Nicht immer sind es Verbrechen, die die Stadtwache in Atem halten. Auch Verzweiflung und Not können Wächter in Bewegung setzen.
Dafür vergebene Note: 11
Dienstag, 27. Januar, Jahr der hysterischen Blattlaus, Jahrhundert der Sardelle, Früher NachmittagDas Gespräch war gut verlaufen. Er hatte sich vorher große Sorgen gemacht aber sein Vorgesetzter hatte sich die Situation beschreiben lassen und ihm zu verstehen gegeben, dass er, bei allem Rückstand, mit ihm zufrieden war. Jovomir war dankbar und erleichtert.
"Nun, aber wir brauchen die Zahlen, das weist du ja." Fulbert Krolter, seines Zeichens Quästor des Ordens der barmherzigen Brüder der dreiundvierzigsten Sequenz des siebenten Kreises des liebenden Gottes Om sah seinen Buchhalter an. "Bis Übermorgen muss ich die Zahlen auf dem Tisch liegen haben." Er drehte sich und verließ mit würdevollen Schritten das karg eingerichtete Büro Bäckers, der ihm ruhig nachschaute.
Nur zwei Minuten später war alles vorbei, der Druck der vergangenen Wochen und die Gedanken über seine eigene Unzulänglichkeiten brachen sich Bahn.
"Ich halte das nicht mehr aus!" Jovomir Bäcker schlug mit der Faust auf den Tisch. "Das wird mir alles zuviel. Ich kann nicht mehr! Ich will nicht mehr!"
Jovomir bebte am ganzen Körper und atmete schnell und unkontrolliert. Dann ließ er sich langsam auf seinen harten Bürohocker sinken und schlug die Hände vor sein Gesicht. Tränen tropften auf ein Blatt voller Zahlen und verwischten die Tinte.
***"So. Und jetzt einfach zwei Nägel in die Wand und dann können wir den Plan aufhängen."
Rea Dubiata, Oberfeldwebel und Abteilungsleiterin von SEALS, schaute sich befriedigt im Übungsraum der SEALS um. Wo bisher nur mehr oder weniger Gerümpel herumgestanden hatte, standen nun einige neue Tische und Stühle. Die Wände waren in freundlichem beige gestrichen. Neben der Tür, auf einem kleinen Podest, stand ein ausgestopfter Seehund, den die Abteilungsleiterin irgendwo im Wachhaus abgestaubt hatte - im wahrsten Sinn des Wortes.
Ruppert ag LochMoloch stand auf einer Leiter, schlug die Nägel in die Wand und hängte dann eine große Karte von Ankh-Morpork an die Wand, auf der die Routen der Streifengänge eingezeichnet waren. Er hatte sich freiwillig zum Helfen gemeldet, als Rea jemanden gesucht hatte, der ihr bei der Neugestaltung von SEALS 7 im 2. Stock des Wachhauses am Pseudolpolisplatz helfen sollte. Nun sah er sie aus den Augenwinkeln an und fand, dass sie wieder einmal umwerfend aussah. Er seufzte tief.
"Ist was, Ruppert?" Rea rückte ein paar Kissen, die mit kleinen Blümchen bestickt waren, auf der Eckbank zurecht und sah den jungen Mann den sie ausgebildet hatte fragend an.
"Oh, nein, Mä'am. Ich habe nur gerade an, äh, meine Schwester gedenkt. Ge-gedacht meine ich."
"Du denkst oft an sie und seufzt dann. Hast du Heimweh?"
"Nein eigentlich nicht, Mä'am."
"Wäre ja nicht verwunderlich. Wenn man diese miefige Stadt mit dem freien Leben außerhalb vergleicht, meine ich."
"Ja, schon, aber hier ist auch mehr los. Und man trifft auf, ähm, ja äh auf Leute, meine ich. Ja, auf Leute. Nette Leute. Und so halt eben." Ruppert schimpfte innerlich mit sich selbst, weil er es immer wieder schaffte in Reas Gesellschaft zum Trottel zu werden.
