Warum manche Menschen tun, was sie tun, ist ungewiss.
Wahrscheinlich macht es ihnen einfach Spaß.
Kapitel 1: Missverständnisse und MisanthropenBraggasch Burkhardssohn Goldwart war sauer.
Diesen ganzen Tag konnte man auf den Müll oder in den Ankh werfen!
Erst hatte Oberstabsspieß Harry seine schlechte Laune an ihm ausgelassen, weil jemand vergessen hatte neues Kaffeepulver zu kaufen. Dann war Braggasch während der Schießübungen, die er zur Beruhigung eingelegt hatte, die Sehne der Armbrust gerissen und er hätte sich vor Schreck beinahe den Ladebügel ins Auge gerammt. Zu allem Überfluss hatte er sich daraufhin, dank der erforderlichen Reparatur, verspätet, und als er in die Kantine kam, war Ratte grade leer gemacht worden und es gab nur noch das typische, gallertartige Rührei. Natürlich dauerte es seine Zeit, das ekelhafte Zeug herunterzuwürgen, und so kam es, dass sein heutiger Streifpartner schon losgegangen war und er sich beeilen sollte ihn einzuholen.
Während ihm beim hektischen Anziehen das Lederband des rechten Beinschoners riss, entschied Braggasch, dass er nur noch ins Bett wollte.
Dabei war gerade erst früher Nachmittag.
Vor sich hin murrend folgte der Zwerg dem Weg seines Kollegen, und hätte er sich beeilt, hätte er ihn sicherlich bald eingeholt. So aber sah er etwas, dass seine Stimmung erheblich hob.
Ein Straßenpantomime hatte keine dreißig Meter vor ihm gerade mit seiner Vorstellung begonnen. Braggasch wusste noch nicht viel von den Gesetzen in der Zwillingsstadt, und niemand schien sich darum zu kümmern sie ihm näher zu bringen, aber eins wusste er: Mimen war bei Todesstrafe verboten.
Normalerweise hätte der Wächter den Pantomimen einfach darauf aufmerksam gemacht, dass er einen qualvollen Tod sterben würde, wenn er weiter machte, doch momentan brauchte Braggasch jemanden, um seinen Frust abzulassen. Natürlich würde er diesen jungen, dürren Mann nicht festnehmen... Nur ein bisschen... Ärgern.
"Stadtwache! Sie sind verhaftet!", brüllte der Zwerg und riss sein Wache-Abzeichen in die Höhe.
Der Pantomime erschrak, indem er Augen und Mund weit aufriss und mit den Händen in der Luft wedelte - dann ergriff er die Flucht.
Braggasch, der sich nicht so schnell geschlagen geben wollte, nahm fluchend die Verfolgung auf. Schon bald musste er allerdings feststellen, dass dieser knochige Mensch flinker als er war. Aber dessen Fluchtweg führte direkt zum Pseudopolisplatz, und dorthin kannte der Sohn von Burkhard eine Abkürzung. Ein stilles Lächeln stahl sich auf seine Züge, als er in die enge Gasse abbog.
Als Braggasch im düsteren Licht, dass immer abseits der Hauptstraßen herrschte, auf einen kleinen Innenhof kam, wusste er, dass er sich verlaufen hatte.
Doch als ob das nicht genug wäre, erklang hinter ihm eine Stimme.
"Hallo mein Freund." Der Tonfall wies eindeutig darauf hin, dass es ganz von dem Zwerg abhing, ob er auch der Freund des Unsichtbaren
bleiben würde. "Nein, nein, lass die Armbrust bitte da hängen wo sie ist. Danke."
"Wer bist du?", entschied sich Braggasch für die naive, zeitschaffende Variante.
"Ich? Ich bin unwichtig, aber danke der Nachfrage. Relevant ist jedoch, dass
du ein Wächter bist, der den Sold der letzten Tage mit sich herumträgt."
"Das überfallen eines Wächters ist eine Straftat!", behauptet Goldwart fest.
"Aber nicht doch! Du bekommst sogar eine Quittung, ist das nicht nett?"
"Eine Quittung? Wozu denn das?" Langsam tastete sich Braggaschs Hand zu seinem Dolch vor.
"Na eine Diebesquittung eben." Der Unbekannte schien ernsthaft verwirrt. "So wie es nun mal üblich ist. Den Dolch kannst du von mir aus ziehen, er wird dir nicht helfen, ich habe Wurfscheiben."
"Und wozu ist so eine Quittung gut? Ich bin erst seid kurzem hier." Er zog den Dolch, wie ihm geheißen, ganz aus dem Gürtel. Sein Daumen drückte einen kleinen Knopf, der im Griff eingearbeitet war, nach unten.
"Gute Güte... Damit du nicht mehrmals hintereinander überfallen wirst, natürlich!"
"Wie... Äh... Nett."
"Nicht wahr? Und jetzt hol das Geld aus deinem Beutel und leg es auf den Boden."
Braggasch griff in eine seiner Gürteltaschen. "Oh, falscher Beutel... Verzeihung", murmelte er, und der Dieb bemerkte nicht, dass nun zwischen seinen Fingern ein winziger, an einen Nagel erinnernden Bolzen klemmte. "Hier." Münzen aus dem zweiten Beutel klimperten zu Boden. Es waren nicht gerade viele.
"Brav. Jetzt geh vier Armlängen zurück."
"Weißt du...", fing der Zwerg an, während er wie ihm geheißen zurück trat, und spielte schüchtern mit der Spitze seines Dolches - wobei er den Nagel in die dafür vorgesehen Röhre schob. "Ich bin bisher noch keinem richtigen Dieb begegnet... Du scheinst das richtig gut zu können..."
"Natürlich." Stolz trat der Mann, ein schmieriger, drahtig aussehender Typ mit schlechten Zähnen, die zu einem wohlwollenden Lächeln enthüllt waren, in das schwummrige Licht.
Eine kleiner Zettel schwebte langsam zu Boden und eine Hand bückte sich nach dem Sold.
"Stadtwache, sie sind verhaftet.", murrte Braggasch eisig.
Der Dieb hob halb fragend, halb belustigt den Kopf.
Goldwart drückte auf den kleinen Knopf, den er vorher zurück gezogen hatte. Ein leises Metallklacken, und daraufhin ein dünnen Zischen, erklangen.
"Argh, verflucht!", schrie der Mann überrascht auf und griff mit der Linken an sein rechtes Handgelenk. Ein kleiner Metallnagel ragte aus dem Handrücken hervor. Braggasch hatte zwar auf den Unterarm gezielt, aber das war genauso gut.
Ohne abzuwarten, dass der Dieb sich fing, machte er einen Satz nach vorne und rammte dem Mann seinen Kopf samt Metallhelm in den Magen.
Der Dieb stöhnte, brach aber nicht zusammen. Statt dessen versetzte er dem Zwerg mit der linken Handkante einen harten Schlag auf den Nacken. Braggasch sackte keuchend auf alle Viere.
Der lizenzierte Dieb entschied sich zu Flucht.
Gerd Glücklos zog sich fluchend den metallenen Dorn aus der rechten Hand.
Er war in seinen bevorzugten Unterschlupf gelaufen und hatte die Tür verriegelt. Nun lehnte er dagegen und bedachte die kleine Wunde, die stärker blutete, als Gerd es für möglich gehalten hätte. Daraufhin begutachtete er das gemeine Geschoss.
Es sollte der Wache verboten werden solche Tricks zu benutzen!
Zum Glück war sein Gegner anscheinend ein miserabler Nahkämpfer gewesen. Er hatte seinen Kopf zu hoch in Glückloses Körper gerammt, so dass die lähmende Wirkung eines Bauchhiebs ausblieb, auch wenn ihm die Lunge höllisch schmerzte.
Gerd schnallte den Gürtel, der quer über seine Brust geschnallt war, und den Wurfscheiben als Halterung diente, ab und warf ihn auf den Tisch, dann setzte er sich auf den wackeligen Stuhl davor.
Anscheinend war er hier an einen blutigen Anfänger bei der Wache gestoßen. Glücklos bezweifelte, dass der Zwerg mit seiner weibischen, lächerlichen Lockenpracht jemals ein großes Licht bei der Stadtwache werden könnte. Wenn er mit seiner naiven Art überhaupt so lange überlebte!
Irgendetwas knackte leise. Gerd sah zur Tür. Nichts. Er drehte sich wieder zum Tisch um. Hier kam niemand rein: Der Raum hatte keine Fenster und die Tür war Metallverstärkt und mit einem hervorragenden Schloss ausgestattet.
Was hatte der Kleine noch gesagt? "Du scheinst das richtig gut zu machen..." Glücklos lachte glücklich in sich hinein. Was für ein Trottel! Mit solchen Idioten bei der Stadtwache würde es bald für Gerd und seine Freunde einen steilen Wirtschaftsaufschwung geben.
Ein kleines Papierflugzeug drehte über seinem Kopf einen Kreis und landete genau von seiner Nase auf dem Tisch. Er starrte es wie hypnotisiert an.
Es war eine Quittung.
Von Gerd Glücklos.
Der Dieb sprang mit einer halben Drehung auf und griff nach seinem Wurfscheibengürtel.
Ein massiver Holzbolzen bohrte sich in seine linke Schulter und schleuderte ihn rücklings gegen den Tisch. Nur mit dessen Hilfe gelang es Glücklos, nicht zu Boden zu sinken.
"Wie hast du-?", brachte er hervor.
"Du verlierst ne erstaunliche Menge Blut.", knurrte Braggasch, und drückte die Armbrust zum Spannen auf seinen Schnellader-Gürtelhaken.
"Wie konntest du-?", stöhnte Gerd.
"Fingerspitzengefühl."
"Warum zur Hölle-"
"Weil du versucht hast mich zu bestehlen. Ganz einfach." Braggsch legte einen weiteren Bolzen ein.
Wütend kreischte der Dieb auf und warf sich über den Tisch, wobei er die Vorderkante mit der Rechten umklammert hielt, so dass dieser umkippte und seine Platte einen Schutzschild gegen den irren Zwerg bot.
Keine Sekunde zu früh, ein deutliches "Tock" war zu hören und dicht neben Gerds Kopf schob sich eine kleine braune Spitze einige Zentimeter durchs Holz. Hastig schnappte er seinen Gürtel und zog eine runde, geschärfte Scheibe aus Metall daraus hervor.
"Ich verhafte sie, ihm Namen der Stadtwache!", bellte Braggasch.
Glücklos warf seine Scheibe blind über die improvisierte Barrikade. Ein Fluch in einer ihm unbekannten Sprache war die Belohnung. Sofort zog er zwei neue Scheiben aus dem Gürtel und sprang auf.
...Um sich einer schussbereiten Armbrust gegenüberzusehen, die zitternd auf seine Brust deutete.
"Zwing mich besser nicht dazu.", sagte der Zwerg gefährlich leise. Von einer kleinen Schnittwunde an seinem Kopf sickerte ihm Blut ins rechte Auge.
"Vielleicht triffst du nicht...", murmelte Glücklos hoffnungsvoll, die Scheiben noch immer ausholend am langen Arm von sich gestreckt.
Braggasch schnaufte. "Ja, da hast du wahrscheinlich recht. Für gewöhnlich treffe ich ein wenig
tiefer."
Gerd schluckte - und lies die Scheiben fallen.
"Brav. Jetzt geh vier Armlängen zurück.", wiederholte Goldwart die Worte des Diebs aus der Gasse.
