"Sebulon, heute ist dein großer Tag.", sagte Harry und sah über seine morgendliche Kaffeetasse hinweg zu dem Zwerg hin, der sich vor dem Tisch auf einem Stuhl gesetzt hatte und müde dreinschaute. Er hatte in der Nachtwache aushelfen müssen und war zu diesem Zeitpunkt bereits seit acht Stunden im Dienst.
"Mhm.", entgegnete der.
"Deine Ausbildung neigt sich nämlich dem Ende zu."
Kurz hob Sebulon die Augenbraue, dann straffte sich sein Körper und er begann zu lächeln.
"Ich werde zum Gefreiten befördert?"
"Nein, nicht ganz.", brummte Harry und schmunzelte, als Sebulon sich wieder in den Stuhl sacken ließ. "Du hast bisher sehr gute, sogar ausgezeichnete Ergebnisse gezeigt. Erfüllst deine Pflicht, dienst der Stadt und so. Von den Rekruten hält in diesem Jahr nur Braggasch Goldwart mit dir mit - und der versucht lediglich, nicht den Anschluss zu verlieren."
Der Zwerg legte seine Stirn in Falten und sah seinen Ausbilder an, der ihm die Hand hinhielt.
"Sebulon Samaxsohn, weiter so."
Langsam erwiderte er die Geste und versuchte dem Gnom nicht durch den Druck die Hand zu lädieren. Dann wandte sich Harry wieder dem Papierkram auf dem Schreibtisch zu.
Sebulon räusperte sich.
"Bei allem Respekt, Sir, hast du mich deshalb geholt? Um mir die Hand zu schütteln; das ist mein großer Tag?"
"Oh, nein, das hätte ich beinahe vergessen. DOG hat uns eine Rohrpost geschrieben. Sie sind auf dich aufmerksam geworden und laden dich ein. Man erwartet dich in einer halben Stunde in der Springstraße 21 im
Boucherie Rouge zu einem Expertengespräch."
Langsam wurde der Zwerg wieder munter. Ein Expertengespräch, das klang gut, sehr gut sogar. Einen Tag lang raus aus dem Rekrutendasein. Harry nicht durch die Gegend tragen müssen.
[1] Einen Tag lang Fragen stellen dürfen.
"Melde dich in Zivil bei Hatscha al Nasa. Über der Boucherie. Sie wird dir alles weitere erklären und dich durch die Abteilung führen. Ach, wenn du ohnehin rübergehst, bestell ihr herzliche Grüße von mir."
Mit pochendem Herzen betrat der Zwerg die Springstraße. Eigentlich verdiente sie den Namen nicht, denn Straßen sind im allgemeinen Breiter. Die Enge der Springstraße fügte sich jedoch in das allgemeine Gefühl des Viertels: Hier sollte man nicht lange außer Hauses sein, denn in die Häuser waren einladend und in warmen Farben gehalten. Ein schwerer Duft waberte durch die Gasse und schien zu sagen: tritt ein.
Hier und dort lächelte ihm eine Menschenfrau zweideutig - nein: eindeutig - zu. Er zog den Mantel enger um die Schultern und versuchte grimmiger dreinzublicken. Bei jedem Schritt klapperte der Gürtel gedämpft und obwohl reges Treiben herrschte, war doch eine drückende Stille in der Springstraße.
Einundvierzig ... noch etwas weiter ... fünfunddreißig ...Eine Brücke spannte sich über die Springstraße, oben standen Kinder und pfiffen auf die Straße hinunter.
... einunddreißig ... jetzt muss es bald kommen ... siebenundzwanzig ...Es war nicht leicht, die nächste Hausnummer auszumachen, weil, trotz der Fülle an einladend offen stehenden Türen, dutzende zum gleichen Haus gehörten.
Irgendwo quietschten die Federn von einem Bett rhythmisch.
... fünfundzwanzig ... liegt bestimmt an mir, dass hier alles seltsam ist; immerhin gibt es Wächter, die hier täglich ... dreiundzwanzig ... langkommen, weil sie hier arbeiten ... was, neunzehn? Sebulon blieb stehen. Neunzehn. Er ging ein Stück zurück.
Dreiundzwanzig. Das kann doch nicht sein! Wie ...?"Na, Kleiner? Gefall ich dir?"
