Prolog
Jede rauchige und verruchte Kneipe hat einen Tisch für Gäste, die bevorzugt behandelt werden. Er befindet sich meistens in einer der Ecken, oft auch in der, die der Theke am nächsten ist; obendrein ist er weit weg von allen Keilereien oder Unruheherden.
In Ankh Morpork gab es viele solche Tische, und an einem dieser Tische saßen gerade zwei Männer, der eine groß und dick und der andere... irgendwie stockartig.
Er war hoch gewachsen und dürr, hatte einen mageren langen Kopf und spinnenartige Finger. Ein einfacher Passant hätte ihn vermutlich mit den Wort "ausländisch" beschrieben, was auch eine sehr gute Beschreibung war, wenn man nicht näher darauf einging.
Doch das auffallend ausländische an ihm waren nur seine Gewänder: Lange, weiche und mit Gold verzierte Umhänge, Roben und Talare, alle in Rot, Magenta oder Violett gehalten. In ihnen bewegte er sich fließend und strahlte Zuversicht und Charisma aus, als wüsste er genau, was in einem vorginge.
Gerade blickte er dem Mann vor ihm, der gewisse Ähnlichkeit mit einem Schwein hatte, tief in die Augen.
"Danke. Ich denke, ich werde noch einige... Aufgaben für dich haben, wenn die Zeit reif ist, aber jetzt geh mir aus den Augen. Ich erwarte einen Kunden." Er holte einen kleinen Samtbeutel hervor und ließ ihn dabei verführerisch klimpern. "Jetzt geh."
Das Schwein nickte und streckte die Hand nach dem Geldbeutel aus, vernahm das Klimpern in seiner Hand und entfernte sich unter einigen Verbeugungen vom Tisch.
"Dilettantischer Amateur. Er denkt zu viel mit den Muskeln; wenn er wüsste, wie er sie kontrollieren könnte, stünde ihm eine große Zukunft in seinem Gewerbe bevor." Ein Schemen löste sich aus den Schatten und hielt auf den Tisch zu. "Ein reizendes Etablissement, das du ausgesucht hast."
"In der Tat." Der Mann am Tisch lehnte sich zurück und nahm einen Zug aus seinem Glas. Dann stand er auf und bot dem Neuankömmling seine Hand an.
"Es ist mir immer eine Freude, einen neuen Klienten begrüßen zu dürfen."
"Auch ich bin immer wieder erfreut, einen Mann zu finden, der über so... viel versprechende Talente verfügt wie Du. Ich bin sicher, wir können eine Vereinbarung treffen."
Die Männer tauschten einen festen, ehrlichen Händedruck aus und sahen sich dabei tief in die Augen. Dann setzten sich beide und versanken in einem Gespräch, mehr geflüstert als gesprochen. Ab und zu wurden Mappen über den Tisch geschoben, geöffnet und erläutert.
Schließlich lehnten sich die Männer zurück, und ein zufriedener Ausdruck zierte das Gesicht des Klienten.
"Also gut, einhundertfünfzig jetzt und vierhundertfünfzig nach Ausführung."
"In der Tat. Es wird nur einige Tage dauern. Ich werde mich mit dir in Kontakt setzen, wenn du nicht früher davon erfährst."
"Besteht ein Risiko?" Der Klient wirkte plötzlich besorgt.
"Überhaupt nicht. Das Ganze wird schnell und sauber passieren, ohne die größere Aufmerksamkeit der Wache oder der Gilden zu erregen. Die anderen Zauberer sind kein Problem; sie interessieren sich nicht für die Dinge, die sich jenseits ihrer Bürotüren ereignen. Nein, du kannst unbesorgt sein, es wird kaum zurückverfolgbar sein."
"Also gut."
Wieder klimperte es, und der ausländisch Gekleidete streckte die Hand aus, schloss sie um einen prall gefüllten Beutel und zog sie wieder zurück. Dann stand sein Gegenüber auf und sagte: "Wir sehen uns, wenn es vorbei ist."
"Nein. Ich lege Wert auf Diskretion. Ich werde einen Kontaktmann schicken."
"Bitte ja?"
Eine nervöse, kleine Gestalt trat durch die Tür der "Wackelwippe" und sah sich kurz um, schnitt dann eine Grimasse und hielt auf den Schreibtisch zu, der gerade von Korporal Hatscha al Nasa besetzt war.
"Määm? Ich bin der neue Gefreite. Hauptmann MeckDwarf sagt, ich würde hier meine Ausrüstung bekommen...?"
"Oh, ein Neuer!" Hatscha klatschte erfreut in die Hände. "Ausgezeichnet. Bitte entschuldige..." Die kleine Frau holte ein Taschentuch hervor und putzte sich verlegen die Nase.
Helmi räusperte sich. "Ich besetze den Posten des Molosses, Määm. An der Seite von Lance-Korporal Kleinaxt, voraussichtlich."
"Ja, sie wird sicher sehr... erfreut sein. Komm mit, ich rüste dich aus."
Nur wenig später verließ der Zwerg das Matratzenlager des Boucheries. Skeptisch sah er an sich herunter.
"Ja, es steht nicht jedem. Mausgrau... War nicht meine Idee." Hauptmann MeckDwarf stand im Flur und musterte Helmi aufmerksam. "Vielleicht muss man es nur ein wenig kürzen, dann geht es bestimmt."
"Sicher, Sir. Vielleicht könnte ich es auch am Bauch ein wenig weiten, wenn du verstehst...?" Helmi lächelte verlegen.
MeckDwarf schmunzelte, legte Helmi eine Hand auf die Schulter und dirigierte ihn die Treppe runter ins Archiv. Die Tür knarrte viel versprechend, als sie sich öffnete und den Blick auf einen Raum voller Aktenschränke und -Regale freigab, einige verstaubt und von Spinnen infiltriert, andere staubfrei und vom Aussehen her oft benutzt.
"Ah ja. Das ist das Archiv." Der Hauptmann machte eine ausladende Geste in Richtung der Regale. "Was du hier siehst, ist ein Verzeichnis aller Gilden der Stadt, ihrer Geschichten und Mitglieder. Natürlich findest du hier auch die Akten der von uns behandelten Fälle, aber ich rate dir davon ab, sie zu suchen, dahinten beginnt nämlich die Wildnis." Er deutete in Richtung des letzten Regals, das vom Rest des Archivs durch eine wahre Mauer von Kisten, Spinnenweben und Brettern abgeschnitten war.
"Wer hält es auf dem Laufenden? Die Gilden doch bestimmt nicht, oder?" brummte Helmi, während er fasziniert mit dem Finger über eins der Regale strich und anschließend die zentimeterdicke Staubschicht betrachtete, die sich auf seinem Daumen niedergelassen hatte.
"Oh nein, das machen wir selbst. Oder besser gesagt: Das machst du. Jedenfalls bei einem gewissen Teil. Er befindet sich..." MeckDwarf führte Helmi zwischen einigen Regalen an die Wand ganz rechts. "... hier. Das ist das Verzeichnis der Geheimbünde, Untergrundorganisationen und verdächtiger Personen, die wahrscheinlich den eben Genannten angehören. Du aktualisierst diesen Teil zusammen mit Frau Kleinaxt, die ja leider momentan abwesend ist."
Helmi nickte. So etwas gefiel ihm: In Unterlagen schnüffeln, mit Wörtern jonglieren und gleichzeitig sinnvolle Arbeit verrichten, die obendrein - und diesem Punkt kam besondere Bedeutung zu - nicht schlecht bezahlt war. Außerdem bekam er eine Uniform und Bewaffnung gestellt, und Zwerge, die allgemein sehr gesetzestreu veranlagt waren, fanden es immer gut, einen Wächter in der Familie zu haben.
"Aber natürlich gehört das nicht ausnahmslos zu deinen Aufgaben."
Helmi seufzte. Auch dieser Job hatte seine Schattenseiten.
"Sir? Ich fürchte, bin nicht besonders gut im Beschatten und Ausspionieren."
"Glücklicherweise ist das kein Problem. Das ist die Aufgabe des Terriers. Die Gefreite Blass und Stabspieß Harry kümmern sich darum. Nein, du wirst in die Geheimbünde, die du untersuche musst, eingeschleust und dienst uns dort als Maulwurf." Hauptmann MeckDwarf klopfte ihm aufheiternd auf die Schulter. Er suchte verlegen nach einem Themenwechsel, denn im Gesicht seines Gefreiten hatte sich ein Ausdruck gebildet, der nicht nur auf Sieben Tage Regenwetter, sondern auch auf diverse Orkane und Überflutungen hinwies. "Wie ich sehe hast du als Bewaffnung einen Dolch gewählt. Eher ungewöhnlich. Darf ich fragen, wieso?"
Helmi, der gerade in schrecklichen Fantasien gebadet hatte, holte verträumt den schmucklosen, silbernen Dolch hervor, den er zu seiner Ausrüstung hinzugefügt hatte. "Nun, Sir, wenn man im offenen Kampf keine Möglichkeiten sieht, greift man eben zum Hinterhalt. Ich habe Leonard von Quirms Plan des humanoiden Körpers ausgiebig studiert, und weiß nun, wo man zustechen muss, damit es richtig wehtut, Sir." Helmi zeigte ein schreckliches Grinsen.
Der Hauptmann runzelte die Stirn. Der Neue erschien ihm sehr vielschichtig,aber trotzdem löste er Unbehagen in ihm aus. Wer am liebsten liest und in staubigen Bibliotheken hockt, auf der anderen Seite aber sagt, er wüsste, wo er zustechen muss... das erschien ihm suspekt. "Wie du meinst, Gefreiter. Ich entlasse dich vorerst; kann mich ja nicht den ganzen Tag um dich kümmern. Heute Abend machen wir einen Abstecher in die Schatten, um... neun am Wachhaus in der Kröselstraße, und komm in zivil. Ich zeige dir die Wendeseite der Medaille."
"Ja, Sir. Nochmals danke, Sir, ist mir ein Vergnügen in ihrer Abteilung sein zu dürfen."
"Jaja, kein Problem." MeckDwarf winkte vage und bedeutete Helmi, dass er gehen konnte.
Hemi rammte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn mit nicht unerheblicher Anstrengung in dessen verrostetem Schloss um. Sein Vermieter, Herr Schallend, weigerte sich, für die Instandhaltung von Helmis Wohnung aufzukommen, aber Helmi war bereit, auf die Gesetze zu pochen.
Er bewohnte ein kleines Domizil in der Bescheidenen Straße mit Blick auf den Viehmarkt. Er hatte es seit seinem Einzug vor etwa zwei Jahren in sein kleines Atelier und Studierzimmer umgewandelt: Fast die gesamte Wandfläche wurde von Regalen und Schränken eingenommen, hier und dort hingen Landkarten an den Türen. Von ihnen gab es drei: Eine mündete in einen Wandschrank, in dem Helmi neben seinen zivilen Kleidern auch diverse Verkleidungen aufbewahrte
[1], die andere in den Abort und die Dritte in eine winzige Küche, in der man wohl nur kochen konnte, wenn man ein Zwerg war oder durch Gegenstände gehen konnte.
Das Ganze wurde durch gelbliches Licht ergänzt, das durch Fenster drang, die wohl seit Helmis Einzug nicht mehr geputzt worden waren.
Sein Bett verbarg sich hinter einem schlichten weißen Vorhang im Studierzimmer.
Er nahm das Bündel, das seine drei Uniformen beinhaltete, und platzierte es sorgfältig im Wandschrank. Dann ließ er sich auf das Bett fallen und gab einen Seufzer von sich.
