DOMVS MENTE CAPTOS GIGNENS

Bisher hat keiner bewertet.

von Korporal Hatscha al Nasa (DOG)
Online seit 04. 05. 2008
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Was könnte langweiliger und gleichzeitig nervenaufreibender sein als ein Einsatz in der Bürokratengilde?

Dafür vergebene Note: 11

Die Dämmerung bricht bereits herein, als eine junge Frau hektisch die Tür zum Boucherie Rouge öffnet und in dem Gebäude verschwindet. Kurz später könnte ein potentieller, heimlicher Beobachter im Haus gegenüber sehen, wie im ersten Stock des Etablissements hinter einem Fenster eine Kerze entzündet wird, falls er gerade zwischen den Vorhängen am Fenster des richtigen Raumes hervorlugen würde. Seine Augen könnten dann verfolgen, wie das Licht scheinbar durch den Raum getragen und schließlich auf einem Schreibtisch abgestellt wird. Auch, dass die kleine Frau ihnen Mantel an einen Haken an der Wand neben der Tür hängt, sollte ihm nicht entgehen. Dann holt sie ein paar Papiere aus einer Tasche hervor, legt sie auf den Schreibtisch und setzt sich zu guter Letzt in ihren Stuhl. Sie erblickt einen Briefumschlag in ihrem Posteingang, legt ihn aber zur Seite. Der Beobachter, der den Vorgang verfolgte, würde sich wahrscheinlich denken, dass sie ihn später bearbeiten wird. Als sie kurz zum Fenster aufsieht, würde er potentielle Beobachter natürlich hinter seinem Vorhang verschwinden, um sich nicht erwischen zu lassen, aber für ihn besteht nie Gefahr, denn schon bald besinnt sie sich wieder auf ihre eigentliche Aufgabe und greift nach einem Stapel frischer Bögen Papier. Dann holt sie aus einer Schublade einen gut gespitzten Bleistift hervor und beginnt zu schreiben.
Ab hier würde sich sich der Mann von seinem Platz am Fenster zurückziehen, weil er feststellen würde, dass jetzt nichts spannendes mehr folgen wird. Vielleicht wendet er sich in seiner Neugier einem erleuchteten Raum im Erdgeschoss zu, wo die Damen sich für ihre nächtliche Näharbeit vorbereiten.


Endlich hatte sie diesen schrecklichen Fall abschließen können. Er war nicht etwa besonders grausam gewesen. Im Gegenteil. Es hatte keine Toten gegeben, nicht einmal Verletzte. Dafür hatte sie aber auf umso mehr bürokratische Einzelheiten achten müssen, dass sie mittlerweile vollkommen entnervt war. Beinahe hätte sie gestern die Angelegenheit unvollendet zu den Akten gelegt. Soll sich doch ein anderer um den Dreck kümmern. Aber das konnte sie nicht. Das war nicht ihre Art. So etwas hatte sie noch nie gemacht.
Jetzt saß die Wächterin an ihrem Schreibtisch im vollkommen chaotischen Matratzenlager und begann, ihren Abschlussbericht für den Abteilungsleiter und die Akte zu schreiben.


Ankh-Morpork, 20. Offel im Jahr der hinkenden Blindschleiche

Bericht über den Einsatz in der Gilde der Bürokraten von Korporal Hatscha al Nasa

Wie jedes Jahr kurz nach dem Schneevaterfest ist es Aufgabe der Dobermänner, den Gildenregister, die Agenda und den Fundus zu überprüfen und zu ergänzen. Diese Aktualisierung übernimmt jedes Jahr ein anderer Gildenexperte, da ja jeder doch seine eigenen Erfahrungen sammelt und so mehr Informationen zusammengetragen werden, als wenn das immer die selbe Person machen würde. Dieses Mal war ich an der Reihe und so arbeitete ich sehr gewissenhaft die total durcheinander geratenen Akten der einzelnen Gilden durch. Von alphabetischer Ordnung konnte hier keine Rede mehr sein. Ich beschloss, sobald ich diese aufwändige Arbeit erledigt hatte, würde mal wieder jemand Ordnung in den Aktenschrank bringen müssen. Ich hatte gerade eine Akte der Bürokratengilde unter U (wahrscheinlich hat sie jemand wegen ihrer Überflüssigkeit dort abgelegt) herausgezogen, als mir ein Zettel aus ihrem Inneren entgegensegelte...



Mühsam zerrte die Wächterin an der Akte, die sich im Schrank verhakt hatte. Sie stolperte beinahe einen Schritt zurück, als die Mappe schließlich nachgab und ihr Fach mit einer Staubwolke, die die Gildenexpertin mehrmals zum Niesen brachte, verließ. Nachdem sie wieder atmen konnte, ohne, dass ihr kleine Staubpartikelchen in die Nase flogen und sie kitzelten, schnäuzte sie sich endlich und öffnete wieder die vom Niesen verschlossenen Augen. "Gilde der Bürokraten" stand auf dem Umschlag, den sie in der Hand hielt. Sie wollte gerade mit den Unterlagen in ihr Büro verschwinden, als ihr ein kleiner Zettel, der auf dem Boden vor dem Schrank lag, auffiel. Sie bückte sich danach und hob ihn auf. Eben war er noch nicht da gelegen, da war sie sich ganz sicher. Er musste wohl aus dieser verstaubten Akte gefallen sein. Sie zuckte mit den Schultern und nahm ihn mit ins Matratzenlager.
Mit einem verhaltenen Klatsch landete die recht dünne Mappe über die Bürokraten auf dem Schreibtisch der Gildenexpertin. Bevor sie sich jedoch über die Aufzeichnungen beugte, verließ sie nochmal ihr noch recht neues Büro und kam wenig später mit einer Tasse Kaffee zurück. Jetzt setzte sie sich an ihren Tisch, stellte die Tasse an einer freien Stelle der Holzplatte ab und nahm den gefundenen Zettel zur Hand, um ihn endlich zu lesen und einzuordnen. Wahrscheinlich war es nur eine unwichtige Notiz eines ihrer Kollegen zur Gilde, der nicht dazu gekommen war, die Information direkt in die Akte zu übertragen. Das kam vor, wenn man in Eile war. Bei ihrer Inventur des Gildenregisters hatte sie viele solcher Zettel gefunden und eingetragen.

Formular der Klasse 17c_3 im Gildengebäude abholen. Dringend!!!

