Die Straße zur Verdammnis (Teil 1)

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von Hauptfeldwebel Araghast Breguyar (FROG)
Online seit 29. 10. 2007
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Des Dramas erster Teil - Eine Geschichte über Rache, Liebe, Lügen, Schnüffler, DOG, eine Hochzeit und viele Todesfälle.

Dafür vergebene Note: 14

Justice is lost
Justice is raped
Justice is gone
Pulling your strings
Justice is done
Seeking no truth
Winning is all
Find it so grim, so true, so real
(Metallica: ...and justice for all)



PROLOG


Die Kutsche stand vollständig bepackt und bespannt vor der Hintertür des Anwesens. Im flackernden Licht der Öllaterne, die an der Wand des gegenüberliegenden Hauses hing, konnte Scipio Varel die Wolken kondensierter Atemluft von den Nüstern der beiden Pferde und dem Mund des Kutschers aufsteigen sehen. Mit einem kalten Lächeln auf den Lippen strich er beinahe zärtlich über den glatten Schaft seines Blasrohres. In wenigen Minuten würde er die zweite Hälfte seines Auftrages erledigen.
Der erste Teil war nicht mehr als eine bloße Fingerübung für den Assassinen mit langjähriger Berufserfahrung gewesen. Scipio schämte sich beinahe dafür, eine so einfache Inhumierung angenommen zu haben. Ganz wie es sein Kunde verlangt hatte, war die Leiche unter der Ankhkruste und die Botschaft im Magen des Meuchelmörders geendet. Mit einem leichten Schaudern dachte Scipio an den scheußlichen Geschmack des Papiers. Er hätte die Nachricht, deren Verschwinden seinem Auftraggeber so wichtig zu sein schien, auch auf eine andere Weise entsorgen können. Doch es hieß, der amtierende Gildenpräsident Zlorf Flanellfuß habe seine Augen überall, und wehe ein Gildenmitglied erledigte seine Aufträge nicht vollkommen gewissenhaft und wie im Vertrag vereinbart...
Immerhin verhieß das Ableben seines derzeitigen Klienten eine eindrucksvolle Demonstration seiner Künste. Lass es wie einen Unfall aussehen hatten die Anweisungen des Auftraggebers gelautet. Und es war nicht schwer gewesen, Flanellfuß davon zu überzeugen, dass er, Scipio Varel, der Beste für diese Arbeit war.
Ein leises Knirschen drang an die Ohren des Assassinen und wenig später beobachtete er, wie die Hintertür des Anwesens aufschwang und die Silhouette eines Mannes im Türrahmen erschien. Seine hochgewachsene schlanke Gestalt war in einen Reisemantel gehüllt und auf dem Kopf trug er einen Hut mit breiter Krempe.
"Ist alles bereit?" fragte er den Kutscher mit leiser Stimme.
"Wir können auf der Stelle losfahren." kam die ebenso gedämpfte Antwort. Scipio strengte sein Gehör an um die weitere Unterhaltung zu verstehen, doch alles was er vernahm war ein leises Murmeln.
Lautlos legte er sein Blasrohr zurecht und blickte prüfend über den Schaft hinweg, sein Ziel anpeilend.
Währenddessen hatte der Mann im Mantel sein Gespräch mit dem Kutscher beendet und sich wieder der Tür zugewandt.
"Tricia!" rief er leise. "Wo bleibst du denn?"
"Ich komme ja schon." erklang die Stimme einer Frau. "Weißt du, es ist bloß so schwer, Abschied zu nehmen von alldem..."
"Bitte, jetzt werd nicht sentimental." seufzte der Mann. "Bei Sonnenaufgang müssen wir schon so weit weg wie nur irgend möglich sein."
"Ich weiß." antwortete die Frau. "Gib mir noch eine halbe Minute, ich muß die Kleine noch eben wieder einfangen. Du weißt ja, wie gern sie Verstecken spielt."
Scipio lag reglos in seinem Versteck und wartete geduldig. Auf eine halbe Minute mehr oder weniger kam es nicht an. So oder so würden seine Zielperson, dessen Frau und der Kutscher Ankh-Morpork nicht lebend verlassen.
"Mama, warum müssen wir denn mitten in der Nacht in den Urlaub fahren?" Eine Kinderstimme drang aus der geöffneten Hintertür und gleich darauf erschienen die Dame des Hauses, an der Hand ein kleines Mädchen. Dunkle Locken flogen um den Kopf des Kindes, als es leichtfüßig die wenigen Treppenstufen heruntersprang und auf seinen Vater zulief.
