Jeder Wächter hat eine Vergangenheit... Und wie alle wissen, kommt es im Leben häufig auf die Dinge an, die nicht gesagt werden...
Dafür vergebene Note: 11
"Brag, zum letzten mal, du bist kein Vampir!"
"Ach, und warum bin ich dann auf
das hier angewiesen?" Braggasch hob die Tasse mit... Er war sich nicht sicher, was es war, aber es war rot und flüssig, und er fühlte sich besser, nachdem er es getrunken hatte. Der Zwerg hoffte inständig, dass aus jenen Knollen bestand, von denen sich Rascaal Ohnedurst gerüchteweise ernähren sollte.
Sebulon schüttelte resignierend den Kopf. "Sag doch auch mal was!", fuhr er Menélaos an, der angestrengt in seinen Bierhumpen starrte.
"Wasn?"
"Ich versuche Brag davon zu überzeugen, das er noch lebt, und du sitzt da und sagst nichts!" Samax Sohn war wieder einmal in einer seiner Stimmungen. Ihn ärgerte die Dummheit anderer Leute, im Moment besonders die von seinem besten Freund.
"Ich glaube da drin hat sich grade was bewegt... sah aus wie ein Auge...", teilte der ehemalige Konditor der Welt mit und beobachtete weiter das Glas.
Sebulon stöhnte. "Vielen Dank für deine Hilfe!"
Die drei Gefreiten saßen im
Knochen. Sebulon war dieser Keller ganz und gar nicht geheuer, aber Braggasch hatte darauf bestanden, um sich seiner neuen "Gattung" anzunähern. Menélaos wankte zwischen Neugier und Abscheu, einerseits, da er viele neue Rezepte entdeckte, die er nicht einmal für möglich gehalten hatte, andererseits, weil er argwöhnte, dass sie die einzigen waren, die ihre Lungen mit der stickigen Luft füllen mussten.
Samax Sohn nahm kopfschüttelnd einen Schluck von seinem Bier, während Braggasch sich verträumt umsah, und stellte erstaunt fest, dass es gar nicht mal so schlecht schmeckte, auch wenn der Wirt, ein Igor, anscheinend Wert darauf legte, dass sein Bräu angemessen modrig war.
"Wenn man sich vorstellt, was man... äh... für Möglichkeiten hat!", seufzte Goldwart entzückt.
"Wie?", murmelte Menélaos, tunkte einen Finger in das Bier und schnupperte daran.
"Na, ich meine als... äh... Untoter."
"Achja?" Vorsichtig leckte der Kondichemiker über seinen Finger und verzog das Gesicht. "Sehr herb..."
"Ja... äh..." Langsam hatte Braggasch das Gefühl, das ihm keiner richtig zuhörte. "Ich habe sogar davon gehört, das jemand einen Klub gegründet hat... äh..." Der Zwerg brach ab.
Schweigend beobachteten sie, wie der Igor einem Zombie eine Tasse voll dampfendem Tee brachte. Wenig später löste sich die - wohl schon mehrfach angenähte - Nase des Untoten und fiel mit leisem Platschen in das Getränk.
Sie konnten sich ein leises, prustendes Lachen nicht verkneifen.
"Auf jeden Fall besser als eine wandelnde Leiche...", murmelte Sebulon, als der Zombie umständlich mit den Fingern im heißen Tee herumfischte.
"Was meinst du?"
Der Zwerg schüttelte leicht den Kopf. "Sag mal, Brag,", schnitt er ein anderes Thema an. "Ich hab dich nie gefragt, aber grade kommt mir der Gedanke. Wo wohnst du eigentlich?"
Peinliche Stille schloss sich an.
"Na was?", bohrte der Zwerg nach. "Du bist immerhin schon einige Monate in Ankh-Morpork, da musst du ja irgendwo untergekommen sein. Im Wachhaus schläfst du jedenfalls nicht."
"Das... äh... hab ich, zumindest am Anfang, im Keller. Aber dann wurde es mir da... äh... irgendwie zu gruselig.", wich Goldwart aus.
Mit lautem Klappern stieß der Zombie seine Tasse um, und die Nase rutschte auf einer Welle von schwarzem Tee vom Tisch und plumpste auf den Boden.
"Zu gruselig...", flüsterte Menélaos gedankenverloren. "Na klar..."
Aber Sebulon lies nicht locker. "Jetzt sag schon. Da du ja nie Geld hast, dürfte es eine Recht teure Unterkunft sein, was?" Als Braggasch noch immer schwieg, lachte sein Freund kurz auf. "Du wohnst aber nicht bei den Näherinnen, oder?"
Verärgert schüttelte der Blondgelockte den Kopf. "Quatsch! Ich... äh... ich habe nie Geld, weil ich es wie jeder Zwerg anständige Zwerg, zu meinen Eltern nach Hause schicke."
Sein Gegenüber machte große Augen. "Aber doch nicht alles, oder?"
"Naja..." Braggasch senkte beschämt den Blick. "Ein bisschen geht natürlich für Essen... äh... und so drauf, aber meine Mutter sagte: Sohn, denk daran deinen Sold zu schicken, wie es jeder anständige Zwerg tun würde."
Menélaos wechselte mit Sebulon einen Blick und sagte dann: "Meinst du nicht, die hat es... nicht ganz so drastisch gemeint?"
"Oh... Meine Eltern waren schon immer sehr... äh... deutlich."
"Wirklich? Du erzählst sonst nie von zu Hause. Wie war es da sonst so?" Interessiert beugten sich die beiden Gefreiten näher.
"Äh..." Während der Untote vom Nebentisch lautstark nach zwei Metallklammern verlangte, versuchte sich Braggasch Goldwart zu erinnern.
"Mutter?"
Erst die Stille hinter dem Wort erinnerte Gladdis Goldwart daran, dass sie gemeint war. Für gewöhnlich wurde sie von keinem ihrer Kinder so angeredet - von keinem außer Braggasch.
"Ja, Braggi?"
"Bin ich anders?"
"Was meinst du?"
"Bin ich anders als die Anderen?" Der sechsjährige Zwerg knautschte unglücklich die Mütze in seinen Händen zusammen.
"Ja."
"Oh..." Während Braggasch traurig auf den Holztisch starrte, drehte sich seine Mutter, Gladdis Goldwart, wieder dem Herd zu. Sie war eine hervorragende Köchin. Niemand schaffte es Höhlenratte beim Beißen derart knuspern zu lassen wie sie.
"Aber...", startete der Kleine einen neuen Anlauf, "Aber ihr habt mich doch genauso lieb wie die Anderen, oder?"