Das war alles. Sie drehte den Zettel um und durchsuchte ihn auf eine Unterschrift, aber vergeblich. Von wem stammte diese Nachricht? Sie nippte an ihrem Kaffee und überlegte. Von diesem Formular hatte sie noch nie gehört. Ob einer ihrer Dobermann-Kollegen die Notiz verloren hatte und nie das Formular gefunden hatte? Aber welcher konnte das sein? Schizzel und Cocci bestimmt nicht, die waren noch in Ausbildung. Breda war zuständig für die Assassinengilde, da gab es eigentlich auch keine besonderen Formulare, die man sich von Bürokraten besorgen müsste. Blieb noch Goldie. Die war aber schon seit längerem als Ausbilderin zu GRUND abgeordnet worden. Und die Zwergin war so gewissenhaft, dass sie einen derart wichtigen Zettel niemals verlieren würde. Konnte nur noch ein versetzter oder bereits aus dem Dienst geschiedener DOG sein. Oder einer mit anderer Spezialisierung. Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte unmöglich alle befragen, das würde Ewigkeiten dauern. Außerdem, vielleicht hatte sich die betreffende Person diese Unterlagen bereits beschaffen können und ihre Anstrengungen waren umsonst. Aber was war, wenn die Meldung aktuell war und zum Beispiel Humph das gerne bearbeitet hätte? Sie verwünschte innerlich die Person, die diesen Zettel verbrochen hatte. Die einzige Möglichkeit, die die stellvertretende Abteilungsleiterin jetzt hatte, war, zur Gilde zu gehen und das Formular zu beschaffen, in der Hoffnung, dass sein Inhalt ihr Aufschluss über denjenigen geben würde, der es brauchen könnte.
Sie seufzte und öffnete die mit Informationen über die Bürokraten gefüllte Akte, während sie ihre Tasse mit der anderen Hand an ihre Lippen setzte. Doch als ihr die ersten heißen Tropfen der schwarzen Flüssigkeit über die Zunge flossen, zogen sich ihre dunklen Augenbrauen zusammen. Bis auf eine kleine Mitgliederliste mit Leuten, die vornehmlich sechzig Jahre oder älter waren, eine kurze Aufstellung über den Gildenvorstand, eine Beschreibung des Standortes, einen grauen, hässlichen, wenig ansprechenden Flyer und eine kurze Beschreibung über die Tätigkeitsbereiche der Gilde war die Mappe schrecklich leer. Die Bürokraten schienen den Fängen Wache auf sensationell geschickte Weise bisher entgangen zu sein. Oder es wollte einfach kein armes DOG-Mitglied sich mit diesen Paragraphenreitern herumschlagen müssen. Sie als Dobermann konnte das gut verstehen. Sie hatte auch keine große Lust dazu. Aber dieser Zettel ließ ihr keine Ruhe. Vielleicht war er ja doch noch aktuell.



Sie setzte den Stift ab, da er stumpf geworden war. Genervt suchte sie von einem Niesen begleitet in ihrer Schreibtischschublade nach ihrem Spitzer, bis sie ihn endlich in der Hand hielt. Sie steckte das eine Ende ihres Bleistifts hinein und drehte ihn geübt an den scharfen Messern des kleinen Apparates entlang. Dann fegte sie den entstandenen Dreck in ihren Papierkorb.
Bevor sie ihren Bericht fortsetzte, richtete sie sich noch einmal auf und streckte ihren Rücken durch. Schließlich erhob sie sich und ging zu ihrem Fenster, um die im Vergleich zu tagsüber frische Nachtluft in ihr Büro strömen zu lassen. Die muffigen Matratzen in der Ecke machten das Atmen in dem Raum immer zu einer Folter für die Geruchsnerven.

Also notierte ich mir die Adresse der Gilde auf meinem Block und machte mich auf die Suche nach der Stempelstraße...


