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Ein Tatort - Zwei Leichen - Wen sollte es ursprünglich treffen?
Dafür vergebene Note: 12
Vorspann
Das flackernde Licht der Kerzen wurde durch die leichten Stoffbahnen, die hier und da als Sichtschutz aufgespannt hingen, nochmals gedämpft. Die kichernde Stimme einer Frau verlieh dem Ambiente eine eindeutige Note.
"Nein, nein, mein ungeduldiger Liebling. Nicht so schnell!" Ihrem keineswegs ablehnenden Gurren gesellte sich das heisere Flüstern einer männlichen Stimme hinzu.
"Dein Zögern macht es mir nur noch schwerer, Dir zu widerstehen, Schätzchen. Das weißt Du ganz genau, nicht wahr? Langsam werde ich wirklich ungehalten. Komm schon!"
Das leise Lachen näherte sich dem Vorhang und einen Moment später wurde dieser von einer atemberaubenden Schwarzhaarigen beiseite geschlagen. Sie warf dem halb entkleideten Mann auf dem Kissenberg einen neckenden Blick über ihre Schulter hinweg zu.
"Das sagst Du jedes Mal. Und dann bist Du doch erst zufrieden, wenn ich Dich noch etwas länger zappeln lasse."
Der Kunde rollte in komischer Verzweiflung mit den Augen, bevor er sich mühsam aufrappelte. Bewegung lag ihm nicht so sehr, obwohl das seinem Körper kaum anzusehen war.
"Dieses Mal meine ich es aber ernst."
Die schlanke Frau lachte auf und deutete mit eleganter Geste an, dass er ihr nicht folgen solle.
"Warte kurz! Ich habe heute etwas ganz Besonderes vorbereitet, ich möchte es nur schnell holen."
"Was ist es denn?" Der junge Mann saß nun derangiert auf den Fersen, während seine Knie in der Polsterung der Liegestatt versanken.
"Sei nicht so neugierig, Du wirst es gleich wissen."
Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich zurückfallen, womit er dem Beispiel des Vorhangs folgte. Das seidende Wispern ihrer spärlichen Kleidung verschwand in Richtung des kleinen Weinschränckchens und vor seinem inneren Auge ließ er den Schwung ihrer Hüften entstehen, den Fluss ihrer Bewegungen, das Schimmern des hüftlangen, glatten Haars. Die Leidenschaft in seinen Lenden ließ sich kaum noch zügeln. Aber nein! Kischas Überraschungen hatten ihm bisher immer das Reich der Götter auf der Scheibe bereitet. Sowohl die aufgebrachte Geduld, als auch die horrenden Summen, die er für das Vorrecht der Stunden mit ihr hinzublättern gezwungen war, hatten sich allemal ausgezahlt. Sie wusste genau, was er sich wünschte und was er brauchte. Sollte sie ihn auch heute wieder überraschen können, was ihm kaum noch möglich schien, wäre er gerne bereit, die üblichen fünfzig Prozent Aufschlag zu zahlen. Zumal es nicht mehr lange dauern konnte, bis sein neuestes geschäftliches Projekt Profit abzuwerfen beginnen würde.
Die Stoffbahn bewegte sich sacht und Kischas dunkle Augen zwinkerten ihm belustigt zu. "Ich habe mir sagen lassen, dass Du schon immer mal achatenen Seeliglurch ausprobieren wolltest?" Bei diesen Worten zog sie eine bauchige Flasche hinter ihrem Rücken hervor, in deren Innerem eine klare Flüssigkeit funkelte und ein bräunliches, geschnitztes Objekt hin und her schwapte.
"Kischa! Wie bist Du denn da herangekommen?" Er konnte es kaum fassen. Die heutige Rechnung würde sicherlich schwindelerregende Höhen erreichen, doch daran wollte er in diesem Augenblick auf keinen Fall denken.
Sie lehnte den langen Flaschenhals an ihren tiefen Ausschnitt und schlenderte näher. "Spielt das denn eine Rolle?"
Er schüttelte schnell verneinend den Kopf und leckte sich nervös über seine Lippen. Heute war eindeutig sein Glückstag.
Gefreite Mina von Nachtschatten, Verdeckte Ermittlerin, Vampirin (120)
Obergefreite Ayure Namida, Ermittlerin, Mensch (20)
Es war für die beiden R.U.M.-Wächterinnen nicht zu übersehen, dass in diesem Raum etwas geschehen war. Selbst wenn sie die Augen geschlossen hätten, wären sie aufgrund der Sinneseindrücke nicht um eine Untersuchung herum gekommen.
"Vermutlich sollten wir die Fenster wegen eventueller Spuren noch geschlossen halten, nicht wahr? Ist schon ewig her, seit ich das bei G.R.U.N.D. durch genommen habe." Die Vampirin von Nachtschatten sah ihre menschliche Kollegin stumm nicken und entschied stattdessen, einfach den Atem eine Zeit lang anzuhalten. Der säuerliche Gestank aber, den sie weiterhin wahrnahm, hatte offensichtlich schon eine psychologische Komponente entwickelt. Sie seufzte leise.
Ebenso wie Ayure Namida.
"Es ist aber auch nicht das erste Mal, dass zu viel los und S.U.S.I. unterbesetzt ist. Und es wird auch nicht das letzte Mal sein. Wir machen das schon. Und letztlich kann ja noch einer von denen später drüber sehen, der Raum muss vorerst eh' geschlossen bleiben."
Dieses Haus legte offenbar Wert auf Sauberkeit und Ordnung, was in den unterschiedlichen Näherinnen-Unterbringungen nicht unbedingt zwangsläufig der Fall war. Es gab genügend Kunden, denen ihre Umgebung gleichgültig war, solange ihre Socken nur professionell gestopft wurden. Wenn einem nicht einmal das Gesicht der Fachkraft wichtig war, warum sollten es dann der Hausflur oder der Wasserkrug sein? Auf dem ausladenden Bettgestell wirkten die zwei Leichen beinahe etwas verloren, wie sie so umeinander verrenkt lagen. Obwohl eine Hälfte des relativ großzügigen Raumes stark vom ausgebrochenen Feuer in Mitleidenschaft gezogen worden war, war die andere Seite von Bett und Raum völlig verschont geblieben. Sie hatten das Feuer im Haus augenblicklich ernst genommen und in den Griff bekommen. Ruiniert war diese Bettstatt dennoch. Schmierige Lachen von Erbrochenem stockten zwischen den aufgeworfenen Stoff-Falten. Die Gefreite wandte sich mit ihren Fragen der schweigenden Näherin an der Zimmertür zu.
"Kannst Du uns sagen, mit wem wir es hier zu tun haben, Frau Rohstein?"
Die Frau um die Vierzig nickte. "Violetta Seidenfinger, ihr richtiger Name lautete Viki Fellspanner. Violetta war unsere Näherin des Monats, beziehungsweise der letzten Monate. Klassisches Anzeichen für das fortgeschrittene Stadium. Sie hatte sich zuvor bei unserer lieben Carmen an Karrieregeilheit infiziert, was leider in den seltensten Fällen gut geht. Passiert in unserem Gewerbe recht häufig, auch wenn wir normalerweise nicht gerne darüber reden. Die Krankheit hat zwar nur, nun ja, emotionale Symptome die ausschließlich Näherinnen befallen und die meisten Kunden sind sogar von den Auswirkungen begeistert! Aber letztlich ist das Handarbeitsgewerbe nun einmal nichts für überambitionierte Einzelgänger oder extreme Spezialisten, nicht wahr? Wir sind eine Familie und zumindest die anderen müssen auch mal abschalten dürfen und wollen nicht ständig mit der Arbeit konfrontiert werden. Es gibt auch noch andere Themen und Freizeitbeschäftigungen. Entschuldigt bitte, wenn ich das so offen sage und damit Illusionen zerstöre: Aber für unsereinen ist das auch nur ein Dschob!"
Mina von Nachtschatten konnte sich zu diesem Punkt kein Urteil erlauben und Ayure Namida wollte es aus gutem Grunde nicht, weswegen sie die Aussage so im Raum stehen ließ und die Aufmerksamkeit auf den zweiten Leichnam lenkte.
"Und er hier? Gibt es zu ihm Aufzeichnungen oder erinnert sich jemand an ihn?"
Marlies Rohstein legte den Kopf leicht schräg und betrachtete den Toten, während sie sprach.
"Der Mann war ein neuer Stammkunde. Wenn ich mich richtig erinnere, hieß er Frank Handschlag. Aber ich kann gerne noch einmal im Gästebuch nachschauen, wenn Du möchtest."
"Ja, bitte!"
Die Näherin verließ die beiden Ermittlerinnen. Die Obergefreite atmete stockend aus und deutete mit einem knappen Wink über die Szenerie.