"Psst, sei still." flüsterte dieser und strich seiner Tochter über das Haar. "Willst du denn die ganze Nachbarschaft aufwecken?"
Scipio biss sich auf die Lippen, als er das plötzlich auftauchende Problem registrierte. Im Inhumierungsvertrag hatte kein Wort von einem Kind gestanden. Doch was sollte er tun? Brach er den Einsatz ab, würden einige Personen nicht besonders amüsiert sein. Tötete er das Mädchen zusammen mit seinen Eltern, verstieß er gegen das Gildenmotto. Nil mortifi sine lucre ging ihm durch den Kopf.
Währenddessen war seine Zielperson dabei, seiner Gattin in die Kutsche zu helfen, während das Mädchen ihm weiterhin flüsternd Fragen stellte.
"Ich erkläre dir alles wenn wir unterwegs sind." zog sich der Vater schließlich aus der Affäre und schob seine Tochter hinter ihrer Mutter her. "Glaub mir, die Reise wird dir gefallen."
Dann gab er dem Kutscher einen Wink. Dieser nickte und der Mann im Reisemantel stieg ebenfalls in die Kutsche und schloss die Tür hinter sich.
Scipio Varel gab seinem Gewissen einen mentalen Tritt und befördete es in die hinteren Regionen seines Bewusstseins. Er hatte die Ausbildung zum Meuchelmörder nicht überlebt, nur um sich im entscheidenden Moment von irgendwelchen Regeln aufhalten zu lassen. Nur ein schlechter Assassine hielt sich penibel an die Gildenrichtlinien. Und in den meisten Fällen war er nach nicht langer Zeit ein toter Assassine.
Und außerdem winkte nach der erfolgreichen Ausführung dieser Inhumierung eine nicht unbeträchtliche Menge Geld. Dem Auftraggeber schien das möglichst unverdächtige Ableben dieser Familie und des Briefkuriers, welchen er vorhin bereits erledigt hatte, eine Menge wert gewesen zu sein. Was zählte da schon ein kleines Mädchen, das sich zufällig am falschen Ort befand.
Mit diesem Gedanken im Kopf justierte Scipio zum letzten Mal sein Blasrohr und blies hinein. Dann lehnte er sich entspannt gegen den Schornstein hinter ihm und wartete ab, was geschah.
Urplötzlich bäumte sich das linke Pferd des Gespanns schrill wiehernd auf und stürmte los. Von seinen Instinkten getrieben konnte sein Partner gar nicht anders, als es ihm gleichzutun.
"Ho!" brüllte der Kutscher verzweifelt, als das Gefährt sich ruckartig in Bewegung setzte und wild schlingernd die verlassene Straße herunterdonnerte. Aus dem Inneren drang ein entsetzter Schrei.
Scipio sprang aus seinem Versteck und stürmte über die Dachfirste. Er wollte es nicht verpassen, wenn seine Falle zuschnappte.
Beinahe bedauerte der Assassine, dass das Schauspiel innerhalb weniger Sekunden vorüber war. Mit voller Wucht war die Kutsche in den quer in der Straße parkenden Eselskarren gerast und hatte sich anschließend mehrmals überschlagen, während ein unversehrt gebliebenes Rad in Richtung Stadtzentrum davongerollt war. Das Gepäck der Familie lag in einem Umkreis von beinahe fünfzig Metern verstreut, getränkt in den Inhalt der dreißig Fässer mit Winkels besonders altem Bier, welche dem Unfallkarren das nötige Gewicht verliehen hatten. Eines der Pferde lag mit aufgerissenem Leib, aus dem die Eingeweide hervorquollen, auf dem Gehsteig und schnaubte leise vor Schmerzen, während das andere reglos in den Trümmern und Fetzen des Geschirrs hing. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen zog Scipio zwei Dolche aus ihren Gürtelscheiden, glitt vom Dach und näherte sich den Trümmern der Kutsche, bereit den eventuellen Überlebenden den Gnadenstoß zu geben, bevor die ersten Schaulustigen und die Stadtwache eintrafen.
Zuerst stieß er auf den Kutscher. Ein kurzer Blick genügte dem Assassinen um mit Sicherheit festzustellen, dass dieser Mann nicht mehr unter den Lebenden weilte. Er lag in einer sich immer noch ausbreitenden Blutlache, welche aus seinem vom Aufprall auf dem harten Straßenpflaster zerschmetterten Schädel herausfloß.