Ohne dass er es gemerkt hätte, war vor ihm aus einer der offenen Türen eine ältere Frau erschienen. Sie trug ... wenig. Lediglich Stiefel ließen sich mit Sicherheit ausziehen; der restliche Stoff konnte ebensogut angemalte Haut sein.
Sebulon schluckte.
"Entschuldigung, gute Frau, ich suche ..."
"Ich weiß. Komm erstmal rein, dann wirst du schon finden, was du suchst. Wir haben alles im Angebot."
Sie nahm seine Hand und sah ihn mit einem Blick an, der ihn unter seinem Mantel schwitzen ließ.
"M-m-m-moment: einundzwanzig?", brachte er hervor.
"Was sagst du, Süßer?", fragte die Frau und sah ihn neugierig an. "Stellung einundzwanzig? Selten, dass die jemand möchte. Aber mit Sicherheit kann ich die, man vergisst eine Stellung nie ... ich muss nur kurz nachschauen, ob ich noch Honig und eine Kerze da habe."
Die Augen von Sebulon wurden panisch groß.
"Nein, V-V-Verzeihung. Ich suche d-d-die
Buhschrie Ruhsch. N-N-N-Nummer einundzwanzig."
"Falsche Straßenseite, Kleiner.", seufzte die Frau enttäuscht und verschwand wieder im Haus.
Der Zwerg drehte sich um. In der Tat: Nummer einundzwanzig lag auf der anderen Straßenseite. Der Architekt musste sich einen Spaß erlaubt haben ... andererseits suchte er ja die DOG-Dienststelle, und die musste
andakaffa sein.
Was war eine bessere Tarnung als unauffindbar zu sein?
Der Rekrut betrachtete das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite, neben dem ein recht unfähiger, weiß geschminkter Clown seine Tricks übte. Das Gebäude strahlte überhaupt nicht den sonst typischen Ernst der Wache aus; es wirkte eher so, als gehöre es schon immer zu diesem Stadtviertel. Falls es eigens für die DOG gebaut worden war, hatten die Konstrukteure ganze Arbeit geleistet: es sah ebenso zwielichtig und einladend aus, wie alle Häuser in dieser Straße.
"Tschi!" machte es vor der Tür von Nummer einundzwanzig und eine schwarzhaarige, dunkelhäutige Gestalt schnäuzte recht unromantisch in ein Taschentuch.
Verdammt, die sind wirklich gut, dachte Sebulon, grüßte die Näherin schüchtern und betrat die DOG-Zentrale.
Nach einigem Suchen, und aus Versehen in geschäftige Zimmer platzen, fand Sebulon schließlich die Treppe ins Obergeschoss und sah sich plötzlich wieder der Näherin gegenüber, die er bereits vor dem Haus getroffen hatte.
"Tschi!", nieste sie, schneuzte sich; dann lächelte sie den Zwerg an. "Hast du dich verlaufen?"
"Verzeihung, gute Frau Näherin, äh, ich suche ..."
Das Lächeln erstarb auf ihren Lippen.
"Was willste, Bursche?", fragte die junge Frau und sah Sebulon kritisch an.
"... bin Wächter ... komme aus der Kröselstraße ... also ..."
"Bist
du etwa der Rekrut?"
Sebulon nickte nur. Die Frau sah den Zwerg erstaunt an und schüttelte den Kopf.
Wie zu sich selbst murmelte sie: "Völlig ungeeignet. Kann nicht einmal für sich behalten, dass er Wächter ist, geschweige denn eine Wächterin von einer Näherin unterscheiden. Und sowas schickt GRUND hierher? Sollen wir DOGs etwa ausbaden, was man bei denen nicht hinbekommt? Damals, als ich noch bei GRUND war, da haben wir den Rekruten noch ordentlich was beigebracht ..."
Die junge Frau drehte sich um und ließ Sebulon an der Treppe stehen. "Geh wieder zurück. Anfänger haben hier nichts verloren."
Der Zwerg nahm all seinen Mut zusammen, salutierte und sagte: "Du musst Hatschi al Nasi sein."
Die Wächterin blieb stehen. Noch immer mit dem Rücken zum Rekruten, meinte sie: "Hatscha. Al Nasa. Mit 'a' hinten, Rekrut."
"In der Tat, Ma'am. Grüße von Harry, Ma'am."