"Aber die Wand ist doch nur zwei-"
"Mach! Ein Zwerg kann Geheimtüren förmlich riechen, weißt du?"
"Was? Wie kannst du-?"
"Deine Hütte ist von außen ganz einfach größer als von hier drinnen. Simpelste Rechnerei." Braggasch schmunzelte zufrieden, fast gehässig.
Während Glücklos mit einer unglücklichen Mine gegen das Holz drückte, und eine versteckte Tür aufschwang, wischte sich der Zwerg schnell das Blut aus dem Auge, damit er nicht dauernd blinzeln musste. Unglücklicherweise lief es noch immer nach.
"Gut, das können sich sie Leute von SUSI oder DOG oder sonst wer anschauen. Du kommst jetzt mit zu Wache."
"Glaubst du?", seufzte Gerd. Mit einem gezielten Tritt lenkte er die Armbrust nach oben ab. Der Bolzen jagte in die Decke. Braggasch fluchte und sprang zurück. Sein Auge brannte jetzt und er konnte nur noch verschwommen sehen.
Glücklos war mit einem Satz bei dem umgefallenen Stuhl und schleuderte ihn auf den Wächter. Da dieser das Wurfgeschoss nicht richtig sehen konnte erwischte es ihn frontal und warf ihn zu Boden.
Der Dieb Gerd Glücklos zögerte noch einen Augenblick. Der Großteil seiner Einnahmen lagerte hier! Dann besann er sich und entschwand in die beginnende Nacht.
Braggasch rappelte sich hoch. Sinnlos ihn zu verfolgen. Der Dieb würde nicht noch einmal so unvorsichtig sein.
Er ging langsam nach draußen und suchte sich einen unbescholtenen Bürger, den er zum Wachhaus am Pseudopolisplatz schicken konnte.
Dann bezog er mit geladener Armbrust Aufstellung und wartete, bis jemand kam um ihn abzulösen.
Olga-Maria Inös von SUSI war die erste, die eintraf.
Sie nickte Braggasch zu und warf dann erst einen Blick auf den Unterschlupf und den geheimen Raum, bevor sie von dem Zwerg erfahren wollte, warum er sie hatte holen lassen.
"Dies ist der Unterschlupf eines Diebes. Gerd Glücklos. Lizensiert, wenn ich es recht verstanden habe, was auch immer das heißt... Äh... Es wurde nichts entwendet, weder von ihm, noch von mir... Äh... Wir waren in einen Kampf verwickelt. Ich habe ihn mit einem Bolzen getroffen, er mich mit einer Wurfscheibe. Er ist geflohen. Das hier sollte den Besitzern zurück gegeben werden.", erklärte Goldwart müde.
Olga-Maria nickte nur und zog ein seltsames Gesicht, doch sie meinte schlicht: "Gut. Schreib einen Bericht und halte dich bereit weitere Fragen zu beantworten."
Jetzt war es an Braggasch zu nicken.
"Du kannst gehen, Wächter.", fügte Inös hinzu.
Der Sohn von Burkhard wollte diesen Tag einfach nur hinter sich bringen, doch als er so den Weg zur Kröselstrasse hinuntertrottete, sah er ihn.
Der dürre, weißgeschminkte Junge hatte gerade die Augen zugekniffen und tat so, als würde er in einem dunklen Raum umhertasten. Braggasch trat leise an ihn heran.
"Hör mal, Junge, du solltest dein Leben wirklich nicht so wegwerfen..."
Der Pantomime stockte, griff mit der Hand nach einer imaginären Kerze, holte nicht vorhanden Streichhölzer aus der unsichtbaren Tasche und entzündete sein Beleuchtungsmittel umständlich. Erst dann machte er die Augen auf und lächelte. Als er den Zwerg sah zuckte er zurück, lief aber nicht fort.
Braggasch seufzte. "Äh... Warum haust du nicht ab?"
Der Mime hob die Hände und ertastete ringsherum nonexistente Wände.
"Schon klar...", murmelte Goldwart. "Lust auf ein Bier?"
Mit einer Hand griff der junge Mann an den Gürtel und zog einen nicht sichbaren Geldbeutel hervor. Diesen drehte er mit der Öffnung zum Pflaster, und sein trauriges Gesicht machte eindeutig darauf aufmerksam, dass
kein Geld hinaus fiel.
"Jaja, ich lad dich ein... Wenn du dir das alberne Zeug aus dem Gesicht wischst!"
Der Pantomime lächelte, zwinkerte, und trat zur nächsten Wassertonne.
Nach einem intressanten, wenn auch einseitigen, Gespräch in einer kleinen Kneipe wanderte der Zwerg zurück zum Wachhaus. Kadwallader Janders saß am Wachtisch und sah erstaunt von einem Zahlenrätsel aus der
Times auf, als Braggasch eintrat. Nachdem er seinen Monokel zurechtgerückt hatte, sagte er verschnupft: "Du riechst nach Alkohol."
"Äh... Richtig."
"Und eigentlich hättest du noch zwei Stunden Streifendienst."
"Ich wurde von einer Suse nach Hause geschickt.", winkte Goldwart erschöpft ab. "Lass mich nur meinen Bericht anfertigen und danach mit Harry reden..."
Nach kurzen Zögern zuckte Kadwallader mit den Schultern und durch.
Kapitel 2: Verwirrung und VerwicklungEin Räuspern.
Keine Regung.
Ein vorsichtiges Husten.
Nichts.
Ein Geräusch, das klang, als werfe man Murmeln in einen verstopften Abfluss.
Doch der Gnom bewegte sich nicht. Murmelte nur unruhig im Schlaf.
"Äh... Sör?", versuchte es Braggasch mit der direkten Anrede.
"Komm... Her du... Kleines... Wildes Luder...", schnaufte Harry undeutlich. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen.
"Äh... Was?"
"Hab... Ich dir... Schon mal... Meine... Dienstmarke gezeigt...?"
"Sör? Sör!" Braggasch wurde langsam nervös. Alle Müdigkeit und schlechte Laune, die er an dem vorangegangenen Tag angesammelt hatte, war wie weggeflogen.
"Komm... Ich hab sie... Hier... Unten...", grinste sein Vorgesetzter.
"SÖR!"
"Wa-Was?" Harrys Augenlider flatterten in die Höhe. Er lag auf dem Schreibtisch in Kathiopejas Büro, welches er mitbenutzte. Genauer gesagt lag er auf einem Stapel schriftlicher Unterlagen, die sich ironischerweise tatsächlich als gute
Unterlage erwiesen hatten. Ein kleiner, feuchter Fleck hatte sich dort gebildet, wo sein Mund gelegen hatte. Der Oberstabsspieß schluckte und setzte sich auf. "Wasnlos?"
Braggasch räusperte sich. "Melde gehorsamst: Meine Streife ist... Äh... Beendet, ich wollte meinen Bericht abgeben... Äh..."
"Jaja. Gut gemacht." Harry rieb sich müde die Augen, stutzte, blickte auf. "Rekrut?"
"Äh... Ja... Äh... Sör?"
Die Augen des Gnoms verengten sich zu Schlitzen, als er fortfuhr: "War die Tür nicht abgeschlossen?"
Goldwart holte langsam für eine Antwort Luft - entließ diese dann aber wieder ohne etwas zu sagen. Hier waren Worte unnütz. Harry verstand natürlich auch so.
"Du bist in das Büro eines Vorgesetzten eingebrochen.", zählte er auf. "Hast ihn in einer... Kreativen Schaffenspause gestört und..." Kurz weiteten sich die Augen des Oberstabsspießes in mildem Schreck, dann schlossen sie sich zu noch engeren Schlitzen als zuvor. Gefährlich leise fuhr er fort: "Hast du irgendetwas gehört? Habe ich was gesagt?"
"Äh... Nein! Nein, Sör!", versicherte der Zwerg hastig.
"Gut." Harry entspannte sich sichtlich. So würdevoll wie möglich stand er auf und ging zu einem Gestell über einer Kerze, auf dem eine kleine Kanne stand. Den dunkelbraunen, fast zähflüssigen Inhalt goss er sich in einen Fingerhut und nahm einen genüsslichen Schluck. Anscheinend hatte endlich jemand für Kaffee gesorgt.
Dann ging er zu den Papieren, auf denen er geschlafen hatte, und nahm das oberste herunter; hielt es in die Höhe.
"Weißt du, was das ist?"
"Äh... Speichel?"
Harry sah zu dem kleinen, nassen Fleck auf der Akte und sah seinen Rekruten dann
böse an.
"Haha.", machte er ernst. "Nein, das eine Zusammenfassung von verschiedenen Berichten, allen voran der von Olga-Maria Inös. Ich nehme an, er wurde eingereicht, als du noch am verfassen von Deinem gewesen bist. Anscheinend liegt dir das schrieben von Berichten nicht? Egal. Hier steht unter anderem:" Der Gnom knallte die Blätter auf den Tisch und sah darauf hinab. "Du hast einen Pantomimen unverwarnt gelassen, das finde ich ja noch ganz nett. Du hast einen lizenzierten Dieb verfolgt und verwundet, auch wenn ich das selbst als positiv halte, so ist das nicht gut. Die Diebesgilde hat offiziell Beschwerde eingereicht und wir haben einen Mords Papierkram deinetwegen!"
"Sör, ich verstehe diese Sachen mit den Gilden nicht. Das ist... Äh... Total bescheuert, Diebstahl zu erlauben.", warf Braggasch ein.
"Politik ist eine schwierige Sache.", belehrte ihn der Oberstabsspieß. "Ich bin kein Freund davon, das kannst du mir glauben. Aber es funktioniert. Vertrau mir, ohne die Gilden sähe es hier viel schlimmer aus."
"Aber-"
"Ruhe! Weiterhin hast du deinen Streifepartner versetzt. Bist einfach nicht aufgetaucht. Er war gar nicht erfreut. Aber gleichwohl, all das könnte ich verzeihen, vielleicht, obwohl das schon sehr hart am Rande ist!"
Ziellos wanderte Harry auf seinem Schreibtisch herum. Einen langen Moment herrschte Stille.
"Und trotzdem.", nahm er den Faden wieder auf ohne seinen Wächter anzublicken. "War das abermalige einbrechen in mein Büro der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat."
"Äh... Sör, eigentlich ist es nur einbrechen, wenn man-"
"Ruhe! Hast du gehört? Das Fass ist übergelaufen!"
Wieder trank der Gnom ein wenig von dem Kaffee, um seine Worte in der so entsehenden Pause richtig wirken zu lassen. Braggasch trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.
Doch statt die Bombe direkt loszulassen, stellte Harry, mit einem harmlosen Ton in seiner Stimme, eine Frage. "Wie oft bist du schon in mein Büro eingebrochen, Braggasch?"
"Äh... Ich... Da müsste ich jetzt nachrechnen..."
"Soll ich es dir vorrechnen?"
"Äh... Nein, Sör.", antwortete Goldwart niedergeschlagen.
"Nun gut. Eigentlich hätte ich dich längst rauswerfen müssen, Rekrut. Weißt du, warum ich es noch nicht getan habe?"
"Nein... Äh, Sör."
Erst jetzt sah der Gnom Braggasch an. "Weil ich ein gutes Herz habe. Und weil ich glaube, dass aus dir ein guter Wächter wird, wenn du, verdammt noch mal, den Blödsinn sein lässt."
"Ja, Sör.", entgegnete dieser ehrlich.