Sie sah ihn an wie er da auf der Leiter stand und fragte sich einmal mehr wie sich so ein harmlos-netter Bursche als Wächter durchschlagen konnte. Offenbar war er in sie verliebt. Es amüsierte sie immer wieder wenn sie ihn dabei ertappte, dass er sie heimlich anschaute und rot wurde, wenn er glaubte sie könnte etwas bemerken. Irgendwann würde sie mit ihm reden müssen - aber noch fand sie Gefallen an dem Spiel. Nicht, dass sie irgendein Interesse an ihm gehabt hätte. Aber sie fand es lustig und in gewisser Weise auch schmeichelhaft.
Ruppert stieg von der Leiter herunter und stellte sich neben seine Chefin. "Hängt gerade und sieht gut aus, Mä'am."
Sie nickte zufrieden. "Sehr schön. Morgen stellen wir noch die beiden Schränke auf und dann können wir den Raum endlich als Schulungs- und Übungsraum benutzen.
Der Gefreite sah auf die nagelneue Wandtafel, die ein dankbarer Möbelfabrikant zusammen mit allen anderen Möbeln gestiftet hatte, nachdem er auf einem Streifengang zusammen mit Sara Gutmut seine kleine Tochter vor einem durchgehenden Pferdegespann gerettet hatte.
"Ja, und ich muss mich jetzt sputen, denn ich habe gleich Dienstbeginn. Menélaos wird schon warten.
"Ja, gut, vielen Dank, dass du mir geholfen hast." Sie lächelte ihn strahlend an und Ruppert wurde wieder einmal rot vor Verlegenheit.
"Ge...ge...gern geschehen, Mä'am."
Menélaos Schmelz, Szenekenner in Ausbildung, stand schon an der Tür ihres gemeinsamen Büros und wartete auf den Vektor.
"Hallo, Ruppert. Kann es losgehen?"
"Klar, Menélaos. Ich hole nur noch schnell meinen Kram. Bin gleich wieder da."
Ruppert ging in das Büro, zog sich schnell Harnisch und Helm an und schnallte das Kurzschwert um. Dann nahm er seinen Rucksack und ging nach draußen.
"Na, das ging ja wirklich fix", lobte Schmelz und die beiden verließen das Wachhaus um Route 4 abzumarschieren. Ruppert mochte diese Route besonders, denn sie führte an "Bei Olof" vorbei, sein Lieblingscafé. Er freute sich schon darauf Menélaos mit dem besten Apfelkuchen der Stadt bekannt zu machen und zu sehen wie der Kondichemiker darauf reagierte.
***Jovomir schrieb mit zitternden Händen eine kleine Nachricht.
"Bitte vergib mir, meine geliebte Sorinia. Aber ich kann nicht mehr. Ich weiss nicht mehr ein noch aus. Verzeih mir!"Dann nahm er seine schon fadenscheinige Jacke vom Haken neben der Tür und verließ das Büro. Er schlich am Büro des Quästors vorbei und verließ den Tempel in der Gutschnellstraße. Draußen hielt er einen Straßenjungen an und gab ihm einen halben Cent und den Brief. "Bring ihn in die Hirtengasse 3 zu Frau Bäcker. Da bekommst du noch einen Halben", versprach er dem Jungen, der sofort loslief.
Jovomir sah sich um und sah die hohen Bäume des Hide Parks aufragen. Entschlossen lief er über die Straße und betrat den Park. Es war früher Nachmittag und viele Menschen waren unterwegs um in der grünen Lunge Ankh-Morporks etwas bessere Luft zu atmen und etwas anderes zu sehen als ewigschmutzige Häuserschluchten und Straßen.
Ziellos lief er umher und seine Gedanken kreisten um sein Versagen, seine Unfähigkeit seine Familie, Sorinia und die beiden Kinder Ponder und Suzanne, vernünftig zu unterhalten. Sie musste ihn doch verachten, die die er am meisten liebte. Ganz bestimmt verachteten sie ihn, auch wenn sie es versuchten vor ihm zu verbergen. Überhaupt gab es niemanden auf der Welt, der ihn mochte. Weil er ein Versager war. Unfähig, blass, feige, häßlich, einfach nichts wert. Er wünschte sich nur noch Ruhe, lange und ewige Ruhe.
