Alles ist ruhig bei den DOG - kein Wunder, wenn das Wachhaus nicht besetzt ist. Aber ein Juwelendiebstahl mitten in der besinnlichen Vorschweinachtszeit zwingt die Wächter dann doch noch zum Einsatz.
Dafür vergebene Note: 12
Wäre ich doch bei GRUND geblieben, sagte sich Harry, und das nicht zum ersten Mal in den letzten Wochen. Die DOG, und mit der Abteilung auch die Boucherie
[1], war während seiner Abwesenheit anscheinend in einen geradezu todesähnlichen Tiefschlaf gefallen. Die wenigen Wächter, die sich blicken ließen, saßen die meiste Zeit untätig in ihren Büros, und selbst Crunkers ließ sich kaum noch blicken, um sich seine obligatorischen Leckerlis und Streicheleinheiten abzuholen.
"Es gibt einfach nichts zu tun", hatte Hatscha ihm zur Begrüßung schulterzuckend erklärt. "Die Gilden haben es ja schon immer vorgezogen, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln - und zum Thema "verdachtsunabhängige Observierungen" haben wir vor ein paar Monaten einen sehr eindeutigen Brief von der Anwaltsgilde bekommen. Dazu kommt, dass jetzt zum Jahresende die meisten Gilden besseres zu tun haben, als Ärger zu machen. Also, mach es wie die anderen - schau ab und zu mal rein und reich ein Arbeitszeitformular ein, und ansonsten mach, worauf du Lust hast."
"Und was machen die anderen alle?"
"Glum hat irgendwelche privaten Probleme - er hat die falsche Frau geheiratet, oder so etwas. Jedenfalls ist er damit beschäftigt, die Sache wieder in Ordnung zu bringen. Daemon schaut hier ab und zu mal nach dem Rechten, aber was er sonst den ganzen Tag macht, kann ich dir auch nicht sagen. Und die anderen... wie gesagt, ab und zu schaut hier jemand vorbei, aber eigentlich nur, um einen Zettel abzugeben, auf dem steht, wie lange er in der letzten Woche genau nichts getan hat."
"Also sind wir beide hier die meiste Zeit allein?", fragte der Gnom betont beiläufig. Gegen ein bisschen ungestörte Zeit mir einer charmanten Kollegin hatte er nichts einzuwenden.
"Äh... ja, genau", antwortete Hatscha. "Also, willkommen zurück!" Mit diesen Worten stand sie auf und nahm ihren Mantel vom Kleiderhaken. "Hältst du hier die Stellung? Ich habe eine Verabredung."
Früher hätte Harry absolut kein Problem damit gehabt, mehrere Wochen lang mit süßem Nichtstun zu verbringen, und auch heutzutage war er alles andere als ein Gegner von gelegentlicher gepflegter Langeweile, doch jetzt war er schon seit drei Wochen wieder bei DOG, und langsam verging ihm die Lust daran, seine Arbeitszeit mit dem Lesen von Freddy-Frettchentöter-Romanen zu verbringen. Tatsächlich war die Lethargie in dieser Abteilung dermaßen ansteckend, dass er langsam fürchtete, bald nicht einmal mehr zum Lesen und zum Herumhängen genug Energie zu haben. Die Hälfte der Zeit schien er der einzige Wächter in der ganzen Abteilung zu sein - und die andere Hälfte war er es tatsächlich.
Verdrossen starrte er durch das Fenster auf die ungemütlich matschig-winterliche Landschaft. Vielleicht lag es an den näher rückenden Feiertagen, dass sich hier niemand blicken ließ - nächstes Jahr würde sicher wieder mehr los sein.
So blätterte er lustlos in einem seiner Bücher und hing seinen Gedanken nach, als plötzlich Echritte im Flur zu hören waren. Zaghafte, unsichere Schritte, als wäre jemand nicht sicher, wohin er gehen sollte.
"Äh... hallo?", fragte kurz darauf eine ebenso zaghafte und unsichere Stimme in die Leere. "Mir wurde gesagt ich soll mich hier melden... hallo, ist hier jemand?"
Harry legte sein Buch weg und strich sich die Uniform zurecht. Allem Anschein nach war er gerade mal wieder der einzige Wächter hier.
"Ja, kommen Sie bitte herein!", rief er nach draußen und rannte aus seinem Puppenhaus hinaus zum großen Schreibtisch, der weiter vorne im Raum stand.
Ein paar Augenblicke später ging die Tür auf. und ein untersetzter Mann in geschmacklos-bunter Kleidung und mit fliehendem Haaransatz betrat den Raum. "Guten Tag, mein Name ist Wi..." fing er an, unterbrach sich und sah sich suchend um. "Hallo?"
"Hier, auf dem Schreibtisch", erwiderte Harry und unterdrückte ein Seufzen.
Der Mann schaute sich um, bis sein Blick schließlich auf den Oberstabsspieß fiel. "Oh. Guten Tag, Herr Gnom. Man hat mir gesagt, mir könnte hier mit einem Problem geholfen werden..."
"Aber selbstverständlich,
Herr Mensch, entgegnete Harry mit einem zuckersüßen Lächeln. "Nehmen Sie doch Platz. Und um was für ein Problem handelt es sich?"
Der Mann setzte sich auf den Besucherstuhl und tupfte sich mit einem dunkelgrauen Taschentuch ein paar Schweißperlen von der Stirn. Entweder hatte er Harrys gereizte Reaktion nicht mitbekommen, oder er ließ es sich nicht anmerken. "Danke. Mein Name ist Wilbur Klamp, ich bin Sprecher der Händler und Schausteller des Schweinachtsmarktes am Randwärtigen Platz."
Harry nickte. Vor einigen Wochen war die Zeit der Schweinachtsmärkte wieder angebrochen, und überall auf den Plätzen wehte einem der Duft von Glühwein, Zimt, Würstchen und karamelisierten Schweinerippchen entgegen.Von den Karussellen, auf denen kleine Kinder auf gusseisernen Ferkeln reiten konnten, tönte schräge Musik, und allerorten wurde Handwerk, Gebäck und alles Erdenkliche andere angeboten.