Natürlich hatte er sich beworben, und natürlich war ihm bewusst, dass ein einfacher Schreibtischjob wahrscheinlich besser für ihn gewesen wäre. Trotzdem konnte er auf dem Posten des Molosses seine Interessen ausleben, und manchmal auch etwas darüber hinaus gehen.
Das Letztere machte ihm Sorgen. Er war körperlich so belastbar wie ein Küken, wie sein Onkel es ausgedrückt hatte, und Helmi konnte sich dieser Meinung nur anschließen.
Wenn es darum ging, Einkäufe in seine Wohnung (die unzwergische drei Stockwerke über der Erde lag) zu tragen, musste er mindestens zweimal eine Pause machen, drei, wenn er auch einen Sack Kartoffeln gekauft hatte.
Es würde ihm nicht gut tun, in einer militanten Gruppe Anarchisten seine Tarnung zu verlieren, o nein. In dem Fall half ein gut gezielter Dolchstoß wohl nicht mehr; viel besser wäre hier ein Drache, der mit einem gut gezielten Feuerstoß daherkam.
Aber soweit Helmi wusste, verstieß so etwas gegen die Gesetze, und Helmi mochte es nicht, Regeln zu brechen. Sowieso mochte er es nicht, Leute zu verletzen; es lief früher oder später darauf hinaus, dass er die Konsequenzen tragen musste, und Helmi mochte es ganz und gar nicht, unangenehme Konsequenzen ertragen zu müssen. Nein, ihm war es nach wie vor am liebsten, in seinem staubigen Studierzimmer Geheimschriften zu entschlüsseln oder sich durch antike Manuskripte zu wälzen.
"Sir." Helmi stupste die Gestalt, die ganz still in der Gasse stand, an. "Sir, ich bin's, Gefreiter Bernstein."
"Falsche Adresse, Gefreiter, ich bin hier drüben." erklang Humph MeckDwarfs Stimme von der anderen Seite des Wegs. "Und sag nicht 'Sir' zu mir, wir sind in zivil, wenn du verstehst."
"Oh, Entschuldigung bitte, eine Verwechslung." erklärte Helmi dem Schatten, den er angesprochen hatte.
"Nur keine Umftände, meine Schuld. Als Schatten ift man nun mal nicht fehr gut identifitfierbar." Die Gestalt hob beschwichtigend eine Hand, woraufhin der Gefreite die Seiten wechselte und dem Hauptmann folgte, der mittlerweile begonnen hatte, die Straße in Richtung Unbesonnenheitsstraße entlangzugehen.
"Guten Abend, Sir. Ich bin ganz in zivil gekommen, wie gewünscht, Sir." flüsterte er dem Hauptmann zu. Dieser trug einen unauffälligen schwarzen Mantel und sah skeptisch an Helmi herunter.
"In zivil, ja? Wie auch immer, wenn du mich noch einmal 'Sir' nennst, bist du den Job wieder los, verstanden? Sowas kann ziemlich ungesund werden. Und was hast du da überhaupt an?"
"Gewöhnliche Zwergentracht. Ich trage immer so etwas, wenn ich in den Schatten unterwegs bin. Senkt das Risiko, meiner Ansicht nach. Überfallen zu werden, meine ich."
Der Zwerg trug eine schwere Rüstung, bestehend aus Fellen, schwärzlichen Rüstungsteilen und einer langen Schmiedeschürze, die mit Metallplatten behangen war. Ergänzt wurde das Ganze von einem Helm, der zwei Ochsenhörner zur Schau stellte.
"Ist alles nicht echt, keine Sorge, Herr." Helmi zwinkerte verschwörerisch. "Nur ein wenig bemaltes und gehärtetes Leder, und die Hörner sind aus Pappmache."
"Findest du das nicht ein wenig, hm... auffällig?"
"Überhaupt nicht, Herr. Keiner kommt darauf, dass der große, zechende Zwerg am Nachbartisch einem über die Schulter guckt und spioniert."
"Jetzt, wo du es sagst... du kommst mir in der Tat viel größer vor. Meine Güte..."
Der Zwerg hob seine Schürze an. "Ich trage Stiefel mit Absätzen, Herr. Raffiniert, nicht wahr? Ich habe ein großes Repertoire an Verkleidungen parat."
MeckDwarf runzelte die Stirn. "Wie du meinst. Hm. Nun, wir sind da. Reizende Gegend, nicht, wahr? Hier versammelt sich eine Organisation namens 'Hüter der Ordnung'. Keine Angst, es sind weder Revolutionäre noch Mörder. Es ist eine Art Teestunde für ältere Damen, die gerne an alten Werten festhalten. Ich möchte, dass du diese Leutchen beobachtest und mir danach etwas über ihre Mitglieder, ihre Ziele und Geschichte erzählst. Kriegst du das hin?"
In einer nicht weit entfernten Taverne war die beste Tageszeit angebrochen: Der Besinnungslose Rausch, zweitruhigstes Stadium der Zechtour. Es definierte sich durch Schnapsleichen und herumliegende Teile der Einrichtung, die Überbleibsel der letzten Keilerei.
Entgegen aller Vernunft saß ein Mann aufrecht.
Sein Blick war auf die gegenüberliegende Wand gerichtet und sein Atem ging gleichmäßig. Hätte man es nicht besser gewusst, man hätte denken können, er würde schlafen. Alles, das einen vom Gegenteil überzeugte, waren seine Augen. Sie waren geöffnet, starr auf die Wand gerichtet, und sein Gesicht zeigte einen ernsten, konzentrierten Ausdruck.
Die anderen Gäste wahrten einen respektvollen Abstand zu seinem Tisch
[2], denn er erweckte den Eindruck, mit Blicken töten zu können.
Plötzlich ging ein sanfter Ruck durch den Körper; die Mimik des Mannes veränderte sich auf subtile Weise und sein Blick ging misstrauisch von links nach rechts, analysierte seine Umgebung bis ins Detail. Dann schien er sich an etwas zu erinnern; er lehnte sich zurück, faltete die Hände auf dem Tisch und brummte zufrieden. Dann nahm er den hohen, verzierten orientalischen Hut, der auf dem Tisch lag, ließ einige Dollar zurück und erhob sich. Er nickte dem Wirt zu und verließ den Schankraum. Als er die Tür öffnete, griff der Wind in seine langen Gewänder und ließ die vielen bunten Roben flattern.
Helmi schwitzte, obwohl er sich seiner 'Rüstung' entledigt hatte. Hinter ihm saß Hauptmann MeckDwarf und trank Kaputtschino aus einem Pappbecher.
Die Schlürfgeräusche ließen dem Gefreiten kalte Schauer über den Rücken laufen.
Das Blatt Papier auf seinem Schoß war schweißnass, und der Stift in seiner Hand zitterte. Er beobachtete den Saal, in dem die Sitzung der 'Hüter der Ordnung' stattfand, aus nächster Nähe. Anders gesagt: Er saß in der vorletzten von circa 30 Stuhlreihen, die halbkreisförmig um eine Holztribüne angeordnet waren. Der halbe Saal war mit weißhaarigen alten Frauen gefüllt, zwischen denen einige junge Männer in Kellneruniform herumwuselten und die Damen mit Tee und Spritzgebäck versorgten.
Auf der Tribüne hob eine kleine, ordentlich gekleidete und
sehr alte Frau zu sprechen an: "Und so kann es nicht sein, dass trotz allem, was wir für diese Stadt getan haben, Leute wie die ehrenwerte Rita Maisbauer immer noch in Angst leben müssen, auf dem Nachhauseweg ihre Einkäufe zu verlieren! Nein, das kann nicht sein! Und so frage ich Sie, liebe Mitgenossinnen, was tut man in dieser Stadt für alte, wehrlose Damen wie uns?"
"Nichts!" rief eine kleine dicke Frau in der dritten Reihe und schüttelte ihre Faust
Eine Welle von Applaus und Pfiffen erhob sich und Helmi kritzelte eine Notiz auf das Blatt auf seinem Schoß.
"Kommen wir nun zur Ehrung des Monats." Die Weißhaarige Frau holte einen zerknitterten Zettel aus ihrem Rednerpult hervor und entfaltete ihn umständlich. "Ich möchte deshalb auf die Bühne bitten - Humph MeckDwarf vom Bund der Anonymen Wohltäter sowie seinen Kollegen... Helmi Bernstein!"
Höflicher Applaus erklang, und der Hauptmann erhob sich betont würdevoll.
"Beruhige dich endlich!" raunte er dem erbleichten Helmi ins Ohr und klopfte ihm halb aufmunternd, halb drängend auf die Schulter. Helmi ließ zitternd seinen Stift fallen und erhob sich wie in Trance.
MeckDwarf versetzte ihm einen sanften, nachdrücklichen Stoß und schob ihn nach vorne, immer höflich lächelnd.
"Es ist mir eine große Freude, auch heute Abend hier zu sein, meine Damen," begann er, als er Helmi vor dem Pult drapiert hatte und selber dahinter Platz genommen hatte. Er ließ seinen Blick durch den Saal schweifen. "Wie Sie wissen, vergibt ihr Verein jeden Monat einen Sachpreis für ein Mitglied, das sich durch Engagement besonders hervorgetan hat. Diesen Monat besteht der Preis aus einem Gutschein für einen besonderen Dienst, den die Mitglieder der Bäcker- und Fleischergilde ins Leben gerufen haben: Die betreffende Dame darf eine Woche lang auf die Dienste eines Einkaufstaschen-Trägers zurückgreifen
[3]. Natürlich auf Kosten des Vereins. Ich bitte um Applaus für diese großartige Idee!" Er begann zu applaudieren, und der Rest des Saals fiel mit ein. "Mein Kollege Herr Bernstein wird nun die Nominierungen bekannt geben. Wenn du so freundlich wärst...?" Er reichte seinem blassen Gefreiten einen weißen Umschlag mit der Aufschrift "Nominierungen" und lächelte dabei charmant.
Helmi brach erneut der Schweiß aus, als er den Umschlag mit zittrigen Fingern öffnete und dabei immer wieder hilfesuchende Blicke zum Hauptmann warf.
"Nomin-niert si-sind..."
"Mein Kollege ist ein wenig nervös, er ist es nicht gewohnt vor einer so großen Menge so eleganter Damen aufzutreten." Immer noch höflich lächelnd, warf der Hauptmann Helmi einen drängenden Blick zu.
"Erika Liebedarf, Magda Schuhb-bert und Si...Sisü..."
"Sisylphine Amerkamt!" erklang der Ruf einer Dame in der ersten Reihe, der Helmi in Gedanken die Bezeichnung "Rüstig" verlieh.
"Ebenjene." schloss Helmi erleichtert.
Neben ihm holte der Hauptmann einen übergroßen Gutschein hervor und präsentierte ihn den Besuchern. "Und hier haben wir das Objekt der Begierde, meine Damen! Mein Kollege wird nun bekannt geben, wer in den Genuss dieses besonderen Preises kommen wird!" Er machte eine ausladende Geste in Richtung Helmis, der innerlich alle Kaffeekränzchen des Universums sowie militante alte Damen verfluchte.
"In der Tat." antwortete dieser, während er das Blatt Papier in seinen Händen unruhig drehte. "Nuun, der Preis für soziales Engagement und... AufsSpielsetzendeseigenenLebens für den Monat Gruni geht an... Sisslüpine Anerkannt, für das Abwehren eines Handtaschendiebs mit einem Besen!" Helmi räusperte sich verlegen. Der erwartete Applaus blieb aus.
