Vektoria

Bisher hat keiner bewertet.

von Oberfeldwebel Rea Dubiata (SEALS)
Online seit 05. 12. 2007
PDF-Version

Städte sind gierig und manchmal verschlingen sie Wächter mit Haut und Haaren.

Dafür vergebene Note: 11


"Haltet den Dieb!" Sara hörte das Geschrei noch in ihren Ohren. Sie war gerade mit Oldas zusammen auf den Hier-Gibt's-Alles-Platz gekommen, als ein Mann sie anrempelte und an ihr vorbeirannte. Erst wenige Augenblicke später merkte sie, dass er eine rote Handtasche getragen hatte. Oldas hatte eine schnellere Auffassungsgabe besessen, doch hatte er sich auch nicht mit der Schwerkraft anlegen müssen. Der Gefreite rannte bereits hinter dem Mann her und Sara setzte ihm nach. Doch der Zwerg hatte bessere Chancen. Da er kleiner war, schaffte er es, die Lücken im Gedränge viel besser zu nutzen und so hatte sie alle Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Schließlich lichtete sich die Menge und sie konnte wieder aufholen - doch sie waren in eine Sackgasse geraten.
"Er's weg!", sagte der Zwerg verärgert.
Sara sah sich um. Es war die typische Sackgasse. Eine unüberwindbare Mauer verband zwei fensterlose Häuser. Die Wände waren so hoch, dass es der Sonne nicht möglich war, den Boden zu erreichen. Einige Mülleimer standen herum, doch die Anwohner schienen dies nicht bemerkt zu haben. Überall lag Unrat. Sara sah nach oben, doch die Mauern waren frei von kletternden Dieben. Dann sah sie wieder zu Oldas, der mittlerweile die Mülltonnen durchsuchte.
"Drecksjob. Da drin isser auch nich!"
Sara fluchte. "Wo hast du ihn zuletzt gesehen?", fragte sie den Vektor.
"Ich hab geseh'n wie'r in diese Gasse eingebogen is' und dann, als ich hierher kam, war'r weg." Oldas schnaubte, wütend ob des Fehlschlags. Verärgert kickte er gegen ein paar Bierflaschen auf dem Boden. Die Flaschen bewegten sich nicht, als seien sie festgeklebt. Sie widerstanden auch dem kräftigen Tritt des eisenbeschlagenen Zwergenstiefels ohne einen Kratzer. Oldas betrachtete die Flaschen genauer. Sie waren aus Stein, die Reflexion des Tageslichts täuschend echt darauf gemalt.
"Seltsam...", murmelte er und begann, den herumliegenden Müll beiseite zu räumen, wobei sich noch andere scheinbar achtlos weggeworfene Sachen als Atrappen entpuppten. Schließlich entdeckte er rund um den steinernen Müll eine dünne Linie. Vorsichtig öffnete er die Falltür und sah hinab.
"Verdammt dunkel.", sagte Sara, die ihn beobachtet hatte und nun über seine Schulter sah.
"Das haben Tunnel so an sich. Vielleicht sollte ich ihm folgen?" Oldas sah die Gefreite fragend an.
"Ist er nicht schon viel zu weit weg?" Sara blickte unsicher in den Abgrund. "Und außerdem hab ich von rosa glühenden Krokodilen in den Abwasserkanälen gehört!"
"Du sollst ja auch gar nicht mitkommen. Wir Zwerge sind an die Dunkelheit und an Stollen gewöhnt. Ich finde mich schon zurecht. Du gehst zurück zur Wache und holst Verstärkung."

"Verstärkung? Um einen Taschendieb zu verfolgen?" Rea sah den Vektor in Ausbildung verwirrt an. "Das ist doch eine aussichtslose Sache." Die stellvertretende Abteilungsleiterin von SEALS schüttelte den Kopf und nippte dann an einer filigran gearbeiteten Teetasse, aus der ein sanfter Kräuterduft herüberwehte.
Sara stand vor Reas Schreibtisch. Sie trug ihre gewöhnliche, matte Rüstung bestehend aus Harnisch, Helm und Kettenhemd. Ihre Schuhe zeugten von knöcheltiefem Matsch auf den Strassen. Es war bereits früher Abend und Rea hatte gerade ihren Dienst begonnen. Das Licht der untergehenden Sonne tauchte ihr Büro in ein dunkelrotes Ambienteund ließ die Konturen der Gefreiten, die um so viele Jahre älter als sie war, weicher und jünger erscheinen. Die Gefreite sah Rea in die Augen und zuckte dann mit den Schultern. "Wir hielten es für das Beste, Ma'am.", sagte sie in einem Tonfall, der Ehrlichkeit ausstrahlte.
"Und das ist jetzt eine halbe Stunde her? Er streicht alleine durch einen Tunnel und sucht nach einem potentiell bewaffneten Dieb?"
"Ma'am..." erwiderte die Gefreite.
Rea stand auf und ging an Sara vorbei zu ihrer Garderobe neben der Tür. "Es ist doch immer dasselbe mit euch Gefreiten. Immer hinterher und draufhauen. Natürlich."
"So war es nicht, Ma'am!", sagte Sara empört und drehte sich zu ihrer Vorgesetzten. "Es war mehr... ein Reflex!"
"Ein Reflex? Soso. Ich sag dir was ein Reflex ist, Gefreite. Ein Herzschlag ist ein Reflex - aber was meinst du wie viele Oldas noch davon hat? Alleine durch die Tunnel Ankh-Morporks laufen, durch die Stadt unter der Stadt... "
"Wo?", fragte die Gefreite verwirrt.
"Die Stadt unter der Stadt, Sara. Weißt du nicht, dass Ankh-Morpork auf Ankh-Morpork gebaut ist? Du wirst dich noch wundern... " Rea zog die obersten beiden Blusen aus und zog dann einen geschmeidigen schwarzen Lederharnisch über ein weißes Leinenhemd. Schnell und geübt zurrte sie die Gurte fest und zog dann die Blusen wieder darüber. Der Harnisch war nun fast unsichtbar. Dann band sie einen kleinen Dolch um ihr Handgelenk und verdeckte ihn wiederum mit den Ärmeln der beiden Blusen. Sie schulterte ihre Tasche und die Armbrust und wandte sich an Sara, die ihr wortlos zugesehen hatte. "Hast du alles was du brauchst?"

Von der Decke des Tunnels tropfte es. Sie waren bereits eine halbe Stunde unterwegs. Der Tunnel unter dem versteckten Eingang erwies sich als Abwasserkanal. Ein stinkender, grünlich schimmernder Strom floss neben einem engen Steg, der die Wächterinnen dazu zwang, hintereinander zu gehen. Oft waren Stücke abgebrochen, so dass sie sich eng an die feuchten, mit Algen bewachsenen schwarzen Mauern pressen mussten, um nicht in der Kloake zu landen. Die beiden Fackeln die sie mitgebracht hatten erhellten den Tunnel notdürftig und produzierten lange Schatten an den Wänden, während die beiden Frauen schweigend voran gingen.
Der Tunnel führte kaum merklich nach unten, tiefer unter die Stadt und bis auf die Ratten, die hin und wieder auftauchten und schnell vor der Helligkeit flüchteten, schien es keine weiteren Lebewesen dort unten zu geben.
Rea warf einen Blick zurück zu der Gefreiten die ihr folgte. "Alles in Ordnung soweit?", fragte sie. Die Worte hallten in dem engen Gang nach und wirkten unnatürlich laut.
"Ich wünschte, ich läge in meiner Badewanne und würde meine Geruchssinne mit einem extrastarken Badezusatz durchpusten.", erwiderte Sara.
"Dito. Ich glaube, wir sind mittlerweile unter dem Nilpferd, wenn mich meine Sinne nicht täuschen."
"Seltsam, man sollte meinen, dass das Abwassersystem verzweigt wäre. Ich dachte immer, das wäre ein riesiges Netzwerk." Mit angewidertem Gesichtsausdruck betrachtete Sara eines der Rohre, die ab und an aus der Wand kamen und ihren abscheulichen Inhalt in den Abwasserstrom triefen ließen.
"Das ist kein normaler Tunnel, Sara. Wir befinden uns auf dem Weg zur Stadt unter der Stadt. Dies ist einer der ältesten Kanäle - und einer der geheimsten." Rea blieb stehen und beleuchtete eine Jahreszahl die in einen der Steine eingeritzt war. "Etwa 400 Jahre alt. Ehrlich gesagt ist der obere Teil jünger und je tiefer wir kommen desto älter wird er. Natürlich wurde immer mal wieder erneuert, ausgebessert, gereinigt..."
"Gereinigt?" Der Ekel in Saras Tonfall war nicht zu verkennen.
"Natürlich. Aber auch ich denke nicht gerne daran, wie das Ganze hier aussieht. Der Gestank gibt einem ja schon einen ersten Eindruck." Rea setzte sich wieder in Bewegung und sie gingen einige Minuten schweigend hintereinander her. Dann durchbrach ein spitzer Schrei die Stille. Oder war es etwas anderes? Es war eher ein lautes Quietschen, Quieken gar, panisch und angsterfüllt, das schnell gedämpft wurde und dann ganz erstarb.
Rea sah Sara an, legte den Finger an die Lippen und löschte dann ihre Fackel, indem sie die Flamme an der Wand ausdrückte. Rote Glut blieb übrig und gab einen matten Schimmer von sich. Nicht genug um ihnen Licht zum Weiterlaufen zu geben, doch Rea machte eine Geste die Sara dazu aufforderte, es ihr gleichzutun. Es wurde dunkel im Tunnel, doch in der Ferne, um eine Kurve herum, konnten sie nun ein schwaches Licht erkennen.