Gladdis hielt mit ihrer Arbeit - sie knetete gerade den Teig für eines ihrer berühmten Zwergenbrote mit einem Vorschlaghammer - inne und überlegte. "Manchmal."
"Oh..."
Braggaschs Mutter war keineswegs grausam. Sie und ihr Mann Burkhard hatten sich lediglich darauf geeinigt, ehrlich zu ihren Kindern zu sein.
Gladdis sah eine Träne in den Augen ihres Sohnes glitzern und seufzte. "Manchmal haben wir dich genauso lieb wie deine Brüder, Braggi, manchmal nicht. Manchmal lieben dich dein Vater und ich sogar mehr als die Anderen, wenn auch selten. Du wirst es verstehen, wenn du erwachsen bist."
"Aber ich wird ja nie erwachsen..."
"Wie kommst du darauf?" Nun setzte sich die Mutter doch zu ihrem Sohn und strich ihm über das lange, hellblonde Haar. Solche Haare sollte kein Junge haben, dachte Gladdis, sondern... das Andere... oder einer von diesen unsäglichen menschlichen Prinzen aus Braggaschs Kinderbuch.
Oh ja. Das Buch. Eine weitere Sache, die seltsam war. Ihr Sohn schien nie Gefallen daran zu finden mit Kohle zu spielen, wie die anderen Kinder. Er zertrümmerte auch keine kleinen Steine mit Großen, so sehr ihre anderen Kinder diese Art des Zeitvertreibs auch schätzten. Also hatte Burkhard aus reiner Verzweiflung dieses Buch bei einer seiner Reisen gekauft. Es bestand nur aus Bildern. Und es war kein einziger Stollen dabei.
"Grabbasch sagte, wenn ich kein richtiges Schmiedefeuer entzünden kann, werde ich die Prüfung nie schaffen...", riss ihr Jüngster sie aus den Gedanken.
Abermals streichelte Gladdis liebevoll seinen Kopf - und verhedderte sich dabei in seinen ausgeprägten Locken. "Aber das ist doch erst in vierundzwanzig Jahren.", gab sie zu bedenken und griff nach der Schere.
"... und Brabbasch meinte, ich könne ja nicht einmal richtig eine Spitzhacke schwingen.", fuhr der Sechsjährige fort, ohne auf die Schneidegeräusche zu achten.
Seine Mutter warf die wenigen Haare in den Müll. "Dafür bist du ja auch noch zu klein, Braggi." ... und zu schwach, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie hatte schon Ratten ausgenommen, die mehr Muskeln auf den Knochen gehabt hatten als ihr Sohn.
"Ich bin größer als Grabbasch!"
"Ja, das stimmt."
"Und der ist zwölf Jahre älter als ich!"
"In der Tat."
"Warum kann ich nicht einfach normal sein, Mutter?"
Verärgert schüttelte die Zwergin den Kopf. Solche Fragen stellte Braggasch dauernd! Als ob sie einen Sinn hätten! "Du bist, wie du bist, Braggi, mach das beste daraus."Menélaos konnte sich ein "Puh!" nicht verkneifen.
"Was?", wollte Goldwart wissen.
"Oh, nichts, nur... Du hattest eine sehr schwere Kindheit, nicht wahr?"
Braggasch überlegte. Schließlich antwortete er: "Keine Ahnung... äh... Ich kenne keine Andere, woher soll ich wissen, ob Meine schwerer war als ... äh... andere Kindheiten?"
"Na ja, ich wäre bei so einer Behandlung sicher weinend aus dem Zimmer gelaufen."
"Das bin ich auch häufig..." Nachdenklich nahm der Zwerg einen weiteren Schluck aus der Tasse.
Doch dem Kondichemiker brannte eine weitere Frage auf der Zunge. "Und wer ist Braddasch?"
"Äh... wer?"
"Brabbasch.", berichtigte Sebulon den menschlichen Gefreiten.
"Ja, genau den meine ich."
"Grabbasch, Graggasch und, äh, Brabbasch sind meine Geschwister."
Menélaos zögerte kurz, bevor er einwandte: "Deine Eltern haben bei den Namen ihrer Kinder keine sehr ausgeprägte Fantasie bewiesen..."
"Äh... nein.", gab Braggasch zu. "Meine Eltern waren eher, äh... schlicht."
Als Lagerist der Zwergenbinge fiel es in Burkhard Goldwarts Aufgabenbereich, einmal im Jahr mit dem Karren ein Stück in die Menschenlande zu fahren und dort die Erzeugnisse der Zwergensippe - Werkzeuge, Klingen, Metalle und natürlich Gold - zu verkaufen, und dafür Holz und Grundnahrungsmittel zu erweben. Vor sieben Reisen hatte er auf diesem Weg das Bilderbuch für seinen Sohn besorgt. Nun hatte sich von dem, mittlerweile neun Jahre alte, Braggasch dazu überreden lassen, ihn mitzunehmen.
Aufgeregt saß der junge Zwerg, welcher schon fast die Größe seines Vaters erreicht hatte, neben diesem auf dem Kutschbock.
"Weißt du, Vater, man könnte zwei Federn auf den Karren schrauben und darauf dann das Sitzbrett, dann würde einem nicht immer so der Hintern weh tun.", plapperte er munter.
Burkhard sah seinen Sohn aus den Augenwinkeln an. Ein richtiger Zwerg sollte nicht so herumhampeln und alles untersuchen. "Nein. So wie es ist, ist es gut. Das härtet ab." Seid Generationen war dieser Karren im Besitz seiner Familie gewesen. Burkhards Vater hatte mit ihm die Waren ausgefahren, und auch dessen Vater war als Lagerist unterwegs gewesen. Warum wollte Braggasch immer alles ändern?
"Oh... Natürlich."
Eine Weile gaben sie sich schweigend den Schmerzen hin.
"Vater?"
"Ja?"
"Ist es noch... weit?"
"Ich sage dir, wenn wir da sind, Brag."
"Warum sagst du mir nicht einfach, wie lange wir... noch fahren?"
"Wozu solltest du das wissen wollen?"
Braggasch schwieg verwirrt. Dann wandte er sich erneut an seinen Vater. "Sollte... Sollte man nicht einfach etwas fragen... nur um es zu wissen?"
"Nein. Was sollte das bringen?" Burkhard sprach vollkommen ruhig, den Blick auf den schmalen Bergpfad gerichtet, wie jemand, der sich in sein Schicksal ergeben hat.
"Na... einfach um es zu wissen."
"Eine dumme Frage nützt niemandem etwas, Brag."
"Oh..."