"Es heißt Sisylphine, junger Mann, aber trotzdem herzlichen Dank!" erklang wieder die Stimme der "rüstigen" Alten aus der ersten Reihe. Während sie auf die Bühne kletterte, begann der Hauptmann zu klatschen und durchbrach den Zauber der Stille, denn der Rest des Saals fiel nun mit ein.
"Ausgezeichnet, du hast es gleich geschafft," flüsterte MeckDwarf seinem nervös lächelnden Kollegen zu.
"Gut, ich glaube, ich habe einen Krampf in der Wange," gab Helmi zurück und schnitt vorwurfsvoll eine Grimasse.
Die Alte hatte mittlerweile die Bühne überquert und stand vor Helmi. Sie trug einen rosa Wollpullover und ihre silbrigen Haare standen als dichte Locken vom Kopf ab. Sie schüttelte Helmi glücklich die Hand und humpelte dann an ihm vorbei, entriss dem höflich lächelnden Hauptmann den Gutschein und verließ die Bühne so schnell, wie sie gekommen war.
Der Gefreite glaubte dabei, das Knirschen und Ächzen ihrer Knochen vernehmen zu können.
"HUBERTUS VON ENTE?"
"Ah ja. Ich dachte mir, dass etwas in dieser Richtung passieren würde. Erschien mir offensichtlich, nach dem, was in den letzten Tagen so passiert ist. Hm-hm." Hubertus nickte nachdenklich.
"IN DER TAT. ES ERSCHIEN WOHL SO." Tod ließ seine Sense ein wenig hin und her schwingen und beobachtete aufmerksam, wie ihre Flugbahn sich veränderte, wenn er einen Finger bewegte.
"Weißt du, es ist die Ironie des Schicksals. Ich habe mich zu Lebzeiten intensiv mit den Auswirkungen von Träumen auf die humanoide Psyche beschäftigt, und nun..."
"KÖNNTE MICH NICHT DARAN ERINNERN, DASS DAS SCHIKSAL ETWAS DERARTIGES ERWÄHNT HÄTTE. OH NEIN, DASS ÜBERLASSEN SIE IMMER MIR." Tod wirkte verärgert. Er trommelte unruhig auf seiner Sense herum. "GEHEN WIR?"
Hubertus von Ente hob den Kopf. "Oh, ja. Nur schade um den Zauberstab, weißt du? Es war ein recht gutes Modell. Und jetzt muss ich mir ansehen, wie mein ehemaliges Gehirn die thaumaturgischen Ventile verstopft, während es ausläuft. Ich wollte ihn dem jungen Thomas vererben."
"ALLES HAT EIN ENDE, AUS MEINEM BLICKWINKEL. SO HABE ICH ES IMMER GEHALTEN." Tods Stimme verklang in der Ewigkeit, während die beiden ungleichen Gestalten langsam verblassten.
"Bund der Anonymen Wohltäter, hm?"
"Oh, du würdest dich wundern, wie sehr es sich lohnen kann, Kontakt zu einer Gruppe gesprächiger alter Frauen zu halten. Allerdings muss man sich für sie... attraktiv gestalten. Sie wissen eine Menge über das, was in der Stadt geschieht. Einige schreiben Artikel für die Times. Alles in allem sind sie sehr... engagiert."
Eine Zeitlang herrschte Stille im Büro des Hauptmanns.
"Aber Sir, ist es nicht illegal, die Geschehnisse in der Stadt zu beeinflussen?"
MeckDwarf seufzte. "Ich denke, eine Gruppe alter Leute kann von uns toleriert werden, Gefreiter. Was das angeht, hast du noch viel zu lernen. Ebenso empfehle ich dir, an deiner Schauspielerei zu feilen. Die Vorsitzende hat mich darauf angesprochen. Ich denke, das Oberhaupt eines mystischen Kultes würde sich damit nicht aufhalten, nicht wahr?"
"Ja, Sir."
"Alles in allem war es... in Ordnung. Jedenfalls das Sammeln der Informationen. Wie ich sehe, hast du drei Seiten gefüllt."
"Oh ja, Sir. Ich bin ein aufmerksamer Zuhörer."
"Wie auch immer,du warst relativ unauffällig, nachdem du dich deiner... 'Rüstung' entledigt hast, und warst auch relativ beherrscht. Aber dann..."
"Ich weiß, Sir. Ich war nervös. Es ist wie... Nun, wenn man auf dem Weg zur Schule -waren Sie je in der Schule?- seinen Vortrag durchgeht und ihn aus dem Effeff beherrscht, und dann steht man vor dem Lehrer, und... Er sieht einen streng an, und dann... Nun, dann bricht einem der Angstschweiß aus."
"Ließ sich kaum übersehen, Gefreiter, oh nein. Na, lassen wir das. Wie ich hörte, gab es in letzter Zeit ein Serie von... 'Bedauerlichen Vorfällen', wie es die Times ausdrückt. Das Ganze befasst sich mit einem Zauberer, der offenbar dem Wahnsinn anheim gefallen ist. Die Sache wurde auf die Spitze getrieben, als man den Betreffenden heute morgen tot auf den Fliesen der Eingangshalle gefunden hat. Auf seiner Stirn war ein Zettel befestigt, auf dem, laut SUSI,... " Der Hauptmann öffnete eine Mappe auf seinem Schreibtisch und holte eine winzige Ikonographie daraus hervor."... stand: 'Bööööh'."
"'Bööööh', Sir?"
"Der Mann war eindeutig geisteskrank, Gefreiter. Allerdings war der Zettel auf seiner Rückseite mit einigen Zeichen versehen, die entfernt an auf den Kopf gestelltes Klatschianisch erinnerten." MeckDwarf nickte vorsichtig und schob die Ikonographie zurück an ihren Platz." Wie auch immer, es ist die Pflicht der DOG, derartigen Vorfällen auf den Grund zu gehen." Er hob warnend den Zeigefinger als Helmi den Mund öffnete. "Sofern sie in der Universität passieren."
Es ist allgemein bekannt, dass der Aufenthalt in der Nähe vieler magischer Artefakte bei gewöhnlichen Leuten zu Verlusten der Selbstbeherrschung führen kann.
Aus diesem Grunde gab es die Zauberer.
Sie waren das letzte Bollwerk gegen die namenlosen Schrecken aus den Tiefen des Universums und der Kerkerdimensionen, dunkle Mächte, von denen eine ständige Gefahr für den Rest der Welt ausging.
Jedes andere Wesen wäre der besonderen Aufgabe, die diesen Männern zuteil wurde, nicht gewachsen gewesen.
Sie waren ausnahmslos Spezialisten auf ihrem Gebiet, ausgebildet zum Schutz ihrer Mitbürger.
Zweifellos haben sie einen viel anspruchsvolleren und zeitaufwendigeren Job als die Spezialisten für das weltliche Unheil, die Stadtwächter von Ankh Morpork.
Deshalb mussten diese mit dem Gärtner Vorlieb nehmen, um ihre Nachforschungen anzustellen. Er war ein Zwerg, trug eine Forke und eine Schubkarre mit sich und neigte dazu, sich für Rosenzüchtungen zu interessieren.
Er führte sie in die durch die Eingangshalle, wo nur noch ein mit weißer Kreide gezeichneter Umriss an den kürzlich Verstorbenen erinnerte.
Er führte sie weiter durch den prächtig geschmückten Speisesaal und
[4] durch dunkle Korridore bis hin zu einem großen, schweren und mit vielen bedrohlichen Ziernägeln ausgestatteten Portal.
"So. Ich glaube, hier seid ihr besser bedient. Wenn es um mysteriöse Zeichen auf Zetteln geht, wendet ihr euch besser an ihn." Der Gärtner hob seine Forke und rammte den Stiel mehrmals kräftig gegen das dicke Holz.
Dann holte die Hölle Luft. Das Portal öffnete sich und schwang knarrend und mit nicht unbeträchtlichem Luftzug nach außen auf. Sanftes Kerzenlicht strömte in den Korridor und erleuchtete die Gesichter der drei Gestalten, die zur Seite treten mussten, um nicht von den Torflügeln erschlagen zu werden.
"Und sagt nicht das T-Wort!" Der Zwerg in der grünen Gärtnerkluft verschwand ohne große Worte hinter einer Ecke, und das Geräusch seiner hastigen Schritte verklang schon kurz darauf.
"Ugh?" Die Gestalt in der Tür winkte mit einem langen, haarigen Arm und bedeutete den Wächtern, ihr zu folgen.
Wenn man das unscheinbare Gebäude betrat, in dem die DOG-Zweigstelle untergebracht war, und den Verlockungen des Erdgeschosses widerstand, so erreichte man eine Treppe, die in den ersten Stock und eine andere Welt führte.
Man sah dort keine leicht bekleideten Frauen mehr.
Stattdessen befand man sich im Reich der Spezialisten für das Ankh-Morporkianische Gildensystem.
Hier gab es keinen Platz für leicht bekleidete Frauen.
Wenn man die Treppe hinter sich gelassen hatte, genoss man den Ausblick auf drei Räume: Eine schäbige Tür verbarg den Blick auf das Matratzenlager des Hauses. Eine weitere war mit dem Schild des Abteilungsleiters versehen. Die Dritte wies auf einen Raum voller Papier und Staub hin. Doch dies sind nicht die Orte, die in dieser Geschichte eine tragende Rolle spielen sollen. Stattdessen richten wir unsere Aufmerksamkeit auf eine blau gestrichene und runde Tür mit der Aufschrift "Moloss i.A.". Man erreichte sie, indem man das Archiv, den dritten Raum, hinter sich ließ, den Flur durchquerte und an der vorletzten Tür stoppte. Der Raum beinhaltete ein braunes Himmelbett, das staubig und lang nicht benutzt aussah. Einige gut gefüllte Regale kaschierten unanständige Zeichnungen an der Wand, und zwei große, bullaugenartige Fenster ließen Licht auf einen ordentlichen Schreibtisch fallen. Doch beherrscht wurde der Raum von einem gewaltigen Aquarium, das dem Bewohner durchaus als Schwimmbecken gedient haben könnte. Trotzdem hatte er von dieser Art der Benutzung abgesehen, weil sich an der Innenseite des Aquariums eine beunruhigend braun-grüne Schicht gebildet hatte, die über die Qualität des Wassers Bände sprach. Offenbar hatte der Bewohner dennoch eine Verwendung für das gewaltige Becken gefunden, denn Unmengen von Postkarten, Landkarten, Ikonographien und Notizzetteln waren daran befestigt.
Ein dickes Buch ruhte auf dem Schreibtisch. Vergilbte Seiten wiesen auf sein Alter hin, und beim Umblättern gab es protestierende Geräusche von sich.
Ein
kleiner Zwerg stand auf seinem Stuhl, um sich einen Überblick über die riesigen Seiten zu verschaffen. Er hielt ein Vergrößerungsglas und eine Ikonographie in der Hand und fuhr mit beiden immer wieder über die Seiten des Buches. Manchmal nahm er einen Stift und kritzelte in kleiner, eckiger Druckschrift einzelne Buchstaben auf einen anderen Zettel.