Von vielen wurden diese Märkte auch Silvestermärkte, und das zugehörige Fest Silvester genannt, aber Harry bevorzugte den traditionelleren Begriff Schweinachtsfest, schon allein deswegen, weil er von der Kirche des Blinden Io nicht viel hielt
[2]Der Gnom nickte Klamp auffordernd zu. "Dann gehören Sie und Ihre Leute zur Händlergilde?"
"Teilweise zur Händlergilde, teilweise zur Schaustellergilde. Und die meisten unserer Imbissbudenbesitzer gehören zur Gilde der Gastwirte. Wir sind ein ziemlich bunter Haufen, für den sich keiner so richtig verantwortlich fühlt - vielleicht ist das auch das Problem."
"Und was für ein Problem ist das genau?"
"Ein Kanalarbeiter."
"Ein Kanalarbeiter?"
"Ja. Ein dreckiger, stinkender Kerl, der heute morgen genau auf unserem Platz eine Baustelle aufgestellt hat, weil er für die Kanalarbeitergilde irgendwelche Arbeiten durchführen muss. Und der uns damit all unsere Kunden verscheucht."
"Kanalarbeitergilde? Die gibt es doch gar nicht." Harry runzelte die Stirn. Er musste das wissen, schließlich hatte Daemon ihn genau deswegen - und zugegebenermaßen auch als Test seiner Observierer-Fähigkeiten - schon einmal persönlich ein verstopftes Kanalisationsrohr reinigen lassen
[3]"Der Kerl hat zumindest einen beglaubigten Gildenausweis. Deswegen bin ich ja hier - damit einer von Ihnen mal mit ihm redet und dem Spuk hoffentlich ein Ende macht."
Mit "einer von Ihnen" war offensichtlich mangels anderer anwesender Wächter Harry selbst gemeint - auch wenn der Gnom sich nicht sicher war, ob er sich jetzt über die Abwechslung freuen oder über die Aussicht, bei bitterer Kälte mit einem Bauarbeiter zu streiten, ärgern sollte.
"Ich werde einen unserer Leute schicken, sobald wir ein bisschen Zeit haben", erwiderte er schließlich, und fügte in Gedanken hinzu:
Sobald das Wetter etwas besser wird und mir hier wirklich die Decke auf den Kopf fällt...Klamp nickte. "Vielen Dank. Ich werde den Budenbesitzern Bescheid geben - ich bin sicher, die werden sich gerne mit der einen oder anderen Kleinigkeit erkenntlich zeigen."
Harry horchte auf.
Eine Stunde später stapfte der Gnom durch die tiefen Schneematschpfützen
[4] des Randwärtigen Platzes. Die Aussicht auf sich erkenntlich zeigende Händler hatte die Entscheidung nicht unwesentlich beeinflusst.
Es dämmerte bereits, und die Stände wurden von Öllampen und Windlichtern erhellt. Die unverkennbare Geruchsmischung von Alkohol, Gewürzen und gebratenem Schweinefleisch wehte über den Platz, jedoch deutlich überlagert von dem ebenso unverkennbaren Geruch von fauligem Abwasser. Auch die Musik der diversen Spielleute, die mit Trompeten, Gitarren und Leierkästen für festliche Stimmung zu sorgen versuchten, wurde durch ein lautes und ungleichmäßiges Hämmern übertönt. Dementsprechend war auf dem Platz nicht viel los, nur ein paar vereinzelte Gäste standen an einem der Stände und wärmten sich die Hände an einem Becher Glühwein. Normalerweise war dies ein belebter Platz,und die Geschäfte, von denen er gesäumt war, zogen viele wohlhabende Kunden an, aber heute hatten sich die meisten davon wohl entschieden, einen anderen Ort aufzusuchen. Harry konnte Wilbur Klamps Beschwerde verstehen.
Der Gnom folgte dem Lärm und Gestank zum Rand des Platzes, wo eine kleine, von mehreren hochpreisigen Geschäften gesäumte Straße direkt am Platz endete. Mit Absperrband war hier ein Bereich abgetrennt, in dem ein übel riechender Mann auf der Straße ein Loch ausgehoben hatte, in dem er jetzt stand und mit einem Hammer auf eine unter der Erde liegende Steinschicht einschlug. Der faulige Gestank drang aus den Lücken, die er schon geschlagen hatte, heraus. Um die Baustelle herum boten ein paar Händler ohne viel Enthusiasmus Lebkuchen und Marizipanschweinchen an.
Der Gnom räusperte sich vernehmlich. "Hallo?"
Keine Reaktion. Der Mann war ganz in seine Arbeit vertieft, und trug zudem, wie Harry jetzt sah, Ohrenschützer gegen den Lärm.
Dann also anders...
Er nahm ein paar Schritte Anlauf und sprang dem Mann mit Schwung gegen die Oberschenkel. Dieser zuckte zusammen, sah sich um und ließ den Hammer sinken, als er den Gnom sah.
"Hm? Was willsn du?", fragte er und nahm sich die Ohrenschützer ab.
"Harry, Ankh-Morpork Stadtwache. Was genau machen Sie hier?"
"Kanalarbeiten mach ich. Ich brech die Straße auf, kletter runter innen Kanal, schau nach, ob alles in Ordnung is, und mach die Straße wieder zu. Sekunde..." Er kramte aus seiner Hemdtasche ein schmutziges Stück Papier heraus. "Bin sogar inner Gilde, hier."
Der Zettel war als anerkannter Gildenausweis zu erkennen. "Gilde der Kanalarbeiter", stand darauf, und "Sigi Stiefel, Mitglied Nr. 001"
"Mitglied Nummer eins?"
"Joa. Habich mir gedacht 'Sigi, mach mal was Sinnvolles', und weil's so 'ne Gilde noch nicht gibt, binich zum Patrizier und hab' se angemeldet. Jetzt zieh ich jeden Tag wo hin und bau da meine Baustelle auf und reparier alle Rohre und Wände und so, und dafür kann ich von allen Anwohnern zwei Dollar verlangen, dafür, dass ich dafür sorg, dasse keine Flut im Keller haben."
