasten. Außerdem verabschiedete sie sich immer früher. Und sie verschob ihre Dienstzeit, indem sie mit anderen Susen tauschte.
Was war nur los?
Sie musste Sorgen haben.
In sich die Sorgenquelle zu sehen, kam ihm nicht einmal in den Sinn. Nein, er stellte sich nicht die Frage: Was habe ich falsch gemacht? Diese Sache mit dem Gewissen war für ihn abgehakt. Vielmehr versuchte er per Ausschlussverfahren festzustellen, was seine Verehrte bekümmerte.
Sicher Probleme in der Familie, schlussfolgerte er zuerst.
Aber als er sie voll warmen Mitleids vorsichtig und diskret fragte, ob es irgendwelche familiären Probleme gab, die sie belasteten, antwortete sie nur verwirrt: "Wie? Was haben denn Sumpfschildkröten mit meiner Familie zu tun?"
Nun ja, vielleicht hatte er die Frage etwas zusammenhangslos gestellt aber wenn sie geistesgegenwärtiger gewesen wäre, hätte sie ihm durchaus folgen können. Ein verwirrter Blick mit einem leisen zornigen Blitzen darin ließ Septimus stotternd Fragen: "D-Die F-Familie? Alles i-in O-Ordnung?"
"Bestens."
Ihre knappe Antwort beinhaltete die Botschaft, nicht weiter zu fragen.
Also machte er sich weiterhin Gedanken im Stillen. Wenn es in der Familie keine Probleme gab, wo lag dann die Quelle ihres Verhaltens? Vielleicht im beruflichen Bereich? Das konnte er sich nicht vorstellen. Auf eine Bezeichnung wie 'Lance-Korporal' konnte jeder Wächter stolz sein. Ihr Fachwissen hatte Lady-Rattenklein - oder 'Ratti' wie er sie bei sich oft nannte - während ihrer Zusammenarbeit mit R.U.M. oft überzeugend demonstriert. Sie hatte auch in letzter Zeit keinen Fall erwähnt, der ihr Kopfzerbrechen bereitete. Damit blieben für Septimus keine weiteren Gründe, warum sie sich Karrieresorgen machen sollte.
Außerdem schien sie körperlich in guter Verfassung, worauf er natürlich besonders achtete. Hätte sich auch nur der kleinste Nieser vernehmen lassen, wäre er sofort mit der entsprechenden Kräutermedizin zur Stelle gewesen.
Schließlich glaubte er die Lösung gefunden zu haben.
*Sie konnte jetzt Septimus kaum noch sehen. Tauchte seine kleine Gestalt irgendwo auf, erfasste sie gegen ihren Willen Verzweiflung. Aber was sollte sie machen? Nervosität packte sie jedesmal, wenn sie merkte, dass ihr die Ausreden ausgingen, um ihn abzuwimmeln. In den langen Gesprächen, die Septimus bei jedem Treffen einfädelte, konnte und wollte sie nicht mehr verhindern, dass sich ihre Gedanken auf andere Dinge konzentrierten, während sie äußerlich den Anschein zu erwecken versuchte, sie höre zu.
Mittlerweile verfolgte sie der Gnom bereits im Traum. Dort schwoll sein Mund zu einer unnatürlichen Größe an, während er unendlich lange Geschichten erzählte. Manchmal sah sie auch nur seine Augen, wie sie sich stumm und vorwurfsvoll in sie hineinbohrten. Einmal träumte sie von einem Schwarm Bienen. Jede einzelne trug Septimus' Gesicht und sie redeten im Chor mit seiner Stimme. Was sie genau gesagt hatten, das war im Nebel des nächtlichen Vergessens verloren gegangen.
Der Hauptgefreite schien überall zu sein. Er konnte hinter jeder Ecke lauern, um sie mit seinen Worten zu überfallen. Sie bekam Angst bei dem Gedanken, ihn wiedersehen zu müssen und verkroch sich immer mehr. So konnte es nicht weitergehen.
*"Liebe Lady", Septimus hatte beschlossen beim Mittagessen in der Wachekantine das Thema zur Sprache zu bringen. "Weshalb versuchen Sie andauernd etwas vor mir zu verbergen, was ich ohnehin schon weiß?"
Die Gnomin erblasste. "Du weißt es?", fragte sie erschreckt.
"Es war nicht schwer herauszubekommen", antwortete er ergriffen.
Sie lächelte. Endlich! Endlich wurde es ihm klar!
"Mir ist das Ganze etwas peinlich", erklärte er, "aber eigentlich nur, weil es Ihnen peinlich zu sein scheint."