Nach einiger Zeit verließ er den Stuhl, nahm die staubige Lesebrille von seiner Nase und rieb sich nachdenklich das Kinn. Er nahm einen Stift und zeichnete eine unsaubere Linie auf ein anderes Blatt Papier. Am einen Ende der Linie vermerkte er: "Wer sich selbst mit einem Zauberstab die Birne wegpustet, begeht vielleicht nur Selbstmord." Der Zwerg runzelte die Stirn und schien sich an etwas zu erinnern. Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: "Wer sich im Sterben auf den Rest der Stirn einen Zettel mit der Aufschrift 'Böööh' klebt, wohl eher nicht."
Das andere Ende der Linie blieb vorerst leer. Der Zwerg ging zurück zu seinem Stuhl, wo er sich wieder das Buch vornahm. Die Seiten waren angefüllt mit komplizierten Zeichen, Zahlen und Buchstaben, über die der Zwerg mit der Brille immer wieder das Vergrößerungsglas laufen ließ. Langsam bildete sich auf dem Blatt mit den einzelnen Zeichen ein Konstrukt aus Buchstaben, ein Wort nahm Gestalt an, und er blieb nicht lange allein.
Im Laufe seines Lebens hatte Helmi Bernstein sich eine Menge Freunde gemacht. Darauf verstand er sich gut.
Er kam anderen Leuten nicht in die Quere und war anpassungsfähig. Er widersprach seinem Gegenüber nur selten und hörte still und aufmerksam zu.
Trotz allem verbarg sich hinter dieser Fassade einer der meist informiertesten Gäste seiner Stammtaverne.
Gerade befasste er sich mit einem seiner zuverlässigsten Informanten. Es war sein Nachbar Arnold Weber, ein kleiner, dicker und etwas in die Jahre gekommene Mann mit dem Gemüt einer Elster
[5]. Dieser wusste zwangsläufig, dass sich hinter dem unauffälligen Zwerg von nebenan ein Wächter verbarg, hatte allerdings mit Helmi eine Abmachung getroffen, die hier jedoch nicht weiter erläutert werden soll.
Gerade leerte der Dicke seinen dritten Krug.
"Ich weiß ja nicht, ob du etwas darüber gehört hast, aber hier ist so'n neuer Typ aufgetaucht. Verdammt lässige Sau. Wirft mit messerscharfen Blicken nur so um sich. Ich find, er sieht aus wie einer von diesen komischen Alten aus Wiewunderland oder Klatsch; spielen den ganzen Tag Flöte, klettern an Seilen hoch, die im Nichts hängen und sitzen auf Nägeln. Heißen Fakire oder so." Arnold wischte sich weißen Schaum aus dem Bart und rülpste zufrieden.
"Der hat hier was aufgebaut, aber für die Info will ich was sehen. Dafür musste ich meine Nase ziemlich tief reinstecken" brummte er, während er sich verschwörerisch zu Helmi vorbeugte.
Helmi seufzte. "Na gut. Wieviel möchtest du? Aber übertreib bitte nicht, ich hab noch kein Gehalt bekommen." Er öffnete eine Hand auf dem Tisch und ließ zwei Dollar in ihr funkeln.
Arnold lehnte sich zurück und betrachtete die Münzen nachdenklich.
"Als Anzahlung. Den Rest kannst du mir demnächst geben." Er schnappte sich die Lordschaften aus der Hand des Zwerges und ließ sie blitzartig in den Tiefen seiner Jacke verschwinden.
"Also gut." Helmi dachte betrübt, dass er für den Rest des Monats wahrscheinlich von trockenem Brot leben müsste, und wies verstohlen auf eine Ecke des Raumes. "Der da? Passt ausgezeichnet auf deine Beschreibung."
"Oh ja. Er trinkt immer -sehr verdächtig- klatschianischen Feigenschnaps. Das Zeug haut dich aus den Socken, ich kann dir sagen, aber
er sitzt wie 'ne eins. Manchmal bleibt er den ganzen Abend hier und leert dutzende von den Dingern." Arnold schüttelte sich und verzog das Gesicht.
"Nun jaaa, jedenfalls hat er ein beachtliches Netzwerk aufgebaut. Einige dicke Trolle arbeiten für ihn, und auch ein paar von den Jungs.
Und er hat Kantig "Die Schnauze" Herbatt an Bord gezogen."
Helmi kannte die Schnauze. Ein breiter Mann ohne Gehirn und Gewissen. Den Mangel an Gedanken machte er jedoch mit einer gesunden Portion Durchsetzungsvermögen wett.
Seinen Spitznamen hatte er erhalten, als er seine Nase verlor. Der übergebliebene Stumpf erinnerte an einen runden Schweinerüssel
[6].
Meistens war er derjenige, der nach der Schlägerei noch stand. Seine Taktik war einfach, aber effektiv: Anstatt auf Tische zu springen und an Kronleuchtern herum zu schwingen, nahm er den Tisch oder den Kronleuchter und jagte ihn durch den Raum. Wenn dann noch jemand stand, nahm er denjenigen und warf ihn einfach hinterher.
Helmi nickte wissend. Wer sich die Schnauze leisten konnte, der hatte auch Geld, um sich das ganze Drumherum zu leisten; inklusive düsterem Unterschlupf, okkultem Opferstein und katzbuckelnden Untergebenen.
"Du meinst also, er hat sich hier niedergelassen, ein Syndikat aufgebaut und kontrolliert jetzt... was?" Der Gefreite tippte sich an die Nase. "Eine bräucht ich noch, mein Lieber."
Arnold sah auf, als eine vollbusige Bedienung einen weiteren prall gefüllten Humpen brachte und vor ihm abstellte. Als er seine Nase in dem mehr grauen als weißen Schaum vergrub, verzog Helmi das Gesicht.
"Wie kannst du das nur trinken? Wer weiß, was da drin ist?
Ich will es nicht wissen!"
"Verständlich. Aber was uns nicht umbringt, macht uns härter. Oh, sieh nur! Ich zeige dir, was er kontrolliert." Der dicke Arnold nickte in Richtung des letzten Tisches in der Kneipe. "Siehst du den Typen da?"
Helmi nickte und kniff die Augen zusammen, um in der rauchigen Dunkelheit besser sehen zu können.
"Pass auf, was gleich mit ihm passiert."
Helmi beobachtete, wie der Mann einen anderen anstieß und in eine eher flüchtige Schlägerei verwickelt wurde. Er wurde zurückgedrängt und befand sich plötzlich mit der blutenden Nase im Getränk eines gewissen, ausländisch wirkenden Mannes.
"Gut, das war der erste Teil. Armer Teufel. Der machts nicht mehr lang." flüsterte Arnold dem Zwerg zu. Er nahm einen weiteren Zug aus seinem Humpen und stellte ihn behutsam neben sich.
Währenddessen war der Mann, der auf dem Tisch gelegen hatte, aufgesprungen, auf die Knie gefallen und begann zu flehen. Zitternd, und mit verdrehten Augen robbte er rückwärts zu seinem Tisch zurück.
"Und das ist alles? Was ist mit dem Kerl? Warum haben die so eine Angst vor ihm?" Helmi beobachtete irritiert, dass sich um den Tisch, den er beobachtete, eine Oase der Ruhe bildete. Nicht einmal die obligatorisch herumfliegenden Messer erreichten ihn.
Der Fakir nahm einen ruhig einen Schluck braunen Feigenschnaps und lehnte sich dann zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte beharrlich an die Wand.
Der allgemeine Geräuschpegel sank. Auf einer unbewussten Ebene richteten sich alle Augen auf den zitternden Mann, von dessen Nase Schnaps tropfte.
Helmi runzelte die Stirn.
Die Zuschauer wichen seinem Blick aus, als er sich hektisch umsah, und einige Minuten lang war es still. Dann öffnete sich die Tür, und eine Gruppe Hafenarbeiter betrat den Raum. Der Geräuschpegel kehrte zögerlich zurück und etablierte sich dann vollends in seiner ursprünglichen Form.
"Aber... es passiert ja nichts!" Helmi wandte sich wieder seinem Gegenüber zu, dessen Bart voller Schaum klebte.
"Oh, es dauert ein wenig. Er geht sehr... gründlich vor." Arnold nickte weise und sah dann ruckartig auf. "Mach dich gefasst, es geht los!"
Helmi zuckte zusammen, als ein durchdringender Schrei durch die Kneipe flog. Er hielt an, und alle anderen Geräusche verblassten. Im Hintergrund ging ein Rascheln durch den Raum, als sich die gesamte Kundschaft umdrehte und den Schreienden fixierte.
Seine Augen waren ins Weiße verdreht, und er wippte langsam vor und zurück. Dann ging ihm anscheinend die Luft aus, denn das, was nun aus seiner Kehle nach außen gelangte, war mehr ein krächzendes Ausatmen als ein Schrei, und verklang schließlich ganz.
Mit einem letzten Quieken kippte er vornüber in seine Schüssel und blieb dort reglos liegen.
Alle Augen wandten sich nun synchron zum Fakir, der sich seelenruhig zurücklehnte und wieder an seinem Schnaps nippte.
"Dassisjaschrecklich!" hauchte Helmi undeutlich.
Arnold beugte sich vor und raunte mit Unheil verheißender Miene: "Das ist gar nichts. Der letzte Typ hat sich die Augen ausgestochen. Mit seiner eigenen Gabel! Und es heißt, er nimmt Aufträge entgegen. Er ist nicht billig."
Einer der Männer, die am Tisch des Verstorbenen saßen, nahm nun seinen toten Kumpanen unter den Schultern und zog ihn hinter sich durch den Raum.
Als er die Tür öffnete und mit dem Toten in der Nacht verschwand, erlaubte sich der Fakir ein Lächeln.
"Arnold?"
"Hm?"
"
Was kontrolliert sein Syndikat?"
Der alte Mann beugte sich vor, und ein unheilvoller Schatten fiel auf sein Gesicht, als er mit düsterer Miene verkündete: "Die Püsche, mein Lieber. Die Püsche."
"Du willst mir allen Ernstes weismachen, dass der Typ in die Geister der Leute eindringt und sie... meschugge macht?"
"Exakt, Sir. Er ist auch ein potenzieller Kandidat für den mysteriösen Tod in der Universität. Obwohl wir ihm das noch genauer nachweisen müssten."
"Und... Nun ja, das klingt ja schön und sicher sehr originell, Gefreiter, aber wer hat dir denn
das gesteckt?"
Bisher war Helmi im Büro seines Vorgesetzten auf und ab gelaufen und hatte so seinen Vortrag gehalten. Nun drehte er sich zum Hauptmann um, tippte sich mit dem Zeigefinger an die Nase und raunte: "Ich hab's gesehen, Sir. Und ich
kann Ihnen sagen, es war nicht sehr angenehm."
MeckDwarf lehnte sich in seinem Stuhl zurück und zog die Augenbrauen hoch.
"Und, äh, welches Vergehens hat er sich schuldig gemacht? Ich meine, abgesehen von mindestens drei Morden, wenn ich dir soweit folgen konnte, die wir ihm aber wohl kaum nachweisen können."
"Ah ja, Sir, da haben wir einen gewissen wunden Punkt erreicht. In der Tat glaube ich nicht, dass er sich bereits etwas anderes zuschulden kommen lassen. Obwohl... Nun, aus
zuverlässigen Quellen weiß ich, dass er eine Art organisiertes... Nichtverbrechen aufgebaut hat. Er umgibt sich mit einem Netzwerk aus Kontaktleuten und Informanten, einige Schläger sind auch darunter." Der Zwerg trat nun verlegen von einem Bein aufs andere und wirkte enttäuscht. "Aber... nein, im Grunde hat er nichts verbrochen."