Nach einer Weile kletterte Braggasch in den hinteren Teil des Wagens und besah sich dort sein Bilderbuch. Mittlerweile sah man dem Druckwerk seinen Gebrauch deutlich an - schon mit zwei Jahre hatte es der junge Zwerg in den Mund gesteckt. Und schon seid diesem Alter fand er das Buch an sich albern.
Ein Prinz zog los, um irgendeine Frau, die er noch nie gesehen hatte, vor einem Monster zu retten, das er überhaupt nicht kannte. Der Jüngste der Goldwarts wollte nie ein Held werden, nie die Welt sehen. Wer wusste denn schon, ob dieses Monster nicht einfach Hunger hatte und seine Familie versorgen musste? Was würde er denn sagen, wenn die Ratten plötzlich nach spitzen Steinen griffen und seine Mutter töteten?
Es waren die Kleinigkeiten in dem Buch, die ihn so sehr faszinierten. Zum Beispiel die Armbrust, die der Prinz bei sich trug - und die er dummerweise am Pferdesattel lies, um dem Untier nur mit dem Schwert gegenüber zu treten. Oder die filigranen Arbeiten in der prachtvollen Krone des Königs. Der Verschlussbalken von dem Haupttor des Schlosses und die Apparatur, die dafür zuständig war die Zugbrücke herunter zu lassen. Ganz besonders aber die Taschenuhr, die der König beim abschließenden Festmahl an seinem Wams hängen hatte.
Sie waren insgesamt sechseinhalb Fahrstunden von ihrer Heimat entfernt, als sie die Menschensiedlung erreichten, die sich wie ein ängstlicher Dachs an den Berg schmiegte. Hier war der Treffpunkt mit dem Menschenhändler, der die Waren der Zwerge in irgendwelche ferne Städte lieferte, die Braggasch nicht interessierten.
"Hallo Burkard!", begrüßte der dürre Mann mit dem Ochsenkarren den Lageristen. Wie immer trafen sie sich genau in der Mitte des Dorfes, und wie immer war Herr Varneschi schon da.
"Grüß dich, Siegmund." Herr Varneschi war der einzige Mensch, den Burkhard Goldwart lange und gut genug kannte, um mit ihm eine Art Freundschaft zu verbinden.
"Oh, hallo... Grabbasch?" Der Händler sah auf den jungen Zwerg hinab, der vom Karren geklettert war.
"Nein, das ist Braggasch, mein jüngster Sohn.", klärte ihn der Vater des Jungen auf.
"Oh. Na denn. Hallo Braggasch."
Der kleine Zwerg nickte nur und sah sich um.
"Bist du sicher, das es nicht deine Tochter ist?", fragte Herr Varneschi gedämpft.
"Nein, Gladdis ist sich ziemlich sicher, dass er kein... keine... Tochter ist." [1]
"Aber er hat keine Bart..."
"Er ist auch erst neun. Und warum sollte mein... e... Tochter keinen Bart haben?"
Siegmund sah ihn eine Sekunde entsetzt an, bevor er sich wieder fing. "Ach ja. Ich vergas. Er ist ganz schön groß für neun Jahre."
"Ja.", seufzte Burkhard. "Das macht uns auch einige Sorgen."
"Könnte er ein Mensch sein? Ich hab so was schon mal erlebt."
"Nein, sein... Mutter versicherte mir, das er ein Zwerg sein müsste."
"Erstaunlich!"
Die beiden Erwachsenen schienen sich nicht darum zu kümmern, dass der junge Braggasch ihre Worte sehr wohl hören konnte. Verzweifelt versuchte er etwas zu finden, dass seine Aufmerksamkeit zu einhundert Prozent beanspruchte. Dabei viel ihm die silberne Kette auf, die aus Siegmund Varneschis Brusttasche ragte.
"Wollen wir zum geschäftlichen kommen? Ich habe leider nicht allzu viel Zeit.", murmelte der Händler und zog an der Kette nach oben. Ein silbernes Ei kam zum Vorschein und schmiegte sich in seine Hand. Mit leisem Klicken schnappte es auf.
"Ja. Wir haben eine lange Heimreise. Wie immer."
"Ich hätte Stoffe im-"
Braggasch unterbrach ihn. "Ist das eine... Uhr, Herr...?"
"Was?", fragte Varneschi verwirrt.
"Braggasch!", fuhr Burkhard seinen Sohn an. "Sei ruhig, wenn sich Erwachsene unterhalten!"
"'digung.", murmelte der junge Zwerg, seine Neugier hatte ihn übermannt.
"Oh, schon gut. Burkhard, sei nicht so.", beschwichtigte Siegmund. "Woher kennst du Uhren? Ich habe sie selbst erst seid kurzem."
"Ich... habe sie in meinem... Buch gesehen.", sagte Braggasch nicht ohne Stolz.
"Was für ein Buch?" Der Händler sah fragend zu dem älteren Zwerg.
"Die Abenteuer des Prinz Blondkopf.", brummte dieser.
Herr Varneschi klopfte sich wissend auf die Nase. "Ah. Ich erinnere mich, es dir verkauft zu haben. Es war damals ein sehr neues Märchen."
"Ist es jetzt... eine Uhr oder... nicht?", hakte der kleinste Goldwart energisch nach.
"Oh. Ja. In der Tat, es ist eine Uhr." Und in einem Anfall von großväterlicher Großzügigkeit fügte er hinzu: "Willst du sie mal halten?"
"Ja!"
Mit einem Lächeln überreichte der Händler dem Zwerg die silberne Uhr und wandte sich dann wieder Burkhard zu. "Wie ich sagte: Ich habe neue Stoffe aus Sto Lat."
"Nein, danke, wir haben erst vor drei Jahren neue Kleidung herstellen lassen. Dieses Mal ist es eine ganz gewöhnliche Holzlieferung."
Varneschi setzte seine Geschäftsmiene auf. "Aber Burkhard. Deine Frau würde sich sicher über ein neues Kleid freuen... oder einen neuen Mundschutz. Ich habe auch etwas Zucker dabei, um eure Speisen zu verfeinern!"
Doch mit solchen Angeboten stieß er bei einem Zwerg natürlich auf wenig gegenliebe. "Wirklich, Siegmund, einfach das Holz und ein wenig Getreide..."
Etwas knirschte gut vernehmbar.
Beide wandten ihren Blick nach rechts.
"... Äh... Ups?", murmelte Braggasch, die geöffnete Uhr in der Hand. Wobei beachtet werden muss, dass sie offener war, als eigentlich vorgesehen - man konnte deutlich einige Zahnräder sehen
"Was hast du getan?", kreischte Herr Varneschi.
"Ich... wollte sehen... wie sie... äh... funktioniert...", brachte der junge Zwerg hervor.