Das Lächeln erstarrte langsam. Sie wollte etwas erwidern, rang nach Worten. Schließlich kam er ihr zuvor:
"Sie wollen nicht über Ihre Sorgen reden ... aber ich glaube, ich weiß, was Ihnen fehlt. Endlich weiß ich es! Wenn Sie sich Geldsorgen machen, so helfe ich jederzeit! Wirklich, ich habe eine Menge gespart. Ich gebe nicht viel aus, wissen Sie. Ich bin sehr sparsam und habe soweit alles, was ich brauche. Es gibt ja Leute, die gehen sehr verschwenderisch mit ihrem Geld um, aber ich nicht. Ich habe noch genug und ich würde mich freuen, helfen zu können. Das wäre gar kein Problem. Nehmen Sie es an! Ich - "
Jetzt reicht es, schoss es der Gnomin durch den Kopf und über die Lippen: "Jetzt reicht es!"
Der Ausruf wurde zum Schrei, lauter als geplant. Ringsum erklang das typische Geräusch lauschender Mitwächter: Stühlerücken und auffällig unauffälliges Schweigen, begleitet von überhaupt nicht unauffälligen Blicken.
"Septimus!", presste die Gnomin mit ihrer letzten Geduld leise hervor. "Seelische Zertrümmerung hin oder her. So kann das nicht weiter gehen. Ich bin so nicht glücklich. Und du musst endlich wissen, verstehen und verinnerlichen, dass unser Verhältnis zueinander ... es ist ... ", sie suchte nach einem diplomatischen Begriff - was angesichts ihres aufwallenden Zorns bemerkenswert war - und entschied sich für: "...
asymmetrisch!"
Lady Rattenkleins Inneres fühlte sich an, wie ein Sack, in den man ausgehungerte kampflustige Katzen zusammengesteckt hatte. Es ging wirr zu.
Leichtes Erschrecken und Erstaunen zeichnete sich auf Septimus' Gesicht ab. Dann schlug er sich mit der flachen Hand vor die Stirn. "Entschuldigung!", rief er. "Ich habe Ihnen zu wenig angeboten. Das ist doch lächerlich. Für Sie soll gesorgt sein, sollte mir etwas zustoßen. Bitte!"
Freudig kramte er eine Papierrolle aus einer der Kuttentaschen und streckte es ihr dümmlich lächelnd hin. "Es fehlt nur noch die Beglaubigung eines Anwalts!"
"Was soll das?", sie nahm das Schriftstück entgegen, breitete es aus und las.
Spätestens ab diesem Punkt blickten alle Augenpaare auf Lady Rattenklein.
Stille trat ein. Erwartungsvolle Stille.
Sie las es noch einmal.
Plötzlich sprang sie auf. Ihr Schrei ging ins Hysterische: "Dein TESTAMENT? Ist das etwa mein Name da? Sag mal, SPINNST du?"
Mit einem verwirrten Gesichtsausdruck erhob sich auch Septimus. "W-"
"Nein", fuhr sie ihn sofort an. "Jetzt rede
ich. Nicht
du. Und damit fangen wir sofort erstmal an: Ein Gespräch, Septimus, wird von
zwei Leuten geführt, nicht von einem alleine. Zwei! Du musst dringend lernen zuzuhören! Und du wirst mir jetzt zuhören. Das ist ein Befehl!"
Sie war kurz davor, ihm die Papierrolle um die Ohren zu schlagen.
Der Gnom verstummte sofort.
"Wir leben in unterschiedlichen Welten! Deine Welt dreht sich nur um dich! Du beziehst alles, was geschieht, auf
dich. Alles! Stundenlang laberst und laberst du und denkst, du würdest dich mit mir unterhalten. Aber in der ganzen Zeit: Wann hast du einmal nach
mir gefragt? Sei mal ehrlich, du weißt
nichts über mich. Gar nichts! Und das ist ein soziales Armutszeugnis!"
Er wollte widersprechen, doch sie fiel im ins Wort.
"Hättest du nur ein wenig Aufmerksamkeit, ehrliche Aufmerksamkeit, auf mich gerichtet, dann wäre dir schon lange klar,
dass ich nichts für dich empfinde!"
Er zuckte kurz zusammen als hätte sie ihn geschlagen. Einen Moment lang tat er ihr leid, doch darauf durfte sie jetzt keine Rücksicht mehr nehmen. Es hieß: Entweder er oder sie. Wenn sie diesen Schritt nicht tat, so wusste sie, würde sie keine Achtung mehr vor sich selbst empfinden können.