"Nichtverbrechen?" Der Hauptmann runzelte die Stirn. "Würde mich wundern. Eine alte Weisheit: Es kommt nicht darauf an, wer es getan hat. Nein, zuerst sollte man herausfinden, was getan wurde. Frag mich nicht, wer das gesagt hat, ich weiß es nicht. Außerdem unterstütze ich solch ein Vorgehen im Grunde nicht, aber unter den gegenwärtigen Umständen sollten wir eine Ausnahme machen, denke ich."
"Ganz ihrer Meinung, Sir. Und, ohm, da Fräulein Kleinaxt ja momentan verhindert ist, äh..."
"Ist ja gut, du kriegst den Fall. Aber du erstattest mir Bericht über deine Ermittlungen, und wehe dir, wenn du dich da zu tief reinhängst. Die Wache ist kein Spielplatz, Gefreiter, und Ankh Morpork ist es erst recht nicht. Merk dir das."
Die Miene des Zwergs erhellte sich beträchtlich. Mit leuchtenden Augen und einem ehrfürchtigen Gesichtsausdruck hauchte er: "Danke Sir!"
"Oh, keine Ursache. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, auch wenn du das vielleicht nicht glaubst, aber ich habe Pflichten, die sich von deinen stark unterscheiden. Na gut, vielleicht nicht allzu sehr, aber meine haben -leider- viel zu viel mit Stift und Papier zu tun." Er stand auf und wollte gehen, zögerte jedoch, verdrehte die Augen und brummte verärgert: "Doch, haben sie!"
"Bitte, Sir?"
"Nicht du!"
Mit verdächtigem Enthusiasmus ging Gefreiter Bernstein ans Werk.
Er hörte sich um -
äußerst behutsam-, stellte Nachforschungen an -
sehr aufmerksam-, und setzte einige Gassenjungen auf den Verdächtigen an -für einen
Hungerlohn
[7].
Doch weder das eine noch das andere führte zum gewünschten Erfolg.
Auf der anderen Seite allerdings gab es offenbar einige... Individuen, die ihrerseits an
ihm interessiert waren, wie sich bald herausstellen sollte. Als Helmi eines Nachmittages eine Straße überquerte, wunderte er sich über die zwielichtige Gestalt, die ihm über den Breiten Weg folgte. Als er sich ein zweites Mal umdrehte, verschwand der Schemen jedoch hinter einer vorbeifahrenden Kutsche, und als diese vorübergefahren war, hatte er sich auf wundersame Weise in Wohlgefallen aufgelöst
[7a]. Als er seinen Verdacht dem Hauptmann meldete, setzte dieser verärgert einen Terrier auf ihn und alle in seiner Nähe an. Dieser verschwand jedoch unter mysteriösen Umständen in den Schatten, und konnte erst nach zwei Tagen gefunden werden: Er saß nackt in einer Seitenstraße, gefesselt, geknebelt und halb verdurstet, als eine Näherin ihn entdeckte, während sie gerade einen Platz für ein ganz außergewöhnliches Tete-a-tete auswählte.
Alarmiert durch die Ereignisse, bezog Helmi Quartier in seinem Büro, dem 'Unterseeischen Wasserfergnügen' und verließ die Dienstelle kaum mehr. Sein einziger Kontakt zur Außenwelt war die TK-Kommunikationsanlage auf dem Dach, über die er sich mit dem Nötigsten versorgen konnte.
Doch als seine Taube unter mysteriösen Umständen verschwand
[9], sah er sich mit einem neuen Problem konfrontiert: Da er Arnold Weber sein letztes Kleingeld überlassen hatte, und sich somit vorerst keine neue Taube leisten konnte, sah er sich nun gezwungen, das Wachhaus mit hochgeschlagenem Kragen und künstlich verlängertem Bart zu verlassen, um sich persönlich mit seinen Kontakten in Verbindung zu setzen.
Er hatte sich gerade mit einem Jungen aus der Ankertaugasse in einem Cafe am Apothekergarten getroffen, dann den Weg über die Schlechte Brücke fortgesetzt und den Weg am Fluss entlang in Richtung Perlendock gewählt, als ein Mann aus einer Seitengasse kam. Er schlenderte quasi, kickte hier und dort lässig pfeifend eine Dose fort und stoppte schließlich kurz vor dem Zwerg.
"
Hallo, Rasenschmuck", gab er fröhlich von sich und versuchte, möglichst harmlos zu wirken, was ihm allerdings nicht gut gelang. Und das aus ganz einfachen Gründen: Der Mann war nicht gerade das, was man sich unter einem "Schrank" vorstellte. Ein wissendes Lächeln und eine noch blutige Platzwunde über dem Auge wiesen jedoch auf einen besonders hartnäckigen Schläger hin. Auch versuchte er gar nicht, den Kürass, der an seiner Seite baumelte, zu verbergen.
"Jemand möchte mit dir reden, Rasenschmuck. Und er wartet nicht gern, oh nein. Wenn du also gut mitarbeitest, bringen wir das ganze still und friedlich hinter uns. Na, wie steht's?" Er setzte eine fragende Miene auf, die wahrscheinlich auch Menschen zur Schau stellen, die kleinen Kindern anbieten, ihnen ihre Kaninchen zu zeigen.
"Ich denke eher nicht, danke. Ich bin ein vie-vielbeschäftigter Zwerg", brachte Helmi eingeschüchtert hervor, kleidete den Satz jedoch in einen trotzigen Unterton.
"Schade. Weißt du, es wäre auch anders gegangen, aber du lässt uns keine Wahl."
Nur wenig später nahm Helmi in einem bequemen Lehnsessel Platz.
Nachdem man ihm den Jutesack vom Kopf gerissen hatte, wurden ihm freundlich Brandy und Zigarre angeboten, und er wagte es nicht, abzulehnen, weshalb er schon kurz darauf von einer bläulich-weißen Wolke umgeben war, und auch in seinem Inneren hatte sich eine wohlige Wärme eingestellt.
Dann öffnete sich eine Tür, die weißliches Licht in den fast unbeleuchteten, und allem Anschein nach mit schwarzem Samt ausgekleidetem Raum, ließ, und drei Gestalten betraten den Raum nacheinander.
Zuerst erschienen zwei breite Silhouetten, die sich durch eine souveräne Haltung auszeichneten und sich rechts und links der Tür postierten. Dann folgte eine dritte, wesentlich grazilere Gestalt. Die Begriffe "groß", "mager", "lange Finger" und ein hoher, sich nach oben verbreitender Hut definierten diese Erscheinung.
Sie nahm langsam auf einem Sessel auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches Platz, legte den Hut ab und beugte sich nach vorne, sodass das Licht der Öllampe über dem Tisch das fremde Gesicht erleuchtete.
Helmi erkannte zwischen den Schatten, die sich in vielen dünnen Fältchen abzeichneten, ein Männergesicht, dass seine besten Jahre offenbar bereits hinter sich hatte. Trotzdem hatte sein Eigentümer sich eine gewisse Würde bewahrt: Ernste, stahlblaue Augen wurden von einer relativ langen, breiten Nase ergänzt, und ein weißhaariger, ziegenartiger Bart betonte die schmalen Lippen und hohen Wangenknochen. Auf dem kahlen Kopf thronte ein grauer Haarkranz, der dem Erscheinungsbild gewissermaßen königliche Züge verlieh.
"Willkommen in meinem bescheidene Haus,
Gefreiter Bernstein. Nun, wodurch habe ich mir die Aufmerksamkeit der
Wache verdient? Soviel meine Kontaktmänner mir mitteilen konnten, werden hohe Anschuldigungen gegen mich erhoben. Man sprach offenbar von
Mord, Gefreiter." Die Stimme von Helmis Gegenüber klang ernst, vielleicht mit einem ironisch-amüsierten Unterton, doch das Gesicht, das von der flackernden Lampe erhellt wurde, blieb so ausdruckslos wie davor.
"Bbd hb... N-..."
"Nun, wie auch immer." Der Mann streckte Helmi seine Hand entgegen und lächelte höflich. "Ich denke, wir sollten uns trotzdem einmal bekannt machen. Omar-Abdul Shalelariph, angenehm. Ich kenne deinen Namen bereits, Gefreiter, deshalb bloß keine Umstände." Der Mann ergriff die Hand des Zwergs, und sie tauschten einen festen, ehrlichen Händedruck aus.
Helmi schluckte seine Verwirrung
[10]herunter und entspannte sich ein wenig. Offenbar hatte sich das Unvermeidliche etwas herausgezögert.
"Angenehm, Herr. Äh, aus welchem Grund bin ich hier?"
Shalelariph nahm sein Glas und betrachtete nachdenklich die braune Flüssigkeit, die träge von einer Seite zur anderen schwappte und an den Seiten des Glases abperlte.
"Anscheinend bringen mich gewisse Verantwortliche mit einigen bedauerlichen Geschehnissen der letzten Tage in Verbindung. Ich möchte nicht näher darauf eingehen, wenn das genehm ist."
Helmi nickte zögerlich, woraufhin Shalelariph fort fuhr: "Unter welch mysteriösen Umständen diese bedauerlichen Todesfälle auch geschehen sein mögen, ich möchte hiermit diese ungeheuerlichen Vorwürfe in aller Entschlossenheit von mir weisen. Ich bin nicht mehr als ein gewöhnlicher Geschäftsmann, der in diese wundervolle Stadt gekommen ist, um ein wenig Geld zu machen." Er lächelte ein ehrliches, höfliches Lächeln und übergab das Wort dadurch Helmi, der angestrengt nachdachte, und schließlich den Geistesblitz erhielt, einfach alles zu leugnen. Eine weit verbreitete Taktik bei brenzligen Gesprächen.
"Nun, Herr Shalelariph, offensichtlich sprechen sie hier die falsche Stelle in der Karriereleiter an. Stellen Sie sich vor, ich, ein einfacher Gefreiter, gerade erst zur Wache gestoßen und noch in der Ausbildung für seine Spezialisierung. Denken Sie, die Obrigkeit würde mich mit der Aufgabe betrauen, Informationen über Ihr Unternehmen zu sammeln?" Helmi spielte eine gefasste Fassade, doch in seinem Innern war er aufgewühlt und ein wahrer Botenstoffregen ging auf sein Gehirn nieder.
"Schwer zu sagen: Als offensichtlicher Neuling in der Stadt bin ich weder mit den komplexen Hierarchien noch den Vorgehensweisen der Wache betraut, weshalb ich auf diese Frage keine Antwort geben kann." Helmis Gegenüber lehnte sich zufrieden zurück und ließ sein Gesicht in der Dunkelheit verschwinden. Der Zwerg hatte die düstere Ahnung, dass dieser Mann mehr über ihn wusste als er selbst.
"Ohne Zweifel liegt hier ein Missverständnis vor, und ich
verlange, dass es aus der Welt geschafft wird, bevor mein Ruf noch mehr leidet. Ich danke Ihnen für ihre Zeit und Aufmerksamkeit, Gefreiter. Ohne Zweifel sind Sie ein Zwerg, auf den man sich verlassen kann, und ich verlasse mich darauf, dass Sie sich bei ihren Vorgesetzten melden und diese Sache aus der Welt schaffen. Nun, entschuldigen Sie mich? Meine Geschäfte rufen." Shalelariph stand auf, lächelte sein höfliches Lächeln und schüttelte dem Gefreiten die Hand. " Ich hoffe, es wird nicht nötig sein, nocheinmal ein solches Treffen zu veranstalten.Robing hier wird Ihnen den Weg zeigen."