"Und dafür müssen Sie immer die Straße aufbrechen? Können Sie nicht einfach irgendwo einsteigen und dann unterirdisch da hin gehen?"
"Nee, so einfach isdas nich. Isn echtes Labürint da unten - uralte Gänge, die Hälfte is eingestürzt, und Karten gibt's schon lange keine mehr dsvon. Und wenn man sich da unten verläuft, dann fressen einen die Albino-Krokodile. Nee. da muss man sich schon direkt von oben runterbohren, anners geht's nich."
"Und müssen Sie ausgerechnet hier arbeiten? Die Leute vom Schweinachtsmarkt haben sich über den Lärm und den Geruch beschwert."
"Morgen binich ja fertig", erwiderte Stiefel. Heut machich das Loch noch auf, schau nach, ob alles in Ordnung is, und morgen machichs gleich wieder zu. Ich hab da nen Stadtplan, da plan ich genau, wann ich wo hin muss. Total mattimatisch korrekt."
"Mattimatisch? So so..."
"Joa." Stiefel zog ein schmuddeliges Stück Papier aus einer Tasche, faltete es zweimal auseinander und deutete darauf. Es war ein Stadtplan von Ankh-Morpork, auf dem in halbwegs regelmäßigen Abständen mehrere Kreuze eingezeichnet waren. Auf eines davon deutete der Arbeiter jetzt. "Hier, das ist die Stelle, wo ich die Straße aufbrechen muss. Alles mattimatisch berechnet."
Harry nickte, auch wenn ihm die Position der Kreuze teilweise eher willkürlich vorkam. Die Hoffnung auf "Erkenntlichkeiten" der Händler konnte er sich wohl abschminken, hier ging anscheinend alles mit rechten Dingen zu. "In Ordnung - versuchen Sie nur, nicht mehr Lärm als nötig zu machen, ja?"
"Ehrensache, Boss. Wie gesagt: Wenn das Loch fertich is, dann mach ich sowieso Schluss für heute."
"Wieso das? Können Sie nicht heute noch Ihre Arbeit erledigen, damit die Leute hier morgen wieder ihre Ruhe haben?"
Der Bauarbeiter schüttelte den Kopf. "Geht leider nich, Boss. Fünf Stunden ab Tag, mehr darf ich nich. Steht inner Gildensatzung. Tut mir echt Leid, Boss."
"In der Gildensatzung, die Sie selbst geschrieben haben, nehme ich an?"
"Klar doch, Boss. Und wurde offiziell von der Hauptversammlung der Gilde bestätigt. Kannich also nichts machen, Boss."
Sigi Stiefel stülpte dich die Ohrenschützer wieder über und schlug mit gleichem Elan wie vorher wieder auf die Steine ein, die ihn an dieser Stelle wohl noch von der Kanalisation trennten.
Der Gnom wandte sich ab und beeilte sich, aus dem akustischen und olfaktorischen Umfeld des Arbeiters zu entkommen. Das Gildensystem der Stadt war ja schön und gut, aber es bot auch genügend Schlupflöcher, die man zu seinem eigenen Vorteil nutzen konnte. Das wusste er nicht erst, seit es es Dieter "Finger" Krummbein einmal gelungen war, eine "Gilde der Gildenlosen" registrieren zu lassen und begonnen hatte, von allen Bürgern der Stadt, die keiner Gilde angehörten, einen Mitgliedsbeitrag zu fordern. Der Ausschuss des Gildenrates, der über den Fall urteilen sollte, tagte immer noch einmal die Woche, um darüber zu diskutieren, ob die Mitgliedschaft in einer solchen Gilde theoretisch denkbar war.
Er marschierte an einem ganz in ein hellbraunes Lebkuchenmännchen-Kostüm gekleideten Gnom vorbei - einer der wenigen Mitarbeiter des Marktes, die es in direkter Nachbarschaft zur Baustelle aushielten - der ihm ebenso breites wie falsches Zuckerguss-Grinsen schenkte und ohne viel Enthusiasmus versuchte, ihm ein Flugblatt in die Hand zu drücken. Harry ignorierte ihn, und freute sich, dass er nicht zu den Leuten gehörte, die es bei dieser Kälte draußen aushalten mussten: Noch schnell dem Marktvorsteher die schlechte Nachricht überbringen, und dann konnte er schon wieder nach Hause in die gemütliche Puppenstube.
Einen Tag später - es war später Nachmittag, und Harry blätterte gerade in "Freddy Frettchentöter und der Todeskristall von Ankh-Morpork" und grübelte wieder einmal darüber nach, wie wenig die Stadt seiner Jugendbücher mit der Realität zu tun hatte - wurde der Gnom erneut durch ungewohnt hektische Geräusche auf dem Flur aufgeschreckt.
"Was soll das heißen, niemand hier? Ist das hier ein Wachhaus oder nicht?"
"Ich..."
"Hör zu, mir ist das egal, wo sich deine Kollegen gerade herumtreiben, aber ich an deiner Stelle würde dafür sorgen, dass sich jemand um diese Sache kümmert. Ich bin sicher, wenn der Kommandeur davon erfährt, dass die DOG sich hier einen lauen Lenz machen, dann wird er nicht sehr erfreut sein."
"Ich..."
"Nur weil ihr hier ein bisschen abseits liegt, heißt das nicht, dass ihr irgendwelche Sonderrechte habt!"
Schritte entfernten sich, ein gemurmelter Ausruf, der verdächtig nach 'Haufen Faulpelze' klang, war zu hören, eine Tür fiel lautstark ins Schloss, und nach kurzem Zögern öffnete Harry die Bürotür. Im Flur stand, ein wenig verloren aussehend, der Gefreite Thomas Spitzschuh, auch als "Bruder Laudes" bekannt, und hielt zwei Zettel in der Hand.
"Was war denn das?", fragte der Gnom.