"So oft habe ich versucht dir das klar zu machen! Aber du kapierst es einfach nicht. Du ignorierst alles, was nicht in dein Weltbild passt und suchst nur nach Bestätigungen für deine Meinung."
Seine Züge verhärteten sich.
"Mit dieser Einstellung kannst du dich niemals, niemals entwickeln! Und irgendetwas Weibliches bekommst du so auch niemals ab, denn Frauen wollen nicht nur gesehen werden, sie wollen auch gehört werden; sie wollen von tatsächlicher Bedeutung sein und nicht so etwas wie ein Applaus-Apparat für dein kaputtes Ego!"
Er kreuzte die Arme vor der Brust und schüttelte langsam den Kopf.
Diese Geste verwirrte sie. Plötzlich wirkte Septimus überhaupt nicht mehr betroffen, sondern eher verärgert. Er tippte respektlos mit einem Fuß auf der Tischplatte und starrte sie voll zornigen Unverständnisses an.
"Darf ich jetzt mal?!", erkundigte er sich dreist.
Weil es zu lange gedauert hätte, passende Worte zu finden, um ihren Vortrag fortzuführen, nickte sie kurz.
"Ich weiß überhaupt nicht, was du hast."
Hatte er gerade "Du" zu ihr gesagt? Er sagte sonst nie "Du" zu ihr. Sonst hatte er immer in sehr respektvollem Ton mit ihr geredet. Jetzt war seine Stimme purer Frost.
"Ich verstehe euch Frauen einfach nicht. Mit keinem Wort habe ich irgendwie Interesse an dir gezeigt. Es scheint mein Fluch zu sein: Wo immer ich auftauche, da sind die Mädels hinter mir her.
Ich wollte jedenfalls nie etwas von dir. So aufregend, wie du denkst, ist deine Gesellschaft sicherlich nicht. Ich schlage vor, dass du mich von jetzt an in Ruhe lässt."
Ein prüfender Blick in seine Augen, sagte ihr, dass er es tatsächlich ernst meinte.
Seine kranke Welt hatte sich wieder einmal gedreht.
Kein Anzeichen von seelischer Zertrümmerung.
Kein Kummer.
Nicht einmal Betroffenheit.
"Fein!", schrie sie.
"Fein.", sagte er kalt, sprang vom Tisch und ließ sie zurück mit all den Blicken.
*Und so kam es, dass die beiden Gnome sich von nun an aus dem Weg gingen. Falls sie sich trafen, vermieden sie es, miteinander zu reden. Falls sie miteinander reden mussten, verliefen ihre Unterhaltungen weitestgehend einsilbig. Ein ausgesprochenes Unausgesprochenes lag zwischen ihnen. Ohne Abneigung konnten sie sich nicht mehr in die Augen blicken. Septimus hatte die Geschichte in seiner Wahrnehmung komplett umgedreht. Für ihn war
sie nun die Nervensäge, deren Belästigungen er nur aus Gutmütigkeit über sich hatte ergehen lassen. Einerseits ärgerte das Lady Rattenklein, weil es schlicht und einfach nicht die Wahrheit war. Andererseits brauchte sie so kein schlechtes Gewissen zu haben, denn ihre Befürchtung, ihn mit ihrer Ehrlichkeit tief zu kränken hatte sich als Illusion erwiesen.
*ENDE*
[1] siehe Single: "Mutter Morpork"
[2] Bei den ranghöheren Wächtern nimmt ihre Hörfähigkeit erstaunlicherweise wieder zu.
[3] Im Verhältnis zu Frau Küchenmeisters Körpergröße handelte es sich bei der zerstörten Kaffeetasse nur um winzige Scherben, aber das war ihr gleichgültig: Scherben waren Scherben. Und den Kaffee hätte schließlich auch noch irgendwer trinken können.
[4] Was stimmte.
[5] Das war nicht ganz die Wahrheit. Er dachte mitnichten permanent daran. Der Gedanke hatte einige Male sein Bewusstsein gestreift und war von ihm immer wieder abgelehnt und verschoben worden, wie ein unangenehmer Arzttermin. Doch an diesem Tag ließ er sich nicht abstreifen, er klebte an ihm; eine hartnäckige Höflichkeit, deren Heilung (ein erleichtertes Gewissen) nur seine Angebetete bringen konnte.
[6] Natürlich mit Hilfe von Wein.
[7] Und mit Hilfe von Wein.
[7a] Bei Gewitter.
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