Robing grinste im Dunkeln. Er war derjenige, der Helmi auf nicht sehr angenehme Weise in dieses Haus in der Grubengasse verschleppt hatte, und aus irgendeinem Grund
wusste der Gefreite, dass der Heimweg wahrscheinlich eine unliebsame Unterbrechung für ihn bereithielt.
"Gehen wir?" Der große, dünne Mann bedeutete dem Zwerg, ihm zu folgen. Auch wenn er nicht aussah wie eine Art Herkules, so hatte Helmi doch festgestellt, dass er Muskeln und Sehnen wie Stahlseile besaß, als er von ihm durch die Schatten getragen wurde.
Sie verließen den Raum durch eine andere Tür als die, durch die sie gekommen waren, und nachdem sie einige dunkle Korridore durchquert hatten, spürte Helmi warmen Wind auf seinem Gesicht.
Er holte tief Luft, und versuchte, seine Vorahnungen zu unterdrücken.
"Ich wünsche noch eine angenehme Heimreise!" meldete sich Robing aus dem Türrahmen, und Helmi hörte, wie die schwere Tür ins Schloss fiel.
Eine Weile stand er reglos in der Dunkelheit der Nacht, hyperventilierte ein wenig und trommelte nervös auf seiner Uniform herum.
Schließlich ließ er seinen Blick langsam durch die Grubengasse schweifen, machte zögerlich einen Schritt nach vorne, dann noch einen, und als nichts geschah, verfiel er in einen leichten Trab.
So durchquerte er, schleichend und sich an Wänden vorbeischiebend, die Ulmenstrasse, verharrte misstrauisch im Kleben-Geblieben, und setzte seinen Weg fort, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die diversen Seitengassen und Einfahrten nichts Geheimnisvolles in sich bargen.
Nur kurze Zeit später stürmte er sein Treppenhaus hoch, rammte den Schlüssel ins Schloss - und bekam erhebliche Probleme, als es darum ging, die Tür aufzuschließen.
Helmi fluchte leise, holte vor Anstrengung schnaufend eine winzige Ölflasche aus seiner Hosentasche hervor und begann damit, einige Tropfen Öl in das Schlüsselloch zu träufeln.
Mit einem verräterischen Knarren schwang die Tür letztendlich nach innen auf und erlaubte den Blick auf einen dunklen Raum, der nur spärlich vom Mondschein, der durch die Fenster fiel, erhellt wurde.
Der Gefreite zog vorsichtig seinen Dolch und lauschte, doch das einzige Geräusch war das Rauschen des Blutes in seinen Ohren.
Schließlich huschte er mit einer verblüffenden Agilität durch die Tür,
raste bemerkenswert leise durch den ganzen Raum, sprang auf sein Bett und wirbelte herum.
Nichts regte sich, außer dem verblüfften Zwerg, der schwer atmend auf dem Bett stand.
Langsam verließ der Zwerg das Bett, schloss behutsam die Tür und zündete die Lampe an, die wie ein Signalfeuer die Wohnung erhellte.
Nachdem er auf spektakuläre Weise und unter Zuhilfenahme eines gusseisernen Kerzenständers
[11] auch den Wandschrank und die winzige Küche nach Attentätern untersucht hatte, entspannte er sich ein wenig, und versuchte, seinen normalen Tagesablauf wiederherzustellen.
Er aß wie gewöhnlich zu Abend, trank einen Tee und wusch sich, wie jeden Abend.
Er legte seine Uniform ab, verschloss die Tür, verriegelte die Fenster, löschte das Licht und ging zu Bett.
Helmi Bernstein schlief ein...
...und erwachte.
Etwas hatte sich bewegt. Da war er ganz sicher.
Im seinem Leben hatte der Zwerg schon mehreren unangenehmen Situationen gegenübertreten müssen, und war trotzdem aus fast allen mehr oder weniger unbeschadet entkommen. Das lag vor allen Dingen daran, dass sich der schmächtige und eher feige Helmi einige Abwehrmechanismen zugelegt hatte.
Dazu gehörte unter anderem auch die Angewohnheit, nach dem Erwachen nicht gleich schweißgebadet hochzuschrecken, sondern besser ruhig liegen zu bleiben, und die Situation, wenn möglich, zu analysieren.
"Ah, Gefreiter. Wie ich sehe, sind Sie wach."
Helmi zuckte unmerklich zusammen. Er verfluchte die Stimme, und erhob sich widerstrebend.
Dort saß Shalelariph auf dem Schreibtischstuhl, mit übergeschlagenen Beinen. Er hatte einige von Helmis Papieren vor sich, trank Tee aus einer kleinen Tasse und machte einen sehr entspannten Eindruck.
"Ich wünsche ihnen eine gute Nacht, Gefreiter. Interessante Aufzeichnungen, wirklich. Und der Tee..." Er hob anerkennend die Tasse.
"Was machen Sie hier?" Obwohl Helmi die Antwort kannte, fragte er. Es war eine gute Gelegenheit, das Wort wieder an den 'Geschäftsmann' zu übergeben.
"Wissen Sie das nicht? Nun, dann möchte ich Sie aufklären. Dies, Gefreiter, ist ein Traum. Diese Wohnung ist nicht mehr als reines Gedankengut. Fragen Sie sich nun, wie ich hier her komme?" Bevor Helmi antworten konnte, fuhr Shalelariph ungerührt fort: "Es ist ein wenig wie Magie, doch gleichzeitig auch weit davon entfernt. Uralte, okkulte Techniken, Trance, die richtige Verbindung, das alles spielt eine wichtige Rolle. Nun, wie auch immer: Lassen Sie mich eine interessante Theorie vortragen, die aus ferner Vergangenheit stammt." Er legte ein kurze Kunstpause ein und nippte an dem qualmenden Tee. Dann streckte er die Hand aus, woraufhin ein Teegebäck erschien. "Verwundert, Gefreiter? Dies ist ein Traum!"
"Meiner oder ihrer?" Der Zwerg hatte sich angezogen und saß nun auf seiner Bettkante. Verwirrt beobachtete er, wie sich der Löffel in der Tasse bewegte, nachdem einige Zuckerwürfel erschienen waren und mit einem 'Plopp' in der Tasse verschwunden waren.
"Diese Frage kann selbst ich Ihnen nicht beantworten. Aber zurück zum Thema, ich schweife ab: Die Theorie. Sie besagt, dass Körper und Geist durch eine Drüse verbunden sind, und diese Drüse abstirbt, wenn der Mensch das Zeitliche segnet, weshab man sie noch nie gesehen hat. Folgerichtig sind also Körper und Seele verbunden, sodass beide ihre Empfindungen teilen. Als Beispiel nehmen Sie jemanden, der eine Leiche sieht: Er nimmt sie geistig wahr, geht zu Boden und übergibt sich. Wie Sie sich vielleicht denken können, ist diese Theorie jedoch völliger Irrsinn."
"Ich habe in der Tat davon gehört, ja. Was... wollen Sie damit sagen?" Helmi runzelte die Stirn, näherte sich seinem Bücherregal und betastete es ungläubig. Es war so fest wie harte Realität sein kann.
"Nun, Herr Bernstein, jede Theorie hat natürlich einen wahren Kern. In deisem Fall lässt dieser sich in einem alt-ephebianischen Wort ausdrücken: Psychosomatik."
"Die Wechselbeziehungen zwischen Körper und Geist." Helmi nickte nachdenklich, während er die Küchentür öffnete und feststellte, dass auch dort alles beim Alten war.
"Wie ich sehe, sind Sie gut informiert. Ja, die Tatsache, dass Gefühle wie Stress, Angst oder Freude Auswirkungen auf den Körper haben. Rudimentär ausgedrückt. Nun, dieselbe Tatsache mache ich mir zunutze. Mir ist durchaus klar, dass Sie wissen, wer für die Todesfälle verantwortlich ist. Hierbei geht es um folgendes: Ich dringe in einen Geist ein und... verstümmele ihn gewissermaßen. Nun, was dem Geist nicht bekommt, kann für den Körper nicht vorteilhaft sein. Die Folgen sind..."
"...Geisteskrankheit, Hirntod oder... körperlicher Tod?"
"Exakt, Gefreiter. Mit Fähigkeiten wie diesen kann man eine Menge Geld machen, glauben Sie mir. Deshalb kann ich auch nicht tolerieren, dass sich störende Elemente einmischen, wie zum Beispiel
Sie."
Helmi schluckte, und hauchte dann: "Ich nehme an, ich... lebe nicht mehr sehr lange, ja?"
"Nun, ich gebe Ihnen ein Gnadenfrist von einem Tag. Heißt es nicht, die Aussicht auf den Tod helfe dem Geist, sich zu konzentrieren?" Shalelariph lächelte süffisant. "Es tut mir Leid, Gefreiter, aber ich kann ihre Ermittlungen nicht dulden. Irgendwann
müssen Sie schlafen. Ich wünsche ihnen noch eine letzte gute Nacht."
Der Fakir erhob sich, klopfte einige Gebäckkrümel von seinem Gewand und öffnete die Tür zum Treppenhaus.
"Auf Wiedersehen, Herr Bernstein." Er trat durch den Türrahmen und verschwand in einer Art schwarzem Portal.
Helmi stand mitten im Raum.
Er war wütend, ängstlich und verwirrt. Tränen der Angst und der Wut rannen in seinen Bart, er wünschte sich eine Axt, um seinem Zorn freien Lauf zu lassen.
Doch dies war ein Traum.
Ein beruhigendes Gewicht erschien in seinen Händen, und er holte aus...
...und erwachte.
Die Laken seines Bettes waren durchgeschwitzt, und diesmal fuhr der Zwerg erschrocken aus dem Schlaf hoch, sprang aus dem Bett und erstarrte.
Dort saß der Fakir. Auf
seinem Stuhl.
Doch während Helmi wie versteinert dastand, erhob sich der Mann, seine Mimik veränderte sich ins groteske, kleine Hügel krochen unter seiner Haut herum, und plötzlich explodierte sein Gesicht.
Schwarze Tentakel fuhren wild tastend aus seinen Augenhöhlen, schossen durch den Raum, warfen ein Regal um. Nach und nach wimmelte der ganze Raum von tastenden, blinden Armen mit Saugnäpfen, sie umkreisten Helmi, und...
...er erwachte.
Das rote Licht des Sonnenaufgangs fiel durch die schmutzigen Fenster, und vom Viehmarkt erklang das typische Geschrei der eingepferchten Tiere.
Helmi öffnete die Augen, erhob sich und blickte sich um. Alles war beim Alten. Weder umgefallene Regale noch schwarze Tentakel umgaben ihn.
Langsam verließ er das Bett, ging in die Küche und hielt seinen Kopf unter eiskaltes Wasser.
Nachdem die schrecklichen Bilder aus seinem Kopf verschwunden waren, sprang er förmlich in seine Uniform und verließ seine Wohnung. Es herrschte keine Gewissheit über den Unheil verkündenden Traum der letzten Nacht, doch Helmi wollte kein Risiko eingehen.
Als er die Tür öffnete und in die kühle Morgenluft hinaustrat, holte er in metaphorischer Hinsicht
[12] tief Luft, bemerkte das Brett, das an der Hauswand lehnte und fluchte nach Herzenslust.
Es trug folgende Inschrift:
"Nur ein Traum, Gefreiter? Wer weiß? Bis heute Abend!"Wieder einmal stand Gefreiter Bernstein im Büro seines Hauptmanns.