"Und um dir zu helfen,", fuhr Harry fort, "Werde ich dich jetzt bestrafen, damit du es lernst."
Der Zwerg nickte bedrückt.
Sein Ausbilder schritt langsam zu einem kleinen Holzkasten, auf dem eine Plakette mit der Aufschrift <
Stafdinste bey Ungehorsamlichkeit> prangte, und in dem einige Papiere lagen, die wenig Vertrauenserweckend aussahen.
"Dann wollen wir doch mal sehen...", sagte der Gnom genüsslich langsam und zog einen Zettel aus dem Kasten. Braggasch begann zu zittern.
"Taubenschlag ausmisten.", las Harry.
Der Zwerg verzog angewidert das Gesicht und zitterte noch stärker.
"Aber nein, ich bin ja nicht grausam."
Ein weites Blatt wurde gezogen.
"Zusatzdienst in den Klappertürmen."
Goldwart hörte schlagartig auf zu vibrieren und strahlte über das ganze Gesicht. Harry sah ihn an und zog eine Augenbraue in die Höhe.
"Nein. Nein. Es soll eine Bestrafung und keine Belohnung sein."
Beleidigt zog Braggasch eine Schnute, während der Oberstabsspieß das nächste Papier nahm.
Er las es.
Er las es ein zweites Mal.
Seine Lippen teilten sich zu einem befriedigten Lächeln. "Ja, das ist gut."
Der Zwerg schluckte schwer. "Was denn... Äh, Sör?"
"Oooch, nur Wachtresendienst von sechs bis zwölf." Harry hielt demonstrativ den entsprechenden Zettel in die Höhe.
"Äh... Na gut... Äh... Sör..." Braggasch war sich nicht sicher, wo darin nun die Bestrafung bestand. Gut, er hatte diesen Dienst noch nie morgens verrichtet und musste auch früher aufstehen als gewöhnlich, aber seiner Meinung nach war er trotzdem extrem glimpflich davon gekommen.
"Gut. Ich erwarte, dich dann... Sagen wir in fünf Tagen, pünktlich am Tresen stehen zu sehen.", meinte der Gnom gut gelaunt.
"Ja, Sör." Goldwart salutierte - Harry erwiderte den Gruß leger - und ging, um sich für seinen morgigen Dienst auszuruhen.
Er hatte alles verloren.
Sein Ruf war ruiniert.
Er war aus der Diebesgilde entlassen worden.
Seine linke Schulter schmerzte noch immer.
Er musste all sein Diebesgut abgeben.
Seine Freunde hatten ihn im Stich gelassen.
Er war stinksauer.
Der Wächter, der ihm das angetan hatte, würde dafür büßen.
Sein Ziel hatte Zwergengröße und blondes Haar.
Von einem gegenüberliegenden Gebäude aus beobachtete er sorgsam das Wachhaus, stahl sogar einen Dienstplan. Er würde so wenig wie möglich dem Zufall überlassen. Nun benötigte er nur noch ein passendes Opfer und, was viel wichtiger war, einen geeigneten Boten. Zum Glück gab es eine stadtbekannte Person, die hervorragend für seine Zwecke genutzt werden konnte.
Pünktlich und sogar frisch gewaschen stand Braggasch, fünf Tage nach seinem Gespräch mit Harry, früh morgens hinter dem Tresen, an dem die Bürger von Ankh-Morpork ihre Beschwerden einreichen konnten. Der Zwerg mochte diese Arbeit. Zwar musste er mit fremden Wesenheiten umgehen,
[1] aber da die meisten Angelegenheiten in der Zwillingsstadt sowieso von den Bürgern selbst oder den Gilden gelöst wurden, hatte man hinter dem Wachtisch die Ruhe und Möglichkeit, in Gedanken diverse Dinge zu entwerfen und zu verbessern. Braggaschs Kreativität arbeitete seid ungefähr einer Stunde an einem ausklappbaren Stativ, welches man unter die Armbrust bauen konnte. Etwas, bei dem man nur einen Hebel betätigen musste, wie es der Zwerg so liebte, und die Macht des Stollenbodens
[2] würde, gemeinsam mit einigen raffinierten Einrast-Gelenken, den Rest erledigen.
Die Standuhr der Wache zeigte
07:03 Uhr, als eine rundliche Frau den Wachraum betrat, über den linken Arm einen Regenschirm gehängt. Unerklärlicherweise änderte daraufhin der Uhrendämon die Zeit auf
07:05.
Verwundert setzte Braggasch ein Lächeln auf, von dem er hoffte, dass es höfliches Interesse ausdrückte.
"Ich möchte mich
beschweren! Oh, ein neues Gesicht!", freute sich die Frau, kaum dass ihre Füße die Dielen berührten.
"Äh... Ja. Wächter Braggasch Burkhardssohn Goldwart. Stets zu Diensten... Äh... Frau...?"
"Willichnicht. Amalie Willichnicht."
Irgendetwas klingelte bei diesem Namen in dem Zwerg, aber er konnte sich partout nicht erinnern, wo er ihn schon einmal gehört hatte. "Es ist mir eine Freude dich kennen zu lernen, Frau Willichnicht."
"
Reizend!", lächelte die ältere Dame und sah sich um, als gehöre ihr das Haus. "Ach... Hier ist es so gemütlich, finden sie nicht? Man fühlt sich
direkt sicherer, wenn man nur hier steht."
"Äh... Ja?" Braggasch begutachtete die dünnen Wände, den staubigen Boden und die kargen, schmutzigen Gegenstände des Raums, und versuchte, alles von einem neuen, positiven Blickwinkel zu betrachten. Es gelang ihm nicht. "Wenn du das sagst... Äh... Was kann ich für dich tun, Frau Willichnicht?"
"Meine Güte, dein Sprachproblem gefällt mir aber
gar nicht!", meinte Amalie mit einem tadelnden Blick auf den Wächter.
"Äh..."
"Und diese dünnen Locken -
grässlich. Dagegen musst du
unbedingt was tun!"
"Äh... Ja... Äh... Frau..."
"Oh, du Armer!", flötete Frau Willichnicht mitleidsvoll. "Dieses Äh-Problem ist ja schlimmer als ich dachte! Ich kenne da einen
guten Püschologen in der Sirupminenstraße, der könnte dir sicherlich helfen. Und wenn du-"
"Frau Willichnicht.", unterbrach Braggasch sie ruppig. "Dürfte ich dich bitten mir zu sagen, warum du hergekommen bist?"
Amalie zog scharf die Luft ein. "Wir brauchen ja nicht gleich
pampig zu werden.", schniefte sie. "Ich wollte einfach sagen, dass ich ein Glätteisen empfehlen würde."
"Frau... Was?"
"Ein Glätteisen. Gegen die Locken."
"Oh... Daran hatte ich gar nicht... Trotzdem muss ich dich bitten zum Punkt zu kommen." Und um sicher zu gehen fügte Burkhards Sohn hinzu: "Ich habe zu tun."
"Nun. Erstens hast du ganz recht, mein Lieber, du
hast zu tun. Und zwar bist du dafür zuständig
mir zu helfen, das hast du zu tun.", korrigierte Frau Willichnicht. "Und zweitens wäre ich ja schon
längst zum Punkt gekommen, wenn du mich nicht
dauernd unterbrechen würdest."
"Aber ich... Äh..."
"Na?" Warnend hob Amalie den Zeigefinger.
Braggasch stöhnte leise. "Was möchtest du mir berichten, Frau Willichnicht?"
"Schon besser. Braggasch, nicht wahr?" Als Goldwart nickte, fuhr die kleine Frau fort: "Ich möchte mich
beschweren: Meine Nachtruhe wurde gestört."
"Wodurch?", spielte der Zwerg mit.
"Durch einen
Schrei."
"Ein Schrei?"
"Ja, ein Schrei."
"Was für ein... Äh... Schrei?"
"Na, ein
Lauter natürlich. Ich wurde förmlich aus dem Schlaf gerissen!"
"Ich meine... Äh... War es ein männlicher oder ein weiblicher Schrei?"
"Ein weiblicher, da bin ich
ganz sicher.", behauptete Frau Willichnicht.
In Braggasch erwachte leise Neugier. "Wo denn?"
"In der Teekuchenstraße 19, natürlich, dem Haus neben mir. Du kannst Fragen stellen!"
"Ich werde das sofort weiterleiten, Frau-"
"Weiterleiten? Ich weiß doch wie
ewig das bei euch dauert! Nein. Du wirst dich
sofort selbst darum kümmern! Ich habe meine Freundinnen heute zu Besuch, da sollen sich die Nachbarn
gefälligst zusammenreißen!"
"
Du hast...", setzte Goldwart an, unterbrach sich aber sofort selber. "Ich meine... Äh... Hat sich der Schrei denn wiederholt?"
"Willst du nun etwas dagegen unternehmen, oder nur dumme Fragen stellen? Es tut mir leid, wenn ich das sagen muss, Braggasch, aber du musst noch
viel lernen. Nein, der Schrei hat sich nicht wiederholt.", antwortete Amalie hochnäsig.
Der Wächter lies nicht locker. "Woher weißt du dann, dass er dich und deine Freundinnen stören wird? Bestimmt ist es jetzt vorbei."
"Diesen Schleunigs ist alles zuzumuten!"
"Äh... Schleunigs?"
"Na, Familie Schleunig, denen gehört das Haus. Kennst du Ankh-Morpork überhaupt?"
"Zum Glück kannst du mich ja aufklären.", entgegnete Braggasch bissig. "Bist du sicher, dass du Frau Schleunig gehört hast, Frau Willichnicht?"
"Bei allen Göttern, bist du schwer von Begriff.
Natürlich bin ich sicher! Die haben das mit Absicht gemacht! Letztens fand ich ihre Post vor meiner Tür: Alles
freundliche Briefe.
Keine Schuldscheine,
keine Rechnungen, das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen! Und dann behaupteten sie auch noch, dass der Postbote die Briefe falsch zugestellt hat. Von
wegen! Die haben mir ihre Post doch
extra vor die Tür gelegt, um mich bei der Hausarbeit zu stören! Ich habe das
natürlich sofort gemeldet."
Burkhards Sohn sah die Frau wortlos an, dann schüttelte er den Kopf. "Tut mir leid, Frau Willichnicht, aber ich kann dir momentan nicht helfen, ich darf meinen Tresen nicht verlassen, aber ich werde deine Beschwerde der zuständigen Abteilung zukommen lassen.", sagte er fest.
[3]Doch Amalie lies nicht locker. "Ich habe schon
öfters gesehen, dass ihr Wächter euren Tresen verlassen habt, also komm mir nicht mit so einer fahlen Ausrede!"
"Das ist nur in dem Fall möglich, wenn eine entsprechende Wachablösung zur Hand ist, aber ich-"
"Gibt es irgendein Problem?", fragte eine honigsüße Stimme von hinten - besser gesagt: unten. Goldwart drehte sich erstaunt um und erkannte Harry, der zu ihnen hinauflächelte.
"Und
ob!", beschwerte sich Frau Willichnicht. "Gut, dass sie da sind, Harry, dieser
ungebildete Wächter weigert sich, einer hilflosen alten Frau zu helfen!"
"Äh... Ich...", versuchte Braggasch zu erklären, wurde jedoch von der hochgehaltenen Hand Harrys unterbrochen.