Nach einiger Zeit des Suchens hatte sie endlich diese kleine Straße gefunden, in der sich angeblich das Gildengebäude befinden sollte. Jetzt musste sie nur herausfinden, wo genau. Die Wächterin ging die Gasse einmal entlang, den Blick immer auf die Häuserfassade zu ihrer Rechten gerichtet. Doch nirgends fand sie einen Hinweis auf die Gilde. Am Ende der Straße wechselte sie die Seite und besah sich auch die anderen Gebäude eingehend. Wieder nichts. Sie blickte verwirrt über die Pflastersteine, ließ den Blick von Tür zu Tür, von Fenster zu Fenster gleiten. Doch kein Anzeichen auf irgendwelche Bürokraten. In Gedanken ging sie noch einmal sämtliche Hausnummern durch, die sie gesehen hatte. Dann kam es ihr. Sie ging auf eines der Häuser zu, das keine Nummer trug und sah sich das Bauwerk genau an. Es war mehrstöckig und hatte einen recht großen Eingang ohne Namensschild oder ähnliches. Erst, als sie direkt vor der Tür stand, konnte sie im Rahmen eine kleine Inschrift lesen: DOMVS MENTE CAPTOS GIGNENS. Das klang sehr nach einem Gildenmotto. Sie untersuchte den Türrahmen noch etwas genauer und entdeckte schließlich ein bereits mit dem Stein des Türstocks vollkommen verschmolzenes Schild, das vor langer Zeit wohl einmal die Aufschrift "Gilde für die Abwicklung sämtlicher bürokratischer Tätigkeiten" getragen haben mochte. Hier war sie also richtig. Der Dobermann streckte eine Hand nach der hölzernen Schwingtür aus, um zu testen, ob sie verschlossen war. Beamte neigten zu unmöglichen Öffnungszeiten. Es war nahezu unmöglich, zufällig auf ein Amt zu kommen, das gerade geöffnet hatte. Eine Chance von eins zu einer Million... Aber es klappte.
Sie drückte die Tür nach innen und betrat so eine recht helle Eingangshalle mit geschmacklos gestrichenen Wänden. Zur Rechten der DOG-Wächterin saß ein alter, tattriger Pförtner hinter einer Glasscheibe mit Sprechlöchern. Er schien gerade ein Formular auszufüllen. Vor ihr sah sie einen konfusen Wegweiser mit allerhand Abkürzungen, die in ihr schrecklich schmutzige Gedanken hervorriefen. Zwischen dem abenteuerlichen Richtungsanzeiger und weniger abenteuerlichen Greis führte ein Gang in die Tiefen des alten Gebäudes. Sobald sie nach links sah, fiel ihr Blick auf eine lange Treppe nach oben. Wenn sie dem, was auf dem Wegweiser stand, Glauben schenken durfte, hatte das Gebäude mindestens sechs oder sieben Stockwerke. Sie machte sich auf einen sportlichen Nachmittag gefasst.
Es war erstaunlich still in diesem Foyer. Nur ab und zu sah man mal jemanden aus einem der Flure kommen und den Raum verlassen. Von oben konnte sie immer wieder das Klatschen von billigen Schuhsohlen auf den steinernen Treppenstufen vernehmen. Die Leute, die ihr in diesem Gemäuer begegneten, waren fast alle älter als sie. Und die, die den Ausgang benutzten, sahen sehr müde und gequält aus.
Ein Husten riss sie aus ihren Überlegungen. Überrascht sah sie zu dem alten Mann hinüber, doch der beugte sich weiter über seine Schreibarbeit. Nur die zuckenden Schultern zeugten von den eben gehörten Geräuschen. Der Korporal trat etwas näher an den Pförtner heran. Jetzt konnte sie erkennen, was er da so wichtiges auszufüllen hatte. Sie rollte mit den Augen. Es war "Kudosu", ein Zahlenspiel aus dem Achatenen Reich, das in den letzten Monaten in Ankh-Morpork in Mode gekommen war. Überall in der Stadt sperrten jetzt Bürger, die sich für besonders intelligent hielten, Zahlen in kleine dafür vorgesehene Kästchen. Sie hatte Melas einmal nach der Bedeutung dieses seltsamen Wortes gefragt. "Zu dumm zum Schreiben" war seine Antwort gewesen, die ihm ein Grinsen von ihr eingebracht hatte.
Sie versuchte, eine Möglichkeit zu finden, an ihren Antrag heranzukommen. Nach längerem Studium des wirren Wegweisers kam sie zu dem Schluss, dass sämtliche Kürzel darauf einem vollkommen wirklichkeitsfremden Code folgten und ihr somit keinerlei Anhalt boten. Außerdem wusste sie ja nicht einmal, welche der vielen Zuständigkeitsstellen in diesem Gebäude wohl die richtige für ihr Anliegen war. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als den Pförtner zu fragen. Die Gildenexpertin trat näher an die Glasscheibe heran und räusperte sich hörbar. Der Alte reagierte überhaupt nicht, er murmelte nur irgendwelche Ziffern vor sich hin. Ärgerlich beugte sie sich herunter, so dass ihr Gesicht auf Höhe der Sprechlöcher war, und sagte laut und deutlich: "Entschuldigen Sie."
Überrascht sah ihr Gegenüber auf. Eine rote, gereizte Nase nahm nun einen Großteil seines Sichtfeldes ein und so lehnte er sich erst einmal etwas zurück, um den Störenfried in seiner Gesamtheit zu erfassen. "Jaaa?" Der Portier hatte eine brüchige, zittrige Stimme, der man das Alter ihres Besitzers deutlich anmerkte.
"Ich bräuchte ein Formular der Klasse 17c_3. Wo bekomme ich das bitte? Können Sie mir da weiterhelfen?" Sie bemühte sich, langsam und deutlich zu sprechen, damit der eventuell schwerhörige Gesprächspartner nicht ständig nachfragen musste.
"Äääh, was füüür ein Fooormulaar?" Er zog jeden Vokal beim Reden unsäglich in die Länge. Die Hilfesuchende seufzte. Das konnte länger dauern. "Siebzehn ze Unterstrich drei", wiederholte sie.
"Jaaa, alsoo daa muss ich eeben maal naaachseeheen. Wooo ist denn bloooooß... Aaaah hiieer. Diiee Anträäge Nuuummer Siiiiieeebzeeehn giiibt es aam Schaaalter Dreizeeehn beeii Herrn Blaupaaaaauuuuse." Er deutete auf den Gang rechts vom Richtungsanzeiger.
"Vielen Dank. Achja, da oben gehört eine zwei hinein", sagte sie noch und machte sich dann auf die Suche nach diesem Beamten, der angeblich ihre Unterlagen hatte. Sie war erstaunt, dass der Pförtner so schnell mit den Informationen herausgerückt war. Sie hatte sich schon auf eine längere Diskussion eingestellt. Hoffentlich hatte sie dieses Glück auch bei ihrem nächsten Kontaktmann.



...Natürlich hatte ich das nicht. Ich kam in eine kleine Wartehalle mit unbequemen Bänken und einem dubios aussehenden Wasserspende-Dämonen. Bestimmt spuckte der kleine Gauner jedem Gast in den Becher. An einer Wand entdeckte ich einen Kasten mit der Aufschrift "Bitte ziehen Sie eine Marke und warten Sie, bis Sie aufgerufen werden". Ich sah mich in dem Raum um und erblickte außer mir noch etwa fünf weitere Personen, die es sich auf dem fürchterlich aussehenden Sitzgelegenheiten mehr oder weniger gemütlich gemacht hatten. Ich ging an diesen Kasten hin und bekam von einem kleinen, hässlichen Dämon einen zerknitterten Zettel mit der Nummer 16 ausgehändigt. Als ich zur Anzeige sah, erkannte ich, dass gerade Kandidat 11 an der Reihe war. Ich suchte mir also einen freien Platz auf einer der Bänke und begann zu warten...


Die Frau hob in ihrem Büro kurz den Kopf von dem Geschriebenen und streckte sich. Dann sah sie zum Fenster und erblickte den Mond, der in ihr kleines Zimmer hineinleuchtete. Sie lächelte gedankenverloren und gähnte. Es war schon spät und sie hatte noch so viel zu schreiben. Sie wollte diese Arbeit unbedingt heute noch fertigstellen, dann hatte sie es wenigstens hinter sich. Nach einem Niesen stand sie auf und verließ kurz das Matratzenlager, nur um wenig später mit einer Tasse mit schwarzem, dampfenden Inhalt zurückzukommen. Sie nahm einen kleinen Schluck von ihrem Kaffee und stellte ihn dann an einer freien Stelle auf ihrem Schreibtisch ab, bevor sie ihren Bericht wieder fortsetzte.