Laudes sah zu ihm hinüber. "Oh, hallo Oberstabsspieß. Ich weiß nicht, ich war eigentlich nur hier, um meinen Arbeitszeitbeleg einzureichen. Es geht um einen Diebstahl, RUM hat hier etwas an uns weitergereicht, weil wohl eine Gilde involviert ist." Er hielt Harry den Zettel entgegen - sichtlich froh, das ganze einem ranghöheren Wächter weiterreichen zu können.
Harry warf einen Blick darauf. "Montag, 6 Stunden Bürgerkontakte pflegen, Dienstag, 5 Stunden Bü..."
"Oh, das ist mein Arbeitszeitbeleg. Hier, das hier ist der Zettel von RUM." Laudes hielt dem Gnom das andere Blatt Papier hin.
"Und 'Bürgerkontakte pflegen' heißt nicht zufällig 'Leuten auf der Straße von Seramis erzählen'?"
Der Gefreite sah schuldbewusst zu ihm herab.
"Na gut, sei's drum", meinte Harry freundlich lächelnd. "Zu tun gibt es hier ja sowieso nichts - oder jedenfalls nicht bis jetzt. Zeig doch mal her."
Auf dem Zettel stand:
Juwelendiebstahl bei Tiffany Klunker am Randwärtigen Platz. Der oder die Täter verschafften sich unterirdisch Zugang - Zeugen haben Mitglied der Kanalarbeitergilde erwähnt. Bitte schleunigst um Informationen zu dieser Gilde (Mitgliederliste, etc.) R. v. G., RUMHarry blinzelte. "Gefreiter, schaust du bitte mal nach, was wir im aktuellen Gildenverzeichnis zu einer Kanalarbeitergilde stehen haben? Und wenn da nichts drin steht, wovon ich ausgehe, dann frag beim Palast nach. Es kann sein, dass sie erst kürzlich gegründet wurde. Wir treffen uns anschließend beim Juwelier."
"Beim Juwelier? Aber da war doch sicher RUM schon - ist es nicht nur unsere Aufgabe, den Kanalarbeiter ausfindig zu machen?"
"Nichts da - wenn RUM uns den Fall schon aufs Auge drückt, dann machen wir ihn auch vernünftig. Es soll uns doch keiner nachsagen können, dass bei DOG keiner arbeitet, oder?"
Harry sah dem davon eilenden Gefreiten nach. Es gab etwas zu tun - und sie beide würden die Ehre der DOG retten.
Harry beschloss, einen Zettel mit einer kurzen Nachricht an die Schachtel für die Arbeitszeitformulare zu kleben, und machte sich dann auf den Weg zum Schweinachtsmarkt. Es war inzwischen deutlich kälter geworden, und die grauen Wolken deuteten auf baldigen Schneefall hin. Er trug eine dicke Jacke und die Handschuhe, die ihm Ilona-Verona, eine der Näherinnen des Boucherie, vor zwei Jahren geschenkt hatte, trotzdem spürte er, wie die Kälte ihm die Nase und die Ohren einfror. Trotzdem war er froh, dass es endlich wieder ein bisschen was zu tun gab - selbst für einen Freund gepflegter Langeweile und Untätigkeit gab es Zeiten, an denen man sich nach Abwechslung sehnte.
Der Schweinachtsmarkt war heute deutlich belebter als bei Harrys letztem Besuch. Ein Pulk von Menschen (und einigen wenigen Zwergen und Trollen, aber die meisten von ihnen konnten mit menschlichen Festen wenig anfangen und feierten ihre eigenen Versionen des Jahreswechsels) schob sich zwischen den Ständen entlang, und Harry musste geschickt zwischen und unter den stampfenden Füßen hindurch tauchen, um nicht getreten zu werden. Es war eine gewohnte Perspektive für einen unter Menschen lebenden Gnom, und Harry hatte mit der Zeit gelernt, aus dieser bodennahen Perspektive einiges über die jeweiligen Personen zu erkennen. Hier massive, schwere Stiefel und eine dreckige Hose: Ein Handwerker bei der Arbeit. Die Stiefel abgetragen, die Hose durchlöchert: Wahrscheinlich ein Bettler - oder ein Taschendieb auf der Suche nach Opfern. Lederne Damenstiefel mit hohem Schaft, und ein... ähem... ein für die Jahreszeit
ungewöhnlich kurzer Rock, und darunter... nun ja, wenig? Wenn das mal keine Näherin war...
Harry riss sich von dem Anblick los und marschierte weiter über den Markt. Es war erstaunlich, wie viel man mit etwas Übung an den Unterschenkeln und Schuhen von Menschen ablesen konnte. Da vorne zum Beispiel, die graue Hose sah genau so aus wie die von einer DOG-Uniform, und... Moment mal!
Harry blieb vor der fraglichen Hose stehen und sah hinauf. Ein groß gewachsener, schlaksiger Mensch, in der Hand einen Becher Glühwein... von seiner Position aus konnte er das Gesicht nicht erkennen, aber das konnte eigentlich nur...
Da Rufen bei dem Geräuschpegel um sie herum wenig erfolgversprechend schien, kletterte er dem anderen Wächter kurzerhand an der Hose hoch und auf die Schulter. "Hallo, Dae!"
Der Angesprochene zuckte zusammen und verschüttete etwas von seinem Glühwein. "Harry? Schau an, was machst du denn hier? Ich bin... äh... dabei, die Kontakte von DOG zu den hiesigen Händlern ein bisschen zu intensivieren." Er hielt dem Gnom eine Tüte hin. "Wurstzipfel in Schmalzteig?"
Harry schüttelte den Kopf. "Jetzt nicht, danke. Du, du wirst es nicht glauben, aber wir haben einen Fall. Romulus war deswegen extra im Boucherie, und ich glaube, er war ein bisschen irritiert darüber, das kaum jemand da war."
"Keiner da?" Der Abteilungsleiter sah ihn verwundert an. "Ich weiß ja, dass es zur Zeit nicht viel zu tun gibt, aber das ist doch kein Grund, einfach das Wachhaus zu verlassen, und... und..."