"Aber, aber, Frau Willichnicht.", beschwichtigte der Oberstabsspieß mit jenem sirupartigen Klang in der Stimme. "Ich bin mir sicher, der Rekrut Goldwart hier hat nur versucht das beste zu tun. Aber zum Glück bin ich ja jetzt da, um dass ganze zu klären. Ich würde sagen, ich übernehme deinen Tresendienst für einen Moment, Braggasch, damit du der guten Frau Willichnicht helfen kannst."
"Aber... Äh..."
"Nichts, aber, Wächter. Ich tue das gerne, um dich zu entlasten.", lächelte Harry.
"Ja, Sör." Niedergeschlagen lies Braggasch die Schultern hängen.
"Sehr gut.", entschied Amalie. "
Endlich jemand Kompetentes hier."
Der Vorgesetzte nickte lächelnd.
"Na, dann komm, Wächter. Und: Mach dir keine Sorgen, jeder macht am Anfang mal Fehler.", zwitscherte Frau Willichnicht gönnerhaft, während sie den Zwerg zur Tür hinaus komplettierte.
Kapitel 3: Interesse und IntrigenKonzentriert, die Zunge zwischen die Lippen gepresst, überprüfte er ein weiteres mal den Knoten. Er saß so fest, wie ein Knoten nur sitzen konnte. Die Frau würde nicht entkommen. Genauer gesagt konnte sie sich nicht einmal rühren. Auch Sprechen war ihr, dank des Knebels, untersagt. Um Ganz sicher zu gehen hatte er die Augen, die Ohren, jeden einzelnen Finger und ein Nasenloch ebenfalls abgebunden.
Seit dem ihn der Armbrustbolzen in die linke Schulter getroffen hatte, war seine Hand auf dieser Seite taub, deshalb durfte er sich keine Unachtsamkeit erlauben und musste alles mehrmals überprüfen. Es durfte ihm einfach kein Fehler unterlaufen!
"Warum tust du das?", fragte ihn der Mann, der zusammengesunken auf einem Stuhl saß, nuschelnd. Leider hatte er ihm die Zähne einschlagen müssen, um kein Aufsehen zu erregen.
"Rache.", antwortete er schlicht.
"Aber warum wir?" Der Mann war ein schlichter Alltagstyp in grau-brauner Kleidung. Ihn hatte er nicht gefesselt, das war nicht nötig. Solange er seine Frau in seiner Gewalt, und den Dolch stets in Reichweite hatte, war von dem Kerl nichts zu befürchten. Er verstand diese Art von Liebe nicht. Was brachte es einem, sich an jemand Anderen zu binden, wenn man nicht bereit war diesen Jemand für das eigene Wohlergehen zu opfern?
"Zufall."
Der Alltagstyp richtete sich ein wenig auf und leckte das Blut von der geplatzten Lippe. "Wir können dir nicht helfen, wir sind nur-"
"Klappe!", fuhr er ihn an. Für solches Gewäsch hatte er gerade nichts übrig. Sorgfältig überprüfte er das gespannte Seil zu seinen Füßen. "Ihr seid genauso gut geeignet wie jeder andere auch."
Der Mann schwieg. Er hatte nicht einmal die Kraft, seiner Frau zu sagen, dass alles wieder gut werde.
"Und siehst du
den da? Er hat seinen Stand viel zu weit auf der Strasse errichtet. Wenn
jetzt eine Massenpanik zustande kommt, dann hat er einige Verletzungen zu verantworten! Und die Frau da hinten erst! Bei ihr habe ich mal..."
Braggasch hörte Frau Willichnicht mit der gleichen stoischen Ruhe zu, mit der ein Mann die Geschichten der Schwiegermutter hinnimmt. Seine Gedanken wanderten träge umher und versuchten ihn damit aufzuheitern, dass Frau Willichnichts Massenpanik momentan höchstens von Frau Willichnicht verursacht werden könnte.
"... Eine
unmögliche Person, die nicht einmal mit ihrem..."
Warum musste ihm ausgerechnet so etwas passieren? Bestimmt gab es schlimmere und bösere Menschen als Amalie, aber ganz sicher keine nervigeren!
"... Wenn
ich hier das sagen hätte, liefe so einiges..."
Vor allem war sie eine Frau, bei der man fast schon heraushören konnte, dass sie dauernd kursiv sprach! Ablenkung zu haben, fing Braggasch an, seinen Nagelwerferdolch zu ent- und laden.
"... Eindeutig nicht in Ordnung, dass sie-"
"Frau Willichnicht?", unterbrach der Zwerg ihren Redefluss so höflich wie möglich.
Amalie beäugte ihn misstrauisch, als wittere sie eine Schandtat. "Jaha?"
"Ist es noch weit?"
"Nein mein, Lieber, nur noch drei Blocks. Wo war ich? Aber ja, Frau Kuchen hat während der ganzen Zeit, die sie hier in Ankh-Morpork wohnt es niemals für nötig gehalten..."
Braggasch seufzte tonlos.
Menélaos Schmelz kam sich vor, als wäre er eine Quarktasche, die in zu viel Puderzucker gefallen war. Nur, dass Quarktaschen in diesem Fall sicher keine Staublunge davon tragen konnten.
Wenn es für einen Rekruten einmal absolut gar nichts zu tun gab, dann wurde er zum sortieren der Akten von RUM eingeteilt - und genau das war dem ehemaligen Konditor passiert.
Wahre Wolkenkratzer von Papierstapeln standen stolz in den Kellern des Wachhauses und wurden von einer Weltbevölkerung an Staubpartikeln bewohnt. Menélaos musste jedes Blatt hervorholen, anschauen und in einen entsprechenden Karton packen, der den jeweiligen Gilden zugeordnet waren. Als ob ihm die Bevölkerung des Kellers sinnlose Zerstörung ihrer Wohnorte vorwarf, sprang jedes Staubkorn kamikazegleich in seinen Rachen.
Hustend und keuchend hatte Schmelz es daraufhin vorgezogen, die neuesten Akten unter Augenschein zu nehmen, da dies der Gesundheit seiner Lunge sicherlich zuträglicher war. Und tatsächlich hatte der Staub es dort noch nicht geschafft die Vorherrschaft zu erlangen.
Fall 713, #180: Sulfat, Salpeter, hat auss unbekanten Gründn di Alschimisdengülde verlassenicht, momentaniger Wonohrt: KaufmannsstraßeDas war doch schon ein alter Fall, weshalb lag der hier oben auf? Hatte sich jemand über Salpeter erkundigt? Menélaos stopfte die Akte in den Karton <
Ehemalige; Alchimistengilde>. Vielleicht sollte er bei Herrn Sulfat mal vorbei schauen um seine Kondimekalien etwas aufzustocken...
Fall 1023, #76: Bonny, Fornahme unbekant, oda Nachnahme, Dibesgilde, Versätzunk in di FerwaltigungAuch wenn die Rechtschreibung selbst für dem ehemaligen Konditor grauenhaft war, Menélaos staunte nicht schlecht, dass solch haarkleine Informationen hier vorhanden waren. Gewissenhaft lagerte er das Blatt bei <
Momentane; Diebesgilde> ein.
Fall 974, #110: Kotputz, Arbeiter, Mitgründer und zweites Mitglied der Müllbeseitigungsgilde, gefährlich, inhaftiertSchmelz kratzte sich am Kopf. Eine Müllbeseitigungsgilde? Davon hatte er nie gehört. Aber die feine, klare und Fehlerfreie Handschrift war bewunderungswert. Achselzuckend steckte er die Akte zu <
Momentane; Sonstige> ohne sich zu fragen, was an einem Müllbeseitiger so gefährlich sein sollte.
Fall 1487+1, #X: Glücklos, Gerd, Entlassigung aus der Dibesgilde, gefärligOha, ein Fall aus jüngster Vergangenheit. Die Tatsache, dass keine Archivnummer bekannt war und er irgendwie das Gefühl hatte, dass ihm dieser Name in anderem Kontext schon einmal zu Ohren gekommen war, lies Menélaos neugierig werden. Er schlug die entsprechende Akte auf. Die fehlerlose, ordentliche Handschrift lies darauf schließen, dass hier der Abteilungsleiter selbst Hand angelegt hatte.
Name: Gerd Glücklos; Alter: 34; Merkmale: nervöse Zuckungen, Spezi-ismus in Sachen Zwerge, taube linke Hand; Frühere Dschobs: 3 Jahre Narrengilde, 6 Jahre Lehrergilde, 2 Jahre Diebesgilde; Aktuell: Unehrenhafte Entlassung aus der Diebesgilde und Entzug aller Lizenzen; Wohnort: unbekannt.Jetzt erinnerte sich der Kondichemiker wieder: Sein Freund Braggasch hatte letztens etwas erwähnt. Es hatte den kleinen Kerl nahezu angewidert, dass so etwas wie Diebstahl hier in Ankh-Morpork lizenziert wurde. Menélaos hatte ihn damals mit Sebulons Hilfe beruhigen können, indem sie beide versicherten, es würde ansonsten noch weitaus schlimmer mit der Stadt stehen. Es dürfte Braggasch interessieren, dass derselbe Glücklos, mit dem er damals einen Zusammenstoß hatte, nun aus der Gilde entlassen worden war. Narr und Lehrer war er also vorher geworden... also ein schauspielerisch begabter und belesener Mensch. Menélaos entschied mehr über diesen Gerd Glücklos herauszufinden, vielleicht würde das seinen kleinen Freund etwas aufmuntern. Irgendwo hier unten mussten Informationen zu seiner Zeit in den anderen Gilden lagern.
Von neuem stürzte sich der ehemalige Konditor in die Staubwogen.
Legere docere deflere.
Ladislaus Rotschrift, Mitglied der Lehrergilde in Ankh-Morpork, senkte das blaugetupfte Tuch, mit welchem er sich die Augen gewischt hatte, und dachte über dieses Motto nach. Tatsächlich war ihm häufig zum weinen zumute, doch niemals hätte er es laut zugegeben. Stets bewahrte er vor seinen Schülern Contenance, dann, wenn er zuhause in seinem kleinen Zimmer saß, schluchzte er einsam vor sich hin. Die morporkianische Bevölkerung war nicht in dem Sinne dumm, doch sie weigerten sich derart halsstarrig gegen jede Art von Weisheit, dass es Dummheit in nichts nachstand.
Ladislaus sah zu dem kleinen Wecker, dem ihm seine Mutter zum vierzigsten Geburtstag geschenkt hatte und der von einem dicken Dämon betrieben wurde, der nicht zählen konnte und es ablehnte, sich derartige Fähigkeiten beibringen zu lassen. Seine Mutter hatte dem Lehrer stets versichert, wie stolz sie auf ihn waren, doch Ladislaus wusste, dass man daheim über ihn lachte.
Das Ziffernblatt des Weckers sagte ihm, dass Rotschrift seid einer halben Stunde bei einem weiteren Schüler, Elfriede Schleunig, sein sollte. Doch der magere Lehrer mit dem wenigen, zerzausten, rotblonden Haaren wusste, dass sein Uhrendämon sich gerne einmal um bis zu zwei Stunden vertat.
Seufzend richtete er sich auf seinem Bett auf. Er musste gar nicht erst in den Spiegel sehen, um zu wissen, dass seine Tränensäcke ums doppelte angeschwollen waren. Doch für die Schleunigs war das egal. Elfriede und ihr Mann Eduard waren einfache, hart arbeitende Leute, die zwar ebenso wenig wie alle anderen etwas mit Ladislaus weitergegebenen Wissen anfangen konnten - in dieser Hinsicht machte sich der Lehrer nichts vor - aber sie waren nett und taten so, als wäre ihnen der Unterrichtsstoff wichtig.