Wieder einmal schlürfte dieser ungerührt Kaputtschino.
Und zum ersten Mal war der Gefreite völlig aus dem Häuschen.
"Wie können Sie da so ruhig bleiben, verdammt?! Ich bin zu
jung zum sterben!"
"Immer mit der Ruhe, Gefreiter. Soll ich dir das wirklich abnehmen? Ein dubioser Ausländer, der in den Träumen anderer erscheint? Glaubst du das wirklich? Ich habe dich bis jetzt immer für einen eher vernünftigen Zeitgenossen gehalten."
"Oh, äh, nun, danke." Helmi schüttelte verblüfft den Kopf, dann fing er wieder an, wild zu gestikulieren. "Denken Sie dran, Sir. Ihr einziger Moloss. Ein junger Zwerg, der Sie um Hilfe gebeten hat, wird am nächsten Morgen mit Schaum vor dem Mund tot in seiner Wohnung aufgefunde. Denken Sie, dass man
das als Sprosse einer Karriereleiter werten kann?!"
MeckDwarf seufzte resigniert. "
Na schön. Mal davon abgesehen, dass ich voraussichtlich keine weiteren Sprossen vor mir habe: Was brauchst du?"
Das Zimmer war völlig dunkel. Sogar die Vorhänge waren zugezogen, sodass nicht einmal mehr der spärliche Halbmond sein Licht in die Wohnung werfen konnte.
Einem besonders aufmerksamen Beobachter wären
vielleicht die zwei Schatten aufgefallen, die noch ein wenig dunkler waren als ihre Umgebung.
Sie hatten die Reglosigkeit zur Perfektion entwickelt
[13]Das Licht glänzte
nicht auf den Armbrüsten und Handschellen, die die Gestalten mit sich trugen.
In der Ecke des Zimmers wies ein zugezogener, weißer Vorhang diskret darauf hin, dass das dortige Bett besetzt war. Dort schlief ein Zwerg.
Die Tür öffnete sich, und eine vertraute Stimme verdrängte die Gedanken, die der Gefreite gerade gehabt hatte.
"Einen guten Abend, Gefreiter. Ich muss sagen, ich bin überrascht. Kaum jemand träumt zweimal hintereinander einen ähnlichen Traum."
Helmi klappte das Buch zu, über dem er gerade gebrütet hatte, und sah dem Neuankömmling in die Augen: "Ebenfalls einen guten Abend. Habe ich das Wort? Ich wünsche mir einige schneidige letzte Worte."
"Natürlich, Gefreiter. Es ist ihr gutes Recht, nicht wahr?" Aus dem Nichts erschien ein Stuhl, und Shalelariph ließ sich gelassen darauf nieder.
"Nun gut. Nachdem Sie gestern eine Theorie vorgetragen haben, bin heute wohl ich mit Reden an der Reihe." Der Zwerg nahm eines der vielen Bücher, die um ihn herum verstreut lagen und legte es sich aufgeschlagen auf den Schoß. "Nun denn." Helmi holte tief Luft. "Ich habe mich in der Tat über die Auswirkungen von Träumen informiert, und es scheint wirklich so, dass die Aussicht auf den Tod die Konzentration fördert. Nun, da ich Wächter bin, möchte ich ihnen noch einige Fragen stellen, nur um das Protokoll zu vervollständigen: Haben Sie, Omar-Abdul Shalelariph, in letzter Zeit den Tod von drei Personen, unter ihnen der verstorbene Hubertus von Ente, bewirkt oder in anderer Weise beeinflusst?" Der Zwerg setzte eine erwartungsvolle Miene auf.
"Ahaha! Ja, in der Tat. Sie waren weniger gefasst als Sie, bis auf von Ente. Er fand das alles furchtbar faszinierend. Ich hatte eine lange Diskussion mit ihm. Letztendlich habe ich gutes Geld damit gemacht." Shalelariph lächelte. Wieder einmal erschien eine Tasse in seiner Hand, und aus der Küche schwebte Helmis Teekanne, um ihm dampfenden Tee einzuschenken.
"Und, äh, würden Sie das für mich
bitte aufs Papier bringen? Als eine Art letzten Wunsch?" In Helmi machte sich Nervosität breit. Wenn das nicht klappte...
Doch der Mann hatte schon Papier und Stift erscheinen lassen, und kritzelte munter einen Satz darauf. Als er unterschrieben hatte, schwebte das Blatt langsam hinüber zum Zwerg, der es freudig entgegennahm und in seiner Tasche verschwinden ließ.
"Ich danke Ihnen. Nun, ich werde Ihnen jetzt etwas über Träume erzählen. Dieses Dokument ist die gedankliche Verkörperung eines Schriftstückes aus der Bibliothek der Unsichtbaren Universität." Helmi räusperte sich, und begann dann: "'Neben den inneren Quellen des Trauminhalts können auch zeitgleich mit dem Traum auftretende äußere Reize einwirken. Diese werden über die Sinnesorgane aufgenommen und entsprechend weiterverarbeitet. Als Auslösende Faktoren können dabei zum Beispiel Geräusche von vorbeifahrenden Karren, magische Einflüsse, Berührungen, Gerüche und Überzeugungen in Frage kommen. Thaumische Untersuchungen lassen die Annahme zu, dass, je nach Wichtigkeit der Überzeugung für die Person, diese in den Traum eingegliedert wird. In speziellen Fällen kann es dadurch zu einer magischen Transportation des Gegenstands der Überzeugung in die unmittelbare Nähe des Träumenden kommen.' Was ich damit sagen will ist Folgendes: Die Überzeugung, dass Sie meinen Geist töten, ist in mir momentan recht fest verankert. Als aufmerksamer Zuhörer werden Sie doch bestimmt den Inhalt des letzten Satzes verfolgt haben." Helmi schloss das Buch mit einem lauten Knallen und platzierte es auf seinem Bett.
"Oh ja, eine interessante Theorie, Gefreiter, wirklich. Doch ich weiß nicht, ob sie einer wissenschaftlichen Überprüfung standhalten würden. Nun, Gefreiter, ich bin trotz allem ein viel beschäftigter Mann, also... vielleicht könnten wir es hinter uns bringen?"
"Überhaupt nicht." Der Zwerg sprang auf, und ruckartig veränderte sich der Hintergrund. Das düstere Zimmer wich einer bizarren Szenerie: Mensch und Zwerg standen nun im Abstand einiger Schritte auf Wolkenartigen Gebilden mitten im leeren Raum. Purpurnes und orangenes Licht fiel vom Himmel auf sie hinab, doch war es schwer, den Himmel zu erkennen, da sich der Raum offenbar in allen Richtungen in der Unendlichkeit verlor. Dort, wo der gesunde Verstand ein Ende vermutete, wechselten sich bunte Flecken ab, hauptsächlich gelb, rot, violett und alle Farben dazwischen. Alles hier strahlte ein beunruhigendes Licht ab.
"Ich bin wirklich beeindruckt, Gefreiter. Wer seinen Traum auf diese Weise manipulieren kann... nun, ich hätte es kaum besser machen können." Der Fakir nickte anerkennend und zeigte sein kleines, ärgerliches Lächeln.
Der Zwerg nahm eine bequemere Haltung ein, dann lächelte er ebenfalls, doch in seinem Innern war er aufgewühlt. Er spürte die Gefahr, die von seinem Gegenüber ausging, und obwohl dieser nun gelassen mit ihm plauderte, stellte er weiterhin eine ernste Bedrohung dar.
"Oh, keine Ursache. Man könnte sagen, ich hätte geübt, aber das wäre glatt gelogen." Helmi streckte die Hand aus, und sie ging in Flammen auf. Nachdem er sie eine zeitlang aufmerksam betrachtet hatte, bemerkte er: "In der Tat ein interessantes Phänomen, der Traum. Wenn Sie gestatten, würde ich Ihren Geist gerne in Fesseln legen. Immerhin haben Sie bereits ein umfangreiches Geständnis abgelegt."
Shalelariph schnaufte verärgert. "Stellst du mickrige Person meine Fähigkeiten in Frage? Es ist ein Kinderspiel, einen Traum zu dominieren!" Flammen umgaben den plötzlich viel größeren Mann, während er sich langsam drehend in die Luft erhob.
Helmi spürt plötzlich stechende Hitze im Bereich der Hüfte. Er sah an sich herunter, bemerkte die Flammen an seiner Hose und klopfte hektisch darauf herum. Als auch seine Ärmel Feuer fingen, entledigte er sich seiner Hose völlig, ließ einen Schwall von purpurn glitzerndem Wasser auf sich niedergehen und beobachtete, wie das Schriftstück mit dem Geständnis die gesamte Hose verbrennen ließ, sich schließlich unversehrt erhob und dem lichterloh brennenden Shalelariph in die Hände fiel.
"Dachtest du wirklich, du könntest mich so einfach überlisten?! Das ist gar nichts!" Er nahm das Blatt Papier und zerriss es gründlich. Dann warf er seine Hand nach vorne, und das gesamte, ihn umgebende Feuer fuhr durch Helmis Brust. Er flog zurück, ließ seine Wolke hinter sich und erreichte nach einigen Sekunden Fall eine weitere. Dort rappelte er sich schmerzerfüllt auf und brach gleich darauf wieder zusammen.
So blieb er eine Weile liegen und beobachtete seinen Gegner, wie dieser seiner Wolke entgegenschwebte.
Helmi kam wieder zu Atem und wollte mit einem thaumaturgischen Strahl aus imaginärer Antimaterie antworten, doch als er den Arm in einer dramatischen Geste hob...
...geschah nichts.
EINEN GUTEN ABEND, GEFREITER. ICH BIN POSITIV ÜBERRASCHT, OH JA. NUR WENIGE LEUTE BRINGEN DEN MUT AUF, IM ANGESICHT DES OFFENSICHTLICHEN TODES WIDERSTAND ZU LEISTEN.
"Du... ich glaube ich weiß, wer du bist." Unmittelbar nachdem er die Gestalt in dem schwarzen Umhang erkannt hatte, reifte eine Erkenntnis in Helmi heran. "Oh."
OH JA. NUN, IRGENDWANN MUSSTE ES SOWIESO DAZU KOMMEN, NICHT WAHR?
"Aber doch nicht jetzt! Ich schließe gerade meinen ersten Fall ab! Und ich
gewinne! Nun, vielleicht nicht direkt, aber... es geht dabei ums Prinzip. Wenn ich mich wirklich bemühe, bin ich sicher ich könnte..."
BITTE? OH NEIN, ICH KOMME NICHT WEGEN DIR. Tod deutete zu Helmis Kontrahenten. Er hatte erschrocken über Helmis Wolke gestoppt und näherte sich ihr nun. Offensichtlich sah er den Besucher auch.
OH JA... EIN SCHWERES VERGEHEN. WO IST MAN NOCH FREI, WENN NICHT IN SEINEN TRÄUMEN, NICHT WAHR? KOMM SCHON RUNTER, ICH HABE NOCH ETWAS ANDERES VOR.
Shalelariph setzte auf. Langsam näherte er sich Tod, mit ergebener Miene und baumelnden Armen.
Doch auch in ihm regte sich noch Widerstand.
In nur wenigen Schritten Entfernung manifestierten sich zwei schwarz blitzende Kugeln in seinen Händen, die Umgebung veränderte sich, und nach einer ausladenden, schnellen Geste näherten sich die pulsierenden Bälle Helmi und dem knöchern grinsenden Tod vor dem Hintergrund eines brennenden Dorfes.