Schnell schlich Scipio weiter und musterte verstohlen die Häuser in der näheren Umgebung. Noch schien keiner der Anwohner wach genug zu sein um sich ans Fenster zu begeben. Und so kam es, dass er beinahe auf den Körper der Frau trat, welche mit entsetzlich verdrehten Gliedern in den Trümmern eines Bierfasses lag. Ein Ausdruck von absolutem Entsetzen und vielleicht auch Schmerz verzerrte ihre jungen, hübschen Gesichtszüge. Der Holzbalken, welcher ihre Kehle geradezu aufgespießt hatte, ließ keinen Zweifel daran, dass auch sie tot war.
Ein Stöhnen aus der Richtung der Überreste des Fahrwerks der Kutsche ließ den Assassinen herumfahren. Schnelle Schritte brachten ihn zur Ursache des Geräusches.
Seine Hauptzielperson, der Mann im Reisemantel, steckte beinahe aufrecht auf einer der Eisenstreben, welche das Untergerüst der Kutsche gebildet hatten. Seinen Hut hatte er verloren und lockiges, dunkles Haar, das gleiche, welches er auch seinem Töchterchen vererbt hatte, fiel ihm schweißverklebt ins Gesicht.
"He-helfen Sie mir!" flehte er Scipio mit brechender Stimme an. "Meine Frau... mein Kind... Verrat..."
Ein Hustenanfall unterbrach ihn und ein Schwall dunklen Blutes lief ihm über Kinn und Hals. Ein Paar haselnussbrauner Augen blickte den Assassinen bittend an.
Scipio zögerte nicht lange.
Er holte mit dem geschwärzten Dolch aus und tötete den Mann mit einem gezielten Stich ins Herz.
Dieser zuckte noch einmal kurz und ein geflüsterter Name kam über seine Lippen wie ein letzter Seufzer. Dann brachen seine Augen.
Der Assassine atmete tief durch. Der offizielle Teil seines Auftrags war erledigt. Jetzt hieß es das Mädchen finden, die Kleine von ihrem Leiden zu erlösen wenn sie nicht schon tot war, und sich dann möglichst schnell zurückzuziehen.
In diesem Moment schallte das unverkennbare Geräusch gegen die Hauswand schlagender Fensterläden durch die Straße.
"Henriette, steh auf! Da unten gabs nen Unfall!" posaunte eine Männerstimme in die Nacht hinaus.
Scipio verzog verächtlich das Gesicht. Nun ging es also los. Und so wie er die Bürger Ankh-Morporks kannte, würde es nicht mehr lange dauern, bis der Unfallort von Schaulustigen geradezu belagert wurde.
Es war höchste Zeit, dass er von hier verschwand.
Und da kamen sie auch schon aus den Haustüren oder lehnten sich aus Fenstern: Bürger der Stadt in Nachtmützen und hastig übergeworfenen Morgenmänteln, geradezu gierig nach der neuesten Katastrophe.
"Oh je, wie schrecklich!" hörte der Assassine eine Frau jammern. "Das arme Kind! Hol jemand einen Arzt! Schnell!"
So hatte also jemand das Mädchen gefunden. Nun, er konnte es nicht mehr ändern. Mochten sich seine Auftraggeber um die Kleine kümmern. Sie hatte nicht in seinem Vertrag gestanden.
Während er gleich einem Schatten unter vielen in einer Seitengasse verschwand mußte Scipio an das letzte Wort des Mannes im Reisemantel denken. Es war ein Frauenname gewesen. Theodora? Leonore? Er konnte sich nicht genau erinnern, viel zu sehr war er auf seine Umgebung konzentriert gewesen. Und letztendlich war es auch nicht im geringsten von Bedeutung. Nun mußte er nur noch seinem Auftraggeber melden, dass die Inhumierungen nach Plan durchgeführt worden waren und dann war endlich Feierabend.
Und so machte sich Scipio Varel so leise und unauffällig wie möglich auf den Weg zur Sonstwo-Straße.
Es dauerte eine Weile, bis der Assassine den verabredeten Treffpunkt gefunden hatte. Die Sonstwo-Straße war nicht nur, wie er erwartet hatte, eine einzige Gasse, sondern ein ganzes Gewirr selbiger, welches diesen Namen trug.
Doch schließlich stand er vor einer Kellertreppe, über welcher die gesuchte Hausnummer prangte. Eine leise Alarmglocke klingelte in Varels Unterbewußtsein. Die Nummer war geradezu auffällig deutlich sichtbar. Diese Tatsache schrie geradezu nach einer Falle.
Schritt für Schritt und beinahe geräuschlos tappte der Assassine die Stufen hinunter und legte die Hand auf die Türklinke. Sie ließ sich mühelos herunterdrücken.