Dabei argwöhnte Rotschrift, dass die beiden ihn nur angeworben hatten, weil sie befürchteten, er müsse sonst den Hungertod sterben.
Mühsam hievte er sich die Tasche mit den schweren Büchern, seinem einzigen, nennenswerten Besitz, auf den Rücken und machte sich auf den Weg zur Teekuchenstraße.
"... Und wenn ich noch
einmal einen dieser weißgeschminkten, unnützen... Oh, wir sind da, mein Guter."
"Äh... Was?", murmelte Braggasch, plötzlich aus seiner stumpfen Lethargie gerissen. Den Nagel, den er gerade in den Dolch geschoben hatte belies er, wo dieser war.
"Ich
sagte: Wir sind da.", wiederholte Frau Willichnicht. "Das ist das Haus der Schleunigs.
Grässlich, nicht wahr? Dieser dreckige, graue Putz ist eine Schande für die gesamte Nachbarschaft!"
"Es sieht aus wie... Äh... Jedes andere Haus hier ebenfalls, Frau Willichnicht.", stellte der Zwerg fest.
Amalie schürzte die Lippen, sagte jedoch nichts daraufhin.
"Gut. Ich werde mir das jetzt ansehen, Frau... Äh... Du kannst beruhigt nach Hause gehen."
"Dann will ich dir mal glaube. Aber sei ja
gründlich, sonst werde ich mich über dich
beschweren müssen." Wenn sich Braggasch nicht täuschte, trat bei diesem Worten ein vorfreudiger Schimmer in ihre Augen. Er nickte nur müde, woraufhin sich Frau Willichnicht watschelnd in das Nachbarhaus - was wohl ihres war - zurückzog.
Nun, wo Burkhards Sohn einmal hier war, konnte er sich die Sache auch ansehen.
Langsam schob er den Helm zurecht und strich die Lederkleidung glatt, dann holte er seine Dienstmarke aus der Tasche und trat zur Tür, auf der in einfachen Holzlettern die Zahl 19 genagelt war.
Nach dreimaligem Klopfen öffnete sich endlich die Tür, und ein schlichter, nervös wirkender Mann sah Braggasch an.
"Guten Tag. Stadtwache." Der Zwerg hielt die Marke in die Höhe. "Es gab eine Beschwerde wegen Lärmbelästigung."
Der Mann musterte seinen Gegenüber, als suche er etwas, dann lächelte er zaghaft.
"Natürlich. Kommen sie doch bitte herein, Herr Wächter."
"Äh... Danke... Aber das wird nicht notwendig sein." Bei diesen Worten geriet die Mine des Mannes ins wanken. "Bist du Herr Schleunig?"
"J-Ja..."
"Ist es möglich, dass deine Frau heute morgen... Äh... Geschrieen hat?"
Herr Schleunig sah schnell zurück ins Haus und dann wieder, mit neuem Enthusiasmus, auf den Zwerg. "Ja! Ja, das ist gut möglich!"
Braggasch zuckte bei dem Ausruf des Mannes kurz zurück, doch bevor er etwas sagen konnte fuhr Herr Schleunig fort: "Aber ich weiß gar nicht wieso! Sie sollten sie selber fragen - kommen sie doch herein!"
"Äh... Sachte, sachte, Herr... Äh... Es ist nicht so dringend... Äh..."
"Oh doch! Sie macht das dauernd! Ich kann nichts dagegen tun! Es muss ihr endlich einmal jemand sagen, dass sie damit aufhören soll!"
Goldwart sah den völlig panisch wirkenden Mann an. Wahrscheinlich wurde er von seiner Frau unterdrückt, überlegte der Zwerg, und nun freute er sich, dass endlich jemand kam, der mit ihr reden konnte. Ihr sagen konnte, dass sie weniger schreien sollte. Braggasch versuchte sich vorzustellen, wie er einer übergroßen, muskulösen Frau gegenüberstand, von einem hölzernen Teigroller bedroht, und kein Wort hervorbrachte. Aber diesem armen Mann musste unbedingt geholfen werden! Vielleicht hatte die Frau ja ein einsehen und würde ihren Angeheirateten von da an mit völlig neuen Augen sehen, zu einer liebevollen Ehefrau werden, ihm morgens ein paar Brote für die Arbeit schmieren, und Braggasch, der das Eheglück wieder hergestellt hatte, einige dicke Ratten zur Belohnung anbieten...
[4]"Nun ja... Vielleicht sollte ich mit ihr... Äh...", setzte er an.
"Wunderbar!" Herr Schleunig zog ihn nahezu in das Haus hinein in das Haus hinein und schloss hastig die Tür. Dann deutete er auf eine Treppe, die nach unten führte. "Sie ist im Keller. Wenn sie schon einmal vorgehen wollen..."
Kapitel 4: Gefallen und GefühleDa!
Menélaos hatte eine Weile suchen müssen, doch zu seinem Glück war die dementsprechende Akte tatsächlich in der Box der Narrengilde eingelagert worden. Angewidert wischte sich der ehemalige Konditor den Staub von den Händen und las, die Lippen mitbewegend:
Fall 566, #X: Glüklos, Gärd, entlassigt fon der Narengilte, wegen fersuchtöm Mort ihnhaf fässd genommigtSchmelz runzelte die Stirn. Ein versuchter Mord? Das war kein Zuckerstiel. Interessiert schlug er die nächste Seite, die Daten, auf.
Name: Gärd Glüklose; Alter: 2-6; Merkmale: Lachd manschmal; Frühere Dschobs: Nücht Bekannt, neu eingerais gekomigt; Aktuell: Wurde fon den Naren mid Tordön beworfigt unt gefeuärt; Wohnort:UnbehsonenheitsstraseNun, das war nicht unbedingt das, was sich Menélaos erhofft hatte, diese Akten hatte wohl ein ziemlicher Stümper angelegt. Gerade als er die Papiere wieder im Karton verschwinden lassen wollte, fiel ihm die dritte Seite auf. Das konnte doch nur...
Fall: Glüklos versuchtigte einän andrän Naren zu enthauptigen. Es wurde gesagigt das beide einen persöniglichen Disp Strait hatigen. Där ander Nar hies Her Weisgesichd #44. Gärd Glüklos isset ins Gefänknist gekommigt. Nachtrag: Her Weisgesichd isset trodsdem enthauptigt worden.Das war doch etwas, mit dem man was anfangen konnte. Menélaos musste zugeben, dass er sich so langsam Sorgen um den kleinen Braggasch machte. Wenn Glücklos schon einmal jemanden fast ermordet hätte, wegen persönlicher Indifferenzen, würde er sicherlich nicht davon zurückschrecken es ein weiteres Mal zu versuchen. Wenn er seine Aufgabe hier erledigt hatte, musste er den Zwerg warnen. Doch vorerst wollte der Kondichemiker herausfinden, warum Gerd aus der Lehrergilde geschmissen wurde.
Mit fahrigen Händen griff er nach der Box der Lehrergilde.
"Hallo.", sagte Gerd Glücklos lächelnd.
Braggasch erwiderte nichts. Er war wie versteinert an der Tür stehen geblieben, da sich ihm ein alles andere als positives Bild bot: Am Ende des kleinen, nach Rüben riechenden Raumes saß eine Frau auf einem einfachen Holzstuhl. Sie war mit jedem Zentimeter ihres Körpers festgebunden und der zischende, schnelle Atem, der durch das eine freie Nasenloch ein und austrat, machte klar, dass sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Glücklos stand lässig neben ihr, eine geladene Armbrust mit dem Bügel auf ihrer Schulter gelegt, die Bolzenspitze wenige Millimeter von ihrem Kopf entfernt. Zu allem Überfluss stieg Braggasch über den Rübengestank hinweg der Geruch von Pulver Nr.1 in die Nase.
Gerd zog in gespielter Beleidigung eine Schnute. "Möchtest du mich denn nicht begrüßen, Braggasch Goldwart? Nach all dem, was wir gemeinsam durchgestanden haben?"
Der Zwerg gab noch immer keine Antwort. Aufmerksam sah er sich in dem Raum um. Gerd hatte alle Arbeit geleistet. Die Säcke mit der Nahrung - wohl größtenteils Rüben - waren in den hinteren Teil geräumt worden, Braggasch hatte also nichts, was er vorrübergehend als Schild verwenden konnte. Manche von den Säcken lagen ganz in Gerds Nähe, die einzige Lichtquelle im Raum war eine Kerze auf dem Boden. Frau Schleunig war viel zu weit entfernt, um mit einem schnellen Satz zu ihr zu kommen, bevor der ehemalige Dieb schoss, doch nah genug, um ihre Angst zu riechen. Das erschwerte dem Sohn von Burkhard das Denken.
Hinter sich spürte er Bewegung.
"Dann eben nicht.", seufzte Glücklos. "Dann kommen wir eben zum... Geschäftlichen. Der gute Eduard hier,", er deutete hinter Braggasch. "Würde alles tun um seine geliebte Frau zu retten. Und er hat eine ziemlich alte, schartige Axt."
"Es... Tut mir... So leid...", hörte Goldwart eine erstickte Stimme hinter sich flüstern.
"Jaja. Tut es uns das nicht allen? Hmm, Braggasch? Ich darf dich doch Braggasch nennen, nicht wahr?"
Der Angesprochene brachte auch dieses Mal keinen Ton heraus.
"Aber abgesehen, von Herrn Schleunig,", fuhr Glücklos mit glücklicher Stimme fort. "Könntest du es natürlich nicht verantworten, wenn eine Zivilistin stirbt." Bei diesen Worten drückte der Geiselnehmer die Bolzenspitze ein wenig in Elfriedes Wange, was ein erschrecktes Aufkeuchen zur Folge hatte. "Und trotz allem habe ich noch weitere Vorbereitungen getroffen. Man weiß ja schließlich nicht, was du alles zu opfern bereit bist." Im letzten Satz änderte sich seine Stimme und Stimmung, sodass sie nun gar nicht mehr glücklich, sondern kalt und gefühllos klang. Mit dem Fuß stieß er einen der am Boden liegenden Säcke an. Es erklang nicht, wie von Braggasch vermutet, dass Poltern von Möhren, sondern ein leises Rieseln, wie von Sand. Gerd bemerkte seinen Blick und lächelte kühl. "Ja, mir war klar, dass ihr Wächter das kennt. Das hier ist ein Beutel mit Pulver Nummer eins. Es hat mich ein gutes Sümmchen gekostet. Was meinst du, bist du schnell genug um Elfriede hier zu retten
und mich davon abzuhalten diese Kerze da umzustoßen?"
Goldwart entschied sich für Püschologie. "Warum machst du das?"
"Gute Güte! Sind wir hier bei einem schlechten Roman der Schriftstellergilde? Wo der Held sinnlose Fragen stellt und der Bösewicht seinen Plan erläutert, bevor der Held mit dem gewonnen Wissen alles vereiteln kann? Nein, mein guter Braggasch. Und trotzdem werde ich dir die Frage beantworten, denn die Antwort ist gleichzeitig ein Teil des Plans." Genüsslich lies Glücklos eine Pause, bevor er fortfuhr: "Warum ich das tue ist simpel: Rache. Ich habe dich in eine Situation gebracht, aus der du nicht fliehen kannst. Deine Gedanken rasen. Auf deinem Gewissen könnten ein oder zwei Zivilisten stehen. Die Chance, dass du selber stirbst, ist immens hoch. Genauer gesagt beträgt sie einhundert Prozent, da ich dich auf jeden Fall töten werde."