"In Anbetracht all des Erbrochenen, welches offensichtlich von beiden Verstorbenen stammt, können wir jedenfalls entweder von einer tragischen Lebensmittelvergiftung, von einer sehr ansteckenden Erkrankung oder von einem Mord ausgehen. Natürlich ist das etwas vorschnell geurteilt und keineswegs bindend. Aber es ist eine These, die uns vielleicht Hinweise geben kann zu Spuren oder Indizien. Länger als unbedingt nötig möchte ich nicht bleiben müssen."
Mina trat an das Bettende heran und ließ ihre Sinne langsam schweifen. Ayure hingegen suchte die nähere Umgebung des Bettes systematisch ab, als wenn ihre Augen einem unsichtbaren Gitterraster folgen würden.
Marlies Rohstein kam wieder zurück, blieb aber wie zuvor am Türrahmen stehen.
"Wie ich schon sagte: Der Mann ist meinen Mädchen schon mehrmals aufgefallen, schien aber in keiner Weise besonders zu sein. Er kam seit etwa acht Wochen in regelmäßigen Abständen und bevorzugte eindeutig Violettas Gesellschaft. Marie-Ann vom Zimmer nebenan weiß, dass er so etwas wie ein Kaufmann, Spekulant oder Vertreter gewesen sein muss. Auf jeden Fall hatte er mit dem Verkauf zu tun. Kam aus Ankh-Morpork, ist aber zwischenzeitlich auch außerhalb der Stadt auf Reisen gewesen. Er hat immer bar bezahlt. Von Verwandten, Feinden oder ähnlichem hat er nie etwas erzählt, jedenfalls hat Violetta nichts darüber gesagt."
Die menschliche Wächterin ließ sich nicht in ihren Beobachtungen stören, während sie einwarf: "Und wie stand es mit ihrer Kollegin hier? Hatte sie Feinde oder Neider?"
Das Zögern der Näherin entging den Frauen nicht, so dass beide Wächterinnen zugleich interessiert aufsahen.
Rohstein errötete unter ihrer kunstvoll gesteckten Frisur und runzelte die Stirn.
"Was schaut Ihr mich so an? Natürlich! Jede erfolgreiche Näherin hat auch Neiderinnen. Das ist der Lauf der Welt! Aber so weit zu gehen, jemanden umzubringen? Nein! Meine Mädchen sind allesamt Profis!"
"Wer hat denn davon geredet, dass es hier im Hause einen Mörder zu suchen gilt?" Die Frage hätte ebenso gut von Ayure stammen können, kam jedoch von der wesentlich Älteren. Als die Näherin ihre Lippen fest zusammenpresste, drehten die Wächterinnen ihr wieder die Rücken zu.
Ayure nahm mit einem winzigen Holzspatel Proben des Erbrochen und tütete diese ein.
Mina zeichnete einen Grundriss des vermeintlichen Tatortes.
"Wurde hier irgend etwas verändert seit dem Brand? Und wann wurde der Raum das letzte Mal gründlich gereinigt?"
Frau Rohstein gab sich einen Ruck.
"Nein, es ist alles noch so, wie wir es vorfanden, als wir das Feuer zu bekämpfen begannen. Außer, dass Violetta noch nicht... also als wir kamen, da hat sie noch, zumindest ein wenig gelebt, sie hat sich kaum noch bewegt aber, na ja. Vielleicht lag sie deswegen nicht ganz genau so, wie jetzt." Es war der Näherin deutlich anzusehen, dass ihr diese Umschreibungen in Anbetracht der Toten nicht leicht fielen. Sie blickte kurzerhand auf den abgenutzten Dielenboden und die Ascheflocken zu ihren Füßen. "Die Arbeitsräume werden jeden Morgen vor Dienstantritt frisch geschrubbt und gelüftet, auch die Betten werden dann neu bezogen."
Ayures Haar fiel ihr offen über die Schulter, als sie sich vorbeugte. Schnell hielt sie es mit einer Hand zusammen, um einen Kontakt mit den Flüssigkeiten auf den Laken zu vermeiden, während sie aus der vorderen Matrazenkante mit spitzer Pinzette einen Knopf zog.
"Das ist gut", murmelte sie mehr zu sich selbst. "Dann ist es ja höchst wahrscheinlich, dass dieser kleine Bursche einem der heutigen Besucher oder Hausbewohner gehört."
Zeitgleich näherte sich Mina zielstrebig einem Beistelltischchen, auf dem ein ungewöhnlich durchlöcherter Holzschuh stand.
"Na nu? Was haben wir denn hier?" Ihre Schutzhandschuhe strichen vorsichtig an den seitlich sichtbaren Fugen des Objektes entlang und schon klappte sie den oberen, stark gelochten Teil auf. Im mit Metall beschlagenen Inneren lag eine mit Rauchspuren beschmierte, stark verschnörkelte Kerze. "Ob das etwas zu bedeuten hat, Obergefreite?"
Ayure braucht noch einen Moment, um ihr Beweistütchen korrekt zu beschriften und es vorsichtig in ihrer braunen Umhängetasche zu verstauen, bevor sie fragend aufsah.
"Was denn?"
Die blasse Kollegin nahm die dickwandige Kerze vorsichtig aus dem Behältnis und zeigte sie ihr.
"Soweit ich weiß, ist dieser Behälter ein Räucherschuh. Wie der Name schon sagt, wird er in klatschianischen Regionen für Räucherwerk verwendet."
Die Näherin meldete sich zu Wort: "Es gibt viele solcher ausländischer Dekorationsobjekte in den Arbeitsräumen, das ist bei uns nicht ungewöhnlich. Umso exotischer die Umgebung, desto leichter fällt es vielen unserer Kunden, sich zu entspannen. So widersinnig das auch klingen mag. Violetta hat den Räucherschuh sehr gerne eingesetzt."
"Das macht es noch ungewöhnlicher, nicht wahr? Denn das hier ist auf gar keinen Fall Räucherwerk. Warum hat sie den Schuh nicht nur innen gereinigt, sondern ihn entgegen ihrer Gewohnheit sogar als Aufbewahrungsbox für etwas anderes missbraucht?"
Auf dem Gesicht der jüngeren Kollegin breitete sich grimmige Entschlossenheit aus.
"Gute Frage. Irgend etwas an diesem Ort stimmt überhaupt nicht. Lass uns noch gründlicher suchen, damit wir nichts übersehen! Und, Frau Rohstein? Wir brauchen eine vollständige Liste der Kunden der gesamten letzten Woche."
Gefreiter Ani Brandur, Ermittler in Ausbildung, Mensch (28)
Feldwebel Romulus von Grauhaar, Abteilungsleiter, Werwolf (26)
"Wie Du siehst, sammeln sich bei solchen Ermittlungen gleich zu Beginn schon immer eine ganze Menge Indizien an." Der Abteilungsleiter von R.U.M. ließ bei seinen Worten die Hand demonstrativ einmal über dem vollen Tisch schweben.
Sein derzeitiger Auszubildender nickte lediglich und wartete auf weitere Ausführungen.
"Die Obergefreite Namida und die Gefreite von Nachtschatten machen ihren Dschob normalerweise gründlich und zuverlässig, so dass sich aus den mitgebrachten Proben ein einigermaßen vollständiges Bild zu dem Fall konstruieren lassen sollte." Er hob die beigelegte Akte leicht an. "Der vorliegende Bericht zur Spurensicherung der beiden gibt uns schon Hinweise dazu, was ihnen selber als beachtenswert oder merkwürdig erschien. Aber Du solltest beim Lesen im Sinn behalten, dass diese Proben und Vermutungen nicht vollständig sein werden und dass auch erfahrene Kollegen sich irren können. Darum: Hinterfrage das, was Du vorfindest! Überlege, ob irgendetwas fehlt, was da sein sollte!"
Ani Brandur runzelte seine fliehende Stirn, was ihn nicht eben attraktiver machte. Glücklicherweise waren aber auch keine Frauen in der Nähe, bei denen dies ein Sinken der Zuneigung hätte bewirken können. Er wagte einen zögernden Einwurf.
"Ähm, Sör, wenn ich alles hinterfrage, dann kann ich aber doch nichts als sicher annehmen. Wie soll ich da zu einer Schlussfolgerung finden, mit der sich weiterarbeiten lässt?"
Der Feldwebel atmete tief durch. Geduld! Nicht zum ersten Mal musste er sich heute daran erinnern.
"Wenn ich sage 'Hinterfrage, was Du vorfindest!', dann meine ich nicht, dass Du sämtliche Untersuchungsergebnisse über Bord werfen sollst. Es geht eher darum, nicht zu festgefahren in den eigenen Überlegungen zu werden. Jeder kann was übersehen und kaum ein Indiz ist eindeutig. Da ist es einfach gut, das im Hinterkopf zu behalten oder Ergebnisse auch mal bewusst von einer abweichenden Fragestellung aus zu betrachten. Verstehst Du, was ich meine?"
Es war dem Gefreiten deutlich anzusehen, dass dies nicht der Fall war, selbst als er nickte. Romulus beschloss, es erst einmal dabei bewenden zu lassen.