Wulfric spuckte den Kopf der Ratte in einem hohen Bogen in den Strom, der an ihm vorbei floss. Dann prostete er einem nichtvorhandenen Gegenüber mit dem zuckenden kleinen Torso zu, setzte den Stumpf des Halses an seine Lippen und trank das Blut, das daraus hervorquoll. Gierig schluckte er den roten Saft, bevor dieser zu gerinnen begann und quetschte mit seiner behaarten Pranke auch noch den letzten Tropfen aus der Aorta des kleinen Wesens. Dann warf er den Körper in die Kloake und angelte nach einer Jutetasche an seiner Seite. In der Tüte ging es hektisch zu. Die Ratten darin schienen zu wissen, was auf sie zukam und keine wollte die nächste sein. Unbekümmert griff er in die Tüte und fuhr kurz darauf zusammen - eines der Biester hatte ihn gebissen. Er lachte kehlig und packte auch dieses Tier fest mit seiner Hand. Vorsichtig zog er das Tier heraus, ohne den anderen eine Fluchtmöglichkeit zu geben und blickte grinsend in die schwarzen Knopfaugen.
"Ich zeig dir gleich, wer hier wen beißt!", murrte er. Die Ratten, ein halber Sack voll, waren seine Belohnung gewesen. Der Zwerg und der Mann würden einen guten Preis auf dem Sklavenmarkt ergeben - und er konnte sich nach langer Zeit endlich wieder den Bauch vollschlagen. Die Rattenjagd war mühsam, kostete Zeit. Menschen... Menschen wären einfacher gewesen. Aber das würde ihm auf die Dauer nicht gut bekommen. Ab und an, wenn er einen Auftrag erledigt hatte, durfte er für die "Entfernung" der Zeugen sorgen. Aber solche Tage waren rar gesät und er konnte sich kaum an das letzte Mal erinnern. Schließlich war er nicht der einzige, der sich seinen Lebensunterhalt als Kopfgeldjäger verdiente.
Eigentlich, so dachte er, als er auch dieser Ratte, die vor Panik schrill quiekte, den Garaus machte, hätte er sich die Ratten aufsparen sollen. Nicht alle auf einmal. Vielleicht hätte er sie sogar züchten können? Vermehrten sich die Dinger nicht wie die Karnickel? Aber die Gier nach Blut in ihm ließ ihm keine Wahl, als alles sofort zu verschlingen. Er spuckte den Kopf aus und wollte gerade beginnen zu trinken, als er etwas hörte. Herzschläge, zwei, sehr leise...
Hastig trank er aus dem kleinen Torso. Blut rann aus seinen Mundwinkeln, doch diese Verschwendung störte ihn nur wenig. Er legte den toten Körper der Ratte neben sich und lauschte gespannt. Auch die verbliebenen Ratten schienen die Besucher zu bemerken, sie begannen zu fiepen. "Verflixt noch mal!", knurrte Wulfric innerlich. Er schob den Jutesack in eine Nische an der Wand und drückte sich dann auch dort hinein.
Die Herzschläge verblieben eine Weile an einer Stelle, er konnte leises Flüstern hören. Zwei Frauen, da war er sich sicher. Er sog die Gerüche ein. Menschen, ah, dieser köstliche Duft, der das sanfte pulsieren der Halsschlagader ankündigte. Erregt dachte er an die entblößten Schultern, die er sanft liebkosen würde, bevor er sich zu seinem Ziel vorarbeitete, mit der Zunge auf der süßen, rosa Haut spielte um schließlich, wenn die Panik in ihr aufstieg, langsam die Zähne in den Hals zu versenken. Feine Stiche, die sie in ihrer Furcht kaum spüren würde, würden ihm frisches, nach Angst schmeckendes Blut in den Mund pumpen, während er den ermattenden Körper mit seinen Händen wie ein Liebhaber berühren und streicheln würde.
Der Hall von Schritten schreckte ihn aus seiner Phantasie hoch und er musste schlucken. Er durfte sie nicht aussaugen, gar nicht daran denken. Besser er fesselte sie und brachte sie dann zum Händler. Vielleicht waren sie wertvoll? Zwei Frauen die ganz alleine diesen Tunnel hinab kamen waren sicherlich nicht zufällig hier.
Er grinste hämisch, als die Schritte von einer der Frauen immer näher kamen. Dann, schließlich, kam sie um die Biegung, stand im Licht der Fackel, die er neben der Nische platziert hatte. Hübsch war sie, trug nur eine dünne Bluse und einen weißen Rock. Blonde Haare wanden sich, zu einem Zopf geflochten um ihren zarten Hals...
Sie schien jemanden erwartet zu haben. Natürlich, sie hatte das Licht gesehen. Vielleicht suchte sie nach Hilfe? Es war kalt und obwohl er die Kälte nicht spürte musste sie in ihrer Kleidung doch frieren.
Er sprang vorwärts. Es ging so schnell, dass sie ihn erst bemerkte, als er sie schon am Hals gepackt hatte. Grinsend presste er sie gegen die Wand, drückte ihr die Luft ab, so dass sie nicht schreien konnte. Dann drückte er sein Gesicht in die Beuge von Hals und Schulter, um ein wenig mit seinem Essen zu spielen.
Wulfric schrie auf. Er wollte etwas sagen, sie beschimpfen, verfluchen, doch der Schmerz entzog ihm die Kraft zum Sprechen. Seine Hand, sie brannte wie Feuer, sein Gesicht fühlte sich an, als habe er sich mit Säure bespritzt. Er spürte wie die Haut sich knisternd verätzte und hörte wie die Frau leise lachte. Triumphierend stieß sie ihn von sich, doch er hatte nicht die Absicht alleine unterzugehen. Das Weihwasser, das sie sich auf die Haut geträufelt hatte war schmerzhaft, doch es würde ihn nicht umbringen. Er packte die Frau am Arm, um sich an ihr festzuhalten, doch er rutschte ab und bekam nur ihre Bluse zu fassen. Der dünne Stoff riss sofort. Trotzdem brachte sein tollpatschiger Versuch, sich auf dem schmalen Weg neben der Kloake zu halten, sie dermaßen ins Wanken, dass auch sie den Halt verlor. Zusammen stürzten sie in den stinkenden Strom.
Jetzt hatte er sie! Wasser konnte ihm nichts anhaben, selbst wenn es so dreckig war wie dieses. Er brauchte keine Luft, doch sie musste früher oder später an die Oberfläche. Fest entschlossen packte er ihre nun nackten Schultern und drückte sie nach unten.
Sein Opfer zappelte und er wähnte sich schon sicher, als ihn plötzlich ein Stich durchfuhr, tausendmal schmerzhafter als die Wunden an Gesicht und Hand. Sie hatte ihm einen Dolch in die Rippen gestoßen. Dummes Kind, auch das konnte ihn nicht töten. Oder? Die Gewissheit kam zu spät, als ihn schon die Kräfte verließen. Sie stieß ihn von sich, verschwand nach oben, während er hinab sank. Wie konnte es sein? Doch dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Sie hatte nicht einmal Schuhe getragen! Sie hatte gewusst, wie es enden würde. Die Erkenntnis brannte sich in sein Bewusstsein während um ihn herum alles schwarz wurde.