Nach einer Weile kam ich dann endlich an die Reihe. Es hatte sicherlich eine Stunde gedauert. Mittlerweile war es schon vier Uhr am Nachmittag, die Sonne stand bereits tief und die Helligkeit im Warteraum ließ langsam zu wünschen übrig. Ein Angestellter hatte einen Kerzenleuchter entzündet und vor der Anzeigetafel abgestellt, so dass man zumindest die Nummern noch ohne Probleme erkennen konnte. Schließlich bemerkte ich, dass die 16 aufleuchtete und erhob mich, um an die Tür mit der Aufschrift "Ge. Ma. Blaupause, KRB" zu klopfen. Die Zuständigkeit des Beamten verwirrte mich etwas, ich interpretierte es als "Krankheits- und Reisebeauftragter", aber ich wusste ja schließlich nicht, von welcher Art mein Formular war und zu welchem Zweck es gebraucht wurde. Als ich das Büro betrat, fiel mir als erstes der große eicherne Schreibtisch auf, hinter dem eine kleine, graue Gestalt saß...


Er hatte irgendwie etwas von einer alten Kröte, war der erste Eindruck, den die Wächterin von Herrn Blaupause erhielt. Kaum mehr Haare auf dem Kopf, nur zwei lichte Nester an den Schläfen zierten sein von Altersfleckten bedecktes Haupt. Sein Gesicht war eine einzige Kraterlandschaft aus Falten. Er war das, was man sich unter der Personifizierung des Alters vorstellte. Dass er überhaupt noch lebte, machte sie etwas stutzig. Blasse, graue Lippen fragten sie schließlich, was sie denn für ein Anliegen habe.
"Ich bin Korporal Hatscha al Nasa von der Stadtwache", sie zog ihre Dienstmarke aus der Brusttasche und hielt sie ihrem Gegenüber dicht vor die Augen, damit er sie sehen, aber wohl nicht erkennen konnte, "und ich wurde hierher geschickt, weil ich von Ihnen als Beauftragter für Krankheitsfälle und Reiseanträge..."
Sie wurde unterbrochen. "Nein, das ist nicht mein Amt. Ich bin Kopierrechtbeauftragter. Für ihr Anliegen müssen Sie..."
Über diesen Fehler konnte sie sich nur ärgern und für ihre Naivität verfluchen. Sie war nunmal nur die wacheintern gebrauchten Kürzel gewöhnt. Auf die Idee, sie anders zu deuten, war sie noch nicht gekommen. Was man wohl aus "DOG" noch so alles machen konnte...? Sie schüttelte den Kopf, um wieder zurück zum Gespräch zu finden.
"Oh. Dann habe ich wohl Ihre Abkürzung missverstanden. Ich suche ein Formular der Klasse 17c_3." Gespannt sah die Gildenexpertin den Mann an.
Dieser fing an in seinen Unterlagen zu suchen, öffnete schließlich eine Schublade mit der Geschwindigkeit eines Elefanten, der eine aus einem dünnen Holzbrett bestehende Brücke betreten wollte, kramte darin herum und schloss sie dann wieder, nur um mit der nächsten genauso vorzugehen. Zu guter Letzt sah er sie an. "Sie wissen nicht zufällig, von welcher Art dieses Dokument ist?"
"Sollten das nicht eigentlich Sie wissen? Ich dachte, das gehört zu ihrem Tschob." Sie war nicht gewillt, ihm ihre Ahnungslosigkeit preiszugeben. Wer weiß, wie lange er sie dann noch hinhalten würde. Beamte besaßen eine natürliche Boshaftigkeit.
"Nun... Ich kann in meinen Unterlagen keinen solchen Antrag finden. Sind Sie sich mit der Nummerierung sicher?"
Die Wächterin sah noch einmal auf ihren Notizzettel. 17c_3 stand da, eindeutig. "Ja, ganz sicher", erwiderte sie.
"Ah, siebzehn ze Unterstrich drei. Kein Wunder, dass ich es nicht finde. Dieses Formular bekommen Sie nicht bei mir." Er sah sie triumphierend an.
"Aber der Herr Pförtner hat gesagt, dass Sie für Formulare der Klasse 17 zuständig sind." Etwas genervt sah sie ihn durchdringlich an.
"Nun, das ist soweit auch richtig. Ihr Dokument bildet da jedoch eine Ausnahme."
Der Korporal seufzte ergeben. "Und wer kann es mir aushändigen?"
"Hm... das müsste in den Verantwortungsbereich der Abteilung für triviale Übersetzungen fallen. Madame Polyglott sollte Ihnen da behilflich sein können."
Sie notierte sich den Namen. "Wo finde ich sie?"
"Das erfragen sie am Besten beim Portier."
"Vielen Dank", verabschiedete sie sich zerknirscht und verließ das Büro des Beamten. Und dafür hatte sie jetzt eine Stunde gewartet!
Sie eilte zurück ins Foyer, um so schnell wie möglich mit dem Pförtner zu sprechen. Wer wusste, wann diese Leute hier Feierabend machten. Allzu viel Zeit würde ihr wohl nicht mehr bleiben.
"Das Büro von Madame Polyglott?", fragte sie geradeheraus, ohne große Umschweife.
"Viiiiiierter Stoooock, dritteeee Tüüüüür rechts", erwiderte er ihr, aufgeschreckt von seinem Kudosu-Spiel.
"Danke." Und schon rannte sie die Stufen der Treppe hoch. Es waren viele. Außer Atem kam sie im gewünschten Stockwerk an und sah sich kurz um. Dann schlug sie genannte Richtung ein und fand sogar sofort die Tür. "Lingua Polyglott" stand da, mehr las sie gar nicht mehr, bevor sie anklopfte.