"Kontakte mit örtlichen Händlern zu pflegen?"
"Genau! Das... was? Nein, das ist etwas völlig anderes." Daemon ließ den Becher hinter seinem Rücken verschwinden. "Als Abteilungsleiter muss ich meinen Finger am Puls des Stadtlebens halten. Das ist hier alles rein beruflich. Also, was für ein Fall ist das?"
Harry erzählte ihm kurz die Details, wie er sie kannte, und deutete in Richtung der Sackgasse, in der gestern noch der Bauarbeiter gearbeitet hatte.
"Na, dann wollen wir RUM doch mal beweisen, dass wir tatsächlich arbeiten", meinte Daemon. "Hat er wirklich 'ein Haufen Faulpelze' gesagt? Dem zeigen wir, wozu die DOG in der Lage sind. Gleich nachdem ich mir meinen Becherpfand zurückgeholt habe."
Auf der Schulter des Hauptmanns durchquerte Harry den Schweinachtsmarkt deutlich schneller als zuvor, und der groß gewachsene Abteilungsleiter gab einen hervorragenden Aussichtspunkt ab, von dem aus er das gesamte Treiben auf dem Markt wunderbar im Blick hatte - von den Händlern, die geschnitzte Holzfiguren verkauften, bis zu den Kindern, die sich von einem grummeligen Schneevater ängstigen ließen.
Schnell hatten sie die Stelle erreicht, wo Harry Tags zuvor gewesen war, und wo jetzt nur noch ein bisschen Schotter davon zeugte, dass hier gestern noch jemand die Straße aufgebrochen hatte. Auch Tiffany Klunkers Juweliergeschäft war schnell gefunden - es lag direkt an der Straße, und wurde von einem grimmig drein blickenden Troll bewacht. Die Baustelle wäre direkt in Sichtweite des Eingangs gewesen, wenn nicht die letzten Ausläufer des Schweinachtsmarktes im Weg gestanden hätten.
"Wir geschlossen heute", verkündete der Troll, als sie näher kamen.
"Wir sind von der Wache", entgegnete Daemon und zeigte seine Dienstmarke. "Wir wollen uns den Tatort ansehen."
"Wache schon da gewesen", erklärte der Troll und runzelte in einem beeindruckenden Beispiel von Plattentektonik die Stirn.
"Wir sind... die zweite Schicht", improvisierte Daemon. "Wir sind hier, um nachzusehen, ob die anderen etwas übersehen haben."
"Oh? Na gut, ich Frau Klunker Bescheid geben."
Tiffany Klunker war streng blickendejunge Frau mit Hornbrille und einem akkurat geformten Haarknoten, von der Sorte, die sich in Teenie-Filmen allein durch das Abnehmen der Brille und Lösen der Haare in eine absolute Schönheit verwandeln würde. Sie stellte sich kurz angebunden vor und führte die Wächter dann in den Keller des Geschäftes, wo in einem Raum eine schwere Holzpritsche und ein offener Tresor standen. In einer Wand des Raumes klaffte ein Loch von vielleicht einem halben Meter Durchmesser.
Frau Klunker deutete auf ein unübersehbares Loch von etwa einem halben Meter Durchmesser, das in der Wand klaffte, und aus dem ein unangenehmer Geruch in den Raum wehte "Dort ist er eingestiegen", erklärte sie unnötigerweise. "Hat den Tresor geknackt und die wertvollsten Stücke mitgenommen."
Daemon sah sich den Tresor an. "Da war ein Profi am Werk, jemand anders hätte den sicher nicht aufbekommen. Und wählerisch war er anscheinend auch." Er nahm ein mit funkelnden Steinen besetztes Diadem aus dem Tresor und schaute es sich nachdenklich an. "Können Sie mir sagen, wann die Tat stattgefunden hat, Frau Klunker?"
"Wie ich schon Ihren Kollegen gesagt habe, muss es heute Vormittag gewesen sein. Nachts schläft Klinker hier unten - das ist der Troll, den Sie am Eingang gesehen haben. Wenn ich den Laden öffne - das ist um neun Uhr - geht er vor die Tür und hält Wache. Heute Mittag wollte ich eine Kette aus dem Tresor holen, und habe ihn leer vorgefunden."
"Ich würde sagen, es sieht nicht gut aus für deinen Kanalarbeiter", meinte Daemon zu Harry. "Wenn der Einbruch bei Nacht stattgefunden hätte, dann hätte es ja sein können, dass jemand anders die Baustelle genutzt hat - aber selbst bei einem fast leeren Markt wäre es sicher aufgefallen, wenn jemand anders als er bei helllichtem Tag durch das Loch geklettert wäre."
Harry nickte. "RUM hat sicher Fingerabdrücke genommen. Wenn wir diesen Sigi Stiefel finden, dann gibt es für uns wohl nicht mehr viel zu tun. Schade eigentlich, damit hätten wir Romulus ein wenig den Wind aus den Segeln nehmen können, wenn er wirklich vorhat, sich bei Bregs zu beschweren."
In diesem Moment waren schwere Schritte auf der Kellertreppe zu hören, und kurz darauf sah der Troll Klinker durch die Tür. "Frau Klunker? Noch ein Wächter hier angekommen. Er die dritte Schicht ist?"
Bruder Laudes hatte im Gildenregister des Wachhauses keinen Erfolg gehabt, aber das Gildenverzeichnis im Patrizierpalast kannte tatsächlich eine Kanalarbeitergilde, gegründet vor einigen Monaten von einem Siegfried Stiefel, aktuelle Mitgliederzahl 1, Hauptsitz im Hammelweg 22.
"Wenn er wirklich identisch mit deinem Kanalarbeiter ist", meinte Daemon, als die drei Wächter durch den inzwischen eingesetzten Schneefall zum Hammelweg marschierten. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Juwelendieb einem Wächter einen Ausweis mit seinem echten Namen zeigt, wenn er nicht gerade Mitglied der Diebesgilde ist."