"Gibst du mir meine Sachen, bitte?", sagte Rea, als Sara ihr aus dem Abwasser geholfen hatte.
"Ich habe sie dort hinten in die Nische gelegt. Ihr seid ein ganz schönes Stück abgetrieben." Sara versuchte höflich den Blick von Rea, die dreckverschmiert und halbnackt war, abzuwenden, doch diese schien offensichtlich ein interessantes Bild abzugeben.
Zitternd hechtete Rea zu der Nische zurück und zog sich dort komplett aus. Das Unterhemd und der Unterrock waren zu nichts mehr zu gebrauchen. Auch nicht die knielange Unterhose. Doch zum Glück hatte Rea an Ersatz gedacht. Man konnte ja nie wissen.
Mit einigen Taschentüchern wischte sie den gröbsten Schmutz aus ihrem Gesicht, bevor sie sich schließlich wieder ankleidete.
"Eines verstehe ich nicht.", sagte Sara. "Woher wusstest du, dass uns ein Vampir erwartet, Feldwebel?"
"Ich wusste gar nichts. Aber es soll hier noch mehr Wesen geben die auf Weihwasser allergisch reagieren. Man muss schließlich auf alles vorbereitet sein." Rea warf die unbrauchbaren Kleidungsstücke in den Strom. "Eine wichtige Lektion, die du dir merken solltest."
"Aber er hat dich unter Wasser gezerrt, was ist passiert?" Die Frage hatte der Gefreiten offenbar auf der Zunge gebrannt, doch sie hatte höflicherweise gewartet, bis Rea sich wieder in einem vorzeigbaren Zustand befand, auch wenn sie immer noch nass und dreckig war [1].
Rea deutete auf ihre Tasche, in der sie den Dolch abgelegt hatte. "Das ist kein gewöhnlicher Dolch, es ist ein silbernes Athame."
Sara kannte den Ausdruck offensichtlich nicht, da sie Rea weiterhin verständnislos ansah.
"Ein Opfermesser, ein heiliges Messer sozusagen. Gesegnet. Ich befürchte, unser Freund wird eine Weile Magenschmerzen haben... Lass uns weitergehen."
Sara entzündete ihre Fackel an der brennenden, die der Vampir zurückgelassen hatte und die beiden wollten sich gerade zum Gehen wenden, als hinter ihnen ein Schrei erklang.
"Wartet!", rief eine Stimme, piepsig und verängstigt aber doch auf eine gewisse Weise würdevoll.
Sara sah sich um und entdeckte einen Jutesack weit hinten in der Nische. Die Stimme war tatsächlich dort heraus gekommen. Vorsichtig öffnete sie den Sack. Sechs Rattennasen schnupperten zu ihr empor.
"Wächter! Io sei dank. Ich dachte schon, ich müsste verrecken wie gewöhnliches Ungeziefer!", schniefte eine der Ratten, während die fünf anderen stumm, wie es der meisten Ratten Art war, den Ort des Schreckens verließen. Schon wenige Sekunden später war ihr Getrippel nicht mehr zu hören.
Nur die kleine braune Ratte saß immer noch im Jutesack und sah zu den Wächterinnen auf.
"Mein Name ist Gräfin Schinkenstadt, darf ich die Namen meiner Retter erfahren?"
"Sara...", stammelte Sara und ging in die Hocke um die Ratte besser betrachten zu können.
"Feldwebel Rea Dubiata.", stellte Rea sich vor. "Du kannst also sprechen, ja?"
"Ich kann mich nicht entsinnen Ihnen das "Du" angeboten zu haben, Feldwebel.", erwiderte die Ratte keck.
Rea zog die Augenbrauen hoch. "Ziemlich frech für eine edle Dame, die soeben einem wildem Vampir entkommen ist. Ich sehe schon, Sie haben Humor, Gräfin."
"Schon besser", piepste die Ratte. "Was, wenn mir die krude Frage gestattet ist, suchen zwei Wächterinnen der Stadt der tausend Tode denn hier unten?"
"Einen Kameraden.", sagte Sara. "Er hat einen Taschendieb nach hier unten verfolgt."
"Einen Taschendieb? Nach hier unten?" Die Gräfin horchte auf.
"Ungewöhnlich?", fragte Sara. "Die Gänge hier unten müssen doch ein Paradies für Verbrecher sein, die abtauchen wollen!"
"Abtauchen ist gut.", murrte Rea, die noch immer triefte.
"Ihr Kamerad ist sicherlich auf dem Weg nach Hel. Das ist die größte Stadt, zu der dieser Kanal führt. Wäre es euch recht, wenn ich euch begleiten würde?" Die Gräfin sah hoffnungsvoll zu den Wächterinnen auf.
"Gerne."

"Wir sind gleich da", sagte die Gräfin, bereits zum dritten Mal. Sie hatte es sich auf Reas Schulter bequem gemacht und sich als eine freundliche, wenn auch etwas anstrengende Gesprächspartnerin entpuppt. "Und Sie wollen mir wirklich erzählen, Sie wären noch nie hier gewesen, Feldwebel?"
"Ich kenne die Geschichten und ich kenne die schwarze Bruderschaft. Aber selber gewesen bin ich nur auf den Märkten der tollen Schwestern."
"Kein Gefahrengebiet also. Sie werden sich noch wundern. Die Geschichten sind zumeist wahr."
"Die Märkte der tollen Schwestern? Der Name ist mir aber bekannt.", warf Sara ein.
"Ja, Sie kennen den oberirdischen Platz der tollen Schwestern. Nur die Bewohner der Stadt unter der Stadt wissen von dem Markt in der Halle darunter. Oh, Sie werden staunen, staunen werden Sie."
"Ich hoffe doch nicht, dass uns unsere Wege soweit führen werden, Gräfin.", sagte Rea bestimmt. "Ich möchte nur meinen Gefreiten wieder aus diesem Nest holen."
"Bei all den Gefahren, die die Stadt unter der Stadt für die Menschen bereithält, ist es auch kein Wunder, dass Sie nichts von ihr wissen wollen. Vor allem seit den neuesten Ereignissen."
"Was für Ereignisse?", wollte Sara wissen.
"Fragen Sie lieber nicht.", kommentierte Gräfin Schinkenstadt. "Gleich kommt das erste Hindernis."
"Der rosarothe Rächer?", fragte Rea neugierig.
"Exakt.", erwiderte die Gräfin.

"Wir müssen von hier verschwinden!" Oldas sah Azur panisch an, während er den Tunnel entlang rannte.
"Ach, wirklich?", rief der Angesprochene der neben Oldas hersprintete. "Ich dachte, wir könnten uns bei einem Tässchen Tee mit ihnen unterhalten! Sie wirken sehr zivilisiert!"
"Sie sind bescheuert, Mössieu d'Acre!", rief der Zwerg dem Mann zu.
"Zwerge und Ironie! Lassen Sie uns verschwinden!" Azur warf einen Blick hinter sich. "Sie holen auf!"
"Was wollen die von uns?"
Dieser Zwerg! Erst jagte er ihn durch die halbe Stadt unter der Stadt und dann stellte er auch noch Ansprüche! Er konnte sich gut vorstellen, wieso die Häscher hinter ihnen her waren. Herr Fuchs und Herr Wolf hatten dem Vampir, der sie aufgegriffen hatte, einen ziemlich großen Sack Ratten gegeben. Ratten waren der normale Lohn für einen niederen Vampir, doch so einen großen Sack? Und natürlich wusste er was sie wollten. Deswegen hatte er ja den ganzen Ärger auf sich genommen. Die auffällige rote Handtasche hatte er mittlerweile weggeworfen, das was sie wollten befand sich in seiner Westentasche und sie mussten ihn erst umbringen, bevor er es ihnen überlassen würde.
Alles hätte wunderbar geklappt, wenn der bescheuerte Zwerg nicht versucht hätte, ihn zu verhaften. So ein Radau musste ja geradezu alle Vampire der Stadt unter der Stadt geweckt haben. Aber nun ging es nur darum, Emil zu retten.

"Der rosarothe Rächer bewacht den Eingang von Hel. Er ist... eigenartig."
Die drei hielten auf eine große, aus rosa Sandstein gehauene Ritterstatue zu, die den Weg blockierte. Als sie davor standen bewegte diese sich. Der Kopf neigte sich mit leisem Knirschen herunter und die donnernde Stimme des Rächers ertönte durch die riesige Tropfsteinhöhle, an deren Ende die Stadt Hel lag.
"Ihr begehrt Einlass nach Hel, der größten Provinz der Stadt unter der Stadt? So zeigt eure friedlichen Absichten."
Die Gräfin räusperte sich. "Jeder von uns muss ein Gedicht vortragen, möglichst ein Schnulziges. Dann lässt er uns passieren."
Rea und Sara sahen sich erst gegenseitig an, dann die Ratte.
"Ist das einer ihrer hervorragenden Scherze, Gräfin?", fragte Sara.
"Oh nein. Ich beginne, ihr werdet staunen!"
Die Ratte richtete sich auf ihre Hinterfüße auf und blickte nach oben zu der Statue, die mit ihrem steinernen Visier auf die kleine Gruppe herab starrte, auf ein riesiges steinernes Schwert gestützt [2].