Die Welt wurde grau.
Einer der Bälle verharrte dicht vor Helmis Gesicht. Er zuckte erschrocken zurück, und bemerkte, dass offensichtlich die... Zeit
[14] angehalten hatte. Die Flammen, die aus den nahen Gebäuden schlugen, hatten mitten in der flackernden Bewegung angehalten und boten einen bizarren Anblick. Der Zwerg wandte sich mit fragender Miene an Tod.
WAS WEIß DENN ICH? ES IST SCHLIEßLICH DEIN TRAUM, NICHT WAHR? OH, WENN DU MIR VIELLEICHT EINEN GEFALLEN TUN KÖNNTEST... WEIßT DU, ICH KANN IHN JA NICHT EINFACH
SO MITNEHMEN.
"Ahm... Wie? Ich soll...", erkundigte sich der leicht verwirrte Zwerg.
Tod machte eine unmissverständliche Geste.
"Oh."
IN DER TAT. IST ES NICHT SELTSAM, DASS ALLE INTELLIGENTEN GESCHÖPFE DAS BEDÜRFNIS VERSPÜREN, SICH GEGENSEITIG AUSZULÖSCHEN?
"Nun..."
ABER ICH SCHWEIFE AB. SEINE ZEIT IST GEKOMMEN.
Und dann war Tod fort.
Helmi schlug die Augen auf.
Wie ungewöhnlich, dachte er, und blieb liegen, ohne sich zu bewegen.
Doch dann spürte er, wie sich das Verhältnis der Masse in dem kleinen Raum schlagartig veränderte.
Gleichzeitig tat es einen gewaltigen Schlag, das Zimmer wurde von einem grellen Blitz erhellt, und der Zwerg nahm daneben spärlich den Schrei seines Geleitschutzes wahr.
Er drehte sich um, und erkannte den reglos auf dem Boden liegenden Fakir. Seine grauen Haare standen wild vom Kopf ab, sein Gewand rauchte, und sein prächtiger Hut bot einen jämmerlichen Anblick.
Glum Steinstiefel löste sich aus der Dunkelheit.
"Ah. Hm. Äh,
ist er tot?"
"Davon möchte ich doch schwer ausgehen", bemerkte Hauptmann MeckDwarf, der dem Gefreiten dichtauf folgte. "Ich meine, er raucht, und kleine Blitze laufen über ihn.
Ich wäre dann tot."
Helmi stieg aus dem Bett.
"Ah, Gefreiter. Einen guten Abend. Wie ich sehe, stehst du noch." MeckDwarf trat näher, schenkte dem Zwerg ein amüsiertes Lächeln und stieß dann den am Boden Liegenden mit der Stiefelspitze an.
Helmi salutierte benommen: "Guddenabnd. Hauptmann? Glulum?" Dann schien ihm etwas einzufallen, er öffnete die Knöpfe seines Nachthemdes und betrachtete seine Brust. Dort zeigte sich ein kreisrunder Bereich, nicht besonders groß oder auffällig, in dem sämtliche Brusthaare fehlten, und die Haut eine gräuliche Färbung hatte. Ungläubig betastete der Zwerg seine Brust.
MeckDwarf schnitt eine Grimasse und betrachtete den Zwerg: "War das vorher schon da? Sieht ja... echt seltsam aus."
Mit gerunzelter Stirn schüttelte Helmi den Kopf. Er war immer noch sehr verwirrt und erschrocken, weshalb er seine Umgebung nur sekundär wahrnahm. "Habe ich ihn getötetet? Öh..."
"Nun, abgesehen vom Rauch und dergleichen hat er wohl keine äußerlichen Verletzungen, aber ich denke, ja, das warst offenbar du. Außerdem: Du wiederholst ständig Silben! Beruhig dich!", meinte Glum, der seinen Kollegen besorgt betrachtete und nebenbei versuchte, sich eine Pfeife zu stopfen.
"Abababer wie soll ich das denn jetzt beweisen? Er ist ja totot!" Helmi schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. "Und das soll ein guguter Start sein?!"
Der Hauptmann öffnete ein Fenster und ließ weißes Mondlicht in den Raum. Dann legte er dem panischen Zwerg beruhigend die Hand auf die Schulter. "Gefreiter Steinstiefel hat Recht. Außerdem ist er tot - du brauchst also nichts zu beweisen. Und, äh, ich denke du brauchst dir auch keine Sorgen zu machen, was Intörnal Affärs angeht. Das hoffe ich jedenfalls. DOG braucht schließlich
mehr Leute, und verlieren können wir dich nicht, weil... wer kann es dir schon beweisen?"
"Beweisen... Oh, ich..." murmelte Helmi, klopfte suchend auf seine Taschen und wurde schließlich belohnt, als er einen kleinen Zettel hervorholte. "Beweisen! Ha
ha! Ha! Ja, beweisenen! Ich hab's aufgeschrieben!"
Der Zwerg hüpfte wie toll umher und wedelte mit dem Zettel herum, bis Glum ihm diesen mit einer schwungvollen Bewegung aus der Hand riss.
"'Übersetzung seltsame Schrift'", las er laut und runzelte die Stirn. "'Mit freundlichen (unleserlich), Der Traumfänger.'"
Epilog
Es war ein Tag wie alle anderen auch.
Zumindest war er das für alle anderen.
Für alle, die nicht Helmi Bernstein waren.
Weiterhin war es ein bedeutender Tag für die Dienststelle zur Observierung von Gildenangelegenheiten, denn sie durfte ein neues, vollwertiges Mitglied in ihren Reihen begrüßen.
Die rundliche Schiffstür des Unterseeischen Wasserfergnügens trug nun stolz ein neues Schild. Nur einem äußerst aufmerksamen Betrachter wären die frischen Farbstriche aufgefallen, die die beiden Buchstaben "i.A." verdeckten.
Vor der Tür standen mehrere Gestalten und schienen nicht recht zu wissen, was sie denn nun hier verloren hatten.
Es waren sehr verschiedene Gestalten, und wahrscheinlich wären sie sich gegenseitig nie bewusst aufgefallen, wenn sie nicht alle Wächter gewesen wären. Viele Menschen, ein rauchender Zwerg, ein Vampir und ein gelangweilter Gnom schienen etwas zu erwarten.
Auf der anderen Seite der Tür standen wiederum nur zwei Gestalten, eine klein und dicklich, die andere groß und nicht minder untersetzt.
Gerade schüttelten sie sich die Hände.
"Das war es also. Nun, ich wünsche dir weiterhin viel Glück in deiner beruflichen Zukunft und so weiter. Die anderen warten draußen, um dir zu gratulieren. Sie sind ein wenig ungeduldig, glaube ich, deswegen lassen wir sie besser nicht länger warten." MeckDwarf schenkte seinem neuesten Spezialisten ein aufmunterndes Lächeln, ging dann in Richtung Tür und bedeutete Helmi winkend, ihm zu folgen.
"Dankeke, Sir. Ich werde beherzigen, was Sie mir gesagt haben."
Der Zwerg nickte glücklich und griff bereits nach der Türklinke, als der Hauptmann ihn an der Schulter packte und mit sorgenvoller Miene fragte: "Und, äh, ist wirklich alles in Ordnung?"
"Warum nicht, Sir?"
"Und, nun, dein kleiner Sprachfehler... äh?"
"Oh, man versichertete mir, das würde irgendwann von alleine aufhörenen." Helmi lächelte wieder und blickte geistesabwesend auf seine Dienstmarke.
MeckDwarf richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. "Ich verstehe. Gut so. Nun denn... gehen wir?"
Und Helmi trat in seine Zukunft hinaus.
[1] Er hatte sie schon öfters gebraucht, zum Beispiel, wenn es darum ging, die Archive einiger Gilden zu besuchen; vielleicht lauerten dort unentdeckte literarische Schmuckstücke
[2] Im Grunde tat das nur der Wirt. Die übrigen Kunden waren längst nicht mehr in der Lage, so komplexe Gedanken zu fassen.
[3] An diesem Punkt seufzten die Anwesenden verzückt
[4] Zauberer sind keine Kostverächter, nein, ganz im Gegenteil. Sie lassen keine Gelegenheit aus, ihren Bauchumfang zu vergrößern. In diesem Fall war der Saal zwar für einen Leichenschmaus hergerichtet, aber was nützt einem der Tod eines Kollegen, wenn man ihn nicht ordentlich begießen kann?
[5] Das heißt: Er nahm alles, was nicht niet- und nagelfest war und glänzte. Allerdings machte das kaum einen Unterschied, denn
wenn es festgenagelt war, nahm er erst die Nägel heraus und nahm
dann das Objekt seiner Begierde einfach mit.
[6] Ein weiterer Beweis für den fehlenden Einfallsreichtum der Leute, wenn es um Spitznamen für berüchtigte Kneipenschläger geht
[7] Geiz ist eine sehr weit verbreitete zwergische Eigenschaft
[7a] Ein elementares Naturgesetz im Multiversum. Wenn es keine Kutsche ist, ist es eine Fußgängermenge. Alternativ kann es natürlich auch dazu kommen, dass die Gestalt überhaupt nicht verschwindet - in diesem Fall nimmt der Held meistens die Verfolgung auf. Womit sich das nächste Problem auftut: Es kommen die üblichen Hindernisse wie ein plötzlicher Stau, ein Arbeiter, der einen Wäschestapel trägt, oder gleich zwei mit einer Glasscheibe ins Spiel. Das Resultat ist immer das selbe.
[9] Was heißen soll, dass sie eines Tages nicht mehr zurückkehrte. Dramaturgie ist der Treibstoff einer Geschichte.
[10] Er hatte damit gerechnet, in ein finsteres Verlies geworfen zu werden, in dem ihm einige unfreundliche Männer Gesellschaft leisteten, ihm die Fingernägel mit einer glühenden Zange entfernten, die Haare ausrissen, ihm die Zunge herausschnitten, ein Organ nach dem anderen operativ entfernten, um ihm schlussendlich sein eigenes Herz vor die Augen zu halten und dann ihren Darm auf seiner kalten Leiche entleeren würden. Ja ja, die Phantasie ist der Fluch aller intelligenten Personen.
[11] Nach den Inschriften zu urteilen war dieser einmal Eigentum des verstorbenen Königs Erhatt von Lancre gewesen, doch Helmi hatte diese Ansicht längst aufgegeben, weil er, kurz nachdem er ihn bei einem Pfandleiher für 10 Ankh Morpork-Dollar erworben hatte, eine weitere mysteriöse Inschrift entdeckt hatte: "Gemacht in Bhangbhangduc".
[12] Die Wohnungen am Viehmarkt waren spottbillig, weil der Geruch von Blut und diversen Exkrementen ständig in der Luft lag. Wer dort wohnte war a) geruchsempfindlich oder b) knapp bei Kasse. Helmi gehörte zur b)-Kategorie. Er träumte seit seiner Kindheit von einer schönen Villa in Ankh, dachte jedoch realistisch genug, um sein weniges Geld für bessere Sachen auszugeben.
[13] Und auch, wenn Sie das eigentlich nicht hatten, so gaben sie sich doch große Mühe, diesen Eindruck zu erwecken. Schließlich ist es der Gedanke, der zählt...
[14] Das erscheint an den Haaren herbeigezogen, aber fragt irgendwer nach den Beweggründen eines Regisseurs, wenn dieser seinen Helden aus Gründen der Dramatik von einem Werwolf anfallen lässt?
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