Aber die Sorge war unbegründet: Selbst wenn Harry ihn vom Aussehen her nicht wiedererkannt hätte, wäre der Geruch, der ihnen entgegen wehte, als Sigi Stiefel auf ihr Klopfen hin die Tür öffnete, Hinweis genug gewesen, dass es sich um die gleiche Person handelte, wie die, die gestern noch auf dem Markt ein Loch gebuddelt hatte.
"Wasnlos?" fragte er, als er die Wächter sah. Dann fiel sein Blick auf Harry, der immer noch auf Daemons Schulter saß. "He, du bist doch der Gnom von gestern, hm? Hat sich heut schon wieder wer beschwert? Ich hab das Loch zugemacht, und morgen buddel ich annerswo, versprochen."
"Sie buddeln vielleicht bald gar nicht mehr", widersprach Daemon. "Heute Vormittag wurde von Ihrer Baustelle aus ein Juwelendiebstahl begangen. Der Täter hat von der Kanalisation aus die Wand zum Geschäft durchbrochen."
Stiefel sah ihn erschrocken an. "Juwelen geklaut? Und jetzt denkt ihr, dass ich...?" Nee, da seid ihr auf'm Holzweg."
"So? Wann haben Sie denn heute auf ihrer Baustelle gearbeitet?"
"Um elf war ich da. Hätt' gern früher angefangen, aber..."
"Lassen sie mich raten", warf Harry ein. "Die Gildensatzung verbietet das?"
"Exakt. Bist 'n schlaues Bürschchen. Also, ich hab' alles dicht gemacht und mein Zeuch abgebaut. Hat vielleicht zwei Stunden gedauert, nich mehr."
"Und ein Loch in der Wand der Kanalisation ist Ihnen nicht zufällig aufgefallen?"
"Nee, aber heut bin ich da auch nich runtergeklettert. Hab nur das Loch zugemacht."
"Sind Sie sicher, dass Sie nicht heute noch mal runter gestiegen sind? Denken Sie daran, dass sie sicher welche von den Markthändlern gesehen haben."
"Klar ham die mich geseh'n. Ham doch da gestanden und wie die Geier drauf gelauert, dass ich endlich abhau. Und die können sicher beschwör'n, dass ich die Wahrheit sag."
Harry runzelte die Stirn. Der Mann machte nicht den Eindruck, ein Profi-Safeknacker zu sein, aber konnte jemand anders den Diebstahl begangen haben? In dem Zeitfenster, das dem Dieb blieb, hätte doch kaum jemand dort einsteigen können, ohne von einem der Händler gesehen zu werden. Und wer immer es war, hätte nicht nur über die Arbeitszeiten von Sigi Stiefel und dem Troll Klinker Bescheid wissen müssen, sondern auch darüber, dass der Kanalarbeiter genau an einer so günstigen Stelle die Straße aufbrechen würde. Ein Gelegenheitsdieb kam da kaum in Frage.
"Können Sie mir noch mal Ihren Arbeitsplan zeigen?", fragte er.
"Klar." Stiefel verschwand kurz im Haus und kam kurz darauf mit dem aufgefalteten Stadtplan zurück. "Hier isser. Ich geh immer im gleichen Abstand durche Stadt, so dasse Rohre und so möglichst gleichmäßig untersucht wern. Ganz mattimatisch. Morgen buddel ich zum Beispiel" - er deutete auf eines der eingezeichneten Kreuze - "hier."
Der Gnom blickte von der Schulter des Hauptmanns auf den Plan herab. Schon gestern hatte ihn etwas daran gestört... und jetzt sah er auch, was.
"Ganz mathematisch wohl nicht", meinte er. "Das Kreuz für die Stelle gestern ist ein bisschen verschoben - müsste es nicht eigentlich zehn oder zwanzig Meter weiter drehwärts liegen?"
"Findeste? Na ja, n bisschen Spielraum jat man ja. "Ich kann ja schlecht mitten innem Haus buddeln, ne?"
"Aber das hier ist ein bisschen mehr als nur Spielraum. Also, warum ausgerechnet dort?"
Stiefel sah auf einmal ein wenig kleinlaut aus. "Na ja, da war'n Gnom, den hab ich vor 'ner Woche oder so inner Kneipe getroffen. Der hat mir'n bisschen Geld gegeben dafür. Is ja nichts bei, Hauptsache, ich schaff meine Quote, nich?"
"So, und das ist Ihnen nicht seltsam vorgekommen? Ist Ihnen nicht klar, dass Sie damit Beihilfe zu einer Straftat geleistet haben?"
"Wieso denn? Ich hab doch nix illegales gemacht!"
"Wie sah der Gnom aus?", fragte Harry.
"Hm... er war..." - Stiefel dachte kurz nach - "er war klein."
Harry verdrehte die Augen. "Kleiner als ich? Größer?"
"Was weiß ich... ihr seht doch alle gleich aus, irgendwie."
Ein Gnom... das ergab einen Sinn. Ein Gnom konnte schon eher ungesehen durch das Loch in die Kanalisation schlüpfen. Vielleicht hatte ja einer der Händler einen verdächtigen Gnom bemerkt...
Eine Gestalt fiel ihm ein - klein, ganz in braun, mit einem aufgemalten Zuckergussgrinsen.
"Der Lebkuchenmann!", rief er aus.
"Der was?"
"Gestern auf dem Markt, da war ein als Lebkuchenmännchen verkleideter Gnom, der Flugblätter verteilt hat. Das ist doch die perfekte Tarnung, oder? Bis zur Unkenntlichkeit verkleidet, und jeder Händler hält ihn für einen Mitarbeiter eines anderen Händlers. Dann musste er nur heute vormittag in einem unbeobachteten Moment runter schlüpfen und die Juwelen in die Tasche mit den Flugblättern packen."
Daemon nickte. "Das klingt logisch. Schauen wir noch mal auf dem Markt vorbei, ob uns jemand etwas über diesen Gnom sagen kann. Und Sie, Herr Stiefel, betrachten sich bitte weiterhin als Verdächtigen. Wir werden sicher noch mal mit Ihnen sprechen müssen."