Liebester, oh Liebster mein,
noch sind wir nicht verloren,
hat doch der Himmel uns
zu Höh'rem auserkoren.
Die Gewalt der Erde hat uns
getrennt vor langer Zeit,
als du mir gabst den letzten Kuss,
verdammt zur Einsamkeit.
Und mit deinem wack'ren Schwerte
stachst du tief hinein ins Herz,
aus Liebe mich zu trennen
von allem scheibisch Schmerz!
Dein Speer voll flammend Liebe
erquickte mich so lang,
doch war es nicht mein Schicksal,
um das ich hab gebang'.
Und so bin ich Dein nun,
auf Ewigkeit verbunden,
haben uns nach langer Zeit
für immer nun gefunden!


"Was kennt ihr für Gedichte, Gräfin!", sagte Rea empört, doch ein Geräusch des Rächers ließ sie verstummen.
"Der Nächste, Bitte!"
Rea räusperte sich.


Wahrheit, kalte Wahrheit,
muss sie denn existier'n?
Kann ich nicht eine Lüge leben,
Ich wär' so glücklich dann.
Wieso zerplatzt du Träume,
wieso löschst du das Licht?
Was bringt denn meine Not dir,
was nützt das Herz entzwei?
Nur ein Fünkchen Hoffnung
hielt es fest zusammen,
nur die kleine Lüge
dich ich Wahrheit fand.
Doch von heißer Schneide
verschied der letzte Schlag
Gibt nichts was ich kann ändern
Gibt nichts was ich verzeih't.


Sara schluckte. Ihr fiel nun absolut kein schnulziges Gedicht ein. Sie hatte sich nie sehr damit auseinandergesetzt und jetzt, wo es darauf ankam, war ihr Kopf leer.
Rea stupste sie an. "Komm schon!", flüsterte sie. "Er wird ungeduldig."
Tatsächlich schienen sich die Finger am Schwertknauf zu bewegen und auf eine falsche Bewegung zu warten.
Ihr Hals wurde trocken, ängstlich blickte sie sich um und sagte dann das einzige Gedicht auf, das mit Liebe zu tun hatte, welches sie kannte.

Hoppelhäschen Peter
kam heute etwas später
nach Hause in sein Hasenhaus
und seine Frau die schalt ihn aus.
"Aber Häschen, hör doch zu,
ich erklär dir das im Nu!
Mach dich doch nicht so verrückt,
hab dir 'nen Blumenstrauß gepflückt!


Der Ritter zögerte unendlich andauernde Sekunden lang, dann nickte er. "Passiert!", grollte er.
"Nichts wie weg hier!", murmelte Rea und ging an der Statue vorbei durch einen breiten Tunnel. Sie hatten den Strom der Kloake längst hinter sich gelassen und der Geruch von Erde und Gestein war eine willkommene Abwechslung.
"Was war das für ein Gedicht, Gefreite?", wollte die Gräfin wissen.
"Meine Mutter ist Lehrerin. Sie bringt Kindern andauernd solche Gedichte bei... damit sie sie später vor ihren Müttern rezitieren können. Ein bisschen ist da wohl hängen geblieben."
"Na, solange es funktioniert." Die Gräfin lachte munter und die drei setzten ihren Weg in Richtung Hel fort.

Die Stadt unter der Stadt war ihr vertraut. Sie kannte viele der dunklen Winkel die die Atmosphäre der Metropole unter der größten Stadt der Scheibenwelt ausmachten. Die Stadt unter der Stadt - eigentlich eine Ansammlung von Provinzen, Grafschaften und kleineren, unterirdischen Dörfern und Märkten - bestand zum größten Teil aus Schlupfwinkeln. Kleine wie große Nischen für die kleinen und großen Fädenzieher, von denen einer ihr neuer Auftragsgeber war. Die Vampire der Stadt unter der Stadt waren kaum mehr als Handlanger, Kopfgeldjäger, halbintelligentes Ungeziefer, das sich hauptsächlich von Ratten ernährte, die es hier unten zu Hauf gab. Das mochte einer der Gründe dafür sein, warum ihr Auftragsgeber ihre professionelle Schädlingsbekämpfung finanzierte. Immerhin waren die Ratten nicht allesamt dumme Tiere, einige hatten unter der Unsichtbaren Universität mehr Magie aufgenommen, als sie nötig gehabt hätten und so hatte sich eine Kaste intelligenter Ratten gebildet, die mit tausenden kleinen Pfoten die Geschicke unsagbar vieler Menschen unter- und oberscheibisch lenkte. Kein Wunder also, dass ihnen daran gelegen war, die Bluttrinker zu verscheuchen, denn die Vampire brachten den riesigen Rattenkolonien immer wieder starke Verluste bei. Dabei geriet auch die eine oder andere intelligente Ratte ins Netz, die dann schmachvoll in einem Sack zusammen mit den Niederen in einen der "Imbisse", wie man sie nannte, verschachert wurde.
Die Anführer der Vampire kannte sie gut. Oft genug war sie ihnen begegnet, knapp entkommen und hatte in das spitzbübische Gesicht der Rothaarigen und in das bullige des Braunhaarigen gesehen. Herr Fuchs und Herr Wolf traten nur gemeinsam auf. Niemand wusste so genau woher sie kamen, niemand kannte ihre Gründe für das, was sie taten, außer, dass Lucia di Fiago sie angestellt hatte. Und Lucia war der größte Gegner der schwarzen Bruderschaft, bei der sie nun als freies Mitglied tätig war.
Lucia wollte diesen Mann, Azur d'Acre. Warum genau wusste sie nicht. Es war ihr auch egal, solange sie ausreichend Blutsaugern einen Pflock ins Herz rammen konnte. Daher stand sie in der dunklen Ecke der kleinen, spärlich beleuchteten Höhle, in die die drei Vampire Azur und seinen Begleiter - einen Zwerg - gebrachte hatten.
"Di Fiago hat gesagt sie will nur den Mann. Den Zwerg könnten wir beißen!" Einem zerlumpten, kahlköpfigen Vampir lief Speichel aus dem Mund, als er sich die Lippen leckte und gierig zu dem ohnmächtigen Zwerg starrte. Ein Wächter, wie die Dame in den Schatten nun erkannte. Die Wache, auch das noch!
Ein zweiter Vampir, groß, blond und weniger schmutzig als die anderen beiden, riss den ersten von der Beute weg und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. "Daz izt kein guterr zZeitpunkt!", zischelte er. "Wirr zollten die Gefangenen wiederrholen. Mirr egal ob Fiago die brraucht oderr nicht!"
Der dritte Vampir, eine Frau, kaute nervös an den dreckigen Fingernägeln. Sie wirkte verschüchtert, fast kindlich und war genauso zerlumpt wie ihre beiden Kumpanen. In langes, straßenköterblondes Haar gehüllt, saß sie an der Wand der kleinen Höhle und beäugte die Gefangenen. "Wir sollten sie ausliefern, so schnell wie möglich. Dieser Dacrä soll ein hohes Tier sein... Der Zögling einer Rättin, sagt man. Und Alchemist..."
"Mirr egal!", schrie der Blonde sie an. "Halt den Mund! Wenn err zo wichtig iz, will ich nochmal überr den Prreis verrhandeln."
Die Frau zog die Knie an die Brust und kaute weiter auf den Fingernägeln herum. Der Kahlköpfige setzte sich auf einen alten Tisch auf der gegenüberliegenden Seite und ließ die Beine baumeln. Für eine Weile war es ruhig, dann sprach der Blonde wieder: "Ich werrde den Herrrrschaften Bescheid geben, ihrr pazzt zo lange auf zie auf. Und wenn einem derr beiden nurr ein Haarr gekrrümmt wirrd..."
Er überließ die Drohung der Fantasie der beiden anderen und verließ die Höhle.