"Nun gut. Unsere Aufgabe ist es jetzt jedenfalls, die Proben durchzugehen und dabei zu entscheiden, welche verheißungsvoll genug sind, um eine genauere Untersuchung zu rechtfertigen. Denn alle wären einfach zu viele, da würde uns das sowieso überlastete Labor einen Strich durch die Rechnung machen." Er stemmte aufmunternd die Hände in die Hüften und sah den wenige Jahre älteren Auszubildenden geradeheraus an. "Sage Du, was von all dem wir einreichen sollten und unter welcher Fragestellung!"
Der unscheinbare Mann blickte unangenehm berührt auf den Indizienhaufen. Er stocherte unschlüssig mit dem Finger zwischen den Papiertütchen, deren Beschriftungen von 'Kuchenkrümel?' bis 'getrocknetes Blumenblatt' reichten.
"Vielleicht das hier?"
"Was ist es und warum könnte es von Bedeutung sein?"
"Hmmm, ein Knopf. Vielleicht vom Mörder. Wenn man die Hose dazu finden könnte und der Knopf fehlt, dann hätte man ihn schon etwas mehr am Kragen gepackt, sozusagen."
"Das ist eine gute Überlegung. Aber denke daran, dass es auch andere Geschehnisse gegeben haben kann, die schon viel früher ihre Spuren am Tatort hinterlassen haben und dieser Knopf uns dann vielleicht noch in die Irre führt. Es steht ja zum Beispiel noch nicht einmal fest, dass es tatsächlich ein Mord gewesen ist! Was noch?"
"Diese Haarproben. Das sind alles verschiedene Sorten und die könnten uns genauer verraten, wer noch alles in dem Raum war. Und ob wir alle infrage kommenden Personen gefunden haben oder ob noch jemand fehlt."
Der Feldwebel lächelte aufrichtig erfreut. Vielleicht gab es bei diesem Abteilungsneuling ja doch so etwas wie tief verschüttetes Talent zu finden?
"Ausgezeichnet! Das wäre dann eher als Bestandsaufnahme für uns Ermittler geeignet, um darauf aufzubauen."
Ani Brandur schien durch diese Bestätigung seines hochrangigen Vorgesetzten Mut zu fassen. Er zeigte auf die beinahe geleerte Glasflasche in der Mitte der Sammlung.
"Und das dort auf jeden Fall. Immerhin gab es überall Erbrochenes und das deutet darauf hin, dass beide Toten etwas nicht vertragen haben. Zusammen mit den Proben davon", er blickte bedeutungsvoll auf die säuerlich stinkenden kleineren Tüten, "könnten wir vergleichen, ob der Auslöser des Problems darin liegt. Dann wüssten wir wenigstens, ob sie vor ihrem Tod gemeinsam getrunken haben." Der Gefreite wagte nun seinerseits ein scheues Lächeln. "Und natürlich müssen die Leichen selber untersucht werden. Damit die eigentliche Todesursache festgestellt werden kann." Er erinnerte sich offenbar an des Feldwebels Hinweis auf das Hinterfragen von Annahmen und ergänzte sich selber. "Oder sogar die Todesursachen, falls es nicht bei beiden die gleiche war."
Von Grauhaar strich sich zufrieden über den Stoppelbart. Vielleicht würde der Auszubildende doch kein so schwerer Fall werden, wie er erst befürchtet hatte?
Gefreite Mimosa, Verdeckte Ermittlerin, Mensch (20)
Obergefreiter Septimus Ebel, Verdeckter Ermittler, Gnom (30)
Hauptgefreite Lilli Baum, Verdeckte Ermittlerin, Mensch (22)
"Ich halte trotzdem nichts davon, Pflanzen derart zu quälen! Das ist überflüssiges Morden dieser wertvollen Lebewesen!" Der Gnom stemmte seine Fäuste in die Seiten und reckte ihnen trotzig das Kinn entgegen.
Die drei Verdeckten Ermittler saßen um, beziehungsweise standen auf, in Septimus Ebels Fall, dem Tisch der Kantine. Zwischen ihnen dampften die obligatorischen Kaffeetassen. Wobei Mimosa so nett gewesen war, dem kleinen Obergefreiten einen Fingerhut voll von ihrem eigenen abzuschöpfen.
Lilli Baum runzelte die Stirn und schien seinen Standpunkt nicht nachvollziehen zu können. Allerdings tat sie sich auch etwas schwer damit, ihre eigene Meinung zu formulieren und beschränkte sich bei der Schnelligkeit des Schlagabtauschs zwischen den Kollegen momentan darauf, ihnen zuzuhören.
Mimosa schnaufte abfällig, was sich glücklicherweise nicht auf den kleinen Vorgesetzten bezog, sondern auf dessen absurde Argumentation.
"Und was, wenn der Alkohol aus medizinischen Gründen benötigt wird?"
Septimus stampfte mit dem Fuß auf, dass sein Fingerhut einen winzigen Hopser tat.
"Was für eine Ausrede! Das ist immer das erste, was einfällt, stimmt's? Aber wenn man jemanden auf frischer Tat ertappt, wie er den ausgeschöpften und fürchterlich zugerichteten Lebenssaft genüsslich in sich hineinschlürft, dann sind das komischerweise nie Verletzte!"
Mimosa schob ihrer Ratte unauffällig einen Keks in die Kapuze, damit diese beschäftigt und zufrieden wäre und sich in der Gegenwart des Gnoms nicht blicken ließe. Die wenigen Situationen, bei denen ihr kleiner Helfer und der ebenso große Vorgesetzte aufeinander getroffen waren, hatten stets einen angespannten Beigeschmack gehabt, den sie möglichst vermeiden wollte. Schleicher hatte zwar seinen eigenen Kopf aber heute schien er gnädig gestimmt. Sie ließ den Kaffee im Becher kreisen und beschloss schnell, dabei doch nicht zu genau in die dünne Plärre zu gucken.
"Die Igorina, Feinstich, die benutzt sehr wohl Alkohol zum Reinigen von Wunden. Und ich glaube zur Betäubung auch manchmal."
Lillis Blick wanderte, wie bei diesem in Ankh-Morpork unüblichen Rasenspiel, hin und her zwischen den Kontrahenten und landete wieder bei dem Umweltaktivisten. Langsam dämmerte ihr, dass das Thema für ihn eine tiefere Bedeutung zu haben schien.
Er schüttelte vehement seinen Schopf, so dass die kurzen Haare flogen.
"Das ist eine Ausnahme. Und Du willst nur davon ablenken, dass der Fall, von dem wir sprachen, wieder die Regel bestätigt. Mich würde es jedenfalls gar nicht wundern, wenn sich bei einem Tatort, bei dem auch bevorrateter Alkohol gefunden wurde, ein Zusammenhang zum Mord herausstellen würde." Er kreuzte die Arme vor den Körper und funkelte wild mit den Augen. "Du brauchst nur mal darauf zu achten, wie oft irgendwo an einem Tatort destilliertes Blut einer armen ermordeten Pflanze gefunden wird. Mörder haben da eine verhängnisvolle Verbindung zu, ständig bestätigt sich das. Wirklich! Ich habe mal gezählt und es stimmt fast immer. Das sagt einem doch alles!"
Lillis Gedanken liefen in etwas abweichenden Bahnen ab, als bei den Personen in ihrer nächsten Umgebung, so dass auch Mimosa und Septimus einen Moment brauchten, um zu begreifen, dass es bei ihrem hochgehaltenen Kommentar, den sie auf die kleine Karte geschrieben hatte, nicht unbedingt einen direkten Zusammenhang zum besprochenen Thema gab.
"Ich habe gehört, dass in der Flasche ein Knochensplitter schwimmt."
Mimosa brauchte etwas länger, um das Geschriebene zu entziffern. Glücklicherweise hatte sie inzwischen bemerkt, dass die Wenigsten misstrauisch wurden, wenn sie seufzend auf die Unleserlichkeit einer Handschrift hinwies. Sie schien nicht die Einzige zu sein, die damit ihre Probleme hatte.
Der Gnom war schneller.
"Na und?" Das Vorhandensein eines menschlichen oder tierischen 'Leichenteils' im heiß diskutierten Objekt schien ihn weniger zu beeindrucken, als die Pflanzen verachtende Gewinnung des Rohstoffes.
Lilli zuckte mit den Schultern, um damit ein "nur so, ist mir grad eingefallen" anzudeuten.
Mimosa nutzte die Gunst des Augenblicks, um von dem strittigen Punkt abzulenken.
"Ich habe schon mal von so etwas gehört. Ich möchte nicht wissen, von wem der Knochen war. Aber eins steht fest: So etwas gilt als besonders kostbare Rarität und da ist es gar nicht so leicht ranzukommen. Es sei denn man hat Gold. Oder achatene Beziehungen."