Siegmund brauchte einen Moment, um sich am Riemen zu reißen, dann wandte er sich kühl dem Lageristen zu. "Deine Bestellung hat sich so eben vergrößert. Das wird nicht billig."
"Ich sehe schon.", erwiderte Burkhard ohne jede Emotion.
Auf dem Rückweg sprach er kein Wort mit seinem Sohn.Braggasch verstummte. Unangenehme Erinnerungen zogen vor seinem geistigen Auge vorbei. Die beiden anderen Gefreiten schwiegen mitfühlend.
Bis zu dem Moment, wo Menélaos von Neugier gequält wurde. "Ich versteh das nicht, wie kommt ihr mit diesem Ignorieren des weiblichen zurecht?"
"Ist nicht überall so. Nur in der Nähe des Kupferkopfs. Wenn man in die Städte zieht, gewöhnt man es sich schnell ab. Und Brag scheint in der Hinsicht schon immer anders gewesen zu sein.", antwortete Sebulon, da Goldwart noch immer stumm in seine Tasse starrte.
"Ja, aber, ich meine, ihr seid eine kulturelle Rasse, wie-"
"Ist ne schwierige Angelegenheit.", brummte der Zwerg nur.
Doch Menélaos wollte sich damit nicht zufrieden geben. "Und ihr wollt mir nicht allen ernstes erzählen, dass Zwergenfrauen Bart haben, oder? Ich meine, so was wäre... Ihr wisst schon..."
Nun hob auch Braggasch den Kopf. Sebulon bedachte den ehemaligen Konditor mit einem scharfen Blick. "Pass auf was du sagst, sonst muss ich dir leider die Knie abhacken."
Menélaos hob abwehrend die Hände. "Ich meine ja nur. So was geht doch gar nicht!"
"Warum?"
"Na ja... Es ist eben... unhygienisch?" Der Kondichemiker bemerkte, dass er sich auf sehr dünnem Eis befand. "Ich meine, eine schöne glatte Frauenwange..."
"Ah.", machte Samax Sohn, als sei ihm ein Licht aufgegangen.
Braggasch schüttelte den Kopf. "Diese... äh... haarlosen Menschenfrauen."
"Kein süßer Flaum, an dem man das Gesicht reiben kann.", warf Sebulon ein, aber irgendwie klang es nicht ganz ehrlich.
"Kalte Gesichter im Winter.", führte Burkhards Sohn weiter aus.
"Nicht ein einziger, herrlicher Zopf, der mit den Fingern gezwirbelt werden kann."
"Ständige Probleme mit... äh... Halsschmerzen."
"Kein mütterlicher Bart in den sich die kleinen Zwerge einkuscheln können."
"Äh... Essenreste fallen einfach zu Boden..."
"Ja, ja,
ja!", unterbrach Menélaos die Zwerge. "Schon gut. Konnte ich ja nicht wissen, ich hab ja noch nie eine Zwergin gesehen."
Sebulon und Braggasch sahen ihren Kollegen schockiert an.
"Aber... äh... in der Stadt laufen
tausende herum!"
"Und außerdem hast du schon mit einer gesprochen. Zweimal.", fügte der Sohn Samax hinzu.
"Was? Wann?"
"Avalania?", stellte der Zwerg die Gegenfrage. "Hört sich das für dich männlich an?"
"Ich dachte er wäre einfach von irgendwo, wo solche Namen üblich sind.", verteidigte sich Schmelz.
Sebulon verdrehte die Augen. "Ja, klar. Und die vielen Schichten Kleidung, blabla. Wir kennen die Ausreden."
Vielleicht wäre es nun zu einem Streit gekommen, jedoch wählte eine dürre, ungesund aussehende Frau mit einem langen, wackeligen Hals gerade diesen Moment, um die Tür geräuschvoll aufzustoßen. Menélaos schluckte seine mürrische Antwort und den leichten Safranduft hinunter und sah zu dem Neuankömmling. Diese wiederum bedachte den Kellerraum mit einem hochnäsigen Blick und wählte einen Tisch in einer Ecke. Mehrere Augenpaare verfolgten ihren stolzen Gang quer durch die Kneipe. Würdevoll lies sie sich auf einem der harten Stühle nieder, schloss die Augen und rief den Wirt.
Nach einigen Minuten trauten sich die Gefreiten, wieder unter dem Tisch hervor zu klettern.
Ihre Ohren klingelten noch immer.
"Banshee...", murrte Sebulon und drehte den kleinen Finger sorgfältig im rechten Ohr. "Dachte, die wären ausgestorben."
"Anscheinend nicht. Scheint von weiter her zu kommen.", flüsterte Menélaos und klopfte sich mit der flachen Hand immer wieder gegen die Schläfe.
Als der Igor herbei kam, um die Tasse des, immer noch zitternden, Braggasch nachzufüllen, die dieser bei der überstürzten Flucht nach unten umgestoßen hatte, meinte er leise: "Entfuldigung. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich habe fie gebeten ihre Beftellung auffufreiben, da ef fonft fu... Toten kommen könnte."
"Äh... Danke." Goldwart sah sich um. "Sie meinen, da meine beiden... äh... Begleiter sterblich sind?"
Der Igor besah ihn mit einem langen Blick, ehe er antwortete. "In der Tat."
Als der Wirt wieder gegangen war, murmelte Sebulon: "Ein beschauliches Plätzchen hast du uns da ausgesucht, Goldi."
Braggasch warf seinem Freund einen bösen Blick zu.
"Goldi?", fragte Menélaos grinsen.
Goldwart winkte ab. "Äh... Unwichtig. Äh... Wo war ich?"
Er war grade dabei, die selbstgedrehte, eiserne Feder in das Gehäuse zu stecken, als ihn der Schlag auf der Schulter traf.
"Braggasch!"
Mit einen erschreckten Quieken zuckte der jüngste der Goldwarts zusammen, woraufhin die Feder aus seinen Händen katapultiert wurde, an der Wand abprallte, zurücksauste und ihrem Erschaffer ins Auge traf. Wimmernd rieb sich der Zwerg die entsprechende Stelle.
"Meine Güte." Sein größter Bruder Grabbasch nahm die Hand von seiner Schulter und hob die metallene Feder vom Boden auf. Der Hauch eines Knirschens deutete an, dass das winzige Gebilde dem Druck seiner Finger nicht standhielt. "Was ist das?"
Braggasch nahm die Hand vom Feuerroten Auge und riss dem Älteren möglichst zärtlich das mechanische Teil aus der Hand. "Äh, das ist für die Uhr. Damit sie, äh, tickt." Traurig beobachtete er das verbogene Ding in seiner Hand und lies es auf den Tisch plumpsen.
"So was albernes. Wozu gibt es Kerzen und Sanduhren?"