"Das ist also Hel...", murmelte Rea.
Ein schwarzer Fluss, dessen Wasser nicht viel weniger Dichte besaß als der Ankh, der hunderte von Metern über ihnen dahinkroch. Die eigentliche Stadt bestand aus nicht viel mehr als 100 kleiner Häuser, sowie einem Hafen und mehreren gestrandeten Schiffen, die wohl ebenfalls Wohnraum boten. Das Ganze befand sich in einer großen Höhle, die indirekt durch kleine leuchtende Würmer erhellt wurde. Auffallend groß war der Umladeplatz am Hafen, an den Gefährte, meistens von kleinen Ponys gezogen, ihre Ware an Schiffe verluden und umgekehrt.
Die meisten Leute die sie trafen waren durchaus menschlich, wenn sie auch meist sehr exzentrisch wirkten. So begegnete ihnen ein graubärtiger Mann im rosa Tutu, der sich auf Spitzenschuhen grazil um sie herum bewegte, vor der Gräfin eine kleine Verbeugung andeutete und dann Pirouetten drehend verschwand. Ihm folgte eine Gruppe schäbig aussehender Piraten, die höflich den Hut (und in einem Fall ein Toupé) zogen. Eine Familie, deren Mitglieder allesamt Tiermasken trugen, zwängte sich mit einem Karren voller Felle an den Piraten vorbei, um den Inhalt auf ein Schiff zu verladen. Ein Mann mit zerlöcherter Admiralsuniform und Dreispitz, der auf einem großen Schoner namens Vektoria stand, winkte einer als weißem Vogel verkleideten Frau zu. Diese winkte freudig mit den an den Armen befestigten Schwingen und lief auf ihn zu.
"Auf das Schiff!", sagte die Gräfin. "Bitte. Der Admiral ist ein alter Freund von mir."
"Er sieht seltsam aus.", meinte Sara und Rea stimmte ihr zu.
"Hier sehen alle seltsam aus.", meinte die Rättin. "Aussteiger, Wanderer, Tunnelstreicher; nennt sie wie ihr wollt aber für sie seid ihr die wahren Verrückten."
Rea hob nachdenklich die Augenbrauen und bemerkte, dass einige Jungen, deren Kleidung hauptsächlich aus Farbe bestand, kichernd auf sie zeigten und untereinander tuschelten. Mit einem unwohlen Gefühl in der Magengegend beschritt sie die Planke der Vektoria und sprang auf das Deck. Sara folgte ihr.
Der Admiral zog munter seinen Hut. Erst jetzt erkannte Rea, dass ihm der rechte Arm fehlte und er eine Augenklappe trug. Das linke Bein war durch ein Holzbein ersetzt worden, doch die vielen Falten, die seine Mundwinkel umspielten, ließen ihn lebensfroh und optimistisch wirken.
"Gräfin Schinkenstadt, willkommen auf der Vektoria. Was führt Sie zu mir? Und zwei hübsche Begleiterinnen habt ihr da mitgebracht. Wie komme ich denn zu der Ehre?" Er sprach freundlich, mit leichtem gennuesischen Dialekt und einem schelmischen Grinsen. Die Gräfin setzte sich auf Reas Schulter auf die Hinterläufe und schnupperte in der Luft, offenbar sollte dies eine Begrüßung sein.
"Können wir unter vier Augen sprechen?" Die Ratte schielte die Schwänin misstrauisch an.
"Aye, folgt mir, ihr Landratten!" Er kicherte und die Rättin schien es ihm gleich zu tun.

Oldas blinzelte. Eine Frau mittleren Alters sah ihm aus dicken Brillengläsern in die Augen. Sie tätschelte nochmal seine Wange, um ihn ganz aufzuwecken. Schließlich öffnete er seine Augen gänzlich und starrte in das Gesicht einer rothaarigen Frau, die einen Herrenhut trug. In ihrer Hand hielt sie eine geladene Armbrust, die nicht mit normalen Bolzen, sondern mit Holzpflöcken geladen war. Er sah sie verständnislos an. "Wer bist du?"
"Edwina D. Walerrius", sagte sie mit starkem überwaldianischem Akzent. Dann hielt sie ihm die Armbrust vors Gesicht. "Ich habe dirr und deinem Frreund das Leben gerrettet und sollte es deinem rreudigen Wächterrhirrn einfallen mich zu verrhaften oderr sonst irrgendwas zu tun, ist dieserr Pflock soforrt irrgendwo in deinem Körrperr, bevorr du auch nurr 'Gold' sagen kannst. Verrstanden?"
Oldas nickte stumm. Hinter der Frau sah er zwei kleine Türmchen Asche liegen. War er vom Regen in die Traufe gekommen?
"Ich, ich weiß gar nicht wer du bist... Ähm, danke. Würdest du mich losmachen?"
Die Überwaldianerin legte den Kopf leicht schief. "Was wolltest du hierr unten, Wächterr? Dies ist kein Orrt für deinesgleichen, hierr gibt es keine Gesetze."
"Äh, verirrt?", sagte er, hoffnungsvoll, doch die Frau wollte es genauer wissen. Schließlich erklärte er ihr, dass er einen Dieb verfolgt hatte, nur um herauszufinden, dass dieser sich auf einer wichtigen Mission befand, die er nun vermasselt hatte und dass er seinen Fehler wieder hatte gutmachen wollen.
Die Frau nickte. "Eine Mission, soso... Dachte ich mirr doch dass d'Acrre was im Schilde führrt." Sie stupste den Mann an, der müde versuchte, seinen Kopf zu reiben, bis er bemerkte, dass er gefesselt war.
Die Frau zückte ihr Messer und zerschnitt die Seile, während sie leise vor sich hin murmelte.
Endlich befreit rieb Oldas sich die tauben Hände. "Nun, was hast du nun vor, Walerius?", fragte er, während die Frau die Asche der Vampire aufkehrte und in Säckchen füllte.
"Ich werrde euch ein Stück auf eurrerr Mission begleiten... Bis zurr Pforrte, weiterr gehe ich nicht. Vielleicht kann ich noch ein paarr Blutsaugerr auf dem Weg mitnehmen."
Sie schmunzelte.

Rea und Sara betraten die Kapitänskajüte. Sie war luxuriös ausgestattet, wenn auch Spinnweben, Staub und Unordnung die Möbel bedeckten. Die Szenerie dominierte ein ausgestopftes Krokodil, was auf einem samtgrünen Sofa saß und Tee trank. Es nickte ihnen freundlich zu, schlürfte dann mit seinem langen Maul an der feinen Goldrandtasse und öffnete selbiges kurz darauf zu einem leisen genussvollen "Ah".
Sara erstarrte. War das wirklich Offler der Krokodilgott, der dort in einem Nadelstreifenanzug auf dem Sofa saß, die Beine übereinander geschlagen, so dass ein grüner, schuppiger, bekrallter Fuß in der Luft baumelte? [3] Rea schien weniger verblüfft. Sie wirkte eher, als würde sie eine Berühmtheit treffen, ein wenig misstrauisch aber angenehm überrascht.
"Offler" Die Gräfin auf Reas Schulter begrüßte den Gott wie einen alten Bekannten. "Was führt Sie denn hier her?"
"Gefäfte.", lispelte der Gott und stellte die Tasse ab. "Da hielt ich ef für angebracht, meinem alten Freund dem Admiral einen kleinen Befuch abfuftatten." Er nickte dem Admiral zu, der hinter ihnen das Zimmer betreten hatte.
"Rea..." Sara stupste ihre Vorgesetzte an. "Er mag doch keine Menschenopfer, oder?"
Obwohl sie geflüstert hatte, kicherte der Gott. "Nicht diefe Art von Gefäften. Ich bin der Verwalter einiger Provinzen der Ftadt unter der Ftadt, man muff fich ja fließlich befäftigen, wenn einem die Ewigkeit vergönnt ift, finden Fie nicht?" Er musterte die Frauen mit einem leicht spöttischen Blick, den viele Götter für die Sterblichen übrig hatten, dann streckte er eine grüne Pranke aus und deutete auf die Sitzgruppe. "Nehmen Fie doch Platz."
Der Admiral räusperte sich. "Die Gräfin wollte mich alleine sprechen..."
Die Ratte quiekte leise. "Ich denke, ich kann Offler vertrauen. Wem wäre weniger an der Vernichtung von Lucia gelegen als ihm?"
Der Admiral nickte. "Und ihre Begleiterinnen?"
Die Gräfin sah zu Rea und Rea schielte zur Rättin. "Ich bin mir sicher, sie verfolgen das gleiche Ziel."
Rea hob die Augenbrauen. "Ach, tatsächlich? Wer ist Lucia und wieso sollten wir sie vernichten wollen?"
"Ihr Kamerad war nicht hinter einem normalen Taschendieb her, sondern hinter meinem Sohn."
"Verzeihung, aber der Dieb war ein Mensch, Gräfin Schinkenstadt.", erwiderte Sara.
"Hören Sie mir doch bis zum Ende zu. Mein Ziehsohn, Azur, hatte den Auftrag aus der Stadt der tausend Tode eine potente Waffe zu besorgen, die..."
"Er hat sie gestohlen, eine rote Handtasche!" Sara grummelte.
"Die Tasche war nur die Tarnung. Wer vermutet schon eine Waffe in einer roten Damenhandtasche? Glauben Sie mir einfach. Ihr Freund war hinter Azur her, wo immer Azur ist, wird er auch sein."
Rea schien nicht überzeugt. "Wenn Azur ihm entwischt ist..."
"...sind Ihre Chancen ihn zu finden gleich Null. Sie haben Wulfric getroffen, der war noch harmlos."
"Wulfric? Ich denke Sie haben uns einiges zu erklären, Gräfin..." Sara setze sich nun endlich auf das Sofa, jedoch möglichst weit von dem Krokodilgott entfernt, der sich gerade Tee nachschenkte.