***"Glaub mir, einen besseren Apfelkuchen wirst du nicht finden."
Menélaos sah skeptisch aus aber er folgte Ruppert in das kleine Café.
"Hallo, Herr LochMoloch", wurde er gleich von einer Kellnerin begrüßt. "Dasselbe wie immer?"
"Ja, Kathie, zweimal bitte."
Die junge Frau lächelte und ging zum Tresen, wo verschiedene Kuchen auf Porzellantabletts standen. Sie stellte zwei Tassen in eine Kiste und überredete den Kaffeedaemon, der darin hauste, dazu sie zu füllen.
Dann brachte sie zwei große Stück Apfelkuchen und zwei Tassen Kaffee an den kleinen Tisch, an den sich die Wächter gesetzt hatten.
"Bitte sehr die Herren."
"Danke, Kathie. So, Menélaos, nun probier mal."
Misstrauisch schnupperte der ehemalige Konditor an dem Kuchen.
"Hmm."
Dann stach er ein winziges Stück mit der Gabel ab und steckte es in den Mund.
"Hmm."
Langsam und mich nachdenklicher Miene kaute er.
"Das erinnert mich ein wenig an mein erstes Lehrjahr. Damals habe ich versucht einen Apfelkuchen aus schon recht schrumpeligen Äpfeln zu backen. Ich habe sie deshalb vorher in einem Apfelschnaps aus den Spitzhornbergen eingeweicht."
Verträumt steckte er ein zweites, größeres Stück in den Mund und erzählte nun ein wenig undeutlicher weiter.
"Esch gab nur ein kleinesch Pfroblem ...", er schluckte den Kuchen hinunter und sah erstaunt auf das kleiner gewordene Stück vor sich, "... als ich den Kuchen in den Ofen geschoben habe ist er explodiert." Er nahm eine weitere Gabelvoll in den Mund. "Isch meine der Kuchen ischt ekschplodiert. BUMMM!" Er holte weit aus und prustete kleine Kuchenstückchen in die Gegend.
"O, entschuldige, Ruppert." Menélaos wurde rot und trank schnell einen Schluck Kaffee.
Der Vektor grinste seinen Kollegen an, den er zu mögen begann.
"Mir scheint, der Kuchen findet dein Gefallen, Menélaos?"
"Naja, ich kann nicht ... Quatsch, der Kuchen ist echt gut." Genüsslich leckte Schmelz die Gabel ab. "Und hör auf mich Menélaos zu nennen. Ich bin einfach nur Mené für meine Freunde."
***Sorinia Bäcker saß in Tränen aufgelöst bei Vater Korin, einem alten Priester des Ordens der barmherzigen Brüder der dreiundvierzigsten Sequenz des siebenten Kreises des liebenden Gottes Om und hielt den Brief ihres Mannes in den zitternden Händen.
"Nun, mein Kind, er machte einen so fröhlichen Eindruck als er heute Morgen zur Arbeit kam." Die Stimme des alten Mannes klang ratlos.
"Ja, Vater, aber er klagte in der letzten Zeit so oft über den Druck, den ... den ... den er hatte."
"Sag es nur. Du meinst den Druck unseres Quästors?"
Sorinia nickte. "Ja, Vater. Er sollte doch alles fertig haben um alle Spenden des vergangenen Jahres ordentlich abzurechnen. Aber er musste so viele Fehler korrigieren, dass er einfach nicht rechtzeitig fertig werden konnte. Das hat ihn so niedergedrückt."
Der alte Mann sah sie traurig an. "Aber warum ist er denn nicht zu mir gekommen, oder zu Fulbert? Wir hätten ihm doch geholfen."
Sie schluchzte. "Er konnte das nicht sagen. Er hatte Angst, dass ihr ihn verachten würdet. Er war nach Außen immer fröhlich gespielt, aber in seinem Inneren war es oft dunkel und so traurig."