"Eine Kerze brennt ab, äh, und eine Sanduhr ist unzuverlässig... Ich hab es dir schon hundertmal erklärt."
Grabbasch lachte. "Ja, seid du dieses Uhrending vor dreizehn Jahren mitgebracht hast, quasselst du uns allen damit die Ohren voll."
"Was willst du?" Seufzend klappte Braggasch das Gehäuse der Uhr zu und verstaute sie wieder in dem kleinen Holzkästchen, dass er eigens hierfür geschnitzt hatte.
"Vater sagt, du sollst deinen faulen Hintern endlich nach draußen bewegen und beim Abladen helfen!"
"Erstens hat er es, äh, sicher nicht so gesagt, und, äh, zweitens bin ich nicht dran. Ich hab schon mit aufgeladen."
Sein Bruder schnaubte verächtlich. "Du meinst die zwei Kisten, die du gehoben hast?"
"Es waren, äh, sechs."
"Von dreißig! Ich bin begeistert!"
"Ich bin halt nicht so, äh, schnell."
"Nein, Brag, du bist einfach nur schwach."
Der Jüngste sah betrübt zu Boden.
Wieder schmetterte Grabbasch ihm seine granitharte Hand auf die Schulter. "Mach dir nichts draus, Bruder, noch bist du jung! Lass diesen Blödsinn mit der Uhr und dem Lesen und arbeite endlich im Bergwerk, wie es sich gehört!"
Braggasch sah zu dem vierunddreißig jährigen Zwerg auf, den er im Stehen um gut einen Kopf überragt hätte. Sein Bruder war ein Muster von Zwerg: Klein, muskulös, mit einem dichten, braunen Bart und Händen, die ganz ohne Hilfsmittel Schrauben in Holz drehen konnten. Grabbasch hatte vor vier Jahren sein Y'ard vollzogen - sehr umgangssprachlich würde es als 'Mannwerdung' übersetzt werden, aber das gab es natürlich bei den Zwergen der Kupferkopfberge nicht, deshalb müsste man es wohl am ehesten als 'Zwergwerdung' beschreiben; ab und zu verwendete man auch das mystische Wort 'Feuertaufe' - und mit Bravour bestanden. Seid her war er der Stolz der Familie.
Braggasch blickte seinem eignen Y'ard, welches in weniger als 8 Jahren stattfinden würde, mit wenig Hoffnung entgegen.
"Na schön.", stöhnte er und erhob sich, wobei er intuitiv darauf achtete, nicht mit dem Kopf an die Decke zu stoßen. Er löschte die Lampe und begab sich mit seinem ältesten Bruder an die Oberfläche, wo die Zwillinge Brabbasch und Graggasch bereits mit dem Ausladen beschäftigt waren. Beide waren zwar schlank für Zwerge, aber trotzdem kräftig gebaut. Ihre orange-rote Haarpracht leuchtete in der untergehenden Sonne. Beide glichen sich wie ein Stützbalken dem anderen, und doch hatte Gladdis Goldwart einmal die Bemerkung fallen gelassen, dass es einen eindeutigen Unterschied zwischen ihnen gab. Was dieser Unterschied war, hatte Braggasch nie herausgefunden, denn weiter wollte seine Mutter die Sache nicht ausführen. Über so etwas sprach man in der Familie nicht.
"Sieh mal einer an, unser kleiner Braggi traut sich an die frische Luft!", feixte Graggasch - oder Brabbasch. Beide nutzen die Neuankömmlinge, um eine Atempause einzulegen.
Solche Anspielungen war der jüngste Goldwart zwar gewohnt, doch er verstand sie nach wie vor nicht und hatte sich mit der Begründung abgefunden, dass seine Brüder zu ungebildet waren um einen tieferen Sinn dahinter zu verstecken. Denn Braggasch mochte die Oberfläche. Er genoss den Wind, der nicht von Lüftungsschächten verursacht wurde und nicht nach Lampenöl stank. Er sah gerne den Vögeln zu und sinnierte darüber, was sie wohl in der Luft hielt und ob man das nachbauen konnte. Er saß häufig im Morgengrauen an dem Berghang neben dem Stolleneingang und zeichnete Baupläne für alle möglichen Erfindungen, während er die Gedanken schweifen lies.
"Lasst ihn in Ruhe, er hat es schwer genug.", ertönte die brummelige Stimme Burkhards, der mit einer Sackkarre aus dem Stollen kam. "Beeilt euch lieber, bevor es Dunkel wird."
Braggasch verzog säuerlich das Gesicht. Wahrscheinlich meinte sein Vater es nur gut, aber solche Bemerkungen führten in den seltensten Fällen dazu, dass er sich besser fühlte."Er hat wörtlich gesagt, dass du es schwer genug hast?", murmelte Sebulon leise.
Braggasch nickte.
"Das ist sehr..."
"...ehrlich von ihm?", vollendete Goldwart den Satz seines Mitzwergs. "Äh, ja."
Menélaos hatte sich einen Löffel bestellt, da er es nicht mehr aushielt, dass ihn sein Bier beim Trinken ansah. Doch so sehr er auch fischte und stocherte, das ominöse Auge, welches er entdeckt hatte, entzog sich seinen Bemühungen, als wäre es gar nicht da. Statt dessen hatte der Kondichemiker
etwas gefunden, was erstaunliche Ähnlichkeit mit einem Stück Zwirn hatte. Vorsichtig - aus Angst, das zu sehen, was er annahm - schaute er zum Wirt. Doch dieser besaß noch beide Augen, diese Tatsache beruhigte Menélaos ungemein.
Bis er nicht nur die unterschiedlichen Augenfarben, sondern auch das große Glas bemerkte, welches bis zum Rand
voll mit Augäpfeln war.
Angewidert schob er seinen Humpen von sich.
Sebulon hingegen leerte so eben genüsslich seinen dritten Krug. "Du hast eben das
Y'ard erwähnt. Ich kann mich noch gut an meins erinnern, war recht einfach, wenn auch sehr lernintensiv. Wie war es bei dir?"
Braggasch blickt kummervoll drein.
"Es sei denn, du willst nicht darüber reden...", warf sein Freund schnell ein.
Der FROG-Späher schüttelte den Kopf. "Äh... Nein. Ich erzähl es. Aber, äh, es war nicht ganz..."
Aus reiner Nettigkeit hatte man Braggaschs Y'grad als vollzogen betrachtet - niemand wollte sich diese Schmach ein zweites Mal ansehen. Er machte dauernd Fehler beim K'zakra
-Ritual, vergaß immer irgendeins der Geheimnisse des H'ragna
, seine G'rakha
war noch nie so wirklich ha'lk
gewesen und in Sachen, sein G'ardrhg
richtig zu krazak
, hatte er bisher jedes Mal versagt. Wenigstens achtete er das J'kargra
, soweit es ihm möglich war.