Für einen Moment lächelte sie. Harry, das Schlitzohr. Was der sich wohl gedacht hatte? Bestimmt sah er mehr in diesem Zwerg, als sie gerade nur vermuten konnte ... aber das ließ sich ja herausfinden. Er würde es ihr bestimmt nachsehen, wenn sie den jungen Burschen etwas auf den Arm nehmen würde. Erneut und mit einem gespielten grimmigem Blick drehte sich Hatscha um.
"Was willst du noch hier?", knurrte sie. "Hast du nicht irgendwoanders was wichtiges zu tun? Eine Wand anstarren? Oder in den Ankh fallen, vielleicht?"
Den Blick starr geradeaus, mit ausdruckslosem Gesicht, noch immer salutierend; so stand Sebulon da und antwortete: "Rekrut Sebulon, Sohn von Samax, meldet sich zur Expertenbefragung, Ma'am."
Hatscha stutzte kurz, als ihr ein Gedanke kam, dann drehte sie ihm den Rücken zu und grinste. Das war besser als grimmig spielen. Und lustiger.
"Gut, komm mit.", sagte sie und ging vor Sebulon den Gang hinab. "Ich habe da den richtigen Experten für dich. Er ist ebenfalls ein Zwerg und arbeitet bei DOG als Moloss. Sein Büro ist hier drüben." Mit diesen Worten blieb sie vor einer Tür stehen, unterdrückte das Grinsen und klopfte.
"Herein?", klang eine hohe Stimme aus dem Zimmer.
"Hallo, Helmi, ich bin's, Hatscha. Hier ist einer aus der Kröselstraße.", rief die Wächterin durch die Tür ins Zimmer hinein.
"Oh. Na dann ...", kam es zurück und die Tür öffnete sich. "Ist es schon wieder so weit?"
Ein kleiner Zwerg - er war tatsächlich kleiner als Sebulon - mit kurzem Bart und eher zurückhaltendem Auftreten stand vor ihnen und lächelte.
Helmi?, dachte Sebulon.
Eine Zwergin?[2]"Dann will ich euch zwei mal nicht weiter stören. Ein erfolgreiches Gespräch, Wächter Sebulon.", brummte Hatscha und ging grinsend die Treppe hinauf.
Helmi schloss die Tür hinter Sebulon. Der hängte seinen Mantel an einen Garderobenständer, rückte den Gürtel zurecht und nahm Platz.
"Nun ... du weißt, warum ich hier bin, nehme ich an?", fragte Sebulon und sah sich beiläufig das bläuliche Zimmer an. Es war über und über gefüllt mit Büchern, Papieren, Akten - und in der Mitte war ein Schreibtisch, vor dem er saß.
"Vermutlich, ja.", entgegnete der kleinere Zwerg und nahm ihm gegenüber Platz. "Stell einfach deine Fragen; ich bin sicher, dass du nichts Außergewöhnliches finden wirst."
"Ich bitte dich, ich
hoffe doch, Außergewöhnliches zu finden."
Helmi seufzte. "Fang an. Was soll ich dir erzählen?"
Auf dem Gang versammelte sich die Abteilung, die gerade im Haus war, so leise wie möglich und lauschte an der Tür.
Hatscha al Nasa putzte sich die Nase und kicherte dann tonlos. Ein Gespräch zwischen Moloss und IA-Agenten kam immerhin normalerweise nur einmal im Jahr vor. Schade, dass nicht alle da waren, um es zu genießen. Sollte Helmi doch glauben, dass ihm nicht nur ein Rekrut gegenüber saß; die Abteilung hatte auf jeden Fall ihren Spaß."Nun", begann Sebulon und verschränkte die Hände, "du musst verstehen, dass ich neugierig bin. Was genau machst du den ganzen Tag als Moloss?"
Helmi rückte die Brille zurecht, lächelte verlegen und sagte: "Nun, kaum etwas anderes, als in der Broschüre der Abteilung beschrieben ist. Ich nehme an, die hast du gelesen, oder?"
Sebulon schluckte. "Nur überflogen, in einer freien Minute."
[3]"Ja, ich verstehe. Man hat viel zu tun, in der Kröselstraße, nicht wahr?"
Sebulon nickte dem schüchtern lächelnden Helmi zu, erfreut über die Verbrüderung von ehemaligem Rekruten zu aktuellem Rekruten. "Könntest du es für mich noch einmal kurz zusammenfassen?"