Mein Gespräch mit Madame Polyglott verlief auch nicht viel besser als das mit Herrn Blaupause. Sie hatte zwar mein gefordertes Formular, konnte es mir aber nicht aushändigen. Ob ich denn bereits einen Bewilligungsantrag gestellt habe, hatte sie gefragt. Aus großen Augen hatte ich sie angeschaut wie ein rosa Kamel und erst einmal überrascht geniest. Perplex hatte ich verneint. Auf so ein Procedere war ich nicht gefasst gewesen. Zu guter Letzt hatte sie mich an einen Herrn Pin weitergeleitet, der Vorsitzende ihrer Abteilung. Als ich mich gerade verabschieden wollte, schlugen die Uhren der Stadt fünfmal. "Oh, das Gespräch müssen Sie wohl auf morgen verschieben. Die gesamte Gilde schließt jetzt nämlich", hielt mich die Beamte auf. Ich seufzte und ergab mich meinem Schicksal. Ich verließ also ihr Büro und trat lustlos und unachtsam die Stufen hinunter. Der Geruch von billigem Putzmittel stieg mir in die Nase. Erst jetzt fiel mir auf, wie sauber das Gebäude überall war. Hier mussten viele Gildenbeiträge für die Reinigungskosten aufgewendet werden. Ich notierte mir das, denn es konnte ja für spätere Ermittlungen eventuell interessant werden. Auch wenn ich keinem DOG den Einsatz in dieser Gilde empfehlen würde. Nicht einmal dem ungeliebtesten Gefreiten.
Auf dem Weg nach unten dachte ich auch über das weitere Vorgehen nach. Zuerst würde ich morgen zu Herrn... verdammt, wie hieß er doch gleich? Herr... der Name klang ausländisch, daran erinnerte ich mich... und er war sehr kurz... ich stockte mitten im Schritt, so sehr war ich in Gedanken versunken, und als ich meinen Fuß absetzen wollte, fand er keinen Halt auf der Treppe. Eine der Putzfrauen (es war tatsächlich eine Frau, wie ich unten an der Treppe feststellte) hatte scheinbar vor recht kurzer Zeit die Stufen gesäubert, was sie sehr rutschig machte. Ich fluchte und hatte Glück, dass ich bereits auf dem letzten Treppenabsatz war, wer weiß, was mir sonst noch hätte passieren können. Mit rasendem Puls kam ich dann unten im Foyer endlich zum Stehen, ich hatte die gesamten restlichen Stufen (am nächsten Tag habe ich nachgezählt, es waren zehn Stück) auf meinem Hinterteil hinter mich gebracht. Es schmerzte. Mit einem bösen Blick auf die Putzfrau erhob ich mich und marschierte zum Ausgang, um dieses verfluchte Gebäude endlich zu verlassen. Ich war mir nicht sicher, ob ich am nächsten Tag tatsächlich zurückkehren würde.



Erneut legte die Schreibende ihren Stift zur Seite und erhob sich, diesmal, um ihren Po zu reiben. Er bereitete ihr wohl Schmerzen. Es schien, als würde sie darüber nachdenken, im Stehen weiterzuschreiben, denn sie nahm nicht sofort wieder Platz. Als sie es sich schließlich doch wieder auf ihrem Stuhl bequem gemacht hatte, nippte sie von ihrem Kaffee, der mittlerweile überhaupt nicht mehr dampfte. Dann kramte sie in einer Schublade und holte ein Formular heraus. Langsam und bedächtig füllte sie es aus, es war rosa und scheinbar dazu gedacht, Verletzungen im Dienst zu melden. Sie hatte es sich aus der Gilde mitgenommen. Schließlich legte sie das Papier zur Seite, in der Absicht, es später dem Bericht beizufügen, und wandte sich eben diesem wieder zu.
Ein Klopfen drang an ihre Ohren. Naja, es war kein wirkliches Klopfen, mehr ein Kratzen. Und es schien von einer sehr kleinen Person zu kommen, einer, die wohl die Türklinke nicht selbst erreichen konnte. Mit einem Seufzen stand die Wächterin auf und ging zur Tür. Eigentlich war sie überrascht über die Störung, hatte sie doch gedacht, dass sich um diese Uhrzeit bis auf die Näherinnen im Erdgeschoss und deren Besuch niemand mehr im Haus befand. Als sie dem späten Besucher öffnete, fiel ihr Blick auf einen Vierbeiner, der ein wenig muffelte. Lächelnd streichelte sie dem Hund über das Fell und ließ ihn ein. Er hechelte leise und mit ihm an ihrer Seite ging sie zurück zu ihrem Schreibtisch, um endlich ihren Bericht fortzusetzen. Crunkers nahm unter dem Tisch Platz, worüber sie insgeheim froh war, denn er konnte ihre Füße wärmen.