Der junge Goldwart saß in seinem Zimmer, es war Abend. Vor ihm auf dem Tisch lagen seine mehrfach reparierte Taschenuhr und ein breiter Dolch, den ihm sein Vater zum Y'ard geschenkt hatte. Durch die Tür drangen die Geräusche einer Feier, doch Braggasch saß still.
Leise öffnete sich die Tür und Gladdis betrat den Raum.
"Braggi?", fragte sie vorsichtig.
"Ja... Zwerg?"
Seine Mutter runzelte die Stirn. "Nicht Mutter?"
Braggasch drehte sich noch immer nicht zu ihr um, als er antwortete: "Ich bin jetzt ein Zwerg. Für Zwerge gibt es keine, äh, Mutter."
Hinter seinem Rücken verzog Gladdis schmerzlich das Gesicht. Von einem auf den anderen Moment wurde ihr klar, dass sie gerne eine Mutter gewesen war - das ihr jüngster Sohn sie damit zu etwas Besonderem gemacht hatte. "Red keinen Unsinn, Braggi. Du wirst nie wie deine Brüder sein, nie ein Zwerg, wie er zu sein hat. Du wirst immer jemand sein, der mich Mutter nennt." Ein leichter Hauch von Panik schwang in Gladdis ehrlicher Aussage mit.
Braggasch sah zurück und fixierte seine Mutter kalt. "Äh, tatsächlich?" Langsam stand er auf und griff nach der Uhr. Er hielt sie Gladdis Goldwart unter die Nase. "Dies hier, äh, ist der Braggasch, den du kanntest, Zwerg. Eine, äh, Enttäuschung für die Familie. Ein Leser. Ein, äh, Bastler. Kein Bergmann oder, äh, Krieger." Mit einer schwungvollen Bewegung schleuderte er die Taschenuhr zu Boden.
Sie platze in tausend kleine Teile, die sich im ganzen Raum verteilten.
"Ich will dieser, äh, Braggasch nicht mehr sein. Ich, äh, will, das mein, äh, Vater stolz auf mich sein kann."
Der junge Zwerg schnappte sich den Dolch vom Tisch, steckte ihn sich hinter den Gürtel, und war schon fast aus der Tür heraus, als ihn die Stimme seiner Mutter aufhielt: "Braggi?"
Er blieb stehen, sagte jedoch nichts.
"Ich habe es dir nie gesagt, Braggi, den Unterschied zwischen Graggasch und Brabbasch... Du weißt, das sie nicht ganz gleich sind..." Gladdis zitterte leicht, doch ihr Sohn stand einfach in der Tür, starr wie eine Steinsäule. "Es... die beiden... Brabbasch ist... Sie ist... Braggi..." Die Zwergenfrau atmete tief durch. "Sie ist ein Mädchen, Braggi!"
Langsam drehte sich Braggasch um. "Mein Bruder ist eine Frau?", brachte er tonlos hervor. "Ihr habt das nie gesagt!"
Gladdis Goldwart schüttelte andeutungsweise den Kopf und sah ihren Sohn eindringlich an. "Dein Vater... Wir waren der Meinung, wir sollten es wie alle anderen machen... Er... Sie war immer mein Sohn... Wie bei vielen anderen Familien... Wie ich selber erzogen wurde. Aber als du, Braggi... als du geboren wurdest, warst du so anders! Von Anfang an. Du hast mich Mutter genannt... Und... und du hast mir beim kochen zugesehen... und du hast Fragen gestellt... und ich... ich glaube... ich habe das genossen, Braggi. Du warst wie eine.... Tochter für mich, Braggi! Eine Tochter... Das hat keine andere... Mutter, die ich kenne. Es hat mich... glücklich gemacht, obwohl ich es nicht wusste... Und jetzt..." Eine Träne kullerte in Gladdis Bart hinab.
Braggaschs Gedanken rasten. Wie eine Tochter...
Ruckartig drehte sich der Jüngste um und eilte aus seinem Zimmer.
Auf dem Flur wäre er beinahe mit einem anderen Zwerg aus der Nachbarschaft zusammengestoßen, der zu seiner Y'ard-Feier gekommen war. Dieser schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter und sagte etwas, was Braggasch nicht verstand.
In seinem Kopf drehte sich alles und seine Ohren fühlten sich an, als hätte man Watte hinein gestopft.
Er nickte nur und schließlich lies ihn der Zwerg wieder gehen.
Taumelnd ging er weiter. Der Wohnraum war überfüllt mit Leuten. Viele kannte Braggasch nicht einmal. Sie sangen und riefen und lachten und tranken - für den jungen Zwerg war alles nur ein Hintergrundsummen.
Er entdeckte Brabbasch und Graggasch an einem Tisch, Armdrückend, umringt von Zwergen. Niemand von beiden schien die Oberhand gewinnen zu können. Als sie ihren Bruder bemerkten, grinsten beide auf ihre schelmische Art, doch Braggasch sah sie jetzt mit einem anderen Blick an. Sie waren ganz und gar nicht gleich, wenn man es wusste. Brabbaschs Lächeln wirkte... zärtlicher als das ihres Zwillingsbruders. Ihre orange-rote Bartpracht schien feiner gelockt zu sein als seine. Ihre Züge weicher.
Der frisch gebackene Zwerg hörte sich etwas sagen und wandte sich ab.
Am großen Kamin saß sein Vater mit einigen weißbärtigen Zwergen, jeder einen großen Bierhumpen in der Hand.
Wie viele davon wohl Frauen waren?
Er nickte Braggasch stolz zu, doch seine Augen wichen denen seines jüngsten Sohnes aus.
Ob er für seinen Vater auch eine Tochter war?
Der Raum schien dem jungen Zwerg plötzlich unerträglich stickig. Er hatte das Gefühl, als trachteten die steinernen Wände danach ihn zu zerquetschen.
Hyperventilierend stürmte er aus der Eingangstür, in den Hauptstollen hinein, doch das reichte nicht. Fluchtartig rannte er den Stollen hinauf - hinauf ans Licht der Nacht.
Er hinterlies viele verständnislose Gesichter und gemurmelte Fragen.Keiner der beiden Gefreiten sagte etwas, nachdem Braggasch abermals verstummt war. Gedankenlos hob Menélaos seinen Krug und nahm einen Schluck des abartigen Bieres. Seine Augen begannen zu tränen, als ein glitschiges Stück seine Speiseröhre hinabrutschte, doch da hob ihr Freund schon an, weiter zu erzählen.