Lilli setzte vorsichtig mit ihrem Stift auf einer neuen Karte an, wobei Mimosa schon den sorgfältigen Malprozess unauffällig zu beobachten und die einzelnen Zeichen zu entziffern begann, um dieses Mal schneller reagieren zu können.
"Wer Gold hat, hat beides, auch Einfluss."
Die Rothaarige krümelte den nächsten Keks in ihr Kapuze und stimmte ihrer Kollegin nachdenklich zu.
"Falls da mehr dahinter steckt und diese Flasche etwas damit zu tun hat, dann suchen wir demnach vermutlich nach Jemandem mit Gold."
Septimus schien sein leidenschaftliches Auftreten schon vergessen zu haben und nippte an dem Metallbehälter zwischen seinen Händen.
"Nicht so voreilig! Lasst mal erst mal die Leichenschnippler ran und dann sehen wir weiter. Vielleicht machen wir uns alle ganz unnötig einen Kopf deswegen?"
Auf Mimosas Gesicht stahl sich ein spöttisches Grinsen.
Ebel bemerkte es.
"Was?"
Sie grinste noch stärker.
"Ach, nichts. Ich dachte nur gerade, dass ich ganz froh bin, dass wir in diesem Fall garantiert nicht in unserer Spezialisierung zum Einsatz kommen werden."
Jetzt begann auch Lilli zu grinsen.
Und mit einiger Verspätung wurde dem Gnom bewusst, in welchem Milieu ansonsten der wahrscheinlichste Einsatzbereich gewesen wäre. Er wurde knallrot im Gesicht und verschluckte sich hustend.
Lance-Korporal Jack Narrator, Püschologe in Ausbildung, Mensch (25)
Gefreiter Thask Verschoor, Kontakter, Zombie (73)
Jack Narrator war neuerdings Püschologe in Ausbildung bei der Abteilung R.U.M.
Eigentlich. Aber zuvorderst war er ein Wächter, der sehr von sich selbst überzeugt war. Selbstverständlich zu Recht. Immerhin konnte er schon einige Jährchen Erfahrung im Dienst sein Eigen nennen und hatte sich als Gerichtsmediziner bei S.U.S.I. einen gewissen Ruf erworben. Das konnte halt nicht jeder von sich behaupten. Dementsprechend durfte er seinen Rat anbieten und die Kollegen auf Wichtiges hinweisen. Sein neuestes Opfer hielt erstaunlich still, eine angenehme Abwechslung, wie der Lance-Korporal sich eingestehen musste, auch wenn der penetrante Gestank nicht ohne war.
"Man wird ja wohl noch nach den eigenen Leichen schauen dürfen, meinte ich dann zu ihr. Der Fall wird von meiner Abteilung bearbeitet, also sind das meine Leichen. Und es kann nicht schaden nachzuschauen, ob auch alles seine Richtigkeit hat. Zur Not hätte ich sogar aushelfen können! Aber nein, die Dame wollte keine Hilfe. Selber Schuld, sag' ich da nur. Selber Schuld!"
Der Kontakter sah ihn mit leblosem Blick an, was bei einem Zombie allerdings nicht verwundern sollte. Trotzdem! Jack war beinahe so weit, dass er sich einen Einwurf oder eine Frage gewünscht hätte, einfach einen lebhafteren Zuhörer. Aber eben nur beinahe. So ein ungestörter Monolog war selten möglich und musste daher ausgekostet werden. Der Gefreite konnte zudem durchaus noch von ihm lernen.
"Offiziell bekommen wir die Ergebnisse ja erst heute Abend aber ich werde sobald möglich zu Romulus gehen und ihm meine Erkenntnisse mitteilen."
Irgendetwas schien in Thask vorzugehen, denn ein Gedanke war fast greifbar hinter den trüben Pupillen vorbeigezogen. Bevor er sich jedoch äußern konnte, sprach der resolute Kollege lieber hastig weiter.
"Meiner Meinung nach besteht jedenfalls kein Zweifel daran, dass es zweifacher Mord war. Es gibt ja schon reichlich Idioten und es soll sogar so ein dämliches Selbstmörderpaar gegeben haben aber ich kann mir wahrhaftig angenehmere Methoden dazu vorstellen, als sich mit einem der schmerzhaftesten Gifte umzubringen, die derzeit auf dem Markt erhältlich sind. Da hätte es garantiert bessere Mittelchen gegeben, als das Sekret der achatenen Unterwasserkobra. Übrigens faszinierendes Tierchen. Zu lang für eines dieser Wasserviecher, zu kurz für die ländliche Verwandtschaft. Man ist sich noch nicht sicher, ob es vielleicht sogar eine ganz eigene Art ist."
Jack interpretierte die weit geöffneten Augen seines schweigenden Gegenübers als staunende Bewunderung ob solch fundierten Fachwissens. Er warf sich mächtig in die Brust und prahlte stolz mit Details, wobei er unerwähnt ließ, die meisten der Informationen in Lady Rattenkleins herumliegendem Bericht gelesen zu haben.
"Das Zeug ist im Grunde wirklich nur in Alkohol genießbar, mal abgesehen davon, dass es sich an der Luft schnell verflüchtigen würde. Soll ziemlich bitter schmecken. Achatener Glückslurch war deswegen natürlich hervorragend für diesen perfiden Plan geeignet, wer auch immer dahinter steckt. Einfach das übliche Knochenstück in dem Gift einlegen und das heimtückische Präparat sofort darauf in den Alkohol schmeißen. Schon war das Gift sicher vor Verflüchtigung und der Alkohol hochgiftig. Die Ärmsten müssen sich vor Schmerzen gewunden haben wie die Regenwürmer!"
Der stämmige Mann mit dem kurzen dunkelblonden Haar hielt sich plötzlich das Kinn und starrte einen undefinierbaren Punkt an der Decke an.
"Ich frage mich nur, wem von beiden der Anschlag in Wirklichkeit gegolten haben mag. Der erfolgreichen Näherin oder diesem Händler? Bei ihr wäre es ja nur zu leicht, ein Motiv unter den Kolleginnen zu finden. Aber der Stoff ist normalerweise viel zu teuer für eine von denen. Und bei ihm? Wie soll man an Informationen zu so einem fast schon anonymen Kerl herankommen, bei dem nicht einmal ein Wohnsitz bekannt ist?"
Narrator zuckte erschrocken zusammen, als der Zombie ihm seine Frage unerwartet in gedehntem Tonfall beantwortete.
"Ich habe schooon eine Aktennotiz eingereicht. Mein Kontakt in der Händlergilde hat sich an Frank Handschlag erinnert und war sofort ziemlich reeedseelig. Der Händler war Giiildenmitglied und dafür bekannt, ausgefallene Projekte zu plaaanen. Vor etwa drei Wochen wurde er ausgeschlossen aus der Gildeee, auch wenn niemand verraten will, wiesooo. Mein Kontakt ist der Meinung, das es irgendwas mit Handschlags letzten hochtrabenden Plänen zu tun gehabt haben muss. Was genau wusste eeer aber auch nicht."
Korporal Kolumbini, Ermittler, Mensch (31)
Endlich mal wieder ein Auftrag, bei dem er allein ermitteln durfte! Er hatte Verständnis für die Bemühungen seines gut meinenden Freundes, die Abteilung anhand der zugewiesenen Gruppen zu einem besonders schlagkräftigen Thiem zu formen. Aber langsam ging es ihm ziemlich auf den Senkel, für jedes quer sitzende Lüftchen in Begleitung eines Kollegen in den Einsatz geschickt zu werden. Erst recht, wo die ganze Abteilung R.U.M. heutzutage aus Frauen zu bestehen schien! Er war kein Kindermädchen! Gut, er gab ja zu, dass einige von denen ihre Arbeit ganz ordentlich hinbekamen. Die Kommunikation war aber immer ein Gräuel. Entweder sie waren geschwätzige Plappermäuler oder stumm wie ein Fisch und kritzelten zur Verständigung auf Papier. Die eine bekam alle Nase lang hysterische Anfälle, um Emotionen zu simulieren und betrachtete ihn, wie es schien, als Studienobjekt. Wieder eine andere schaute mit ihren großen Kulleraugen erstaunte Löcher in die Luft, sobald es um etwas anderes ging, als um ihre geliebten Bücher. Das war doch alles nicht normal! Wie sollte man sich da bitte auf einen vorliegenden Fall konzentrieren, wenn ständig die Gefahr bestand, dass vielleicht sogar so ein Rattenviech aus dem ausgeleierten Ärmel der mitgeschickten Kollegin sprang und in verheerender Weise über einen frischen Tatort raste? Nein, dann lieber alleine ermitteln! Was waren das noch für Zeiten gewesen, in denen Romulus und Bregs echte Einzelkämpferqualitäten zu würdigen wussten und sie drei sich darin einig waren, dass es Dinge gab, die ein Mann alleine machen musste. Er mochte es, mit seinen Gedanken Zwiesprache zu halten, ohne dass ihm jemand mit nebensächlichen Überlegungen dazwischen funkte.