Betroffen sah der Priester sie an. Für ihn war Jovomir immer ein emsiger und intelligenter Angestellter gewesen, der seine Arbeit gutgelaunt erledigt hatte und dem sie auch noch Spaß gemacht hatte. Niemals hätte er gedacht, dass der Buchhalter sein wahres Wesen hinter einer Maske verarg. Und mit einem leisen Stich ins Herz wurde ihm klar, dass er sich deshalb schuldig fühlte. Schuldig daran niemals tiefer geforscht zu haben, niemals mit ihm längere Gespräche geführt zu haben. Ihm kamen Begegnungen in den letzten Wochen in den Sinn und er fragte sich ob vielleicht ... Er seufzte tief. Vielleicht war es ja noch nicht zu spät.
"Sorinia, wir gehen jetzt zur Stadtwache und bitten sie um Hilfe. Sie sollen ihn suchen und heimbringen. Und ich werde die Brüder bitten, dass sie für ihn beten."
***Jovomir lief ziellos durch die Stadt. In seinem Kopf wirbelten nur noch Gedanken um sein Versagen und der Wunsch endlich ein Ende machen zu können. Schon seit Stunden irrte er durch die kleinen Gassen rings um den Hide Park. Er nahm nichts um sich herum wahr und vermied Zusammenstöße mit anderen Menschen nur rein instinktiv.
***Als Menélaos und Ruppert ins Wachhaus zurückkamen wurden sie sofort in Reas Büro geschickt.
"Hallo, ihr beiden. Wir haben eine Vermisstenanzeige bekommen. Ein Mann ist verschwunden und seine Frau hat Angst, dass er sich etwas antun könnte."
Sie schob eine Ikonographie über den Tisch, auf der ein langer, schmaler Mann zu sehen war.
"Das ist Jovomir Bäcker. Er hatte wohl ziemlichen Druck auf der Arbeit bei einem dieser obskuren Om-Sekten und ist ausgerastet. Ihr hattet doch heute die Route vier, nicht wahr? Habt ihr ihn zufällig gesehen?"
Die beiden Gefreiten sahen sich das Bild an und schüttelten den Kopf.
"Nein, Mä'am." Menélaos zuckte mit den Schultern.
"Nein, Mä'am, aber wir haben natürlich auch nicht darauf geachtet", sagte Ruppert.
"Ja, das war auch nicht zu erwarten. Auf jeden Fall werdet ihr jetzt noch einmal los ziehen und euch in der Gegend umsehen. Ich habe auch schon Sara, Miriel, Jargon und Bjorn losgeschickt. FROG durchsucht die Nachbarviertel und GRUND hat die Gelegenheit genutzt und sämtliche Rekruten aufgescheucht um die Suche zu unterstützen."
"Also ein richtiger Großeinsatz", staunte Menélaos.
"Ganz genau." Rea sah Ruppert auf einmal nachdenklich an. "Ich habe mir das gerade anders überlegt. Ruppert, du und ich, wir werden zusammen gehen. Gefreiter Schmelz wird hier die Stellung halten, bis wir wieder zurück sind. Das ist eine gute Gelegenheit dir mal wieder ein paar Vektorentricks beizubringen."
"Wir sind die netten Polizisten. Aber das wissen die meisten Leute nicht, denn sie sehen nur die Uniform. Wer kennt sich auch schon mit den Rangabzeichen der Wache aus? Für uns ist es deshalb wichtig ...?" Rea sah Ruppert fragend an.
"... für uns ist es wichtig, dass uns die Menschen kennen und vertrauen. Uns als Personen sehen und nicht nur als Wächter."
"Nur Menschen?"
"Nein, Mä'am, natürlich auch die anderen, die Zwerge, Trolle, Untoten und so weiter."
"Hast du ein Problem mit den anderen?"
Ruppert sah Rea überrascht an. "Aber nein. Mit Norti mach ich ab und zu Musik und wir haben schon überlegt ob wir nicht eine Wache-Band-Mit-Steinen-Drin gründen sollen. Aber bis jetzt fehlt uns da leider noch ein Troll."
"Gut. Ein Vektor muss alle Wesen gleich behandeln und deshalb ...?"