Grabbasch fand seinen Bruder an dessen Lieblingsplatz, dem kleinen Steinsockel, von dem aus man so gut hinunter in den Wald und die weit entfernten Seen schauen konnte. Heute blickte Braggasch in den sternenübersäten Himmel.
Da sein kleiner Bruder keine Anzeichen von Abneigung zeigte, lies sich Grabbasch neben ihm nieder.
Lange saßen sie schweigend nebeneinander, bis Braggasch plötzlich zu reden anfing: "Weißt du, äh, ich habe mal überlegt wie es wäre, wenn ich, äh, zu den Himmelssteinen fliegen könnte... äh... Alles hier zurücklassen..."
"Ja, ich weiß. Ich habe mich über dich lustig gemacht.", gab sein großer Bruder zu. "Du meintest, dort oben würden Zwerge wohnen, die dich verstehen und auch lesen und kleine mechanische Dinge basteln. Du warst ganz aufgebracht und deine dünnen Locken haben hin und her gewackelt."
"Du, äh, erinnerst dich daran."
"Ja. Es war sehr lustig."
Eine Pause entstand.
"Du warst eben ziemlich seltsam, Braggasch. Seltsamer als sonst. Warum?"
Der jüngste der Goldwarts nickte nur. "Wusstest du, äh, es?"
"Was?"
"Das Brabbasch eine... äh... Frau ist?"
"Was soll Brabbasch sein?"
Braggasch sah seinen Bruder entnervt an. "Eine Frau. Ein, äh, Mädchen. Wie Mutter."
Fast angewidert verzog Grabbasch das Gesicht. "Es ist unwichtig. Aber wo du Gladdis gerade erwähnst, er sitzt in deinem Zimmer und weint. Ich habe ihn noch nie weinen sehen."
"Sie!" Der junge Zwerg sprang auf. "Sie, Grabbasch, sie! Äh... Und warum nennst du sie nicht Mutter?"
Der Ältere sah Braggasch so lange ruhig an, bis sich dieser wieder setzte. "Wie gesagt.", meinte er trocken. "Er sitzt in deinem Zimmer und weint."
Zögerlich strich sich Burkhards Jüngster durch den dünnen Bart. "Sie, äh, hat nur etwas eingesehen."
"Morgen wird er es abstreiten."
"Ich weiß."
"Dieses mal wirst du deine Uhr nicht reparieren können.", stellte Grabbasch fest.
Braggasch stöhnte. "Ich war mir, äh, so sicher, Grab! Äh... Ich hatte den Entschluss gefasst, ein Zwerg zu werden, auf den Vater stolz sein, äh, kann. Jemand, äh, der es verdient hat, sein Y'ard zu bestehen!"
"Und dann hast du eingesehen, dass du immer der Zwerg bleiben wirst, der du bist."
"Ja!"
"Und das willst du nicht sein?"
Braggasch sah seinen Bruder mit aufgerissenen Augen an. "Ihr wollt es nicht!"
"Richtig. Aber der Braggasch, der versucht, sich etwas vorzumachen, ist noch viel erbärmlicher als der normale Braggasch.", stellte Grabbasch trocken klar.
Sein junger Bruder klappte den Mund zu.
"Aber du solltest dir trotzdem darüber klar sein,", Burkhards Ältester hob den Zeigefinger. "dass dieser Braggasch das Y'ard geschafft hat."
"Es wurde mir, äh, praktisch, äh, geschenkt!"
"Und wenn schon." Grabbasch zuckte mit den Schultern. "Du bist jetzt ein Zwerg. Geh gefälligst rein und feiere, anstatt hier rumzuheulen."
Mit diesen Worten stand der kräftige Zwerg auf und trabte zurück in das Bergwerk."Und?", hakte Sebulon nach. Langsam, nach dem sechsten Humpen, zeigte das modrige Bier seine Wirkung.
"Was, äh, und?"
"Hast du gefeiert?"
"Nein. Äh... Ich bin draußen sitzen geblieben, bis alle, äh, nach Hause gegangen waren.", meinte Braggasch mit einem Achselzucken.
"Oh."
Menélaos räusperte sich - seitdem er den Schluck Bier genommen hatte, wollte das hartnäckige Gefühl, sich dauernd räuspern zu müssen, nicht weichen - und fragte: "Und deine Mutter?"
"Was, äh, ist mit ihr?"
"Hat sie später alles abgestritten?"
"Äh... Ja. Oder, äh, nein, nicht direkt. Aber immer, wenn ich, äh, sie gefragt habe... äh... hat sie sich geweigert, mir zu, äh, antworten."
Der Kondichemiker schüttelte unverständlich den Kopf.
"Ja... äh... das war mein Y'ard...", seufzte Burkhards Sohn.
"Und danach hat dich dein Vater zu dem Tresorbauer geschickt?"
"Na ja... äh... es dauerte noch ungefähr zehn, äh, Jahre, bis mein Vater einsah, äh, das er aus mir keinen Zwerg machen konnte... äh... wie er ihn wollte. Ich hatte zwar einen, äh, Lastenaufzug entworfen, der äh, auch genutzt wurde, aber das war ihm nicht genug. Äh... Er sah in mir mehr und mehr einen Sonderling, weil ich, äh, auch anfing, mir die, äh, Menschenschrift beizubringen. Dann habe ich auch, äh, Bücher aus den Menschenlanden, äh, gelesen. Und ich habe mich häufig... äh... mit Herrn Varneschi unterhalten... äh. Und so. Nachdem dann mein, äh, Bruder, Grabbasch, sagte, dass er in eine andere Sippe, äh, ziehen würde, wenn er noch einmal mit... äh... mir zusammen arbeiten müsste, äh, hat mein Vater dann endlich nach einer, äh, anderen Möglichkeit für, äh, mich gesucht...
"Braggasch, das ist Meister Drack.", eröffnete Burkhard. Vater und Sohn hatten eine längere Reise in eine andere Zwergensiedlung auf sich genommen, um nun vor einem weißbärtigen, dicken Zwerg zu stehen, der ungeduldig an seinem Türrahmen lehnte. Es war eine beeindruckende Tür: Einen viertel Meter dick, eisenverstärkt, und mit so vielen Schlössern versehen, das fast kein Platz mehr für den Griff war.
" 'lo...", murmelte der jüngste Goldwart. In Gedanken war er noch immer bei dem - recht lauten - Gespräch, welches er mit seinen Eltern und vor allem seinem ältesten Bruder geführt hatte. Natürlich war eine solche Ausbildung schon immer sein größter Wunsch gewesen, aber wenn dieser Wunsch schon fast mit einem Rauswurf verknüpft war, wurde er plötzlich weniger wünschenswert. Wie hatte doch einer der namenlosen Philosophen in einem der menschlichen Bücher gesagt? Hütige dich for dem, was du dir wünschest, es könnte in Erfülligung gehen! Wie recht er hatte.