Es war eiskalt. Oldas hatte bislang geglaubt, dass die Hölle, wenn es sie denn gäbe, heiß sein müsste. War nicht von Feuer, Lava und Glut die Rede? Stattdessen war es kalt. Und zugig. Von überall her schien der Wind zu wehen, obwohl sie hunderte Meter unter der Erde waren. Die Pforte, eine eisenbeschlagene Tür, stand weit offen.
"Sie wartet auf uns." Azur blieb vor der Tür stehen.
Edwina nickte. "Diese Türr dürrfte nicht offen stehen. Ich werrde euch jetzt verrlassen."
"Danke für deine Hilfe", sagte Oldas.
"Du kannst auch gehen, Oldas, wenn du willst. Du musst das nicht tun." Azur sah ihn freundlich an. Seine azurblauen Augen, die ihm wohl seinen Namen eingebracht hatten, strahlten ehrlich und furchtlos, obwohl er wusste, was ihm bevorstand. Der ruinierte, mittlerweile verdreckte Anzug, der ihn vor wenigen Stunden noch so edel hatte wirken lassen, verzauberte ihn im Fackelschein, vor der Tür zur Hölle, in einen verwegenen Abenteurer.
Oldas schüttelte den Kopf. "Ich komme mit. Ich bin Wächter, Vektor. Es ist meine Pflicht die Unschuldigen zu beschützen."

"Also dieser Emil ist der einzige, der die Anführerin der Vampire töten kann, welche sich in der Hölle befindet und dafür braucht er das, was Azur gestohlen hat?" Sara fasste es noch einmal zusammen. Die ganze Situation kam ihr nicht real vor.
"Exakt", sagte die Gräfin. Auch Offler nickte.
"Lufia fucht die Ftadt unter der Ftadt nun fon feit Jahren mit ihrer Plage heim. Der Handel leidet, die Ratten fterben, die Menfen können fich nicht mehr auferhalb der gefützten Provinzen bewegen. Es wird Feit."
"Aber warum gerade Emil? Er ist doch nur ein Kind!" Rea musste an den Jungen denken, der sich in der Gewalt einer Höllengöttin befand. Was war an dem Waisenknaben denn so besonders?
"Er ist Lucias Sohn, seine Bitte könnte erhört werden, weil er ein Halbgott ist."
"Aber Offler ist ein Gott, wieso bittet er Io nicht einfach darum?", fragte Rea, während sie erneut Zucker in ihren Tee gab.
"Nein, fo einfach ist daf nicht. Für mich ergibt fich in diefer Fache ja ein enormer Marktvorteil. Wenn Lufia ftirbt und die Vampire führerlof find, werden fie erft einmal allef und jeden wild angreifen. Meine Provinzen würden davon verfont. Weil ich ein Gott bin find fie heilig und fomit nicht für fie betretbar - es fei denn, fie find latent mafochiftif veranlagt." Er lachte. "Ich muff euch aber warnen: Lufia hat biflang keine Menfenopfer feitenf der Vampire geduldet. Ohne Fie werden fie bald der Anarchie anheim fallen."
"Aber das macht sie berechenbarer, einfacher zu töten." Der Admiral ging durch die Kajüte und balancierte seinen Paradesäbel auf der Fingerspitze. "Das Problem ist temporär. Die meisten Flotten sind für diesen Fall vorbereitet. Und ich kenne eine gewisse Dame, der das gefallen könnte."
"Walerius?" Die Gräfin lachte. "Die schwarze Bruderschaft hat ihr einiges zu verdanken. Was macht sie eigentlich, wenn sie alle abgemurkst hat?"
"Wer weiß das schon...", erwiderte der Admiral. "Es gibt genug gefährliche Kreaturen unter der Stadt, mögen die Götter sich ihrer erbarmen."
"Also, gehen wir los?", fragte Rea und blickte in die Runde.

Die Wege durch die Hölle hatte Oldas sich irgendwie dramatischer vorgestellt. Sie trafen keine Dämonen, wurden nicht angegriffen und bis auf den allgegenwärtigen Wind hatte sich ihnen kein Hindernis entgegengestellt. Immer tiefer waren sie gekommen und schließlich in einer breiten Höhle angekommen, durch die ein flammender Fluss strömte.
"Die Styx", sagte Azur. "Schön, dass es immerhin wärmer wird."
Tatsächlich schien der Fluss keine unangenehme Hitze zu verbreiten, sondern die Temperatur auf ein angenehmes Maß zu regeln.
"Ist das wirklich Feuer?", fragte Oldas. "Woher nimmt es denn die Nahrung?"
"Fragen Sie nicht, Gefreiter. Lassen Sie uns von hier verschwinden, wir sind bald da."
Sie brauchten nicht lange. Nachdem sie dem Fluss einige Zeit gefolgt waren, betraten sie eine große Höhle. Sie war in roten Sandstein gehauen, kunstvolle Statuen und andere Verzierungen schmückten die Halle wie einen Tempel. Sie war perfekt rund, wenn man von diversen Einnischungen absah, in denen in Schalen Feuer brannte. In der Mitte befand sich ein Thron. Eine Frau saß darauf. Ihr goldblondes Haar ergoss sich über den schlanken Körper und machte erst an der Hüfte halt. Das weiße Gewand das sie trug war schmucklos und einfach gearbeitet. Ihre einzige Zier war ein dünner, silberner Stirnreif. Sie sah den Eindringlingen entspannt und abwartend entgegen, doch in ihren Augen reflektierten sich die Flammen.
Hinter ihr tauchten zwei Männer auf. Der eine war schmal und rothaarig und seine grünen Augen funkelten listig. Der andere war breit gebaut und braunhaarig, die bernsteinfarbenen Augen strahlten behäbige Stärke aus.
Die Dame bewegte die Augen und sah zu einer der Nischen. Wie in Trance folgten Oldas' und Azurs Blicke denen der Frau. Unter einer Feuerschale, erkannte Oldas, lag ein Junge, scheinbar schlafend. Ärmliche Kleidung und hagerer Körperbau wiesen darauf hin, dass er ein Waisenjunge war.
"Ihr wollt mir also meinen Sohn nehmen?", fragte die Frau. Ihre Stimme war ruhig, besonnen, als sei sie eben aus einem Traum erwacht. "Jetzt, wo ich ihn wieder gefunden habe..." Sie stand auf, bewegte sich langsam auf Azur zu und blieb dann wenige Meter vor ihm stehen. "Willst du deinen eigenen Sohn zum Mörder machen?"
Azur wollte widersprechen, verständnislos blickte er die Frau an. Ihr Gesicht verformte sich, die Züge wurden härter, ohne die Schönheit einzubüßen die es zweifellos besaß. Doch jetzt wirkte sie wie ein Mann, ein Mann der seine Hand nach Azur ausstreckte, welcher bewegungslos dastand. Sie berührte seine Wange und ließ dann sehr plötzlich von ihm ab. "Oh, ja, es ist lange her..."
Lucia sah Azur mit glühenden Augen an.
"Lucius!", entfuhr es ihm, tonlos. "Wie ist das möglich?!"
"Alles ist möglich, ich bin eine Göttin. Und Emil ist unser Sohn... Willst du mich immer noch töten? Nach allem, was gewesen ist?"