"Also, als Moloss hat man fünf Kernaufgaben.", sagte Helmi mit leiser Stimme und sah auf den Tisch. "Informationen sammeln, aufbereiten, bereitstellen, Kontakte halten und mit anderen Abteilungen zusammenarbeiten."
"In der Tat.", sagte Sebulon und runzelte die Stirn, "Das klingt nicht außergewöhnlich. Es erklärt aber auch die Berge von Akten in diesem Zimmer nicht. Wozu so viele Akten, wenn du offensichtlich in erster Linie zwischenspeziistische Kontakte halten musst?"
"Der Kleine ist pfiffiger als ich dachte.", murmelte Bruder Laudes vor der Tür, unhörbar für die beiden Zwerge im Zimmer.
"Findest du? Auf mich wirkt er nicht sonderlich helle.", feixte Dalja Blecher. "Allein schon dieser Gürtel ..."
"Ich hab mich auch schon manchmal gefragt, was Helmi auf den ganzen Blättern ...", begann Ptupekh, während Dalja sagte: "... kennst du irgendeinen Zwerg, der ..."
Beide wurden jedoch von Hatscha unterbrochen, die "Pssst!" machte, auf die Tür deutete und energisch flüsterte: "Seid leiser, so kann man die beiden gar nicht verstehen!""... und da kommen eine Menge Informationen zusammen, wenn du verstehst, was ich meine.", beendete Helmi seinen Satz und legte behutsam ein paar Akten auf einen Ordner, der auf dem Tisch lag und schon überfüllt war.
"Sehr interessant.", entgegnete Sebulon.
"Entschuldige meine Direktheit: Willst du dir nicht Notizen machen? Für deinen Bericht?"
"Ja, natürlich ...", murmelte der Rekrut und sah sich suchend im Raum um. Dann griff er zu einem Papierstapel und sagte: "Ist es in Ordnung, wenn ich mir eines von diesen leeren Blättern ..."
"Nein, auf keinen Fall!", rief Helmi, sprang auf und hielt in Windeseile die Hand des anderen Zwergen fest, ließ sie aber so schnell wieder los, als hätte er seine Finger verbrannt.
"Warum nicht?", fragte der Zwerg und runzelte die Stirn, zog dann aber die Hand zurück. "Auf ihnen steht doch nichts."
"Ja, warum nicht?", raunte es durchs Schlüsselloch.
Hastig griff Helmi nach den losen Blättern; mit Sorgfalt berührte er jedes Blatt nur am Rand und legte es routiniert in den Ordner. Dann klappte er ihn zu, offensichtlich beruhigt, und strich liebevoll über den Deckel.
"Das hier ist ein Stapel von Informationen über bisher kaum untersuchten Fälle.", sagte er verträumt. "Wir haben die Dokumente bei einer geheimen Gruppe von organisierten okkulten Kleinkrimminellen gefunden. Sie sind alle mit Geheimtinte geschrieben, darum ist die Schrift nicht sichtbar. Übrigens habe ich habe die Frage schon beim erstenmal verstanden."
"Geheimtinte ...", murmelte Sebulon in Gedanken und dachte an den Kaffeemord zurück, den er gemeinsam mit den anderen Rekruten gelöst hatte. Er schüttelte sich, als sich seine Nase an penetranten Kohlgeruch erinnerte, die sich mit dem Gedanken an den Zitronenduft der Geheimtinte mischte.
[4]"Ja, und zwar ein besonders widerliches Zeug.", nickte der Moloss. "Man sieht sie nur, wenn das Licht so schwach scheint, wie in einer Vollmondnacht. Nicht im Dunkeln und nicht bei Tageslicht. Hab keine Ahnung, wie die Kerle das Zeug hinbekommen ... äh, wenn du verstehst, was ich meine."
Seine Blicke schweiften hin und her. Schließlich griff er zu einem unscheinbaren Stapel mit bedruckten Blättern und sagte: "Hmm ... ich denke, du kannst eines von diesen Blättern haben."
Helmi reichte dem Rekruten ein Blatt, auf dessen Rückseite Straßennamen von Ankh-Morpork notiert waren. Dann setzte er sich wieder hinter den Tisch. Einen Moment lang überlegte sein Gegenüber, was in einem solchen Bericht erwartet würde, dann begann er stichpunktartig das Gespräch aus dem Gedächtnis aufzuzeichnen.