Um 9 Uhr am nächsten Morgen stand die diensteifrige Gildenexpertin wieder vor dem Kudosu-süchtigen Pförtner. Sie war müde. Der Sturz am vergangenen Tag hatte sie lange am Einschlafen gehindert, sie hatte sich einige unschöne Prellungen geholt, die sich jetzt durch wunderbare blaue Flecken bemerkbar machen. Unwillig fragte sie also ihr Gegenüber nach dem Weg zu Herrn Pin [1]. Nach kurzem Hin und Her hatte sie herausgefunden, dass er sein Büro im dritten Stock im Rückgebäude hat. Verzweifelt blickte die Geplagte auf den wirren Wegweiser. "Rückgebäude...", murmelte sie, während sie versuchte die kryptographischen Abkürzungen zu entschlüssen. "Vielleicht Rgb.? Oder doch RüGe?" Sie entschied sich für das erstere, auch wenn ihr das zweite naheliegender vorkam. Aber sie war schließlich schon einmal auf die Kürzel der Bürokraten hereingefallen. Den Fehler wollte sie nicht nocheinmal machen. Also folgte sie dem Pfeil, der sie auf einen langen, schmalen Flur mit nur wenigen Türen schickte. Mit hastigen Schritten ging sie den Gang entlang, der nirgends auch nur Anzeichen auf ein Treppenhaus aufwies, bis er schließlich vor einer großen Tür endete. "Ausgabestelle für farbiges Papier; Hier: Rot, grün, blau", stand auf einem Schild an der Wand. Die Wächterin fluchte. Hier wollte sie doch jemand auf den Arm nehmen! Wütend ging sie den Weg zurück und orientierte sich mithilfe des irreführenden Wegweisers in Richtung RüGe. Von diesem Augenblick an begann sie Abkürzungen zu hassen.
Nach kurzem weiteren Umherirren in Gängen, die alle irgendwie gleich aussahen und die selben verwirrenden Wegweiser hatten, war sie endlich an einer Tür mit der Aufschrift "Guin Pin, G.V." angelangt. Dem Namen entnahm sie die Information, dass der Mann, den sie gleich kennen lernen würde, Gennuaner war. Wahrscheinlich stand dafür auch das "G." in der Abkürzung. Das "V." ergänzte sie innerlich zu "Vertreter". Sie runzelte die Stirn. Was hatte die DOG mit Gennua zu schaffen? Zögernd klopfte sie an. Ob sie sich wirklich den richtigen Namen gemerkt hatte?
"'erein", erklang es von drinnen mit einem deutlich hörbaren Gennuanischen Akzent.
Die Wächterin betrat das Zimmer hinter der Tür. Wie alles in diesem eigenartigen Gebäude machte es den Anschein, größer zu sein, als es eigentlich hätte sein dürfen. Zwei Fenster an der gegenüberliegenden Wand hatten die vergebliche Aufgabe, den Raum zu erhellen. Mehrere exotische Topfpflanzen machten sich gegenseitig das wenige einfallende Licht strittig, das den tapferen Versuch unternahm, dem düsteren Hinterhof des Gildengebäudes zu trotzen. Zwischen dem Türstock, unter dem die Dobermann jetzt stand, und dem Miniatur-Urwald stand ein klobiger Schreibtisch aus sehr dunklem Holz. "Bestimmt aus dem Wiewunderland", dachte Hatscha sich. Pin schien kein armer Mann zu sein. Erst jetzt machte sie ihn inmitten all des Grüns aus. Zu ihrer Überraschung war er ein recht junger Mann und wirkte äußerst sympathisch. Er hatte dunkles, kurzes Haar, war vornehm gekleidet und hatte ein äußerst gewinnendes Lächeln.
"A', die Stadtwac'e, DOG, wenn isch misch nischt irre. Was kann isch denn für die reizende Madame tun?"
Jetzt war sie wirklich beeindruckt. Die wenigsten Bürger der Stadt konnten die einzelnen Abteilungen unterscheiden. Dass es ausgerechnet ein Ausländer konnte, war äußerst ungewöhnlich. "Ähm, ja, korrekt. Ich bin Korporal Al Nasa, Stellvertretende Abteilungsleiterin. Ich benötige einen Bewilligungsantrag für das Formular der Klasse 17c_3. Madame Polyglott hat mich zu Ihnen geschickt."
"Das gute alte Formular 17c_3." Er lachte leise. "Demnac' sind Sie also ein Dobermann?"
Sie machte große Augen. Irgendwas stimmte hier nicht. Woher wusste der Mann über ihre Spezialisierung Bescheid? Sie nickte nur.
"War schon lange niemand me'r 'ier. Dac'te schon, die Wac'e 'ätte uns vergessen. Aber natürlisch ist auf sie doc' Verlass."
"Äh, ja, natürlich. Äh. Können Sie mir denn einen Antrag ausstellen?"
"Nein. Isch weiß nischt, wie Madame Polyglott darauf kommt, das isch das könnte. Eigentlisch sollte sie es mittlerweile besser wissen..."
Was war hier los? Sie kam sich langsam wirklich wie auf einer Schnitzeljagd vor. Und das ärgerte sie. Man spielte mit ihr! "Mit Verlaub, Herr Pin..."
"Ac', nennen Sie misch doc' Guin." Er lächelte.
Sie überging seinen Einwand. "Was wird hier eigentlich gespielt? Weiß denn hier in dieser Gilde niemand, was der andere macht? Warum kann mir denn keiner sagen, wer nun wirklich mein gesuchtes Blatt Papier hat? Wahrscheinlich haben Sie gleich Mittagspause und dann bekomme ich wieder nicht, was ich brauche. Verflucht noch eins, ich bin Wächter, ich habe nicht die Zeit, eine Ewigkeit damit zu verbringen, mich mit der Bürokratie der Gilde rumzuschlagen, die eben dieses Wort erfunden hat! Das könnt ihr vielleicht mit normalen Bürgern der Stadt machen, ABER NICHT MIT MIR!" Während ihrer Rede war die Wächterin immer lauter geworden. Sie hatte sich richtig in ihre Worte hineingesteigert, mit vor Wut knallrotem Kopf stand sie nun direkt vor dem großen Schreibtisch und beugte sich zu ihrem Gegenüber vor. Wäre sie nicht so erbost gewesen, er hätte ihr wahrscheinlich Leid getan. Es war nicht ihre Art, aufbrausend zu sein. Aber langsam war ihre Geduld am Ende und dieser arme Mensch, der noch dazu der freundlichste war, dem sie bisher in der Gilde begegnet war, bekam das zu spüren. Ganz klein saß er jetzt in seinem Sessel und blickte schüchtern zu ihr auf.
"Ist gut, ist gut...", versuchte er sie zu besänftigen. Seine Stimme zitterte. "I-isch w-werde sofort eine N-Nac'rischt schicken, dass Sie i'r F-Formular bekommen. Aber b-bitte, bitte, schreien Sie doc' nischt so."
Am liebsten hätte sie sich jetzt bei Guin entschuldigt. Er war ja wirklich nett zu ihr gewesen. Aber jetzt war der falsche Augenblick, um nachzugeben. Wer weiß, vielleicht machte er sein Einlenken ja wieder rückgängig und sie würde nie an dieses verflixte Stück Papier kommen. Also nickte sie nur und wartete, dass der Beamte einen Zettel schrieb und einem Rohrpostdämonen in die Hand drückte. Gemeinsam schauten sie auf die Öffnung in der Wand, wo der kleine Mistkerl verschwunden war. Als sie feststellten, dass er nicht sofort zurückkehren würde, begann die Gildenxpertin ungeduldig zu werden und unruhig in dem seltsamen Büro auf und ab zu marschieren. Ab und zu blieb sie stehen und sah in das trübe Grau vor dem Fenster, als ob sie erhoffte, das plötzlich eine Brieftaube mit der Erlösung ankäme. Als das nicht geschah, ließ sie sich auf einem der gut gepolsterten Besuchersessel, die auf der der Tür zugewandten Seite des Schreibtisches standen, nieder. Langsam beruhigte sie sich wieder von ihrem Wutausbruch. Guin wagte es nicht mehr, auch nur noch ein Wort an sie zu richten und blätterte stattdessen nervös in seinen Unterlagen herum, während sie die Bücher in den Regalen an der Wand musterte. Die Titel sagten ihr alle nichts, viele von ihnen waren auf Gennuanisch.
Nach einer gefühlten Ewigkeit flatterte ein recht zerknitterten Umschlag aus dem Rohrpostschacht. Mit einer geübten Bewegung pflückte der Beamte das Dokument aus der Luft.
"Isch 'abe dir doc' schon 'undertmal gesagt, du sollst auf deine Post besser aufpassen!", schimpfte Pin in die Öffnung, aus der der Brief geworfen worden war. Aber der Dämon war schon längst wieder verschwunden.
"'ier ist I'r Formular. Viel Erfolg damit." Er überreichte ihr den Umschlag, der bei näherem Hinsehen auch den einen oder anderen Kaffeefleck aufwies. Hektisch griff die geplagte Wächterin danach, froh, endlich ein Ende dieses nervenaufreibenden Auftrags vor sich zu sehen. Sie fragte sich, wie alt das Schriftstück bereits war und was es alles durchgemacht hatte. Außerdem brannte sie darauf, zu erfahren, was sie da jetzt eigentlich für eine wichtige Unterlage besorgt hatte.
Mit einem Lächeln verabschiedete sie sich eilig von dem Gennuaner und hoffte innerlich, ihn nie wieder zu sehen. Nicht, weil er ihr unsympathisch wäre. Aber ein Zusammentreffen mit ihm hätte ziemlich sicher auch ein Zusammentreffen mit der Bürokratengilde zufolge. Und darauf konnte sie nun wirklich verzichten.
Draußen hörte sie mittlerweile die Glocken der Stadt zur Mittagspause rufen und aus den Büros in den Gängen strömten die Angestellten, um in ihre Kantine zu gehen und ihren Hunger zu stillen. In all dem Gewirr verlor sie dann entgültig die Orientierung und irrte zwischen den graugesichtigen, grimmig dreinschauenden Gildenmitgliedern umher. Sie verfluchte den Architekten des Gebäudes, der in seiner Einfallslosigkeit wirklich jeden Flur und jedes Stockwerk gleich gestaltet hatte. Irgendwann kam sie am Büro des Beauftragen für Krankheitsfälle und Reiseanträge vorbei, wo sie sich sofort an ihren Sturz vom Vortag erinnerte. Bestimmt gab es hier doch auch einen entsprechenden Antrag für Arbeitsunfälle. Nachdem ihr an diesem Tag eh schon alles egal war, das Dokument in ihrer Hand ihr jetzt auch nicht mehr davonlaufen konnte und sie an einem Nachmittag bestimmt keine Fälle mehr lösen würde, beschloss sie, darauf zu warten, dass die Mittagspause um war und der Sachbearbeiter Sumithes Nophyt [2] an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt war. Nach einer halben Stunde sinnlosen Ausharrens vor der verschlossenen Tür konnte sie sich endlich ihren Schmerzensgeldantrag holen, natürlich nicht ohne große Diskussion über Sinn und Zweck und Berechtigung. Immerhin erfuhr sie dadurch, dass sie sogar ein gutes Recht hatte, einen solchen Antrag abzuliefern. Nach einer weiteren Stunde verließ sie dann auch dieses Büro. Mittlerweile hatten sich die Gänge auch wieder halbwegs geleert, so dass sie zumindest der spärlichen Beschilderung in Richtung Ausgang folgen konnte. Nach einer halben Ewigkeit erreichte sie schließlich das Domizil des Pförtners, der über seinem Zahlenspiel eingeschlafen zu sein schien und hechtete an ihm vorbei nach draußen. Sie war froh, endlich wieder normale Luft einatmen zu können.