Der junge Alchimist brütete in der Bibliothek der Unsichtbaren Universität über einem besonders schwierigen Problem. Seit drei Stunden hatte er Wälzer um Wälzer vom Regal geschleppt und durchsucht, doch nirgends konnte er den Schmelzpunkt von Oktarin finden. Was war das auch für eine bescheuerte Aufgabe, den Schmelzpunkt einer Farbe zu suchen, die Alchemisten nicht einmal sehen konnten. Verärgert und genervt klappte er den Wälzer vor sich zu, nicht ohne seinem Ärger mit einem halblauten "Verdammt!" Luft zu machen.
"Alles in Ordnung?" Die Stimme war weich. Ein sanfter Tenor. Und als Azur aufsah, erblickte er einen hoch gewachsenen jungen Mann, dessen blondes Haar bis zu seiner Hüfte reichte. Seine Augen strahlten ihn an.
Azur errötete. "Ich, tut mir Leid..."
Der blonde Mann beugte sich leicht nach vorne und lächelte. "Ich bin Lucius.", stellte er sich vor.
"Ich... heiße Azur.", sagte Azur und strich sich nervös die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht. Immer wieder fanden seine Augen die des Anderen und immer, wenn sich ihre Blicke trafen, überkam ihn eine Freude, die er noch nie in seinem Leben verspürt hatte.


Die Vektoria segelte über den flammenden Fluss und weder Rea noch Sara war dabei wirklich wohl zumute. Nicht dass sie den Fähigkeiten des Admirals misstraut hätten - er schien wie ein Mann, den selbst Ebbe nicht davon abhalten könnte, voranzukommen; aber die Reise wurde beiden langsam unheimlich.
"Was machen wir, wenn Oldas gar nicht dort ist?", fragte Sara.
"Dann suchen wir weiter."
"Und wenn die Göttin uns umbringt oder so?", hakte die Gefreite nach.
"Sind wir das wirklich wert? Götter sind am Treiben der Sterblichen herzlich wenig interessiert." Rea sah müde über die Reling. Sie hatte die Zeit an Bord genutzt, sich in der Kapitänskajüte ein wenig herzurichten. Der Schmutz war Vergangenheit, ihre Haare waren wieder gekämmt und sauber, doch das Lederband hatte die Scherereien nicht mitgemacht. Jetzt spielte der Wind, der von überall und nirgendwo zu kommen schien, mit den hüftlangen, blonden Haaren, die sich über die ungewohnte Freiheit freuten.

Azur sah zu Boden, wich dem Blick des Mannes aus, den er einst geliebt hatte. Er seufzte. "Warum hast du mir nie davon erzählt?", flüsterte er.
Lucius lächelte. "Hättest du es mir denn geglaubt?"
Azur griff in die Tasche, in der das kleine runde Etwas verborgen war, weswegen er gekommen war. "Du stiehlst Kinder, entsaugst ihnen Leben, damit du stärker wirst. Du schickst deine Vampire in die Provinzen der Ratten und der Menschen. Es wäre nur rechtens, wenn wir dich vernichteten. Wenn er dich vernichtet."
Lucius ging einen weiteren Schritt auf ihn zu, hob mit der Hand langsam sein Kinn und küsste ihn dann so zärtlich wie damals, vor vierzehn Jahren, als sie sich zum ersten Mal geküsst hatten. Dann spürte Azur Lucius' Hand an seinem Hals. Der Gott drückte zu, hob ihn hoch und sah ihm spöttisch in die Augen. "Wie einfach ihr Menschen doch seid. So einfach zu verführen. Gib es mir... und alles ist vergessen."
Azur sah zu Emil, der sich bewegte und zu erwachen schien. War dies wirklich sein Sohn? Oder war dies nur eine List Lucias, hatte die Göttin ihn tatsächlich in der Hand? Zappelnd griff er mit beiden Händen nach der Hand Lucius', schnappte nach Luft und versuchte, sich zu entwinden. Im Augenwinkel sah er Oldas. Der Zwerg hatte seine Axt gezogen und lief auf Lucia zu. Doch die beiden Gehilfen der Höllengöttin waren schneller. Sie packten ihn gemeinsam an den Schultern und schleuderten ihn in eine Ecke. Oldas blieb reglos liegen.

Sie sahen den Zwerg durch die Luft fliegen als sie die große Halle erreichten. Der Admiral nickte dem Krokodilgott zu und sie gingen den beiden Gehilfen nach. Der Admiral begann, sich mit dem Säbel mit einem Mann, der einem Fuchs recht ähnlich sah, zu duellieren. Offler rang mit einem wolfsähnlichen Hünen.
"Der Junge!", fiepte die Gräfin den Frauen ins Ohr. "Der Junge ist wichtig. Azur schafft das schon!"
Der schwarzhaarige Mann schien keinesfalls die Oberhand in dem Kampf zu haben, er lief langsam blau an und zappelte kläglich. Doch die Gräfin hatte sich auf dem Schiff klar und deutlich ausgedrückt. Azur würde Lucia aufhalten.
Rea und Sara rannten in die kleine Nische, in der der Junge lag. Klein für sein Alter und schäbig angezogen lag er da. Im ersten Augenblick dachte Rea er wäre tot und das Herz blieb ihr stehen. Doch er bewegte sich. Erleichtert knieten sie sich neben ihn. Erst als er die Augen öffnete merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Denn nur ein einzelnes, hellblaues Auge sah ihr entgegen. Die andere Augenhöhle war leer.
"Emil", flüsterte Rea. "Geht es dir gut?"
Der Junge setzte sich auf und Rea erkannte bei näherer Betrachtung, dass Emils Auge schon lange fehlte. Die Wunde war verheilt, doch sie wirkte wie ein Meteoritenkrater in einer ansonsten friedlichen Landschaft. "Wer seid ihr? Was wollt ihr von mir? Wer sind diese Leute?"
Sara strich dem Jungen durch das blonde Haar. "Wir sind Wächterinnen aus Ankh-Morpork."
Die Augen des Jungen erstrahlten. "Wächter! Ich möchte auch Wächter werden.", wisperte er.
"Wir sind hier um dich zu beschützen, Emil." Rea sprach ruhig, auch wenn sie wusste, dass ihnen nicht viel Zeit blieb. Soeben hatte der Fuchs den Admiral entwaffnet und trotz seiner Göttlichkeit schien sich Offler gegen den Wolf nicht sonderlich behaupten zu können.
"Diese Frau sagt, sie wäre meine Mutter", sagte Emil. "Ich habe eine Mutter!"
Die Gräfin fuhr sich nervös mit der Pfote über das Ohr. "Emil... die Frau ist böse."
Emil schüttelte den Kopf. "Ich habe eine Mutter. Immer wollte ich eine Mutter haben."
"Du bist ein kluger Junge.", sagte eine dunkle Frauenstimme. Lucia war hinter ihnen aufgetaucht, würdevoll schritt sie auf die kleine Gruppe zu.
Emil sah abwechselnd von den Wächterinnen zu Lucia und dann auf den leblosen Körper Azurs, der zusammengesunken vor dem Thron lag. Dann bewegte sich der Körper doch. Eine Hand griff in die Westentasche des zerrissenen Anzuges und ließ etwas los, was sofort durch die Gegend flog. Flink wie ein Kolibri umkreiste es Lucia und machte dann vor Emil halt.
Rea stockte er Atem. Es war eines der Augen des blinden Ios.
Emil sah hinein, sah auf in das geschockte Gesicht der Göttin und dann zu Rea, die ihm am nächsten stand. Sie witterte ihre Chance. "Emil, wir Wächter sind dazu da um zu retten, um zu schützen. Vertraust du mir?"
Emil sah Rea an. Sie sah so ehrlich sie konnte zurück, ganz in dem Bewusstsein, sich von Lucia nur wenig zu unterscheiden. Sie beide waren in langes, blondes Haar gehüllt, sie beide wollten sicherlich nur das Beste für den Jungen.
"Was muss ich tun?", flüsterte Emil Rea zu.
Sie sagte es ihm.
Er starrte in das Auge. Lucia, Sara, die Gräfin und Rea sahen ihm gebannt zu. Seine Stimme war leise als er sprach: "Blinder Io, ich bitte dich, lass hier Recht und Ordnung walten."
Das Auge blinzelte. Dann erloschen die Feuer, die die Höhle erhellten. Rea fühlte, wie der Junge einen Schritt zurückging. Wortlos fasste sie ihn an den Schultern und versuchte, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.
Dann erhellte sich die Halle für den Bruchteil einer Sekunde, das Licht fuhr in den Körper der schönen Höllengöttin und zersprengte ihn in tausend winzige Stücke.
Es war still. Die Schalen füllten sich wieder mit Feuer. Dort, wo eben noch Lucia gestanden hatte war nun nichts mehr. Das Auge des Ios war verschwunden.