Ruppert seufzte innerlich weil Dubiata nun wirklich die grundlegendsten Sachen nachfragte. "... muss ein Vektor mit allen Besonderheiten kultureller und speziesistischer Art vertraut sein. Ein Vektor darf sich keineswegs Vorurteile gegen Rassen oder Daseinsformen erlauben. Ein Vektor muss aber auch in der Lage sein zu erkennen, wann wesensbedingte Besonderheiten mit den Gesetzen der Stadt kollidieren und entsprechend eingreifen wenn es seine persönliche Sicherheit erlaubt. Ansonsten hat er, insbesondere durch Einsatz der modernen Kommunikationsmöglichkeiten der Wache, dafür zu ..."
Rea winkte ab. Rupperts Lehrbuchwissen brauchte sie offenbar nicht weiter abzufragen.
"Was machst du wenn du einen potentiellen Selbstmörder vor dir hast?"
"Der Vektor wird unter Beachtung ..."
"Nein, ich will nicht wissen was im Lehrbuch steht, sondern was du machen würdest", unterbrach ihn seine Vorgesetzte ernst.
Ruppert dachte nach. "Kommt drauf an wie er sich umbringen will. Ich meine, wenn er in einer Zwergenkneipe das Lied vom kleinen Rasenschmuck singt, dann kann ich nur die Reste zusammenfegen und mehr nicht. Wenn er, na ja, sagen wir mal von einem Hausdach springen will, dann würde ich versuchen mit ihm zu reden und meinen Begleitwächter bitten einen Püschologen zu holen, denn ich hätte da gerne einen Profi an meiner Seite - oder um ehrlich zu sein: An meiner Stelle. Also, ganz auf die Situation bezogen."
Rea nickte beifällig. Neben Lehrbuchwissen zeigte ihr ehemaliger Auszubildender auch eine gute Portion gesunden Menschenverstandes. Jetzt war sie nur noch gespannt wie er selbständig mit einer Krise fertig werden würde. Sie hoffte zwar nicht auf eine, aber sie wusste, dass es in Ankh-Morpork nahezu unmöglich war um Krisen herumzukommen.
***"Großer Om, wir bitten dich: Errette unseren Bruder Jovomir um den wir fürchten."
Rund um den großen Schildkrötenaltar des großen Om-Tempels in der Straße der Geringen Götter waren viele Priester aus allen möglichen Om-Sekten versammelt und beteten intensiv dafür, dass Jovomir unbeschadet zurück kommen würde. Schon seit Stunden beteten sie aber noch hatte sich die Schildkröte nicht bewegt.
"Liebender Om, führe ihn doch zu uns zurück ..."
Mittwoch, 28. Januar, Jahr der hysterischen Blattlaus, Jahrhundert der SardelleEs war schon lange nach Mitternacht und das sonst so rege Leben der Stadt war durch das Schleichen der nächtlichen Arbeiter abgelöst worden. Er stand lange an der Brüstung der Ankh-Brücke und starrte auf den träge sich hinschiebenden Fluss. Sollte er springen? Alles war so sinnlos und er sehnte sich nur noch nach dem Ende. Stand da nicht eine schattenhafte Gestalt am Ende der Brücke? Blitzte da nicht Mondlicht bläulich auf einer Sensenklinge? Jovomir blinzelte aber da stand niemand. Es musste eine Täuschung gewesen sein. Er kletterte auf die Brüstung und hielt inne. Der zähflüssige Fluss bot keine Sicherheit. Aber er lockte ihn. Versprach Frieden und Schutz. Und dennoch würde ihn der Fluss genau so zurückweisen wie ihn auch alle Menschen zurückwiesen. Auch die, die er liebte, die ihm mehr als alles bedeuteten ... leere Versprechen ... seine Gedanken drehten sich im Kreis. Er kletterte von der Brüstung und setzte seine ruhelose Wanderung durch die Stadt fort.
***In einer Spelunke in der Affenstraße saß ein Mann mit einem struppigen roten Bart und starrte in sein zur Hälfte gefülltes Glas. "Halbleer? Halbvoll?", brummelte er nachdenklich und fuhr sich mit der Hand über den kahlen Kopf. Er hatte ein Langschwert an den Tisch gelehnt und seine fadenscheinige schwarze Kleidung passte gut in den recht heruntergekommenen Raum. Der Wirt lief geschäftig hin und her und verteilte mit seinem schmierigen Lappen dienstfertig den Schmutz gleichmäßig auf den Tischen.