Braggasch schluckte. "Dann... Äh... Töte mich und lass die armen Bürger... Äh..."
Verärgert schüttelte Gerd den Kopf. "Aber, aber, lieber Wächter, das würde doch überhaupt keinen Spaß machen! Was wäre denn eine Rache, ohne, dass ich dir noch Seelenqualen bereite? Wenn du einen Schritt machst, stirbt die Frau, kannst du das verantworten? Aber vielleicht töte ich sie ja trotzdem, nur um dir Schmerz zu bereiten und jage uns dann gemeinsam in die Luft! Ach Eduard, schau nicht so erschrocken. Ich sagte vielleicht. Wahrscheinlich nicht. Aber wer weiß? Ich denke, ich werde... improvisieren! Solange du nichts dummes tust, Eduard, habt ihr beide recht hohe Überlebenschancen."
Goldwart warf einen schnellen Blick über die Schulter, und sah einen blassen Herrn Schleunig, der, eine Axt in beiden Händen, wie unter Schlägen hin und her wankte. Er wandte sich wieder dem verhinderten Dieb zu.
"Du würdest dich... Äh... Selbst umbringen?"
"Ach, Braggasch. Braggasch, Braggasch, Braggasch. Seid dem Tag, an dem mich die Gilde rausgeworfen hat bin ich dir gefolgt, habe dich belauscht. Es ist erstaunlich, wie leicht man, von den richtigen Nachbarhäusern aus, in bestimmte Büros der Wache sehen kann. Ich wusste, dass du zum Tresendienst verdammt worden bist, dass du alleine warst und dass du natürlich der guten Frau Willichnicht folgen würdest, sobald du ein Verbrechen witterst. Weißt du, die Guten sind so verdammt berechenbar. Auch unsere Freundin Amalie, wenn sie auch nicht grade als gute bezeichnet werden kann, konnte einfach nicht widerstehen, als ich Frau Schleunig hier zwang zu schreien. Ich gebe zu, in meinem Plan gab es einige nicht vorherzusehende Faktoren, aber wie man sieht hat alles wunderbar funktioniert. Jetzt kann nichts mehr schief gehen!" Glücklos hatte wieder zu seinem fröhlich-irren Gesichtsausdruck zurückgefunden. "Und nach all den Entbehrungen und Kosten, die ich auf mich genommen habe, glaubst du ich würde vor Selbstmord zurückschrecken? Gibt es denn etwas schöneres, als mit seinem geliebten Feind in einem Flammeninferno das zeitliche zu segnen? Ganz abgesehen davon, dass ich mein Leben lang im Knast verrotte, wenn das hier rauskommt."
Braggasch brach der Angstschweiß aus.
Gerd zog amüsiert die Augenbrauen in die Höhe und nickte dem Zwerg fast höflich zu.
Die Gedanken des Zwerges rasten, panisch versuchte er eine Lösung für das Problem zu finden. Mit seinen püschologischen Tricks war er am Ende, er konnte Glücklos weder ins Gewissen reden noch ihn durch Worte zerstören. Seine Talente lagen auf vollkommen anderen Gebieten, doch wie waren sie in dieser Situation anwendbar?
Ohne jede Vorwarnung machte ihn sein mechanischer Verstand auf eine simple Tatsache aufmerksam: Gerd hatte selber gesagt, er habe viel Geld für das Pulver ausgegeben - ein Fehler, denn dadurch hatte er an der Armbrust sparen müssen. Braggasch erkannte eine simple Schussmaster1, die wohl billigste Armbrust, die es auf dem freien Markt zu kaufen gab. Billig genug, um den Auslösemechanismus einfach blockieren zu können.
Goldwart musste nun
sehr gut sein.
Unwillkürlich wanderte seine rechte Hand zum Dolch.
"Oh, nein, nein, Braggasch, das lassen wir bitte." Glücklos verzog unglücklich, als hätte ihn sein Hund enttäuscht
[5], das Gesicht. "Bitte nimm die Hand vom Dolch, den Trick kenne ich bereits. Am besten du legst das Ding und auch die Armbrust einfach auf den Boden. Fass deine Waffe bitte an der Schneide, ich weiß, dass der Abzugsknopf am Griff ist."
Zögernd kam der Sohn Burkhards den Aufforderungen nach. So viel zu seinem tollen Plan.
"Warum so schweigsam, Braggasch? Du hast doch sonst so gerne Dinge erzählt. Gewürzt mit deinem lieblichen: Äh."
Der Angesprochene glotze nur. Er war soeben vom Stadium hektischer Panik zu hoffnungsloser Müdigkeit gekommen. Der einzige Plan, den er hatte fassen können, war schon vor seiner Anwendung gescheitert, nun war alles verloren.
"Ach, so macht das einfach keinen Spass. Nun gut, Braggasch, wie du willst. Möchtest du noch etwas sagen, bevor ich-" Glücklos erstarrte, als ein Geräusch erklang.
Es klopfte.
Die nun eintretende Stille, war eigentlich nicht mehr mit der Abwesenheit von Geräuschen zu vergleichen. Es war, als hätte der
Alte Tom geschlagen. Das knistern der Kerzenflamme erschien unerhört laut.
Es klopfte abermals, etwas energischer.
"Was zum...", ärgerte sich Gerd.
Schleunig räusperte sich. "S-s-soll i-ich...?"
Der Geiselnehmer machte eine ruckartige Bewegung mit dem freien Arm. "Ja, geh. Mach auf. Aber denk dran, Eduard, ich habe diene Frau, und ich kann dich hören!"
Eduard Schleunig nickte schwach, stellte die Axt an die Kellerwand und ging nach oben. Braggasch und Glücklos schwiegen, während sie das obige Gespräch verfolgten:
"Guten Tag, Eduard."
"G-guten Tag..."
"Ist dir nicht wohl?"
"D-doch. Alles in Ordnung."
"Wunderbar. Ich wollte natürlich zu ihrer Frau."
"D-das geht g-grade nicht, Herr Lehrer."
"Wieso?"
"... S-sie ist k-k-krank."
"Oh."
"J-ja."
"Vielleicht sollte ich sie mir mal ansehen? Ich habe erst letztens ein wunderbares Buch über Heilk-"
"Nein! Nein. Ich d-denke, d-das ist nicht n-nötig."
"Du hörst dich auch gar nicht gut an, Eduard. Ich sollte nach euch sehen, bevor ihr eine Epidemie auslöst. Du frierst ja schon, Eduard!"
"N-Nein, nein, i-ich-"
"Keine Sorge, ich berechne das nicht extra, Eduard."
"Herr R-Rotschrift, ich m-m-mus w-wirklich d-darauf b-b-bestehen-"
"Aber, aber, Eduard, es ist mir eine Freude, ihr seid immer so... wissbegierig."Ein klapperndes Geräusch machte deutlich, dass gerade ein zusätzliches paar billiger Stiefel den Holzboden des Hauses betreten hatte. Glücklos stieß zischend eine leisen Fluch aus.
"H-Herr R-R-R-R-"
"Ohje, schnell ins Bett mit dir, Eduard. Wo ist deine Frau?"Eine lange Pause entstand, bevor Herr Schleunig seufzend antwortete:
"I-im K-Keller, Herr L-Lehrer."
"Was macht sie denn dort unten? Dort ist es doch furchtbar kalt, nicht wahr? In eurem Zustand solltet ihr euch solchen Dingen wie Kälte und Nässe nicht aussetzten, das könnte alles-" Ladislaus Rotschrift unterbrach seinen fröhlichen, aus einem Buch diktierten Redefluss, als er den Fuß der Treppe erreichte.
"Hallo, Herr Lehrer. Willkommen bei unserer kleinen Fete.", lies sich Glücklos vernehmen.
"-verschlimmern...", hauchte Ladislaus das Ende seines Satzes, da das Hirn ja bekanntlich langsamer ist als die Instinkte. Vollkommen perplex schaute er von dem ehemaligen Dieb zur gefesselten Frau und weiter auf den Wächter. Dann sah er Glücklos wieder in die Augen.
Die beiden Männer starrten sich eine Weile an, bis Rotschrift schließlich völlig überfordert fragte: "Gerd?"
Name: Gerd Glücklos; Alter: 30; Merkmale: Gelegentliches Kichern, stetiges Kopfschütteln, leichte Zuckungen, neigt zu Überreaktionen; Frühere Dschobs: 3 Jahre Narrengilde ;Aktuell: Die Lehrergilde entlies ihn, siehe Fall; Wohnort:UnbesonnenheitsstraßeMenélaos blätterte um.
Fall: Glücklos drohte einer Klasse aus morporkianischen Bürgern mit Giftgas, wenn einer von ihnen die Hausaufgaben nicht vorzeigen könne. Er hatte Jahre zuvor das Angebot, die Gildenleitung zu übernehmen, abgelehnt. Nachtrag: Unsere Informanten berichten, dass Glücklos sich der Diebesgilde angeschlossen hat.Der Kondischemiker staunte ein weiteres mal über die kleine, Fehlerlose Schrift. Vielleicht sollte er einmal fragen, wer diese Akten angefertigt hatte, um Nachhilfeunterricht im Schrieben zu nehmen? Unwichtig! Wichtig war, dass dieser Gerd also quasi schon zwei versuchte Morde auf dem Kerbholz hatte, und zwar immer mit anderen Mitteln. Das würde Braggasch nicht gefallen, er sollte ihn wirklich warnen.
Menélaos nickte, ob seines logischen Gedankengangs, und machte sich daran, die üblichen, freien Akten zu sortieren.
Nach dem Mittagessen gehe ich zu ihm, entschied er, das müsste ja reichen.
"Gerd war früher Mitglied der Lehrergilde.", erklärte Ladislaus, in panischer Faszination gefangen. Glücklos sah seinen früheren Kollegen nur kalt an. "Er war ein hervorragender Lehrer, er schaffte es als einziger, dass einige Bürger sogar freiwillig in die Gilde kamen, um an seinen Kursen teil zu nehmen. Das musst du dir vorstellen, Wächter, er gab
Kurse! Doch leider hat er eines Tages-"
"Das reicht." Mit der Temperatur von Gerds Stimme hätte ein Troll eine Mathematikmeisterschaft gewinnen können. "Genug über die guten alten Zeiten. Nun, Braggasch." Der Zwerg sah immer noch perplex zwischen den beiden Männern hin und her. "Du glaubst vielleicht deine Situation hätte sich dadurch gebessert, aber letztendlich ändert es gar nichts, das der gute Ladislaus aufgetaucht ist. Er wäre nur ein weiterer Zivilist, der dein Gewissen belastet."
"Was?", rief Rotschrift aus und lies vor Schreck seine Büchertasche fallen.
"N-nein, Herr Glücklos... D-das kann i-ich nicht z-z-zulassen! N-nicht Herr Rotschrift!" Herr Schleunig ergriff bei seinen Worten von neuen die Axt und tat einen unsicheren Schritt auf den Geiselnehmer zu.
Glücklos richtete seinen eisigen Blick auf den Ehemann. "Ist dir das Leben deiner Frau so wenig wert, Eduard?"
Elfriede Schleunig keuchte angsterfüllt. Sofort brach jeder revolutionäre Geist in Eduard Schleunig zusammen. "N-Nein!", hauchte er. "B-blos das nicht!"