"So'n Quatsch! Ich hab' doch nun wirklich nichts Verbotenes gemacht!"
"Also wirklich!", grummelte der Hauptmann auf dem Rückweg. "Erst verschiebt der alte
Stinkstiefel die
Sollbruchstelle so in die
Sackgasse, dass das
Pfefferkuchenmännchen die
Wanderbaustelle für seinen Raubzug nutzen kann, und dann tut er auch noch so, als wäre so eine
Vetternwirtschaft nichts weiter als ein
Kavaliersdelikt! Ist das zu fassen?"
Wie von Harry vermutet, konnte ihnen auf dem Markt keiner Näheres über den Lebkuchengnom sagen, was den Verdacht bestätigte, dass er zu keinem der Marktstände gehörte. Ein Händler, der an einem Kohlsuppestand arbeitete, meinte gesehen zu haben, dass der Gnom in Richtung Breiter Weg verschwunden war, aber dort wurde die Spur kalt. Also beschlossen die Wächter, sich zum Aufwärmen und zur Planung des weiteren Vorgehens ins Boucherie zurückzuziehen.
Dort warteten inzwischen schon Breda Krulock und Hatscha al Nasa, die Harrys Nachricht an der Zettelschachtel gefunden hatten. Vor Hatscha auf dem Boden saß Crunkers, der sich von ihr ausgiebig hinter den Ohren kraulen ließ.
Schnell wurden die beiden Wächterinnen über den Stand der Dinge informiert.
"Wir suchen also", schloss Daemon, "einen gnomischen Juwelendieb, der sich als Pfefferkuchenmännchen verkleidet hatte und von dem unsere einzige Beschreibung ist, dass er 'klein' ist. Ideen?"
"Vielleicht weiß ein Informant von RUM, ob einem Hehler aktuell Juwelen angeboten werden?"
Daemon schüttelte den Kopf. "Da sind die sicher schon dran. Wir haben einen Wissensvorsprung gegenüber RUM, und den wollen wir ausnutzen. Also, andere Ideen?"
"Was ist mit dem Kostüm?", meinte Harry. "Sicher gibt es nicht viele Möglichkeiten für einen Gnom, an ein professionelles Lebkuchenmännchen-Kostüm zu kommen. Und handgeschneidert sah das nicht aus."
"Die Schneidergilde?", schlug Breda vor. "Vielleicht hat da jemand eine Idee, wo man an so ein Kostüm kommen könnte."
"Guter Ansatz, Breda. Kümmer dich darum. Laudes, du schaust dich noch ein bisschen auf dem Schweinachtsmarkt um, um herauszufinden, ob noch jemand etwas über den Gnom sagen kann. Weitere Ideen?"
"Ein Werwolf könnte uns vielleicht helfen", warf Harry ein. "Wenn der Gnom da unten in der Kanalisation war, dürfte er eine deutliche Geruchsspur hinterlassen haben."
Daemon schüttelte den Kopf. "Wir schaffen das ohne Hilfe von anderen Abteilungen", widersprach er. "Wenn RUM halbwegs auf Draht ist, dann werden die sowieso schon selbst auf die Idee gekommen sein."
"Was ist mit Crunkers?", schlug Hatscha vor. "Ich weiß, er ist kein Spürhund, aber vielleicht kann er trotzdem eine Fährte aufnehmen?"
"Ich glaube, er dürfte die Würstchen auf dem Markt deutlich interessanter finden als irgendwelche Abwasser", vermutete Daemon. "Aber warum nicht - du kannst Laudes ja zum Markt begleiten und den Hund mitnehmen. Solang wir keine besseren Ideen haben, schadet das ja nichts."
"Ich gehe auch mit", meinte Harry. "Aus gnomischer Perspektive findet man vielleicht eher eine Spur."
"Gut, macht das. Ich halte hier die Stellung und bereite schon mal den Bericht an RUM vor. Ich zähle darauf, dass ihr den Kerl auftreibt, bevor die Spur kalt wird!"
Die Spur mochte ja noch warm sein, aber die Luft auf dem abendlichen Schweinachtsmarkt war deutlich unter dem Gefrierpunkt. Harry hatte sich in die Kapuze von Hatschas gefütterter Winterjacke gesetzt und sich in einen warmen Schal eingewickelt.
"Dort ist er eingestiegen", sagte Harry und deutete auf die Stelle, wo gestern noch die Baustelle gewesen war. "Und die einzige Zeugenaussage, die wir haben, ist, dass er in Richtung Breiter Weg gelaufen ist."
Hatscha sah in die angegebene Richtung. "Wir suchen also einen Gnom, der hier heute gegen Mittag, als Lebkuchenmännchen verkleidet und nach Abwasser stinkend, einmal quer über den Platz gelaufen ist. Da muss es doch genug Leute geben, denen so einer aufgefallen ist, oder?"
"Denkst du", entgegnete Harry. "Die meisten Leute achten nicht auf Personen, die ihnen gerade mal bis zur Mitte des Unterschenkels reichen."
"Was meinst du, Crunkers?", wandte Hatscha sich an das Maskottchen der DOG. "Riechst du etwas?"
Crunkers hatte den Blick auf die nächste Würstchenbude gerichtet - auch für ihn gab es im Moment ganz eindeutig spannendere Dinge als nach Abwasser riechende Lebkuchengnome.
Hatscha verdrehte die Augen. "Du willst also lieber Würstchen im Schmalzteig füttern, als der Wache zu helfen? Na gut, irgendwo habe ich noch einen Dollar..."
"Fragen wir uns einfach mal durch, oder?", schlug Harry vor, während Hatscha mit einem glücklich wedelnden Crunkers im Schlepptau zum Marktstand ging. "Vielleicht haben wir ja Glück. Und zumindest sein Kostüm muss er irgendwo abgelegt haben - ich kann mir nicht vorstellen, dass er damit durch die ganze Stadt gelaufen ist."