"Tschi!" machte es hinter der Tür.
"Gesundheit.", brummte Sebulon, während er schrieb.
"Ja, mit der ist es ganz in Ordnung, danke der Nachfrage. Manchmal hab ich zwar Schmerzen im Rücken, aber ich denke, das kommt vom vielen Arbeiten im Büro.", sagte der DOG-Mitarbeiter mit Zurückhaltung in der Stimme.
"Nein.", entgegnete Sebulon und lächelte. "
Gesundheit."
"Oh, du meinst ... die püschische? Nun, im Prinzip ... denke ich ... bin ich ... gesund, würde ich sagen."
Der Zwerg schüttelte den Kopf und gab es auf. Diese Zwergin hatte zwar gerade geniest, vielleicht war es ihr aber nicht aufgefallen.
Erstaunt sah Helmi den Rekruten an. In seinem Kopf spulten sich verschiedene mögliche Gesprächsgänge gleichzeitig ab und aus Verzweiflung griff er sich einen, der ein recht freundliches Ende versprach.
"Nun, ein paar kleine Macken habe ich schon; völlig pschüschisch gesund ist ja niemand, nicht wahr ..."
Vor der Tür zum Raum des Moloss pressten sich die Ohren dichter an die Tür. 'Kleine Macken' hatte Helmi Bernstein? Das war ja in der Tat spannend ...
Die Stufen knarrten und noch bevor sich einer der DOGs von der Tür davonstehlen konnten, blickte die versammelte Abteilung erschrocken in die ungehaltenen Augen von Daemon Llanddcairfyn. Man konnte ihm ansehen, dass er länger nicht geschlafen hatte und dass ihn ein Fall nicht losließ.
"Wer von euch hat eine Erklärung für mich?", fragte der Neuankömmling in überraschend freundlichem Tonfall. Wer den Abteilungsleiter kannte, wusste, welches Explosionspotential sich dahinter verbarg.
Einige Sekunden lang redeten alle Wächter - leise und eindringlich - durcheinander, bis Daemon die Hand hob und alle erstarrten.
"Habe ich das richtig verstanden: Helmi spricht mit einem Rekruten, den er für einen IA-Agenten hält, und ist gerade dabei, ihm eine Selbstanalyse anzubieten?", fragte er und lächelte.
Nur Hatscha wagte ein Nicken; die anderen Wächter hielten sogar den Atem an und machten sich auf das Schlimmste gefasst.
"Na, dann macht mal etwas Platz lasst mich mithören, was unser Helmi so zu sagen hat.""... und ich bin etwas schüchtern."
Unhörbar für die beiden hauchte Bruder Laudes: "Verflixt, er ist schon fertig.""Na, das klingt doch recht gesund.", sagte Sebulon in einem aufmunternden Tonfall. Er wusste nicht genau, warum Helmi ihm gerade eine Ansammlung von unwichtigen Marotten genannt hatte - es sei denn, sie flirtete mit ihm ...
Sebulon wurde rot.
"Lass uns das Thema wechseln, Helmi, hmmm ... du arbeitest ja gewissermaßen auch ... ich meine, als ... also, du spionierst ja auch, nicht wahr? Ist da nicht die Gefahr groß, dass, äh ... dass du von denen, die du ausspionierst, ausgenutzt wirst und interne Informationen über die Wache preis gibst?"
Helmi rückte seine Brille zurecht und schwieg einen Moment. Dann sagte er: "Doch, ist sie."
"Und ... was tust du um dem vorzubeugen?", fragte der Rekrut mit vorsichtiger Neugierde.
"Was so üblich ist.", seufzte der Moloss, und es klang, als würde er es häufiger jemandem erklären. "Ich streue übertriebene Informationen in Gesprächen ein, hier und da; Informationen, die für die Wache gefährlich wären, wenn sie genau so stimmen würden und ich sie erzählte. Der Kern stimmt dann und meine Informanten werden weiter Kontakt mit mir haben wollen, weil sie auf bessere Informationen hoffen."
Müde sah er den Rekruten an, der jedoch nur offene Neugier und Interesse in seinen Augen hatte.
"Das ist doch mal spannend! Deine Informanten wollen dir ihre besten Informationen geben, obwohl sie von dir nur Wahrheitsfetzen bekommen?"