Die windschiefe Tür wurde aufgestoßen und ein kleiner Mann kam herein. Er hatte ein schmales Gesicht mit einer spitzen Nase und hervorstehenden Zähnen. Sein kurzgeschnittenes Gesicht und die kleinen Ohren verliehen ihm ein sehr rättisches Aussehen. Ein Aussehen, an dem er übrigens stets arbeitete und auf das er stolz war. Hobart die Ratte wurde er nicht zu Unrecht genannt. Er sah sich um, entdeckte einen freien Stuhl an dem Tisch des kahlen Mannes und ließ sich darauf fallen.
"Grüsch disch Ettark", zischelte er.
[1]"Hallo, Ratte. Was gibt es Neues da draußen?"
Da draußen - das war die Schattenwelt der Docks in denen Hobart zuhause war und sich mit ein wenig Schwindel und Betrug und ab und zu auch einmal einem Diebstahl seinen Lebensunterhalt verdiente.
Hobart lachte. "Du wirscht esch kaum glauben, da schtand doch eben scho ein Typ auf der Brücke und wollte runterschpringen. Aber dann hat er esch schisch doch andersch überlegt und ischt wieder runtergeklettert. Esch war schum Lachen wie er da schtand. Isch weisch noch wie schisch diescher komische Kartenschpieler umbringen wollte und geschprungen ischt. Au und ab isch er gehüpft. Wie auf einem verdammten Trampolin."
"Ha! Ha! Ha!", sein Zuhörer lachte pflichtschuldig. "Und wohin ist er verschwunden"?
"Wasch weisch isch? Er ischt halt über die Brücke. Vielleischt hat er schisch am Galgen aufgehängt." Der rattengesichtige Mann lachte sich über seinen eigenen Witz schief und bemerkte zuerst gar nicht, dass sein Tischnachbar aufstand und das Lokal verließ.
***"Versuchigter Selbstmord auf Ankh-Brücke. Isset vielleicht der Vermissigte. Isset in Richtung Hide-Park gegangen. Ich gehe nach. Schickt Verstärkung. OG Bergig"Rea hielt die Nachricht in der Hand, die der Informantenkontakter Ettark Bergig per Taube geschickt hatte. Vielleicht hatten sie jetzt eine Spur des Vermissten. Dumm war nur, dass so gut wie alle Wächter nach dem langen Einsatz müde in der Kantine saßen oder schon nach Hause gegangen war. Nun, da half nichts. Sie mussten noch mal raus.
Es war eine bitterkalte Nacht. Der Mond und die Sterne schienen von einem klaren Himmel. Es hatte an den Tagen vorher ein wenig geschneit und hier und da lagen noch Flecken des weißen Schnees, der sich auf den Gehwegen und Straßen längst in braunen Matsch verwandelt hatte. Ruppert trug dicke Beinlinge unter seinem Kilt und einen warmen Umhang aus Wolle. Dennoch war ihm kalt.
"Lass uns etwas schneller gehen, Mené", bat er seinen Begleiter, "mir ist saukalt."
Der Kondichemiker nickte nur und die beiden legten einen Schritt zu.
"Was denkst du, haben wir eine Chance ihn zu finden?" Der Szenekenner blies sich in die Hände und zog die Handschuhe wieder an.
"Nein, die Chance ist recht gering. Aber wir müssen vor allem püschologisch denken. Wenn er sich wirklich selbst töten will, wie und vor allem wo macht er das?"
Menélaos brummelte etwas vor sich hin und Ruppert redete weiter: "Wie würdest du dich umbringen? Ich meine, seltsamerweise springen die wenigsten Leute von einem hohen Haus. Denn das muss nicht unbedingt tödlich sein. Wenn du überlebst, dann bist du ein Krüppel. Auch aufhängen kann sehr schmerzhaft sein."
"Also etwas was schmerzfrei ist oder sehr schnell geht?", riet Schmelz.
"Richtig. Deshalb gehen viele ins Wasser, weil sie damit etwas friedliches verbinden. Ertrinken scheint für sie so was wie einschlafen zu sein. Man kann sich an einen Profi wenden, aber weder die Assassinen noch die Meuchlergilde hat einen Auftrag für Bäcker angenommen. Zumindest sagt das DOG."