Gerd lächelte süffisant. "Muss Liebe schön sein."
"Gerd, was ist aus dir geworden?", brachte nun Ladislaus hervor.
Braggaschs Blick wurde von der Kraft der seltsamen Zufälle zu Boden gezogen.
"Ich weiß gar nicht, was du meinst, Ladi.", behauptete Glücklos. Rotschrift zuckte bei dem Spitznamen unwillkürlich zusammen.
"Du warst schon immer etwas... sonderbar, aber das hier?!"
Der lauschende Zwerg sah die Tasche des Lehrers vor sich liegen - direkt neben seinem Dolch. Da muss ich aber verdammtes Glück haben... Die Chance das zu schaffen liegt bei eins zu einer Millionen!
"Was meinst du mit sonderbar?", fauchte Glücklos.
Rotschrift lies sich nicht beirren. "Nach dem Mord an unserem Oberhaupt durch diese grässlichen Pflanzen
[6] warst du als neuer Gildenführer vorgeschlagen, obwohl du kaum zwei Jahre bei uns gewesen bist!"
Braggasch konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Eins zu einer Millionen. Hervorragend! So unauffällig wie möglich trat er auf das hinterste Griffstück des Dolches, so das sich die Spitze anhob.
"Wer will schon Gildenoberhaupt von euch engstirnigen, vertrottelten, unfähigen Würmern werden?"
"Gerd! Du warst einer von uns!"
Vorsichtig drückte Goldwart den angehobenen Dolch auf die Büchertasche, so dass die Waffe schräg nach oben lag und dessen Spitze nun auf Glücklos deutete.
"Richtig, ich
war! Seid ich eingesehen habe, dass diese Idioten von Bürgern es einfach nicht wert sind-"
"Wir haben eine Verpflichtung!", ereiferte sich Ladislaus energisch.
Braggasch schickte ein stummes Stoßgebet an irgendeinen Gott, als er mit der Fußspitze auf den kleinen Knopf am Griffstück seines Dolches trat.
Ohne zu überlegen machte er sofort danach einen Satz - doch sein Ziel hieß nicht Gerd Glücklos, sondern namenlose Kerze.
Wie immer in solchen Momenten dehnte sich die Zeit.
Der ausgelöste Federmechanismus des Dolches schleuderte den Nagel in Richtung Glücklos. Dieser setzte zu einem wütenden Schrei an, und sein Finger krümmte sich um den Abzug.
Eine weitere Chance von eins zu einer Millionen bewahrheitete sich.
Der winzige Metallbolzen, der Nagel, verfehlte Gerd und traf die Schussmaster1, wo er einige Zentimeter eindrang.
Glücklos drückte den Abzug, die Armbrust noch immer auf Frau Schleunig gerichtet. Kurz darauf setzte er zu einem Tritt gegen die Kerze an, um diese auf das Pulver Nummer 1 zu stoßen.
Eduard Glücklos, von verzweifeltem Rettungsinstinkt gepackt hob seine Axt und wollte den Wächter, der nun vielleicht das Leben seiner Frau auf dem Gewissen hatte, enthaupten.
Vielleicht hätte er es geschafft, wenn nicht Ladislaus Rotschrift einen erschreckten Schritt nach hinten gemacht, gegen den heranstürmenden Ehemann geprallt und mit ihm zu Boden gegangen wäre.
Braggasch gelang es, am Ende seines Satzes nach der Kerze zu greifen und sie anzuheben - dabei handelte er sich allerdings einen schmerzhaften Tritt gegen den Arm ein, der von Glücklos eigentlich jener Lichtquelle gegolten hatte.
Schnell rollte sich der Wächter ab und kam auf die Füße.
Die Zeit schnellte zurück wie ein Gummiband.
Braggasch, halb auf den Knien, starrte auf Elfriede Schleunig. Rotschrift und Eduard lagen auf dem Boden und atmeten schwer. Glücklos glotze den Zwerg an. Ein kleines, irres Lächeln schlich sich langsam aber sicher auf seine Züge.
Bis Frau Schleunig schnaufend den angehaltenen Atem entweichen lies.
Langsam, und in kompletter Ungläubigkeit, das Lächeln noch immer auf dem Gesicht eingefroren, drehte sich Glücklos zu ihr um. Dann sah er auf seine Armbrust.
Elfriede Schleunig lebte noch.
Der Bolzen hatte sich nicht bewegt.
Das seitlich aus der Waffe ragende, winzige Projektil hatte den Auslösemechanismus getroffen und außer Kraft gesetzt.
Braggasch richtete sich langsam auf. "Im Namen der Stadtwache, sie sind... Äh..."
"Halt die Klappe!", herrschte Gerd ihn an. Er war nun offensichtlich unbewaffnet, aber auch der Zwerg hatte nichts gefährlicheres als einen Kolben aus Wachs, der brannte.
Einen Moment traktierten sich die beiden Feinde noch mit Blicken, bevor Goldwart aus dem Mundwinkel hervorstieß: "Herr Schleunig, befreie deine Frau und geh mit ihr nach oben."
Der Angesprochene nickte, wühlte sich unter dem Lehrer hervor und machte einen großen Bogen, die Axt warnend erhoben, um Glücklos.
Dieser stand nur wie versteinert da. Sein Auge zuckte. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, in ihm rief alles: Schon Wieder! Es hat nicht funktioniert! Es hat nicht funktioniert!
Schnell durchtrennte Eduart mit der Axtschneide die Fesseln seiner Frau, half ihr hoch und führte sie die Treppe hinauf.
"Äh... Du auch, Herr Lehrer."
"Nein.", sagte Ladislaus fest.
"Äh... Wie bitte?"
Anstatt zu antworten, griff Rotschrift nach der Armbrust des Wächters und erhob sich. "Du warst ein guter Lehrer, Gerd.", meinte er schließlich, vollkommen ruhig. "Was ist nur aus dir geworden?" Mit einer Kraft, die er sich selber nicht zugetraut hätte, spannte Ladislaus die Armbrust und bückte sich abermals, um einen Bolzen aufzuheben.
Glücklos und Braggasch beobachteten das Geschehen mit lähmendem Unverständnis, bis der Zwerg sich besann, und warnend rief: "Herr Rotschrift!"
"Du wärst der beste von uns geworden.", fuhr der Lehrer fort, in seiner eigenen kleinen Welt gefangen. "Aber du bist ein sehr, sehr unartiger Junge gewesen." Mit verschleiertem Blick richtete Ladislaus die Waffe gegen seinen ehemaligen Kollegen.
"Herr Rotschrift! Im Namen der... Äh... Stadtwache, lass die Armbrust sinken!"
Der Schleier löste sich, und Ladislaus sah Braggasch verwirrt an. "Wie?"
"Waffe runter! Dies ist ein... Äh... Gefangener der Wache, ihm darf kein Leid getan werden!"
Der Lehrer lies langsam die Armbrust sinken. "Ich wollte doch nur..."
"Schon gut, Herr Rotschrift, es ist alles in Ordnung... Äh..."
Ein stilles Schnauben erklang. Erst nach einer Weile erkannte Goldwart, dass das Geräusch von Glücklos kam. Er lachte.
Das Lachen brach seine Bahn, es wurde lauter und lauter, bis es schließlich in einem hohen Seufzer endete.
Braggasch und Ladislaus erschauderten. Dieses Lachen hatte nichts mehr mit einem gesunden Geist gemein.
"Ach Braggasch. Wie ich sagte, die Guten sind so verdammt berechenbar. Selbst, nachdem ich dich fast ermordet habe hältst du noch an euren lächerlichen Gesetzten fest!"
"Ich glaube, der Tod ist... Äh... Zu gut für dich. Du wirst im Gefängnis versauern. Es ist vorbei, Herr Glücklos."
"Glaubst du?", meinte Gerd, plötzlich wieder vollkommen ernst.
"Äh..."
"Was du nämlich übersiehst, Braggasch, sind zwei Dinge." Mit der einen Hand griff Glücklos, nachdem er die Armbrust hatte fallen lassen, wie ein Gewinner an die Knopfleiste seines Hemdes, die Zweite hielt er in die Höhe und zählte mit den Fingern ab. "Erstens: Du stehst noch immer in der Nähe von dem Pulver Nummer eins."
Braggasch sah entsetzt nach unten.
"Und zweitens:" Glücklos riss mit der linken Hand an seinem Hemd, wodurch die Knöpfe absprangen und ein breiter Ledergürtel sichtbar wurde, der quer über die Brust gespannt war. "Habe ich noch immer meine Wurfscheiben."
Der ehemalige Dieb und nun auch ehemalige Geiselnehmer zog blitzschnell eine der Scheiben, mit denen er es schon früher geschafft hatte, den Zwerg zu verletzen, und warf sie.
Braggasch tat erschreckt einer Schritt nach hinten, doch zu spät.
Das Wurfgeschoss hatte keines falls ihm gegolten, sondern der Kerze.
Mit einem matschigen Geräusch wurde sie geköpft.
Als der brennende Kerzenkopf, sich langsam drehend, nach unten fiel, war Glücklos bereits in einen vollen Lauf Richtung Treppe verfallen.
Ladislaus Rotschrift schlug die Arme vors Gesicht.
Braggasch Burkhardssohn Goldwart sprang.
Das Feuer erfasste den Sack mit Pulver Nr. 1.
Kapitel 5: Frieden und Freuden."Ich möchte mich
beschweren!"
Harry hob die Augen von der Zeitschrift, die er gerade gelesen hatte und sah zu Amalie Willichnicht auf. Braggasch konnte er nirgends bei ihr entdecken, das wunderte den Gnom. Zweifelnd sah er zur Uhr. Es war ganz bestimmt nicht
07:05, auch wenn der Uhrengnom sich gerade hektisch darum bemühte, die Wanduhr auf diese Zeit vorzustellen.
"Haben sie nicht gehört? Ich will mich
bescheren"
Der Oberstabsspieß verdrehte die Augen. "Ja, Frau Willichnicht, was gibt es?"
"Ich wurde im Kochen unterbrochen!"
"Aha. Wodurch?", fragte Harry genervt.
"Durch eine Explosion." Das Gesicht von Amalie blieb ausdruckslos, dem Gnom jedoch entgleisten sämtliche Gesichtszüge.
"Durch eine was?"
"Eine
Explosion."
Harry überlegte einen Moment, bevor er vorsichtig formulierte: "Und wo, Frau Willichnicht?"
"Na, nebenan, natürlich, bei den Schleunigs, was denn
sonst! Denen ist wirklich auch alles zuzutrauen! Ein großer Teil des Hauses steht in Flammen,
manches ist sogar schon zusammengestürzt."
Der Gnom öffnete den Mund. Und schloss ihn wieder. Dann öffnete er ihn wider und brüllte: "
Wall!"
Wall Halllala steckte den Kopf aus der Tür zum Aufenthaltsraum und murmelte: "Ja, Sör?"
Harry wirbelte auf den Tresen herum. "Schick sofort eine Taube zu SUSI, und wahrscheinlich auch zu RUM. Und zu FROG... Ach, auch ein SEAL oder DOG kann nicht schaden, mach schon!" Und damit sprang er von dem Wachtisch und rannte hinaus.
Herr und Frau Schleunig sahen unglücklich auf die brennenden Teile ihres Hauses.