"Ich schwöre dir, es gibt nichts langweiligeres als falsche Informationen bei den einen Informanten zu streuen - und bei den anderen Informanten darauf zu warten, dass sie diese Informationen endlich aufnehmen. Und gelegentlich muss ich schon mal dem einen oder anderen ..."
"
Tschi!", machte es.
Die Zwerge sahen sich an.
"Gesundheit, Hatscha.", sagte Helmi in Richtung Tür.
"Äh, danke ...", kam es zurück.
"Wer ist noch da draußen?", bohrte der Moloss weiter.
Mit einem leisen Quietschen öffnete sich die Tür und peinlich berührte DOGs blickten die beiden Zwerge an.
Pikiert und auch etwas wütend fragte Helmi, zu Sebulon gewandt: "Darf ich dir die Abteilung vorstellen?"
Hatscha trat einen Schritt vor und putzte sich verlegen die Nase.
"Ich glaube, wir müssen dir etwas erklären, Helmi. Das heißt: Euch beiden. Zunächst ... Helmi: Er ist kein Agent, sondern nur Rekrut."
Sehr langsam drehte der Moloss dem anderen Zwerg den Kopf zu.
"Du ...", sagte er.
"Und Sebulon: unser Moloss ist ... äh ... männlichen Geschlechts."
Der Zwerg hob die Augenbrauen.
"Wie?"
"Du?"
"Nicht?"
"Ach."
"Und ich dachte ..."
Plötzlich lachte der Rekrut und erhob sich.
"Ich habe jetzt zwar eine Menge über dich und deine Arbeit erfahren, Helmi, aber den Rest der Abteilung kenne ich noch gar nicht. Kannst du mich noch etwas rumführen, damit ich am Ende des Tages bei meinem GRUND-Ausbilder einen guten Bericht einreichen kann?"
"Es wäre mir eine Freude, wenn ich das selbst tun könnte", sagte der noch immer verstimmte Moloss, "aber wie du gemerkt hast, wartet hier eine Menge Arbeit auf mich. Möglicherweise sind die hier anwesenden Mitglieder meiner Abteilung bereit das zu übernehmen? Sie würden dir
bestimmt keine Bitte abschlagen. Bitte schließ hinter dir die Tür."
Lächelnd schritt Sebulon, der Sohn von Samax, auf die restliche Abteilung zu und schob sie sanft nach draußen, während er sagte: "Oh, ich habe hunderte, ja tausende Fragen. Könntet ihr die mir beantworten? Zum Beispiel wollte ich schon immer wissen, wie eine Mumie sich verkleidet, um nicht erkannt zu werden. Oder warum ihr alle Hundenamen als Berufsbezeichnungen habt. Oder wie ihr es hinbekommt, dass eine gute Arbeitsatmosphäre trotz der Näherinnen im Haus ..."
Die Tür fiel ins Schloss.
Gutgelaunt verließ Sebulon die Springstraße. Je mehr Schritte er zwischen sich und das Zentrum käuflicher Zuneigung der Stadt brachte, umso besser ging es ihm.
Der Bericht in seiner Tasche war recht kurz ausgefallen, doch es stand alles darin, was ihn interessiert hatte. Harry würde nichts von ihm erfahren, was mit einer IA-Verwechslung zu tun hätte, dafür aber viel von andakaffa-Techniken lesen, und selbstverständlich alle Einzelheiten der großartigen TK-Anlage 2.0 mit chrombeschlagener Bogenverzahnung, deren Bauplan er hatte einsehen dürfen. Hätte er gewusst, dass der Ausflug zu DOG so lehrreich sein würde ... vielleicht konnte er sie nachbauen? Er brauchte eigentlich nur viele Zahnräder, etwas Platz - oh, er musste sie wohl in klein nachbauen, das stand fest -, er würde ein paar Teile selbst löten müssen, die passenden Schrauben finden und dann brauchte er nur noch Holz und eine Säge ...
Beim Gedanken an die technischen Details vergaß der Zwerg völlig wo er war, bis er plötzlich vor der Wache stand.
Langsam gewöhne ich mich tatsächlich daran, dass ich Wächter bin, dachte er.
Ich finde schon zur Kröselstraße zurück, ohne darüber nachzudenken.Er betrat das Haus und bemerkte nicht, dass auf dem Dach ein Wasserspeier ein verabredetes Zeichen pfiff.
"Oh, äh, du bist schon zurück?", fragte Braggasch, der gerade am Wachetresen saß und eine technische Zeitschrift studierte. "Äh ... wie war's?"