"Vielleicht ein Stück Käsekuchen? Wir haben derzeit besonders viel davon auf Vorrat."
Die hübsche Blondine beugte sich etwas näher, was ihm ungehinderten Einblick verschaffte. Noch so eine Frau.
Inspäctor kniff missmutig die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.
"Nein, danke. Ich bin im Dienst."
Die Näherin lächelte verführerisch.
"Ich auch. Macht das was, Herr?"
Er zückte demonstrativ seinen Notizblock und konterte ungerührt den umwölkten Schlafzimmerblick.
"Ja, können wir nun vielleicht zum eigentlichen Thema kommen? Ich nehme doch an, dass auch Dir etwas daran liegt, den Mörder nicht ungestraft davon kommen zu lassen."
Sie zog einen Schmollmund.
Der Ermittler dachte kurz darüber nach, wie er seine Frage am besten formulieren könnte. Dabei begann er ganz in Gedanken, mit dem Stift gegen sein Glasauge zu klopfen, etwas, bei dem unbedarfte Beobachter erst einmal zusammenzuckten. So auch Marie-Ann.
"Du sagst also, dass Violetta zwar ziemlich ausgebucht war, dabei aber vor allem eine Stammkundschaft bediente?"
Das Mädchen klimperte ihn frech mit den langen Wimpern an und hauchte ihre Zustimmung. Der Korporal sah darüber hinweg und setzte seine Befragung fort.
"Die ausgehändigte Liste von lediglich einem Kunden kann nicht vollständig sein. Ich benötige unbedingt auch die Namen der übrigen Stammkunden."
Marie-Ann blickte ihn zum ersten Mal offen und spöttisch an, was sie sofort mehrere Jahre älter wirken ließ.
"Wenn Frau Rohstein Dir diese Liste so gegeben hat, dann wird das schon seine Richtigkeit haben, Herr. Was soll ich mich da einmischen? Immerhin erwarten unsere Kunden mindestens eine ebenso große Diskretion wie die Euren."
Kolumbini starrte sie unverhohlen an. "Stört Dich der Gedanke denn nicht, dass vielleicht einer der Kunden deine Kollegin umgebracht haben könnte?"
Ein verhärmter Zug legte sich um ihren Mund und auch die letzte Spur von Süße schwand aus der nun geschäftsmäßig und kalt klingenden Stimme. "Wir waren nicht die besten Freundinnen, wenn Du das meinst, Herr. Ich lasse mir eine Menge gefallen, zumal wenn es ums Geschäft geht. Aber diese Schlampe hat mir meinen Hauptkunden geklaut!" Sie schien seine Gedanken lesen zu können, als sie anfügte: "Und ich bin keine Mörderin. Das liegt schon wieder Monate zurück. Wenn ich nicht professionell genug gewesen wäre, hätte ich mich schon vor langem dafür rächen müssen. Und zwar viel effektiver, als durch einen Mord. Und denkst Du wirklich, dass ich so dämlich gewesen wäre, auch noch zeitgleich einen Kunden dabei draufgehen zu lassen?" Sie schien einen Moment mit ihren Gefühlen zu ringen. Dann ließ sie sich an die Sitzlehne zurücksinken, als wenn sie eine Schlacht geschlagen hätte. Ihre Stimme klang traurig, als sie leise erklärte: "Ich mochte ihn wirklich gerne."
Kolumbini hakte sofort nach. "Wen?"
Die Näherin lächelte schräg. "Wen wohl? Frank. Frank Handschlag, den toten Kunden bei Violettas Leiche."
Der Ermittler fühlte sich in seinem Element. "Kanntest Du ihn sehr gut?"
Marie-Ann schüttelte den Kopf. "Nein, das war aber auch nicht nötig. Wir verstanden uns einfach so, ohne Worte. Wozu gibt es schließlich die Körpersprache?" Ihr spöttischer Blick streifte ihn nur kurz, bevor sie sich beim Reden auf ihre ineinandergefalteten Hände konzentrierte. "Er war mir sehr ähnlich, weißt Du, Herr? Wir haben uns beide mehr vom Leben erhofft. Wir haben Dinge ausprobiert, auch wenn andere uns davon abgeraten haben. Nur wer wagt, der kann auch gewinnen. Und gerade das von oben her Verbotene ist oft das, was die Einflussreicheren bloß für sich selber sichern möchten. Von alleine wird niemand teilen. Man muss um den Erfolg kämpfen und Risiken eingehen. Ich habe die Kraft dazu inzwischen verloren. Aber er..." Sie sah ihn sehnsüchtig an, unvergossene Tränen im Blick.
Sollte er etwas erwidern oder war jetzt genau der Moment, in dem es klüger wäre, zu schweigen? Er versuchte bewusst, so etwas wie Milde und Verständnis in seinen Blick zu projizieren, was mit einem Glasauge nicht leicht fiel. Aber er wusste, wenn er wollte, dann konnte er das durchaus.
Marie-Ann holte zittrig Luft, behielt den Blickkontakt jedoch aufrecht.
"Vielleicht sollte ich das jetzt nicht tun aber... Ich schulde ihm etwas. Dafür, dass er mich verstanden hat. Auch wenn Violetta ihn später zu sich gelockt hat. Davor hat er meinen Traum mit mir geteilt. Wir waren seelenverwandt. Und es ist meine Schuld, dass sie ihm so etwas Furchtbares angetan haben."
Es drängt Kolumbini dazwischen zu fragen, wen sie mit dem 'sie' gemeint habe, doch er riss sich zusammen.
Sie stand auf und ging einige Male unschlüssig auf und ab, dann straffte sie die Schultern und wandte sich ihm wieder zu. Ihr Entschluss war gefallen.
"Bitte behalte es, wenn irgend möglich, für Dich, Wächter. Frau Rohstein würde mich, wenn sie davon wüsste, dass ich Dir mehr sage, als ihr recht ist, auf die Straße setzen."
Kolumbini nickte bedächtig. "Wenn irgend möglich werde ich das. Bitte sprich weiter!"
Sie eilte wieder an seine Seite und setzte sich dicht neben ihn auf das Sofa, während sie verschwörerisch zu flüstern begann.
"Ich habe keine Beweise, lediglich Vermutungen. Und deswegen ist es im Grunde sträflicher Leichtsinn, es Dir gegenüber überhaupt zu äußern. Dennoch! Violetta hat sich ihre Kunden gezielt zusammengesucht. Nur wer Gold oder Einfluss hatte kam überhaupt für sie in Frage. Einer ihrer Hauptkunden, nun ja, es sei zumindest so viel gesagt, dass er über beides verfügt. Er bringt unserem Haus großen Profit, will aber unerkannt bleiben. Eine Vereinbarung, der alle hier arbeitenden Näherinnen, die ihn je zu Gesicht bekommen könnten, zustimmen mussten. Auch ich. Vor einigen Wochen machte ich einen dummen Fehler. Frank hatte mir begeistert davon erzählt, dass er endlich die Windmühle vor der Stadt kaufen konnte und dadurch bald schon sein Projekt starten würde. Er hat mir nie Genaueres dazu erzählt, nur dass er damit Unsummen verdienen und sehr schnell sehr reich werden würde. Und dass er den..." Sie stockte und sah sich beinahe ängstlich um.
Kolumbini nickte ihr aufmunternd zu, sie solle doch fortfahren.
Sie schluckte schwer und beugte sich noch näher, dieses Mal ohne irgendwelche beruflich bedingten Hintergedanken, sondern einzig dazu, ihm die nächsten Worte ins Ohr zu flüstern.
"Er sagte, dass er mit seinem neuen Geschäft den Zauberern ein Schnippchen schlagen würde!"
Sie setzte sich wieder aufrecht.
Kolumbini kniff die Augen leicht zusammen. "Mehr hat er dazu nicht gesagt?"
Sie verneinte und Kolumbini dachte kurz nach. "Wo kommt dann dein 'Fehler' ins Spiel?"
Marie-Ann sah ganz elendig aus, Kummerfalten traten um die Mundwinkel zu Tage und sie wurde blass. "Ich habe vor Violetta damit geprahlt, dass ich ebenfalls bald solch einen spendablen Gönner wie sie haben würde, der sich nicht hinter ihrem Hauptkunden zu verstecken bräuchte. Im Gegensatz! Dass der meine viel jünger und mutig genug obendrein wäre, um es mit ihrem allemal aufzunehmen."
Der Wächter verstand. "Violettas Hauptkunde... war ein Zauberer?"
Die Näherin schlug sich die Hände vor den bebenden Mund, nickte heftig und brach endlich in Tränen aus.
Obergefreiter Amok Laufen, Anwerber, Mensch (23)
Der dunkelhaarige junge Mann kam sich unwohl vor in seiner Verkleidung. Er war Anwerber, kein Verdeckter Ermittler! Solch einen Aufwand betrieb er höchst selten. Normalerweise genügten schäbige Lumpen für seine Besuche in irgendwelchen Spelunken oder zumindest die saubere, schlichte Kleidung, wie sie für Sekretäre oder Anwälte üblich war.