Um sie herum hatte sich schon ein großer Kreis Schaulustige gesammelt. Manche versuchten sogar eine Eimerkette zu organisieren, um das Feuer zu löschen, andere hinderten sie dran, damit es mehr zu sehen gab. Mit anderen Worten: Es war die ganz normale Versammlung.
Bis auf einen Gnom in Uniform, der sich einen Weg durch diverse Beine bahnte.
"Sind sie... Die... Schleunigs?", fragte Harry außer Atem, als er den dichten Ring Morporkianer hinter sich gelassen hatte.
"Ja.", antwortete Eduard verdattert nach einer Sekunde.
"Ich hatte einen Wächter zu ihnen geschickt, wo ist er?"
Wortlos deutete Elfriede auf das brennende Haus.
Der Oberstabsspieß fluchte ausgiebig.
"Sir!" Durch die Menge bahnte sich ein bekanntes Gesicht. Sebulon Sohn des Samax trat auf die kleine freie Fläche vor dem brennenden Gebäude. "Was ist hier passiert? Ich war auf Streife mit... wo ist er denn? Egal. Da habe ich das Feuer gesehen."
Harry wollte schon zu einer Antwort ansetzen, wurde aber unterbrochen.
"Pulver Nummer eins, würde ich sagen." Der Zwerg, der hinter ihnen Aufgetaucht war, trug die Uniform der FROG's. Er hatte die Nase in die Luft erhoben und schnüffelte.
"Was?", brachte Sebulon heraus.
"Die Antwort auf deine Frage, was hier passiert ist.", grinste der Zwerg. "Es liegt der Geruch von Pulver Nummer eins in der Luft, deshalb tippe ich auf eine Explosion."
"Du Bist aber schnell hier, Frosch.", wunderte sich der Gnom. "Wer bist du?"
"Wo immer etwas knallt, da bin ich schnell. Außerdem machen mir die Leute netterweise Platz." Der Zwerg grinste noch breiter. "Ich bin Norti Rabenpelz, Sir."
"Ach ja, ich erinnere mich. Wie hoch stehen deiner Meinung nach die Schangsen, das zu überleben, Norti?"
"Überleben?", hauchte Sebulon.
Norti überlegte kurz, bevor er antwortete: "Nicht besonders gut, Sir, es sei denn man hätte sich in den Oberen Stockwerken aufgehalten. Oder man würde Norti heißen! Warum fragst du, Sir?"
"Einer meiner Männer ist wahrscheinlich da drin.", antwortete Harry düster.
"Was, wer?", wollte Samax Sohn wissen.
Der Gnom zögerte einen Augenblick, bevor er murmelte: "Braggasch."
"Braggasch?", wiederholte Sebulon bestürzt.
Harry nickte.
Einen kurzen Moment erstarrte der Zwerg, dann drehte er sich um und lief in das brennende Haus hinein.
"Sebulon!", schrie ihm der Oberstabsspieß hinterher, bevor er selbst losrannte.
Grauer Nebel umfing ihn.
SEI MIR GEGRÜßT.
Ohne Angst, was ihn selbst verwunderte, sah er zu der großen Gestalt hin.
"Ich habe mein Leben vor meinen Augen noch einmal ablaufen sehen.", teilte er der Gestalt mit.
JA?
"Es war grauenvoll!"
TATSÄCHLICH?
"Was habe ich nur mit meinem Leben angestellt?"
ES WAR DEINE ENTSCHEIDUNG.
"Bist du Tod?" Seine Gedanken funktionierten hier einwandfrei. Einen so klaren Kopf wie jetzt hatte er noch nie.
JA.
"Meine Schüler, wenn es Kinder waren, haben mir von dir erzählt. Sie meinten, sie könnten dich sehen."
IN DER TAT.
"Ich habe nie geglaubt, dass einen wirklich ein personifizierter Tod ins Jenseits begleitet."
ICH BEREITE NUR DEN WEG.
Tod sah sich um.
"Suchst du noch jemanden?"
Das Zögern dauerte nur eine Sekunde, dann erklang in seinem Kopf: NEIN.
"Sonst hätte ich dir helfen können. Ich habe ja jetzt Zeit."
NEIN. Der Schnitter richtete sich zu voller Größe auf. LADISLAUS ROTSCHRIFT. BIST DU BEREIT ZU STERBEN?
"Ich hätte nie gedacht, das du wirklich fragst.", antwortete der Lehrer.
Tod wedelte mit der knochigen Hand. ES IST MEHR... EINE RHETORISCHE FRAGE.
Die Sense zischte durch die Leere.
Ladislaus sah an seinem astralen Körper hinunter, der langsam verblasste. "Das habe ich mir irgendwie schmerzhafter vorge..."
Nachdem der Geist des gerade verstorbenen Mannes gegangen war, sah sich der Sensenmann noch einmal gründlich um. Hätte er eine Stirn gehabt, so hätte er sie nun gerunzelt.
Dann war er weg.
[7]"...Glücklos...", stöhnte Braggasch.
"Nein, eigentlich hast du ziemliches Glück gehabt, das zu überleben.", widersprach ihm sein Freund Sebulon.
Die Augenlider des Sohnes von Burkhard flatterten nach oben. Er lag in dem, ihm mittlerweile recht bekannten, Raum mit der harten Pritsche, der für die Schwerverletzten hergerichtet war.
"... Nein... Meine... Gerd Glücklos..."
Sebulon wandte sich an den großen, haarigen Mann neben sich. "Er hat wohl mehr abbekommen, als wir dachten."
Menélaos strich sich nachdenklich übers Kinn. "Nein, ich glaube, ich weiß, wovon er redet." Der ehemalige Konditor beugte sich zu dem aufwachenden Zwerg hinunter. "Meinst du den Dieb Gerd Glücklos? War er da? War er in dem Keller?"
Braggasch nickte schwach.
"Wir haben da niemanden gesehen, Braggasch, nur eine Leiche, die Harry rausgeschleppt hat, und dich. Aber wir hatten ja auch nicht viel Zeit und es war alles voller Rauch.", meinte Sebulon schulterzuckend.
"...Was...?"
"...Passiert ist? Also wir sind in das brennende Haus gerannt. Die Tür zum Keller stand auf, also sind wir zuerst da rein gerannt. Da war ein Loch und ne Menge Ruß in dem Keller, und an einer Wand lag, ziemlich demoliert ein Mann, der unmöglich noch leben konnte."
"...Rotschrift...", warf Goldwart ein.
"Ja, genau, einer aus den Schaulustigen hat ihn identifiziert, nachdem der Oberstabsspieß in rausgezogen hatte. Na ja, auf jeden Fall war von dir erst mal keine Spur. Im ganzen Keller lagen so seltsame Säcke mit Rüben rum, und unter einem hab ich dann nach einigem suchen ein Bein von dir entdeckt. Und du lagst unter dem Rest. Ohnmächtig. Ist ein verdammtes Wunder, das du das überlebt hast!"
Braggasch sah mühsam an sich herunter. Er konnte keine großen Verletzungen erkennen. Sebulon, der seinem Blick gefolgt war, nickte. "Ja, du hast nur ein paar Kratzer und Verbrennungen. Ich sag ja, ein verdammtes Wunder!"
"Braggasch, es tut mir so leid!", mischte sich nun Menélaos wieder ein. "Ich habe in den Archiven von DOG was über diesen Glücklos gefunden, aber ich wollte da erst noch alles fertig machen, bevor ich es dir mitteilte. Ich konnte ja nicht wissen, das es so dringend war!"
Der Zwerg winkte ab. "...Du wärst... Sowieso zu spät... Gekommen... Mené. Mach dir... Keine Gedanken."
"Harry macht sich übrigens auch Vorwürfe, dass er dich losgeschickt hat.", meinte Sebulon.
Braggasch lächelte Schwach. "Er... konnte es ja nicht... wissen."
"Ja, aber so wie er geguckt hat, als ich dich rausgezogen hatte, wird er dir länger keine Strafarbeiten mehr aufbrummen.", grinste sein Freund. "Übrigens hat er laut vor allen Bürgern gesagt, dass du dich sehr heldenhaft verhalten hast. Ich soll dir ausrichten, dass es Zeit wäre, sich mal bei einer der Abteilungen zu bewerben."
Goldwart sah den Anderen fragend an.
Der jedoch zuckte nur wieder mit den Schultern. "Ach ja, und da war einer von den FROG's, der hat uns geholfen. Norti Rabenschwanz, oder so. Von ihm soll ich dich fragen, ob du vielleicht auch mit Zweitnamen Norti heißt. Keine Ahnung was das soll."
"FROG... Sagst du?"
"Ja. War recht hilfreich. Hat die Leute zurückgehalten als wir dich rausholten und hat uns was über den Sprengstoff erklärt und so."
"Herrn und Frau Schleunig geht es übrigens gut. Sie haben gesagt, du sollst doch mal zum Essen vorbeikommen, wenn ihr Haus wieder steht.", fiel Menélaos mit ein.
Braggasch setzte sich langsam auf. "Gut... Danke, ihr beiden... Äh... Und vor allem danke dir Sebu, das du mich... rausgezogen hast..."
"Ach. Wir retten einander so oft das Leben."
In peinlicher Stille standen und saßen die drei Rekruten da.
Bis Burhards Sohn sie brach. "Ich glaube, ich werde zu Rotschrift's Beerdigung etwas sagen. Er hat sich sehr... Äh... Mutig verhalten, da unten."
Die beiden Anderen nickten.
Wieder trat Stille ein.
"Ich hoffe ich muss so etwas nie wieder durchmachen.", sagte Braggasch aus tiefstem Herzen.
An diesem Abend bemerkte Braggasch Goldwart zum ersten mal das unangenehme Jucken an Zahnfleisch und Kopfhaut.
Er war durch ein hintere Fenster unbemerkt aus dem Haus entkommen.
Sein Plan hatte nicht funktioniert.
Er hatte starke Verbrennungen an Rücken und Beinen.
Sein rechtes Auge zuckte nervös.
Er war pleite.
Sein Weg galt erst einmal aus der Stadt heraus.
Er würde seine Rache noch bekommen.
Doch das nächste Mal...
Würde er richtig große Geschütze auffahren!
[1] Eine Tätigkeit, die Braggasch nach wie vor unangenehm war. Er mochte Schrauben und Muttern - die widersprachen nicht und machten keine Probleme, außerdem stanken sie nur äußerst selten nach Blumen.
[2] Bei Menschen manchmal Erdanziehungskraft genannt.
[3] Was Braggasch natürlich nicht aussprach, war, dass er mit der
zuständigen Abteilung den Mülleimer meinte.
[4] Es ist schon höchst erstaunlich, welch ausgefallenen Geschichten sich ein verängstigtes Gehirn ausdenkt, wenn es mit einer Situation konfrontiert wird, die es sich nicht zu erklären weiß.
[5] Zum Beispiel dadurch, dass er ein jahrelang eingeübtes Kunststück am Tag der Aufführung verpatzt, den Besitzer zum Spott unter seinen Freunden macht, und
danach ankommt, und eine Streicheleinheit haben will... Aber das nur so am Rande...
[7a][6] Siehe:
Der grüne Tod von Rascaal Ohnedurst
[7] Womit keineswegs gemeint ist, dass er verschwand. Er war einfach weg. Man könnte auch sagen er war nie da gewesen. Die Sprache reicht einfach nicht aus, um es zu beschreiben...
[7a] Und: Nein. Der Erzähler ist kein Hundebesitzer.
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