Scipio Varel hielt inne und zog vorsichtshalber ein Wurfmesser. Sicher war sicher. Dann schob er die Tür vorsichtig auf.
Vor ihm erstreckte sich ein leerer Gang. Eine einsame Fackel in einer Wandhalterung spendete trübes, flackerndes Licht.
Wachsam, sämtliche Muskeln und Sehnen angespannt, um einem plötzlichen Angriff sofort auszuweichen, trat der Assassine ein und schloß die Tür hinter sich.
"Hallo?" rief er in die Stille. "Ist hier jemand?"
Niemand antwortete ihm.
Scipio atmete tief duch. So blieb ihm also keine andere Wahl, als weiterzugehen, wenn er die Bezahlung für die Inhumierungen des heutigen Abends erhalten wollte...
Nach einigen Metern erreichte er eine massive Holztür. Sich seine guten Manieren in Erinnerung rufend klopfte er an.
"Herein." antwortete ihm eine dunkle Männerstimme. "Ich habe Sie bereits erwartet."
Langsam drückte der Assassine die Tür auf und spähte in den Raum der sich dahinter befand.
Fünf bequem aussehende Ohrensessel standen in einem Halbkreis um einen Kamin, in dem ein lustiges Feuer prasselte. Aus einem der Sessel ragte eine teigige Hand hervor, welche eine dicke Zigarre hielt.
"Kommen Sie ruhig herein." sprach die Stimme. "Hier wird Ihnen niemand auflauern. Ich möchte lediglich wissen, ob der Auftrag zu meiner Zufriedenheit ausgeführt wurde."
Scipio trat widerwillig ein. Plötzlich widerstrebte es ihm, diesem Mann Meldung zu machen als wäre er nichts weiter als ein einfacher Laufbursche. Es war einfach unter seiner Würde. Doch dann erinnerte er sich an die Zahl auf dem Inhumierungsvertrag. Sie hatte einen langen Schwanz aus Nullen besessen und keine davon hinter einem Komma.
"Der Mann, seine Frau, der Kutscher und der Bote sind tot." erklärte er mit so viel überheblicher Lässigkeit wie er es für angemessen hielt. "Letzterer war lediglich eine Fingerübung und der Unfall verlief nach Plan. Die Nachricht wurde von mir höchstpersönlich vernichtet."
"Perfekt." antwortete die Stimme im Sessel.
"Aber..." Der Assassine räusperte sich. "Es gibt da noch etwas. Mein Klient hatte eine Tochter. Den Aussagen der Schaulustigen zu entnehmen scheint sie vielleicht lediglich verletzt zu sein. Ich hörte, wie sie nach einem Arzt riefen. Wünschen Sie, selbstverständlich gegen eine angemessene Bezahlung, dass ich mich auch noch um sie kümmere?"
Ein leises Lachen erklang in der Dunkelheit des Sessels.
"Lassen Sie das Kind nur meine Sorge sein. Ich werde dafür sorgen, dass die Kleine, falls sie überleben sollte, sich an nichts erinnert, auf die eine oder andere Weise. Sie haben meine Erwartungen perfekt erfüllt, wenn nicht sogar übertroffen. Ihre Bezahlung dürfte mittlerweile bei Herrn Flanellfuß eingetroffen sein. Falls mich jemals ein Bekannter um Rat fragen wird, ich werde Sie wärmstens weiterempfehlen."
"Vielen Dank." antwortete Scipio Varel höflich aber distanziert. "Es war mir ein Vergnügen, Ihre Herausforderung meiner Kunst anzunehmen."
"Ich habe zu danken." entgegnete die Person im Sessel. "Sie haben einen entscheidenden Beitrag zur Rettung der Stadt geleistet. Leben Sie dann wohl."
"Wie bereits erwähnt, das Vergnügen war ganz auf meiner Seite." gab der Assassine galant zurück, verabschiedete sich mit einem leichten Kopfnicken und verließ den Keller im Gewirr der vielen Nebengassen gleichen Namens auf dem Weg auf dem er gekommen war. Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf seine Lippen als er auf die Straße trat. Was auch immer seine Neider behaupten mochten, er war der Beste...
Ein leises Klicken und ein Geräusch wie das Zurückschnellen einer Sehne drangen an Scipios Ohren und er begriff den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Er starb, noch bevor sein Körper auf dem Boden aufschlug. Ein dunkel lackierter Armbrustbolzen ragte aus seiner Brust.
Wenige Minuten später setzte ein leichter Nieselregen ein.