"Ja, ging so. Bisschen langweilig, teilweise - aber die TK-Anlage der DOG ist toll, die hat einen erstklassigen hydraulischen Stumpfdrechsler. Und, du wirst es nicht glauben, ..."
"... Bogenverzahnung, oder?", fragte sein Freund, entflammt für die Technik. "Die haben doch die 2.0er Version, hab ich gelesen. Hab aber noch keine TK in Betrieb gesehen."
"Dann musst du unbedingt mal in der DOG vorbeischauen. Du glaubst es nicht einmal mit eigenen Augen; die haben Schwalbenschwanz-Wälzlager, die ..."
"... äh ... Sebu, ich würd ja gern mit dir reden, äh, aber mir fällt gerade ein, Harry will dich, äh, sehen. Geht wohl um was wichtiges. Er ist gerade im Schlafsaal, weil er ... äh ... Jargon gesucht hat. Am besten, äh, gehst du einfach rein."
Sebulon nickte. "Er will bestimmt den Bericht haben. Nachher muss ich dir aber unbedingt noch davon erzählen; die TK-Anlage ist der Hammer."
Glückselig klopfte er an.
"Harry?", fragte er, öffnete die Tür und trat in ein überraschend dunkles Zimmer. "Hallo? Ist jemand ..."
Salamander hüllten den Raum in Blitzlicht ein.
"Überraschung!", rief es von überall, doch es dauerte einige Momente, bis sich der Zwerg wieder an ein normales Maß Licht gewöhnt hatte.
Um ihn standen die Rekruten, mit denen er die meiste Zeit seiner bisherigen Ausbildung verbracht hatte. Direkt vor ihm stand sein Ausbilder Harry und hielt ihm die Hand hin.
Ohne groß darüber nachzudenken, zog Sebulon den Bericht aus der Tasche und gab ihn zum Gnom hinunter, der das Papier neugierig musterte.
"Was ist das?", fragte der Ausbilder und sah zu seinem Schützling empor.
"Sir, der Bericht. Du ... wolltest doch einen Bericht?"
"Später.", winkte der Gnom ab, faltete das Papier, klemmte es unter den linken Arm und reichte dem Zwerg erneut die Hand. "Sebulon, heute ist dein Großer Tag. Herzlichen Glückwunsch."
"Ist heute etwa mein Geburtstag und ich hab es vergessen?", fragte der Rekrut verwirrt lächelnd und schüttelte langsam die Hand des Gnoms.
"Nicht ganz.", sagte Jargon Schneidgut grinsend und deutete zu den Kleiderschränken. "Aber guck mal in deinen Spind."
Langsam, und unter den erwartungsvollen Blicken der anderen Wächter etwas unsicher, ging er hinüber und musterte seinen Schrank.
"Ihr habt nicht zufällig Menélaos einen gemeinen Scherz vorbereiten lassen?"
"So etwas denkst du von uns?", fragte der Erwähnte und verschränkte im Scherz die Arme.
"Äh ... nun mach schon auf!", rief Braggasch, der ebenfalls in der Tür stand. In seiner Hand hielt er einen Ikonographen.
Skeptisch ließ Sebulon die Schranktür aufschwingen, doch als er sah, was darin auf ihn wartete, entfuhr ihm ein Freudenschrei.
"Ein Kneifinsbein
[5]! Ich wollte schon immer einen haben! Aber warum ...?"
"Nun hat dein Gürtel einen neuen Schatz. Ist unser Geschenk für dich."
"Danke, Leute, das ist ...", begann Sebulon, wurde jedoch unterbrochen.
"Äh, aber da ist noch mehr.", sagte Braggasch.
Ein weiterer Blick durch seinen Spind ließ den Zwergen innehalten.
"Da bewegt sich etwas unter meinem Pullover!", sagte er erschrocken und wich einen Schritt zurück.
"In der Tat.", meinte Menélaos Schmelz lächelnd. "Er heißt Jado."
"Wuff!", machte der Pullover.
Vorsichtig griff Sebulon hinein und hob einen mit dem Schwanz wedelnden Hundewelpen aus dem Schrank.
"Jado?", fragte er.
"Wuff.", machte Jado und hechelte.
Er drehte sich um und strahlte über das ganze Gesicht.