Er zupfte an seiner ungewohnt weiten Kleidung. Alle mussten ihn anstarren, gewiss!
Resignierend rückte er den steifen Hut zurecht und verschmolz mit der Masse der UU-Studenten, die über den hinteren Campusbereich ein und aus gingen.
Dieses Brillengestell war gar nicht mal so schlecht. Vielleicht sollte er öfter darauf zurückgreifen? Andererseits wunderte er sich schon etwas über diesen ganzen Einsatz. Wozu hatten sie schließlich einen Zauberer in ihren Reihen? Warum hatten von Grauhaar und Ziegenberger nicht diesen darum gebeten, unauffällig zu recherchieren? Es stimmte natürlich, dass Pyronekdan in letzter Zeit oft darum hatte gebeten werden müssen, seine Standeskollegen zugunsten der Wache auszuspionieren. Und es mochte wirklich so sein, dass seine geheime Identität als Wächter auf dem Spiel stand, wenn sie zu sorglos würden. Von daher war sein Einsatz logisch. Ein oder sogar zwei neue Kontakte in der selbständigen Welt der Unsichtbaren Universität mochten sich irgendwann als unverzichtbar erweisen. Aber warum gerade jetzt, mitten in einer Ermittlung?
Er schalt sich selbst einen misstrauischen Kerl. Was sollte schon großartig dahinter stecken? Vermutlich plante die Abteilungsleitung einfach nur weiter voraus, als sie alle es vermutet hätten, und sein derzeitiger Einsatz überschnitt sich nur zufällig mit den aktuellen Ereignissen. Wenn dabei relevante Informationen heraus kämen, umso besser.
Er setzte sich auf den sonnigen Innenhof und blickte sich unauffällig nach Einzelgängern um, die einer Plauderei vielleicht nicht gänzlich abgeneigt gegenüberstanden.
Gefreite Frän Fromm, Püschologin, Vampir (120)
Korporal Ophelia Ziegenberger, Verdeckte Ermittlerin, Mensch (24)
Die Püschologin blickte unbewegt zur Vorgesetzten.
"Es tut mir leid, dass ich nicht mehr ausrichten kann."
Ophelia lächelte freundlich und nippte an dem zarten Porzellantässchen.
"Nein, Frän, Du brauchst dich wirklich nicht dafür entschuldigen. Es ist halt nicht immer einfach, an einen Verdächtigen heranzukommen. Damit müssen wir... umgehen können." Sie nickte in Richtung der säuberlich gestapelten Unterlagen vor der R.U.M.-Kollegin. "Lass es uns bitte einfach noch einmal durchgehen, ja? Vielleicht haben wir etwas übersehen oder es fällt uns doch noch etwas ein?"
Die Vampirin sprach emotionslos, ohne das von ihr erstellte Profil zur Hand nehmen zu müssen.
"Wir gehen von einem Verdächtigen aus, bei dem es sich um einen etwa siebzigjährigen Zauberer handelt. Sein Aussehen entspricht sämtlichen gängigen Klischees und ist somit beinahe austauschbar in der Masse der magischen Professoren und Dozenten: etwa 1,80 m groß, von etwas fülligerer Statue, ein grauer Bart, der ihm über die Brust reicht, buschige Augenbrauen und knochige, fleckige Hände. Er tauchte in der Näherei stets in schlichter Kleidung in dunklen Tönen auf, zu der auch ein weiter Umhang und eine tief ins Gesicht gezogene Kopfbedeckung gehörten. Sein Name ist unbekannt und seit den Ereignissen um die ermordete Näherin wurde er nicht mehr gesehen. Sein Lieblingsnahrungsmittel ist angeblich Käsekuchen, was uns allerdings in Anbetracht der Essleidenschaft so ziemlich jeden Zauberers in der Suche nach ihm nicht weiterbringt. Es schafft aber vielleicht einen direkten Zusammenhang zwischen dem vermutlichen Täter und den unter anderem am Tatort etwas abseits gefundenen Kuchenkrümeln. Das wiederum könnte bedeuten, dass er sich vor, während oder sogar nach der Tat vor Ort aufhielt und selbst im Bewusstsein dessen, was bevorstand, gegessen haben könnte. Eine regelrecht kaltblütige Handlung. Oder aber die Krümel stammten ursprünglich nicht von dort, sondern vom Büffet der UU und hafteten ihm lediglich noch an."
Ophelia machte sich schnell eine handschriftliche Notiz.
"Das sollten wir überprüfen. Ein Vergleich der Zutaten und der Mengenverhältnisse zwischen dem Kuchen der UU und dem der Näherinnen könnte als weiteres Indiz weiterbringen."
Die Püschologin fuhr fort: "Die ausgewählte Mordwaffe war bewusst präpariert und dort untergebracht worden, vermutlich sogar in Absprache mit einem der Opfer, da diese sich ansonsten wohl über das Auftauchen solch eines Wertgegenstandes gewundert hätten. Ein Zauberer mag tatsächlich über die finanziellen Mittel und/oder die Beziehungen verfügen, um diese Alkoholsorte und dieses Gift zu beschaffen. Es ist nicht klar, ob er die Zubereitung selber vornahm, er müsste dazu aber über spezielles Wissen in der Naturkunde verfügen. Zum Motiv selber konnten wir noch keine abschließende Entscheidung treffen. Die Ansprechpartner für die Mühle wussten nur zu sagen, dass Handschlag viele technische Fragen an sie hatte, in denen es um Umbauten in der Mühle ging, scheinbar in dem Bemühen die Windkraft nicht nur in mechanische Bewegung umzuwandeln, sondern sie sozusagen einzufangen und zu speichern. Zu dem Wie oder dem Warum gibt es keine Aufzeichnungen. Das Motiv muss aber für den Zauberer stark genug gewesen sein, um auf solch drastische Weise einzugreifen. Es ist davon auszugehen, dass das Pojekt direkt oder indirekt Magie betraf, denn zum Einen haben wir die Aussage der Näherin, dass Herr Handschlag den Zauberern eines auswischen wollte, zum anderen war das Inkognito des Zauberers zu keinem Zeitpunkt akut durch den Händler gefährdet. Der Täter hat im Gegenteil sogar alles auf eine Karte gesetzt, indem er den Händler ermordet und dermaßen auffällig aufgehalten hat, wodurch überhaupt erst die Wache eingeschaltet wurde. Hätten die Näherinnen nicht schon einmal so schlechte Erfahrungen mit den Ermittlungen und Ermittlungshonoraren korrupter Assassinen gemacht, wäre der Mörder sogar in den Fokus der Gilde geraten. Eine ernst zu nehmende Gefahr, die er anscheinend ebenfalls bewusst in Kauf nahm."
Korporal Ziegenberger lauschte aufmerksam den Ausführungen und versuchte, nicht zum ersten Mal, das entscheidende Detail zu finden. Sie goß ihnen beiden aus dem Silberkännchen nach. Feines Teearoma durchzog ihr gemütliches Stellvertreterbüro. Sie stützte ihr Kinn nachdenklich auf den überschlagenen Handrücken auf und lehnte sich dabei auf ihre Ellenbogen.
"Du bist also der Ansicht, dass der Mörder von Anfang an kalt berechnend nach einem von ihm entworfenen Plan vorging?"
Die Püschologin neigte andeutungsweise ihr blasses Gesicht.
"Es spricht einiges dafür."
Ophelias Blick ruhte auf den noch immer millimetergenau gestapelten Unterlagen. Sie fragte besorgt: "Zeigt das was wir über ihn in Erfahrung gebracht haben deiner Meinung nach, dass er ein Wiederholungstäter sein könnte, von dem in diesem Moment Gefahr ausgeht?"
"Diese Frage kann ich nicht mit Sicherheit beantworten."
Sie sahen einander kurz an und der Korporal fragte geradeheraus: "Irgendetwas beschäftigt Dich noch immer. Was ist es?"
Frän Fromm riss in nachgestellter Überraschung die Augen auf.
Ophelia musste trotz der ernsten Lage schmunzeln. "Beinahe, Frän. Es ist nur ein klein wenig übertrieben. Selbst ein dezentes Blinzeln wäre mir in dieser Situation nicht entgangen." Sie blinzelte ihr mit lediglich einem Auge zu.
Das Gesicht der Vampirin verzog sich kurz, als sie sich darum bemühte, in gleicher Weise zurückzublinzeln. Übergangslos saß sie wieder reglos und kühl vor der Vorgesetzten. Sie erklärte ihre Zweifel, als wenn keine Unterbrechung stattgefunden hätte.