Abschied


Ein wenig wehmütig ließ Araghast seinen Blick ein letztes Mal durch das Drunter und Drüber im ersten Stock des Boucherie Rougeschweifen. Der Karton mit seinen Sachen stand gepackt auf dem Schreibtisch, das Tuch, das den großen Spiegel über dem Kamin verborgen hatte, hing sorgfältig zusammengelegt über der Lehne des Schreibtischstuhls.
Dies war also das Ende eines weiteren Abschnitts seiner Wachelaufbahn. Für ein Jahr hatte er die Dienststelle zur Observierung von Gildenangelegenheiten geleitet und den Posten nun an Humph MeckDwarf weitergegeben. Es war ein aufregendes Jahr gewesen. Doch tief in seinem Inneren hatte Araghast begonnen, der Verantwortung müde zu werden. Schon seine Entscheidung, nicht die Offizierslaufbahn einzuschlagen, war von vielen seiner Bekannten mit Verwunderung aufgenommen worden, doch der Hauptfeldwebel war sich sicher. Er gehörte in ein kleines, gemütliches, mit Fallakten vollgestopftes Büro und nicht an einen Versammlungstisch mit hohen Tieren. Und deshalb hatte er sich, sobald der Abteilungsleiterwechsel vom Kommandeur abgesegnet worden war, auf seine alte Stelle als Püschologe bei FROG beworben, auch wenn er die Bewerbung nur als eine reine Formsache betrachtete.
Crunkers, das Maskottchen der DOG, winselte leise, als ahnte er, was sein zeitweiliges Herrchen vorhatte. Mit hängendem Schwanz trottete er zu Araghast und leckte dessen Finger.
Der Hauptfeldwebel ließ sich auf ein Knie nieder und kraulte dem Hund den Nacken.
"Mach's gut, Crunkers." sagte er. "Weißt du, du bist derjenige, der mir in diesem Laden am meisten fehlen wird."
Als Antwort stellte sich der Hund auf die Hinterbeine und legte die Vorderpfoten auf Araghasts Schultern.
"Na, na." antwortete dieser. "Hauptmann MeckDwarf wird sich schon gut um dich kümmern. Abschiede gehören nun mal zum Leben. Ich sage ihm auch, dass du Rinderknochen besonders gern magst."
Crunkers bellte kurz und ließ von Araghast ab, welcher sich erhob und den Karton mit seinen Habseligkeiten fest packte, während er im Geiste noch einmal die Liste der Formalitäten durchging. Der Büroschlüssel steckte im Türschloss, die übrigen Schlüssel lagen in der obersten Schreibtischschublade. Die Ersatzbettwäsche lag säuberlich zusammengelegt auf dem Nachttisch. Nicht, dass Araghast das Bett je benutzt hatte, doch bei Besprechungen pflegten verschiedene Wächter regelmäßig zwischen den weichen Kissen herumzulungern. Die Liste mit Crunkers' Lieblingsfutter befand sich ebenfalls in der obersten Schreibtischschublade, zusammen mit den Berichten über die Abteilungsmitglieder.
Der Karton war schwerer als Araghast vermutet hatte. Mit dem Ellenbogen drückte der Hauptfeldwebel die Türklinke herunter und schob sich aus dem Büro, während Crunkers ihm vor den Füßen herumlief, und beinahe wäre er über das Tier gestolpert. Während er sich noch bemühte, nicht das Gleichgewicht zu halten und dabei den Karton nicht zu verlieren, rutschte eine Postkarte aus einem Stapel persönlicher Papiere und direkt in Araghasts Blickfeld.
Als der Hauptfeldwebel die Karte sah, musste er schmunzeln.