"Ach, die arbeiten wieder?"
"Ja, die kleine Aufmunterung des Chefs hat sie offenbar wieder motiviert."
[2] Ruppert grinste als er an die Einweisung der DOG Wächter in andere Spezialisierungen dachte. Schade, dass er niemanden abbekommen hatte.
"Also, was dann?"
"Was? Ach so, er hat wohl versucht in den Ankh zu springen. Es gibt in der Stadt nur zwei Möglichkeiten ins Wasser zu gehen ohne vorher ein Loch in den Fluß graben zu müssen. Der See im Hide Park oder der Mengensee am Henne-und-Küken-Feld. und genau dahin gehen wir gerade."
"Da führt doch auch eine Brücke drüber", wusste Menélaos.
"Ganz genau. Und der See ist noch nicht so dick mit Eis bedeckt, dass es einen Sprung aushalten würde. Dazu kommt noch die Kälte des Wassers, eine ziemlich starke Untersrömung und das Eis, dass dick genug ist um von unten her nicht aufgebrochen werden zu können. Also wenn ich springen wollte, dann da."
Die beiden Wächter liefen schweigend durch die dunkle Teekuchenstraße und erreichten den Platz mit dem seltsamen Namen. Sie umrundeten den See und gelangten schließlich zur Wasserstraße, die direkt über den Mengensee führte. Schon von weitem sahen sie, dass jemand auf der Brüstung der Brücke stand. Unwillkürlich begannen sie zu rennen. Der Mann auf der Brücke musste sie wohl gehört haben, denn er drehte sich um und sah die beiden Wächter näherkommen.
***Jovomir war durch den Hide Park gelaufen und hatte sich am Ufer des Sees auf eine Bank gesetzt. Im hellen Mondlicht glitzerte das Eis auf der Oberfläche märchenhaft. Nach einer Weile hatte er einige zögernde Schritte auf das Eis getan und es war dick genug ihn zu tragen. Die friedliche Stille um ihn herum beruhigte ihn etwas; er sah verwirrt auf das Eis und hörte das Wasser unter sich gluckern. Was machte er hier? Hastig und voller Angst kehrte er zum Ufer um und setzte sich wieder auf die Bank, wo er erneut in unseliges Grübeln verfiel. Als ihm kalt wurde stand er unbewusst auf und setzte seine Wanderung durch die Stadt fort. Immer wieder gingen die Gedanken an seine Fehlerhaftigkeit, Unfähigkeit, Nutzlosigkeit durch den Kopf und immer heftiger wurde die Sehnsucht nach Frieden und Geborgenheit. Er nahm nicht mehr wahr was um ihn geschah und ging instinktiv seinen Weg. Er erreichte die Brücke über den Mengensee und kletterte auf die Brüstung. Dabei verlor er seine Kappe und die Tasche seiner dünnen Jacke riß ein, als er an einem Vorsprung hängenblieb. Sein Notizbuch fiel heraus und landete auf der Straße. Dann stand er auf der Brüstung und sah völlig verzückt auf den See unter sich. Seine Gedanken waren nun frei und rein. Er sah klar den Weg vor sich, den er gehen musste. Er war sehr kurz. Nur einen Schritt lang. Als er schnelle Schritte hörte drehte er sich um und sah zwei Gestalten auf sich zulaufen. Er lächelte. Es war zu spät, viel zu spät.
***Ruppert und Menélaos sahen erschrocken wie der Mann einen Schritt nach vorne machte und fiel. Sie hörten ein berstendes Geräusch und als sie zu der Stelle kamen konnten sie nur noch ein Loch im Eis erkennen. Ruppert legte seinen Harnisch und den Umhang ab und kletterte auf die Brüstung. Aber sein Kollege riss ihn wieder zurück.
"Bist du wahnsinnig? Das hat doch keinen Sinn!"
Ruppert sah ihn an und nickte benommen.
"Danke, Mené. Ich war wohl etwas ..." Er schüttelte den Kopf.
"
Dumm ist das Wort nachdem du sucht.