Sie hatten Emil bei der Gräfin und Azur gelassen. Offler bereitete eine neue Kanne Tee auf der Vektoria zu, die sie zurück nach Hel bringen würde.
Sara war indes damit beschäftigt, ihre Erste-Hilfe-Übung an Oldas und dem Admiral zu beenden.
Die Gräfin hatte auf Azurs Schulter Platz genommen und unterhielt sich angeregt mit ihm. Rea hatte die seltsame Konstellation, die sich ergeben hatte, registriert, jedoch verstand sie sie nicht ganz. Die Göttin Lucia hatte einige Zeit wie ein normaler Mensch in Ankh-Morpork gelebt und zwar als Mann. Natürlich konnten Götter jede Gestalt annehmen die sie wollten aber dann hatte sich Azur ihn sie - ihn - verliebt und aus irgendeinem Grund war daraus ein Kind entstanden.
Emil hatte zuvor nie von seinen Eltern gehört. Er wusste nur, dass man ihn in einer Kutsche gefunden hatte, die aus Quirm gekommen war. Niemand hatte das Kind auf der langen Reise bemerkt, doch Emil war lange fest davon überzeugt gewesen, dass seine Eltern Kutscher aus Quirm waren und ihn eines Tages mit einer luxuriösen Kutsche abholen würden.
In Hel trennten sich ihre Wege. Rea, Oldas und Sara machten sich auf zu dem rosarothen Rächer. Die beiden Frauen rezitierten die Gedichte die sie schon vorher aufgesagt hatten und passierten ohne Weiteres.
Oldas sah hoch in das steinerne Gesicht. Er war nie gut in Literatur gewesen. Doch er kannte eines der schönsten zwergischen Liebesgedichte auswendig. Förmlich räusperte er sich und trug dann vor:

Gold, Gold, Gold
Gold, Gold
Oh Gold, Gold, goldenes Go-


Weiter kam er nicht. Der rosarothe Rächer zog sein Schwert und schwang es einmal kräftig. Bevor Oldas reagieren konnte, sah er schon in die leeren Augenhöhlen des Todes.
"Was bildet der sich eigentlich ein!", fluchte Oldas. "Das is' speziezistisch. Niemand hat mir gesagt dass es sich um 'ne menschliche Schnulze handeln muss."
Tod nickte langsam. DU BIST NICHT DER ERSTE DEM ES SO ERGEHT. ER IST EIN KRITISCHER ZEITGENOSSE.
"Kunstbanause, Korinthenkacker!", schrie Oldas wütend und verstummte dann, niederblickend auf das gebrochene Etwas, das einst sein Körper gewesen war. Rea und Sara beugten sich über den kläglichen Berg von Knochen, Blut und Rüstung. Die beiden hoben den Körper hoch und trugen ihn mit vereinten Kräften. Oldas sah sich um. Tod war verschwunden, stattdessen tat sich dort, wo er eben noch gestanden hatte, ein Tunnel auf. Bergwerksarbeiten waren zu hören, rhythmisches schlagen von Stahl auf Stein, quietschende Lorenräder... Und leise, ganz leise vernahm er einen Gesang: "Heihi, heihi, heiho..."


Epilog

Rea sah von dem kleinen Grab auf. Der Sarg in dem rechteckigen Loch war einfach gearbeitet. Das Siegel der Stadtwache und der roten Morpork prangte darauf. Es regnete, der Himmel war grau und hüllte den Friedhof in ein düsteres Licht. Ein kleiner Priester mit dicker Brille las eine Stelle aus einem heiligen Buch aber keiner der Wächter hörte ihm zu. Sie alle dachten an das Opfer, das Oldas gebracht hatte. Das ultimative Opfer, um einen Jungen zu retten. Damien G. Bleicht stand neben ihr, er wirkte verbitterter als sonst. Er hatte den Kragen seines unauffälligen, dunkelgrauen Mantels hochgeschlagen, damit ihn niemand erkannte, in dessen Szene er sich herumtrieb. Ein paar Meter weiter standen Kannich, Bjorn und Scoglio, sie schienen mehr als betreten zu sein. Respektvoll hielten sie ihre Helme unter den Armen und ließen sich den Regen auf die Köpfe prasseln. Die restlichen SEALS und einige Wächter anderer Abteilungen drängten sich unter schwarzen Regenschirmen. Einige davon erwiesen dem Zwerg in Paradeuniform die letzte Ehre.
"Schon wieder einer weniger.", sagte Damien leise, als sie den Friedhof verließen. "Und dann stirbt er, einfach so. Nebenbei. Weil er zufällig den Falschen verfolgt hat."
Rea sah nachdenklich den Hauptgefreiten an und schüttelte dann den Kopf. "Es gibt keine Zufälle, Damien. Er hat seinen Job gemacht... Vermittler zur Errettung von Kindern, Tieren oder Rechtschaffenden. Oder allen dreien zusammen."
Sie seufzte. Das war der Dank den ein Wächter zu erwarten hatte - ein schlecht gezimmerter Sarg, ein billiger Grabstein... sonst nichts. Die Stadt verschlang alles, dem sie habhaft werden konnte, wie ein lebendiges Wesen schien sie sich am Leid ihrer Bewohner zu laben. Unter der bröckelnden Fassade der florierenden Stadt laurte eine gierige, grauenvolle Kreatur die alles verschlang was sich nicht zu wehren wusste. Aber sie würde sie wehren, sie war nicht zum letzten Mal dort unten gewesen, dass wusste sie nun. Früher oder später würden sie ihre Wege wieder tief nach unten führen, doch sie würde bereit sein, was auch immer da kommen mochte.
[1]  und, wir möchten es nicht verschweigen, stank, wie man nun einmal stinkt, wenn man in der Kloake gebadet hat.

[2] Sie sah dabei ein bisschen aus wie mein Onkel Oswald.

[3] Natürlich hat Offler in vielen Darstellungen einen menschlichen Körper. Aber wir wollen nicht vergessen dass Götter ihre Gestalt wandeln können.

Angelehnt an die Lycidas Trilogie von Christoph Marzi. Fragen Sie nicht! Fortsetzung folgt.

Zählt a



Für die Inhalte dieses Textes ist/sind alleine der/die Autor/en verantwortlich. Webmaster und Co-Webmaster behalten sich das Recht vor, inhaltlich fragwürdige Texte ersatzlos von der Homepage zu entfernen.

Feedback:

Von Ophelia Ziegenberger

15.12.2007 14:36

</b><br><br>Mein ausführliches Feedback hast Du ja schon im Voraus bekommen. Darum hier nur noch ganz kurz: Die Geschichte strahlt etwas episches aus, was an viele andere gute Wachesingles erinnert. Aber sie kann dem von Dir selbst gesetzten Standard nicht gerecht werden. Was mir beim nochmaligen Lesen übrigens erst bewusst wurde war, dass mir Reas Sicht der Geschehnisse etwas fehlt. Sie bzw. ihre Gedanken kommen zu kurz, denke ich. Aber den Vektor-Patch hast Du dir mit dieser Single allemal endlich verdient! ;)

Von Kannichgut Zwiebel

15.12.2007 14:36

</b><br><br>Schreiben jetzt Ausbilder die Singles für ihre Azubis? ;)<br>Ein Großteil der Story war mir zu sehr an den Haaren herbeigezogen. Anfangs hat mich gestört, dass Rea diese "mir kann nichts anhaben"-Atmosphäre umhüllt. Andererseits kann man von einem Feldwebel wohl auch erwarten, dass er gewisse Dinge im Griff hat, so dass das im Verlauf der Geschichte nicht sehr negativ wog.<br>Im Mittelteil beginnst du eine Epik vor dem Leser auszubreiten, die in der Kürze der Geschichte nur scheitern kann. Das Setting, das stark an Gaimans Niemalsland erinnerte, benötigt enorm viel Raum, um wirken zu können. Da wäre nächstes Mal weniger sicher mehr.<br>Gut gefallen hat mir der Bezug auf aktuelles Wachegeschehen. Ich finde es sehr schön, wenn Ereignisse aus Lives ihren Weg in Singles finden oder umgekehrt. <br>Alles in Allem aber eine runde Geschichte, wenn auch das Auftreten von Oldas mich von Anfang an gestört hat. Ich finde, die Kill-Regelung sollte mal dringend überdacht werden. Es vermiest den Spaß an der Geschichte, wenn bei der ersten Nennung des Namens weiß: Ah, du bist aufgetreten um zu sterben!<br><br><br><b>

Die Stadtwache von Ankh-Morpork ist eine nicht-kommerzielle Fan-Aktivität. Technische Realisierung: Stadtwache.net 1999-2024 Impressum | Nutzungsbedingugnen | Datenschutzerklärung