"Es wäre meiner Meinung nach bedeutsam zu wissen, ob die Wahl des Giftes in Unkenntnis seiner genauen Wirkung erfolgte oder ob dieser Zauberer sich sehr wohl über die Konsequenzen im Klaren gewesen ist. Eine den eingeschränkten Mitteln geschuldete Wahl kann es nicht gewesen sein. Das könnte püschologisch den Unterschied zwischen einem verzweifelten und einem sadistischen Mörder bedeuten und somit den Unterschied zwischen einem nicht mehr abzuändernden Einzelfall oder einem Mörder, der nicht nur über weitreichende Möglichkeiten verfügt, sondern vielleicht auch eben erst auf den Geschmack kommt."
Korporal Pyronekdan, Kontakter, Mensch (40)
Der übergewichtige Zauberer hielt nicht viel von seiner neuen Aufgabe. Ein Zauberer als Tatverdächtiger war ja wohl undenkbar. Unfähige Hochstapler, ja, die mochten eine Gefahr darstellen und es gab genügend Beweise dafür, dass magische Gegenstände in den falschen Händen Unheil gebracht hatten. Aber warum sollte ein angeblich einflussreicher Zauberer mit Ansehen, Einfluss und reichlich finanziellen Mitteln mehr als das wollen? Das Leben auf dem Campus war so leicht, man wurde Tag und Nacht umsorgt und solange einen nicht der Ehrgeiz packte, war es sogar sicher.
Aber ihm war ja schon beim ersten Mal, als er von diesem Fall erfuhr, klar gewesen, dass seine Kollegen dieses Mal einem Hirngespinst nachjagten. Das war schon allein an der unsäglichen Unterstellung abzulesen, dass der vermutliche Täter ein Zauberer sein sollte, der Näherinnen besuchte und sich mit diesen einließ! Lächerlich! Ein Zauberer, der sich nicht von Frauen fernhielt, büßte seine magische Potenz ein. Das wusste doch jeder! Wie sollte er da gleichzeitig einflussreich sein? Die Anklage war so absurd, dass Pyronekdan allein bei dem Gedanken, einen magischen Kollegen damit zu konfrontieren, peinlich berührt war. Das würde er nicht über sich bringen. Und es war ja auch Blödsinn.
Der Korporal begehrte über das Hauptportal Einlass und betrat seit Längerem wieder einmal die beeindruckenden Hallen der Universität. Sein Blick streifte die Gemälde, die feinen Drechselarbeiten und wuchtigen Mauern, während um ihn her hektischer Lehrbetrieb herrschte. Flüchtig kam ihm der Gedanke, ob es inzwischen mehr Studenten gäbe. Dann drängte sich sein inneres Dilemma wieder in den Vordergrund.
Er konnte nicht unverrichteter Dinge zum Pseudopolisplatz zurückkehren. Zumindest einen einzigen Versuch musste er starten, um die Unsinnigkeit dieser Aktion zu beweisen. Dann konnte er reinen Gewissens sagen, dass er sich nicht imstande gesehen habe, den Täter zu finden. Genau!
Wie sollte er das am besten angehen? Nun, mehr als anhand der wenigen Indizien und Vermutungen Herumraten konnte er eh' nicht. Warum also die Ungehörigkeit nicht gleich bis zum größtmöglichen Punkt steigern und den Erzkanzler verdächtigen? Ha!
Beinahe hätte er laut aufgelacht. Die Beschreibung passte natürlich. Da sah man es mal wieder, wie unzuverlässig solche Aussagen waren. Fast jeder Dozent konnte in Frage kommen, sie alle trugen graue Bärte und aßen gerne Kuchen! Er könnte sich irgendwen herauspicken, hier und jetzt, und ihn als möglichen Täter vorführen. Zum Beispiel...
Ein weiter Ärmel mit glitzernden Stickereien in grün und gold flatterte an ihm vorüber und überrascht rief er aus.
"Professor Lorling!"
Der ältere Mann blieb überrascht stehen und blinzelte ihn unter seinen buschigen Brauen hinweg fragend an. "Kennen wir uns?"
Unwillkürlich hatten beide Zauberer ihre Daumen unter den runden Bauchansatz eingehakt und studierten einander misstrauisch. Pyronekdan hätte am liebsten laut gelacht, als ihm unwillkürlich das Täterprofil wieder präsent wurde. Professor Lorling hätte diesem ebenfalls gut entsprochen.
"Natürlich kennen wir uns. Lange nicht mehr gesehen. Ich bin derzeit öfter mal draußen. Das sollte zwar nicht nötig sein aber mein Name ist Pyronekdan. Klingelt es da wieder bei Dir?"
Der grün gewandete Professor erinnerte sich und bot erfreut die Hand.
"Menschenskinder, das ist aber wirklich lange her. Was treibst Du denn jetzt so?"
Der Wächter bedauerte einen kurzen Moment lang, nicht mehr zu der Gruppe dazu zu gehören und sich stattdessen ständig diese Geschichte von Neuem erzählen zu müssen.
"Oh, ich experimentiere mit meinen Dämonen. Ich möchte herausfinden, was für eine Maximaldistanz zur Nachrichtenübermittlung zwischen ihnen möglich ist. Und bei Dir?"
Professor Lorling strich über seinen frisch gestutzten Bart und lachte fröhlich.
"Meine alten Knochen, weißt ja, wie das in meiner Position so ist. Immer schön langsam gehen und auf Fallen achten." Der rüstige Zauberer zwinkerte schelmisch. Er schien das Treffen mit einem so netten alten Bekannten zu genießen und in Plauderstimmung zu kommen. "Ich habe mich weitergebildet und habe jetzt auch noch die Professur für Flora und Fauna der achatenen Vororte an der Küste. Spannendes Fleckchen Scheibe kann ich Dir sagen. Du solltest auch mal reisen!"
Pyronekdan musste tatsächlich lachen. Zum Glück bezog sein Gegenüber das auf seine nicht vorhandene Reisebereitschaft, während der Wächter tatsächlich dachte: "Ich sage es ja: Lächerlich! Man könnte wirklich jeden verdächtigen. Es gibt einfach zu viele Zufälle."
Er beschloss die Ermittlung abzubrechen und den AL einen guten Mann sein zu lassen.
"Mensch, Lorling. Was hältst Du davon, wenn wir uns nach so langer Zeit zum Reden in die Kantine setzen würden? Ich möchte gerne hören, was es hier Neues gibt und Reiseberichte sind auch nie zu verachten."
"Kantine? Pah, der ungenießbare Fraß taugt doch nur für die Studenten. Ich lade Dich lieber auf mein Zimmer ein und lasse uns was Richtiges hochbringen. Magst Du immer noch so gerne Kuchen? Wir haben hier inzwischen eine ganz vorzügliche Bäckerin, bei deren Käsekuchen Du sofort schwach werden wirst, ein Traum, glaub's mir!"
Das dämliche Täterprofil ließ ihn nicht in Frieden. Wie nervig! Es gab einfach zu viele merkwürdige Zufälle. Da müsste man ja ständig misstrauisch sein. Er würde sich einfach bewusst einen schönen Tag mit dem Kollegen machen und dann in der Wache später seine Meinung dazu sagen. Das musste doch auch den Kollegen klar zu machen sein, wie unmöglich es war, unter den gegebenen Umständen erfolgreich nach einer völlig durchschnittlichen Person zu suchen! Er ahnte allmählich, dass Zauberer eben doch nur von Zauberern verstanden wurden.
Nachspann - Ein halbes Jahr später
Das Archiv war dunkel und unheimlich. Die Rekrutin stand inmitten der hohen, vollgestopften Regale und fragte sich, wie sie diese dämliche Werwolf-Akte von vor drei Jahren hier bloß finden sollte. Von einem strukturierten Ablagesystem war jedenfalls nicht viel zu erkennen. Na toll! Das konnte Stunden dauern und hier war es schon nach wenigen Minuten unangenehm kühl und staubig.
Carabella Sonnenstern tastete missmutig in den Regalen zur rechten herum und hob hier und da einen Stapel Papiere an.
Pah, die eine Laterne half ihr nicht viel. Wenn sie wenigstens noch eine Kerze...
Sie blickte in einen angestaubten schmalen Karton. Vermutlich stand er deswegen ganz oben auf den Akten, weil sich ohne Deckel ließ nur schwerlich etwas Weiteres auf ihm ablegen ließ. In dem Karton lagen jede Menge beschriftete Indizientütchen, ein angekokelter Stoffschal, eine verbogene Aktenkladde und eine reich verschnörkelte, teilweise schon arg mitgenommen wirkende Kerze.
Na, wer sagte es denn!
Kurzerhand nahm sie die Kerze zur Hand, hielt deren krummen Docht an die Flamme ihrer aufgeklappten Laterne und stellte sie kurzerhand in eine ebenso alte Kaffeetasse, die irgendwer im Archiv vergessen hatte. Der fettige Staub begann knisternd zu versengen und schlieriger Dunst breitete sich stinkend im Raum aus.
Die Rekrutin fluchte herzhaft. Das war wohl doch keine so gute Idee gewesen.