Bescheuert würde es auch treffen oder ...!" Schmelz klang wütend.
Ruppert fuhr herum und schrie seinen Kollegen an: "Ja, ist ja gut, du hast ja recht!" Dann atmete er tief durch und entschuldigte sich. Menélaos grinste ihn an und schlug ihm auf die Schulter. "Ist schon gut, Ruppert, kein Problem."
Ruppert schnupperte. "Hier riecht es nach ... Pfefferminzhimbeeren? Wo kommt denn das her?" Menélaos wurde rot, was Ruppert aber nicht erkennen konnte.
"Keine Ahnung, ich rieche nichts. Aber was machen wir jetzt?"
"Ich denke wir schicken eine Taube zum Wachhaus und warten auf SUSI. Die sollen gucken ob sie was finden. Und wir machen dann Feierabend." Der Vektor sah auf das Loch im Eis hinunter und seufzte. "Armer Kerl!"
"Ja, und seine arme Familie..."
Die beiden seufzten unisono und Ruppert schrieb eine Botschaft, die er an das Bein einer Taube band, die er immer in einem kleinen Käfig dabei hatte.
Freitag, 30. Januar, Jahr der hysterischen Blattlaus, Jahrhundert der Sardelle"Hätten wir mehr tun können?" Ruppert saß seiner Chefin gegenüber und sah sie fragend an. Die lächelte ihn an und schüttelte den Kopf.
"Nein, Ruppert. Wenn jemand fest entschlossen ist sich zu töten, dann können wir nichts mehr tun. Er kann nur gerettet werden wenn die Menschen in seinem Umfeld rechtzeitig bemerken, dass sich etwas bei ihm verändert. Und wenn sie auch bereit sind ihn auf diese Veränderungen anzusprechen. Aber leider ist es so, dass wir uns oft nicht trauen jemanden beiseite zu nehmen und ihn wirklich ernsthaft zu fragen wie es ihm geht."
"Und wie bemerkt man so etwas?"
Rea seufzte tief. "Manchmal eben gar nicht. Wenn die Maske zu gut ist. Dann stehen seine Freunde, dann steht seine Familie ratlos da und die Fragen und Schuldgefühle können kaum geklärt werden."
"Und die Stadtwache? Wenn wir ihn rechtzeitig gefunden hätten?"
Rea sah Ruppert scharf an. "Machst du dir etwa Vorwürfe?"
"Na ja, schon - ich meine, wenn ich etwas früher ..."
"Vergiss es, Gefreiter!" Rea unterbrach den jungen Mann hart. Ihre Augen funkelten wütend. "Es gibt immer ein
'Wären wir' oder
'Hätten wir'. Wenn du es wissen willst: Ja, du hättest ihn retten können ... Vielleicht! Wenn ihr nicht gerannt wärt, sondern euch angeschlichen hättet. Wenn du ihm einen Bolzen ins Bein geschossen hättest. Wenn du ihm nachgesprungen wärst. Aber du hast nichts davon gemacht, sondern das, was dir in diesem Moment richtig erschien. Halte dich an diesem Gedanken fest! Der Mann ist tot. Nach den Spuren, die die Susen gefunden haben war es Jovomir Bäcker. Es war sein Notizbuch und seine Frau hat die Kappe erkannt, die auf der Brücke lag. Wenn es wieder wärmer wird, wird er auftauchen und dann findet der Fall einen endgültigen Abschluss. Aber, Ruppert ...", ihre Stimme klang jetzt sanfter, "... für uns muss es ein Fall bleiben. Wenn wir anfangen uns zu sehr zu engagieren, dann können wir nicht mehr nüchtern denken. Wir sind die, die über den Gefühlen stehen. Wir sind die Profis."
"Auch wenn es schwer fällt?", Ruppert flüsterte fast.
"Auch wenn es unmöglich ist", seufzte Rea.
[1] Man sollte sich dieses "sch" nicht wie bei Wawa von der Augsburger Puppenkiste vorstellen sondern wie ein scharfes Zischeln..
[2] Das bezieht sich auf die Single "Strafarbeit" von Breda Krulok
Zählt als Patch-Mission für den Vektor-Patch.
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