Eine halbe Stunde später, in der Laudes zehn Seramis-Broschüren an den Mann bringen konnte, hatten sie Glück: Nach dem Hinweis einer Bettlerin, die tatsächlich, wie sie sagte, einen "stinkenden Keks" gesehen hatte, der die Straße entlang gelaufen war, fanden sie in einer Seitengasse ein achtlos weggeworfenes und übel riechendes Stück Stoff.
"Eine Handpuppe", verkündete Hatscha, nachdem sie es sich mit spitzen Fingern näher angesehen hatte. "Jemand hat Löcher für Augen hinein geschnitten, und sie am Saum ein bisschen umgenäht."
"Eine Handpuppe von einem Lebkuchenmann?", fragte Harry nach. "Wer benutzt denn so etwas?"
"Kennst du nicht die Geschichte vom Lebkuchenmann, der zum Leben erwacht und allen davon läuft, bis er vom Fuchs gefangen und gefressen wird? Gerade um diese Zeit dürften das wieder einige Puppentheater als Schweinachtsmärchen spielen."
"Ich kenne eine ähnliche Geschichte mit einem Pfannkuchen", entgegnete Harry. "Aber wie dem auch sei - wie fangen wir jetzt
unseren Lebkuchenmann? Die Spur hat sich damit ja wohl endgültig im Sande verlaufen, oder?"
Hatscha betrachtete nachdenklich das stinkende Stück Stoff. "Vielleicht nicht... was meinst du, Crunkers? Kannst du uns jetzt helfen? Du kriegst auch noch ein Würstchen im Schmalzteig hinterher." Sie raschelte einladend mit der Tüte und hielt dem Hund das Kostüm hin. Dieser sah zu ihr hoch und schien eine Weile nachzudenken, dann lief er los, und die Wächter folgten ihm.
"Meinst du, er hat es begriffen?", fragte Harry seine Kollegin.
"Zumindest scheint er eine Spur zu haben", erwiderte diese. "Vielleicht haben wir ja Glück."
"Aber woher weiß er, was du willst? Er ist doch nie zum Spürhund ausgebildet worden."
"Na ja, ganz dumm ist er nicht... und außerdem ist die Narrative Kausalität auf unserer Seite."
"Wie meinst du das?"
"Na ja, wir jagen einen Lebkuchenmann, und in der Geschichte läuft er allen davon, nur nicht..."
"...dem Fuchs", ergänzte Harry. "Guter Ansatz!" Er sah auf den braun-weißen Mischling herunter, der einem Fuchs zugegebenermaßen nicht sehr ähnlich sah. Der Hund schien tatsächlich ein Ziel zu haben, zumindest führte er sie zielstrebig durch die engen Gassen Morporks, bis er schließlich vor einer schäbigen kleinen Hütte stehen blieb, sich zu Hatscha umdrehte und ihr einen unverkennbaren "Jetzt-gib-mir-das-Würstchen"-Blick zuwarf.
Hatscha kam der Aufforderung nach, war dann einen Blick auf die anderen und ging zur Tür. Auf ihr Klopfen öffnete ein stämmiger Mann mit einem vernarbten Gesicht. "Was?"
"Stadtwache von Ankh-Morpork, guten Tag", antwortete Hatscha lächelnd. "Wohnt hier vielleicht ein Gnom?"
"Ihr wollt zu Willi?" Der Mann drehte sich um. "Willi, hier ist Besuch für dich!"
Von Hatschas Schulter aus hatte Harry sehen können, wir auf der entgegengesetzten Seite des Hauses eine kleine Gestalt zu einem halb offen stehenden Fenster lief. Sie trug einen Sack über den Rücken und machte gerade Anstalten, mit Hilfe eines Vorhangs aus dem Fenster zu klettern.
"Er haut ab!", rief er. Tatsächlich war der Gnom so schnell, dass er das offene Fenster schon so gut wie erreicht hatte.
Blitzartig griff Harry in die Tüte von Würstchen im Schmalzteig, die Hatscha immer noch in der Hand hielt, und warf eines davon über den Kopf des Mannes in Richtung des flüchtenden Gnomes. Wie ein geölter Blitz schoss Crunkers zwischen den Beinen von Hatscha und dem vor ihr stehenden Mann hindurch. Ein gedämpfter Aufschrei war zu hören, als der Hund in seinem Eifer den Gnom von der Gardine und zu Boden riss. Kurz darauf waren auch schon die Wächter an dem anderen Mann vorbei gestürmt und Laudes hielt den zappelnden Gnom mit ausgestrecktem Arm in der Luft.
"Respekt!", meinte Hatscha zu Harry. "Schnell geschaltet."
"Ohne deine Idee mit der Narrativen Kausalität wäre ich nicht darauf gekommen", wehrte der Gnom ab. Er kletterte von seiner Aussichtsposition herunter und sah in den Beutel, den der Gnom hatte fallen lassen. "Sieht so aus, als hätten wir die Beute sichergestellt", verkündete er. "Der Fuchs hat den Lebkuchenmann gefangen, und wir können ihn hübsch verpackt an RUM schicken." Er warf einen Blick in die Runde. "So, wer möchte einen Glühwein? Ich gebe eine Runde aus!"
[1] zumindest das obere Stockwerk. Unten ging es so laut und lebhaft zu wie eh und je
[2] Der Name "Silvester" geht auf St. Silvester von der Kirche des Blinden Io zurück. Die Legende besagt, dass Silvester an einem bitterkalten Wintertag irgendwo draußen in der Wildnis einen halb erfrorenen Bettler fand, und aus Nächstenliebe seinen Mantel, seine Hise, sein Hemd, seine Unterwäsche und sogar seine Strümpfe jeweils genau in der Mitte durchteilte und von allem eine Hälfte dem Bettler gab, bevor er weiter zog. Am nächsten Tag fand man beide erfroren am Wegesrand liegen.
[3] siehe "Stille Abwasser sind tief"
[4] wobei für einen Gnom schon kleine Pfützen zu Hindernissen, und tiefe Pfützen zu unüberbrückbaren Seen werden
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