Ihr war jetzt schon so übel, dass sie es nicht noch über sich gebracht hätte, zum Auspusten der Kerze tief Luft zu holen. Hustend stolperte sie zur Treppe und schlug die Archivtür hinter sich zu. Die Kerze stand mitten im Gang in einer stabilen Tasse. Da würde gewiss nichts passieren. Und ewig brennen konnte das blöde Ding auch nicht. Sie würde es einfach ausbrennen lassen und danach zu lüften versuchen. In der Zwischenzeit... ja, sie war ja offiziell mit dieser unglaublich aufwändigen Recherche betraut. Keiner würde schnell mit ihrer Rückkehr rechnen. Sie konnte also getrost in den dritten Stock und von da aus in den Innenhof schauen, welche feinen Mannen dort gerade Kampftraining haben würden. Da oben störte sie bestimmt niemand.
Die Schritt der Rekrutin verklangen oberhalb der Archivtreppe, während sich der große Raum zusehends mit einer Art milchigem Nebel füllte. Wäre ein Zauberer in der Nähe gewesen, oder auch nur ein erfahrener Okkultismusexperte der Wache, so hätte dieser vermutlich überrascht die Braue gehoben und "Oh! Eine Wunderkerze?" gesagt. So aber gab es niemanden, der die letzte Wiedergabe dieser Aufzeichnung beobachtete. Der Nebel nahm Konturen an und geisterhafte Stimmen flüsterten über die Akten.
Sie wurde in einer Vollmondnacht geboren, geschaffen aus reinstem Weiß, getaucht in die Farben der Erinnerung. Ein schöner Mann mit oktariner Aura schenkte ihr mit sanften Fingern die schnörkeligen Siegel ihrer Jungfräulichkeit, auf dass sie ihrem Schicksal dienen möge, wenn es einst soweit sein sollte. Sie ergab sich bereitwillig in die zärtliche Gefangenschaft des umschmeichelnden Papiers, welches ebenso weiß und rein war, wie ihr Inneres. Es musste so sein. Kein Wort durfte sie erreichen, kein Lichtstrahl ihre blanke Seele verunreinigen, die nur aus sich selbst heraus leuchten durfte. Ihr Sein war bestimmt, ihr Ende beschlossen. Sie erstarkte mit jedem Tag ihrer läuternden Einsamkeit. Unberührt, unbeachtet. Bis zu dem Tag, der ihr bestimmt war. Die schützende Hülle wurde ihr genommen, die Siegel von unsicherer Frauenhand gebrochen. Die Welt erwachte! Ein Farbenrausch, der sie in Entzückung erstarren ließ. So sei es denn! Die Zeit war gekommen, ihren einzigen Daseinszweck zu erfüllen! Sie würde nicht fehlen, sondern sich jedes Bild und jedes Wort merken, um es in brennender Erlösung ein letztes Mal demjenigen zu schenken, der es einfordern würde. Farben! Licht! Unzählige Nichterleuchtete ihrer Schwestern erfüllten das Gemach mit Wärme. Ein Gestell mit weichem Grund, Tücher, eine Frau,die sich mit zweifelndem Blick über sie beugte. "Nein, sie wird schon funktionieren. Warum sollte sie nicht? Die Zauberer werden mir zu Füßen liegen, wenn sie den Beweis dafür erhalten, wie ich ihre Interessen schütze. Warum nur einer, anstelle vieler?" Die Frau lächelte und bettete sie in einen schützenden Kasten, durch dessen Löcher sie weiter beobachten konnte. Ein Mann mit väterlichem Leuchten erschien. Der Mann küsste die Frau und gab ihr ein funkelndes Gefäß, in dessen Innerem schwärzeste Dunkelheit lauerte, wie ein hungriges Raubtier. "Du bist nicht nur schön, sondern auch mutig, wenn Du ihn wirklich mir zuliebe zur Rede stellst. Ich weiß das sehr zu schätzen. Und ich meinte es ernst, dass ich Dich reich belohnen werde, falls Du ihm seine Pläne auzureden vermagst. Ich kann mein Inkognito noch nicht lüften, nicht jetzt. Aber er spielt völlig unbedarft mit einer immensen Gefahr. Magisches darf nur von Magiern genutzt werden, sonst könnten viele Personen verletzt werden." Die Frau strahlte und leuchtete, als wenn auch sie sich ihrer Bestimmung nahte. "Und Du möchtest wirklich dabei sein und mich beschützen? Dann sei vorsichtig, dass Du niemanden versehentlich mit deinem Zauberstab verletzt. Hinter dem Vorhang dort ist es immerhin recht beengt. Und nicht, dass Du mittendrin vor Eifersucht hervorspringst und meinen Ruf damit gefährdest. Überlege es Dir gut vorher." "Traust Du meinen alten Knochen noch so viel Leidenschaft zu?" "So viel und mehr, mein Lieber." Sie spürte, wie ihre eigene brennende Leidenschaft eine der Verletzungen ihrer Hülle erreichte und der Nebel flackerte, ausfranste und sich erst nach einigem Zögern erneut verdichtete. Ein weiterer Mann. Die Frau hielt die glitzernde Flasche mit der lauernden Finsternis eng an ihr Herz. "Kischa! Wie bist Du denn da herangekommen?" Die Frau strahlte flammender denn je. "Spielt das denn eine Rolle?" Der Mann schüttelte schnell seinen Kopf. Die Frau setzte sich zu ihm und gab ihm zwei Gläser. Dann packte sie die Flasche fest am Korken und entriegelte das böse Verhängnis. Das tödliche Monster räkelte sich genüsslich, doch die beiden Menschen konnten es nicht sehen. "Ich mache mir solche Sorgen um Dich, mein Schatz! Wenn ich Dir etwas hiervon eingieße, musst Du mir etwas versprechen." "Was möchtest Du denn von mir? Soll es Reichtum sein? Du weißt, dass es nicht mehr lange dauern wird. Und dann... möchtest Du an meiner Seite bleiben, Kischa?" Das Leuchten der Frau flackerte, doch auch das sah der Mensch nicht. Sie lachte zutraulich. "Du bist verwegen und das gefällt mir so sehr an Dir. Nein, ich möchte Dich darum bitten, Dir das mit dem Projekt noch einmal zu überlegen." Nun erlosch das Licht des Mannes. Sie wusste, dass beiden nicht viel Zeit bleiben würde, wenn sie sich erst der Dunkelheit ausliefern würden und dass dies ihr Schicksal war. Sie wäre Andenken und Nachruf. "Nein! Das werde ich nicht." Der Mann wollte dem Bann der Schwesternschaft der Nichterleuchteten entkommen, doch die Frau hielt ihn am Arm fest. "Beruhige Dich, Frank! Lass uns diesen kostbaren Tropfen genießen. Es gibt noch so viel anderes, worüber wir uns trefflich unterhalten können." Er zögerte. Dann hoben sie ihre schwarz gefüllten Gläser und gaben sich dem Unheil anheim. Sie spürte die Finsternis durch den Raum branden, Zerstörung, unendlicher Fall, grausame Ewigkeit. Die Verdammten fielen unter den Pranken des unsichtbaren Bösen, noch ehe das Gift ihr Innerstes erfüllte. Die Körper wehrten sich gegen das Nichts, unartikulierte Schreie, Krämpfe, die Schwestern fielen und bereiteten in ihrer gedankenlosen Trauer ein Totenbett aus Licht und Wärme. Der Väterliche riss den Vorhang herunter, hinter dem er sich versteckt hatte und rannte aus dem Raum. Eine Stimme rief "Feuer!" Dann kamen viele Frauen, um die seelenlosen Schwestern totzuschlagen. Es war ein Gemetzel, bei dem sie zum bloßen Beobachten verdammt war. Es wurde trübe. Die Dunkelheit verlor sich, das Licht wurde müde. Die Menschen langsamer. Sie hatte ihr Schicksal zur ersten Hälfte erfüllt, nun musste sie sich schließen, abschotten, Kraft sammeln. Der Tag würde kommen, an dem sie Andenken sein musste. Ein kleiner Mann stupste sie mit dem Finger an, beachtete sie aber nicht weiter. Sie nahm seine Stimme schon nur noch aus weiter Ferne wahr, um weiter Kraft zu sammeln. "Vielleicht das hier?" "Was ist es und warum könnte es von Bedeutung..." Grauer Nebel und dann eine Frau, die sie vorsichtig in den Karton legte. "Es ist so ungerecht, dass wir den Fall schließen müssen, ohne ihn gelöst zu haben." Dann die heilige Gruft, das Zu-Atem-Kommen. Und nun ihre endgültige Erfüllung. Der milchige Nebel flackerte, der Docht kippte und sank in das selbst bereitete Grab aus weißem Wachs in der Tasse. Die Geisterstimmen wisperten ein letztes Mal ungehört durch das menschenleere Archiv. "...so ungerecht..."
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