Als ich wenig später, im Boucherie Rouge ankam, machte ich mich sofort auf den Weg ins Matratzenlager, um so schnell wie möglich herauszufinden, was das denn jetzt für wichtige Unterlagen waren und vor allem, für wen ich sie geholt hatte. Die Neugierde, die während meines Umherirrens in der Gilde etwas gelitten hatte, war zurückgekehrt. Durch Pins seltsame Kommentare war ich etwas verunsichert, was die Ernsthaftigkeit des Zettels, den ich gefunden hatte, anbelangt. Mit leicht zitternden Fingern öffnete ich den Umschlag und holte einen Bogen bedrucktes Papier hervor. Verwirrt starrte ich darauf hinab. Es war ein Antrag zur Eintragung einer Gilde. Gesehen hatte ich dieses Formular schon öfter. Aber warum musste ich dazu durch die halbe Gilde der Bürokraten irren, mir ein Bewilligungsschreiben von einem Gennuaner ausstellen lassen und so weiter? Das ergab doch keinen Sinn! Ich fragte mich sowieso schon, welche Existenzberechtigung diese Gilde hatte. Bürokratie gab es doch in jeder anderen Gilde auch. Und Formulare hatte auch jede Institution ihre eigenen.
Unschlüssig blätterte ich in der Gildenakte. Ich las die wenigen Einträge, die dort notiert waren, doch dort standen wie bereits erwähnt nur die allernötigsten Fakten. Doch plötzlich stutzte ich. Ich überflog noch einmal die Namensliste des Vorstands und tatsächlich. Gildenvorstand war niemand anderes als Pin, Guin. Ich runzelte die Stirn. Warum war ausgerechnet das wohl jüngste Mitglied und dann auch noch ein Ausländer das Oberhaupt? Davon abgesehen war er auch ein ausgesprochen sympathischer Mensch, was so gar nicht in mein Bild der Gilde passte. Aufmerksam überflog ich sämtliche Zeitungsausschnitte, die in Ermangelung von Ermittlungen und wacheinternen Informationen der Akte angehängt waren. Ich musste nicht lange suchen. "Gennuanischer Beamter übernimmt Bürokratengilde!" und kleiner unter der Schlagzeile:
"Guin Pin, ein Vorzeigebürokrat von Gennua, hat beschlossen, dem Papierkrieg in Ankh-Morpork auf die Sprünge zu helfen. Einstimmig ist er zum Gildenvorsitzenden gewählt worden. Die Gilde der Bürokraten, die bisher in der Stadt eigentlich recht unbekannt war, hat es sich zur Aufgabe gemacht, größere Institutionen in ihrer Organisation zu unterstützen, ihnen Bearbeitungsvorgänge vorzuschlagen und Formulare zu entwerfen." Mit Bleistift war von einem meiner Kollegen ein Kommentar an den Rand gekritzelt worden: "Irgendwer muss ja für den unnötigen Papierkram verantwortlich sein...". Ich nickte. Jetzt wurde mir so einiges klar. Ich fragte mich nur noch, wie diese Gilde, die die Umständlichkeit erfunden hatte, noch existieren konnte. Eigentlich müssten alle Vorgänge auf der Strecke bleiben, denn bei so viel Aufwand, um nur an ein einfaches Formular heranzukommen, dass auch im Patrizierpalast zu erhalten war, musste das System recht bald zusammenbrechen. Ich notierte etwas dementsprechendes in die Akte und begann, meine eigenen Erkenntnisse zu ergänzen.
Was genau ich jetzt mit dem Formular anfangen soll, weiß ich allerdings nicht. Entweder sollte zu reinen Ermittlungszwecken eine neue Gilde gegründet werden, um beispielsweise Zutritt zum Gildentag zu erlangen.. Ich kann mich jedoch an keinen solchen Fall erinnern, das bedeutet, dass der Zettel schon älter und mittlerweile trivial ist. Oder aber es war als versteckter Auftrag gemeint, mit dem ein armer Dobermann in die Bürokratengilde gelockt werden sollte, um endlich mal diese Akte zu füllen. Denn freiwillig hätte sich wohl niemand um diese Angelegenheit gekümmert. Wie auch immer, ich komme somit zu dem Schluss, dass der "Fall" hiermit abgeschlossen ist.
Im Anhang befindet sich noch mein Antrag auf Schmerzensgeld aufgrund eines bei der Ermittlung erlittenen Unfalls. Laut Paragraph 26 Absatz 4 hat jedes Mitglied einer größeren Institution Anspruch darauf.