"Was sagst du, Bursche?", entgegnete der alte Zwerg barsch.
"Äh..."
"Gut. Komm rein."
Burkhard nickte seinem Sohn fast väterlich zu, bevor sich die schwere Tür vor seiner Nase schloss.
Staunend sah sich Braggasch im Inneren der Höhle um. Man hatte das Gefühl in einem Schließfach zu stehen. Einem Schließfach, dass solche Unmengen von Tresoren, Schlössern, Werkzeugen, Türen, Klinken, Fallen, Scharnieren, Kolben, Schlüsseln, Zahnrädern und Schrankwänden enthielt, dass kaum mehr Platz für die große Werkbank in der Mitte war. Es war das Paradies.
"Setzt dich.", befahl Meister Brack. "Nicht da hin!"
Schuldbewusst sprang Braggasch wieder in die Höhe.
"Setzt dich... auf die Werkbank. Lass dich ansehen." Mit geübtem Blick begutachtete der alte Zwerg den Jungen von Kopf bis Fuß, nahm dessen Hände in seine eigenen, drehte sie mehrmals und lies sie wieder fallen. "Für den Verkauf eignest du dich wirklich nicht. Mit dem Gesicht könntest du nicht einmal einem verhungernden Zwergen eine Ratte andrehen. Aber du hast schmale, dünne Hände. Das ist gut. Und sie liegen ruhig. Das ist wichtig, wenn du Fallen in die Stahlschränke einbaust, und hinterher noch alle Finger haben willst."
Braggasch schwieg und sah seinen neuen Meister ernst an.
Brack nahm ein Werkzeug vom Tisch. "Mal sehen, wie es mit deinem Wissen ausieht. Was ist das?"
Der junge Zwerg konnte sich ein abfälliges Gesicht gerade so verkneifen. Es war vollkommen klar, dass es sich bei dem Gegenstand um einem zweifach gedrehten, doppelläufigen Stahlbrecher handelte. "Äh..."
"Falsch. Hätte es wissen müssen, es gibt einfach keine perfekten Lehrlinge."
Braggasch blinzelte. "Äh..."
"Klappe." Sein Meister fuhr sich mit den Fingern durch den dichten Bart. "Immerhin bist du erst vierzig, du hast noch Zeit zu lernen."
"Äh..."
"Klappe habe ich gesagt! Gut. Erste Lektion: Werkstatt aufräumen...""Schien ja ein netter Kerl zu sein.", unterbrach Sebulon Braggaschs Erzählung brummelnd.
"Äh... Nein, war er nicht...", erwiderte dieser verwirrt.
Sein Freund stockte kurz, erinnerte sich dann an Goldwarts Wesen und meinte schlicht: "Ja, ich weiß. Erzähl weiter."
"Oh... äh... viel kommt nicht mehr. Ich, äh, lernte bei Meister Brack fast, äh, zwanzig Jahre... äh. Außerdem entwickelte ich mein, äh... Können im... äh..."
"Knacken von Schlössern.", warf Menélaos hilfreich ein.
"Äh. Ja. Erst war mein Meister erfreut... äh... weil alle Zwerge plötzlich bessere Schlösser, äh, brauchten. Aber, äh, dann wurde ich auch im Tresorbauen besser als er... äh... ich hatte, äh, revolutionäre Ideen... äh."
Sebulon nickte. "Und dann hast du ihm das Geschäft kaputt gemacht. Ja, die Geschichte kennen wir ja schon. Ziemlich gemein von dir."
"Äh... ja, ich weiß." Braggasch seufzte.
"Und danach schickten dich deine Eltern hierher.", erzählte Menélaos weiter.
"Und sagten dir, dass du all dein Geld schicken solltest.", ergänzte Samax Sohn.
Der junge Goldwart schwieg erst, sagte dann aber leise: "Äh... Ja. Ja."
"Lass es, Brag."
"Ja... äh... na gut."
Schmelz gähnte hingebungsvoll. "Es ist spät, wir sollten so langsam gehen."
Sebulon nickte. Er hatte nach dem siebten Krug darauf verzichtet, weiteres Bier zu bestellen, denn dieses lag seltsam.... nebelig im Magen.
Braggasch leerte seine Tasse mit einem Zug - die rote Flüssigkeit rann seine Kehle hinab und erfüllte ihn mit einem Hochgefühl. Sollte doch die ganze Scheibenwelt denken, was sie wollte, er wusste tief in sich, dass er ein Vampir war. Basta. Er legte ein paar Münzen auf den Tisch. "Da ich, äh, ja jetzt etwas mehr Geld habe, äh, übernehme ich alles."
"Dann hätte ich doch mehr trinken sollen...", entgegnete Menélaos mit einem Grinsen.
Als der Sohn Samax nach mehreren vergeblichen versuchen wieder auf seinen Sitz zurück geplumpst war, griff er nach Braggaschs Jacke und meinte: "Hilf mir hoch, Goldi, dieses Bier liegt einem furchtbar schwer im Magen!"
Mit einem Schnaufen zog der blonde Zwerg seinen Kollegen auf die Beine, und gemeinsam - beide in ihren persönlichen, schwachen Rausch vertieft - wackelten sie Richtung Ausgang.
Menélaos erhob sich als letzter und stutzte. Jetzt, wo der Eigengeruch der beiden Zwerge nicht mehr alles überdeckte, meldete seine Nase ein süßliches Aroma. Langsam näherte er sich mit dem Gesicht der leeren Tasse von Braggasch und schnüffelte.
Darauf hin ging der Kondichemiker zum Igor hinter der Theke und erkundigte sich, was sein Zwergen-Vampir-Freund eigentlich getrunken hatte.
Anschließend lachte er sicherlich eine halbe Stunde lang und ein frischer Zimtgeruch wehte durch die Straßen der Stadt.
[1] Wie jeder Zwerg jenseits des Kupferkopfes glaubte auch Burkhard nicht an Frauen. Er wusste natürlich, dass sie existierten - gerade was seine Gladdis anging kamen ihm nur selten Zweifel - aber für einen Zwerg gab es weder Töchter noch Mütter, sie waren Söhne und Zwerge, nur eben anders. Doch durch seine lange Bekanntschaft mit Menschen wie Herrn Varneschi hatte er dazu gelernt und versuchte sich im Kontakt mit ihnen daran zu erinnern. Trotzdem kamen ihm solche Worte nur schwer über die Zunge.
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