"Danke, das ist ungefähr das beste, was mir ..."
Der Gnom wedelte mit der Hand und Sebulon schwieg.
"Nur keine Umstände. Er wurde in einem Beutel gefunden, der auf dem Ankh trieb. Haben es nicht übers Herz gebracht, den Racker wegzugeben. Der Kleine ist hart im nehmen und wir dachten, ihr passt zueinander."
"Danke, Harry.", sagte der Zwerg und wischte sich die Nase.
"So, und nun zum eigentlichen Geschenk der Wache an dich. Kadwallader, wärst du so freundlich, dem Rekruten seine Uniform zu reichen?"
Der Monokelträger trat langsam aus dem Kreis der Wächter und hielt sie Sebulon hin - und doch, etwas war anders. Nur was? Da: die Schultern!
"Meine Uniform ... das ..."
"Du bist befördert. Herzlichen Willkommen in den Mannschaften.", sagte Kadwallader Janders.
"Kadwallader und ich übrigens auch.", meinte Jargon Schneidgut mit Stolz in der Stimme. "Ich denke, ich bewerbe mich auf eine Stelle bei den Jungs von SEALS. Was hast du vor?"
Ungläubig schüttelte Sebulon den Kopf.
"Das heißt ... ich bin ... Gefreiter?"
"So, äh, ist es!", lachte Braggasch. "Du, Kadwallader, Jargon, Menélaos und äh ... ich."
"Was? Ihr alle? Das muss gefeiert werden!", rief Sebulon grinsend. "Morgen Abend hab ich ohnehin Dienstfrei, da gibt es einen Umtrunk im
Gesprungenen Auge im Hafenviertel anlässlich der Beförderung! Keiner soll sagen, ich wäre in der Wache auf den Hund gekommen, dass ich mich bei einer Beförderung lumpen lasse."
"Wuff!", machte Jado, während die Wächter in schallendes Gelächter ausbrachen.
[1] Der Gnom vermied es, selbst zu laufen, wenn längere Strecken zurückgelegt werden mussten. Das bedeutete unter anderem, dass Sebulon Harry während der kompletten Patroullie wie ein Haustier auf der Schulter zu tragen hatte. Im Grunde war das auch nicht schlimm, in letzter Zeit neigte sein Ausbilder nur aus unerfindlichen Gründen dazu, ihm scharfe Anweisungen uns Ohr zu "flüstern".
[2] In der Tat ist Helmi ein Zwerg. Maskulin. Seine femininen Züge und sein für männliche Zwerge eher unüblicher Name tragen allerdings oft zu unerwünschten Verwechslungen bei.
[3] Das war die Wahrheit. In einer freien Minute hatte Sebulon eine Auseinandersetzung mit einem anderen Rekruten gehabt, der ihn um einiges überragte und zu allem Überfluss auch noch ein Troll war. Der Zwerg hatte schlecht geschlafen, war wieder einmal zu spät zum Dienst erschienen und als der Troll beim Schichtwechsel am Wachetresen dann auch noch irgendein formales Papier sehen wollte, hatte Sebulon verneint und ihm an den Kopf geworfen, dass er ein überdimensioniertes, nutzloses Stück Kreide sei. Daraufhin verlor sein Gegenüber die Beherrschung und schleuderte Sebulon durch den Raum, quer über den Tisch mit wacheinternen Broschüren hinweg. Glücklichweise landete er sanft und ein Ausbilder war in der Nähe um Schlimmeres zu verhindern. Der Ausbilder sah von weiteren disziplinarischen Maßnahmen ab, Sebulon und der Troll mussten lediglich zur Strafe am nächsten Tag gemeinsam den Tresendienst ableisten.
[4] Näheres dazu kann man in der M.U.L.T.I.
"Kaffee, Kohl und krumme Dinger" lesen.
[5] Der große Mechanik-Führer von Harlinson Starkimarm führt den Kneifinsbein unter der Rubrik 'Kombinationswerkzeuge'.
Der Kneifinsbein, schreibt Harlinson,
ist eine Zange, die wahlweise mit Schraubenzieher, Krampschlüssel, oft auch mit einer Feile kombiniert wurde. Seinen Namen hat es von der gewöhnungsbedürftigen und schwer bedienbaren Kombination des Werkzeugs.Für die Inhalte dieses Textes ist/sind alleine der/die Autor/en verantwortlich. Webmaster
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