Gezeichnet,
Korporal Hatscha al Nasa, stellvertretende Abteilungsleitung DOG



Erschöpft schüttelte die Wächterin ihre Hand aus, nachdem sie ihre Unterschrift auf das Formular gesetzt hatte. Der Hund zu ihren Füßen schnaufte verschlafen, als sie kurz die Füße ausstreckte und sich aufrichtete, um ihren Rücken vom vielen über den Schreibtisch gebeugten Sitzen zu entlasten. Sie legte den vorher ausgefüllten Antrag zu den beschriebenen Blättern, heftete sie zusammen und letzte den kleinen Stapel zur Seite. Dann fiel ihr Blick auf den Umschlag, der unschuldig auf ihrem Schreibtisch gelegen hatte, nachdem sie nach der Enthüllung des Geheimnisses des Formulars von einem kleinen Abendessen zurückgekehrt war und dem sie, seit sie den Bericht angefangen hatte zu schreiben, keine weitere Beachtung geschenkt hatte. Jetzt nahm sie ihn zur Hand und öffnete ihn.
An den ranghöchsten Dobermann oder im Zweifelsfall Abteilungsleiter, stand da. Damit war wohl sie gemeint. Adressiert war er also schonmal richtig.
Wie bereits vor langer Zeit von Robin Picardo angeordnet, ist hier der Bericht zum Testeinsatz des neuen Dobermanns, der in unsere Gilde geschickt wurde.
Eine dicke Zornesfalte entstand auf der Stirn der Gildenexpertin. Ein Test! Sie war auf einen TEST hereingefallen! Noch dazu einen uralten, den damals Robin eingeführt hatte! Am liebsten hätte sie jetzt das Dokument zerrissen, doch sie las es noch zuende. Es wurde geschildert, wie sie in der Gilde vorgegangen war und unterschrieben war es, wie konnte es anders sein, von Pin. Jetzt verstand sie, was der Gennuaner meinte, als er sagte, es sei schon lange niemand mehr da gewesen. Scheinbar hatte ein verzweifelter Auszubildender den "Auftrag" versucht zu vernichten, indem er den Zettel hat verschwinden lassen. Leider war er ihr beim Aktualisieren des Gildenregisters in die Finger geraten. Dabei wollte dieser vorausschaunde Azubi wohl genau das verhindern.
Verärgert zerriss sie den Zettel. Nein, das würde sie niemals in den Bericht schreiben. Das wäre eine Blamage für sie. Das konnte sie nicht zulassen.
Aber eines musste man lassen, dachte sie. Robin hatte eine gute Methode gefunden, die Hartnäckigkeit der neuen Gildenexperten auf relativ harmlose und ungefährliche Weise zu testen. Nach der Dicke der Akte war er allerdings wohl recht schnell durchschaut worden. Es waren nicht viele Daten zusammengetragen worden. Oder er war einfach nicht lange genug als Ausbilder für die armen Schweine zuständig.
Sie grinste. Vielleicht würde sie sich sowas für ihre Auszubildenden ja auch mal einfallen lassen. Nur vielleicht mit einer Gilde, die den Nerven etwas zuträglicher ist.


Wenn der potentielle Beobachter um diese Zeit noch wach wäre und sich genau jetzt von den Damen im Erdgeschoss abwenden würde, könnte er sehen, wie in dem Zimmer im ersten Stock die Kerze gelöscht wird. Die höheren Etagen des Etablissements sind jetzt alle dunkel, nur aus den unteren Fenstern dringt noch ein angenehmes, einladendes rötliches Licht, das sich auf den durch viele Füße glatt getretenen Pflastersteinen der Straße leicht spiegelt. Wenig später würde der heimliche Zuschauer wohl die junge Frau bemerken, die das Boucherie Rouge langsam mit einer kleinen Laterne in der Hand verlässt. Ihre durch das Licht klar sichtbaren Umrisse, die sich langsam dem Ende der Springstraße nähern, könnten noch lange von den Augen des Mannes im Haus gegenüber verfolgt werden - wenn sie ihm nicht längst zugefallen wären.
[1] der Name war ihr in der schlaflosen Nacht irgendwann wieder plötzlich eingefallen

[2] den Namen entnahm sie dem Türschild.

Zählt als Patch-Mission.



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Feedback:

Von Ruppert ag LochMoloch

15.05.2008 00:01

Welches Ereignis mag Dich wohl zu dieser Geschichte inspiriert haben? ;)Ich fand sie witzig geschrieben, in all der Erntshaftigkeit in der Hatscha einem vollkommen belanglosen Formular hinterher rennt.

Von Ruppert ag LochMoloch

15.05.2008 10:10

Ach ... und was ich noch fragen wollte.

Was heisst eigentlich der Titel auf Deutsch?

Dumus ist klar, irgendwas mit Haus.

Captos? Könnte vom englichen "capture" abstammen. :wink:



Also ein Haus in dem irgendwas gefangen ist?

Von Hatscha al Nasa

15.05.2008 13:17

Es heißt so viel wie "Das Haus, das Verrückte macht" (mente captos = die im Geiste gefangenen, also verrückte, Akkusativ Plural, gignens = machend). Ich dachte mir, eine Übersetzung per Fußnote wäre dann als schlechte Anspielung rübergekommen ;-)

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