Auch per Post noch einmal herzlichen Glückwunsch zur neuen Abteilung! Betrachte diese Karte als kleine Mahnung einer eifersüchtigen Dame, es nicht zu toll mit den Näherinnen zu treiben. Kuss, Lea


Leonata hatte ihm die Karte damals als kleinen Scherz zum Abteilungswechsel geschenkt und es auch während des gesamten folgenden Jahres nicht lassen können, ihn mit den Näherinnen aufzuziehen. Araghast kannte den Spruch auf der Vorderseite der Karte auswendig.

Wehe euch ihr Sünder, die ihr den Pfad der Tugend verlassen habt! Denn die Straße zur Verdammnis ist lang und ihr Ende liegt verloren in der Dunkelheit.
(Hwel, Der anzüglich grinsende König, zweiter Akt, dritte Szene)


stand dort in verschnörkelten Buchstaben geschrieben, und als er das Zitat leise vor sich hinmurmelte, verschwand das Lächeln von seinem Gesicht. Damals war die Postkarte nicht mehr als ein Witz gewesen, doch wenige Monate später hatte sie seine Leonata in große Gefahr gebracht.
Der Hauptfeldwebel seufzte leise, als Erinnerungen an seine unerfreulichste Zeit bei DOG aufwallten. Es waren Dinge passiert, die seinem Vertrauen in seine Kollegen einen tiefen Knacks verpasst und ihm nur zu bewusst gemacht hatten, wie zerbrechlich sein eigenes, mühsam erkämpftes Glück war.
Und, wie so viele das Leben erschütternde Geschichten, hatte alles vergleichsweise harmlos mit einem Mord an einem völlig Fremden begonnen.


Tag 1 - Tod eines Schnüfflers


KOLUMBINI


Das leise Quietschen des verblichenen Holzschildes in der schneidend kalten Brise begann langsam aber sicher, Inspäctor Kolumbini gehörig auf die Nerven zu gehen. Der Ermittler klappte den Kragen seines MANTELs hoch und bereute, seinen Schal daheim vergessen zu haben. Mit schief glegtem Kopf studierte er den sich bereits im fortgeschrittenen Stadium des Abblätterns befindenden Schriftzug. Archibald Marloff - Vertrauliche Nachforschungen.
Kolumbini schlug sein Notizbuch auf und notierte die Worte. Offensichtlich hatte der Mann, dessen Leiche vor mehreren Stunden vom Milchmann gefunden worden war, im gleichen Beruf gearbeitet wie seine Cousine Ivonne. Private Schnüffler waren ein relativ neues Phänomen in der Stadt, welches der Ermittler insgeheim mit dem Erstarken der Stadtwache während der vergangenen Jahre in Verbindung brachte. Eine mächtige und präsente Wache schreckte viele Bürger, die oft genug selbst Dreck am Stecken hatten, davon ab, ihre Probleme krimineller Natur den offiziellen Vertretern des Gesetzes anzuvertrauen. Stattdessen wandten sie sich an halblegale Schnüffler, die für die richtige Bezahlung jeden Schmutz ans Tageslicht zerrten, dessen sie habhaft werden konnten.
Letztendlich lag es in der Natur des Systems, dass es gelegentlich einen dieser Ermittler auf eigene Faust dahinraffte, wenn dessen Nachforschungen jemandem zu vertraulich geworden waren.
In der Innentasche seines MANTELs steckte die vorläufige Tatortanalyse, welche Kolumbini in Kopf durchging, als er die hölzerne Tür öffnete und den düsteren Raum betrat, der dem Mordopfer als Büro gedient hatte. Marloff hatte den Täter scheinbar nichtsahnend hereingelassen und war von ihm hinterrücks niedergestochen worden. Nur wenige Schritte von der Tür entfernt zierten eingetrocknete Blutflecken und ein sorgfältig gezeichneter Kreideumriss einer menschlichen Gestalt den dunklen Dielenboden.
Der Ermittler ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Nachdem der Mörder mit Marloff fertig gewesen war, hatte er ganze Arbeit geleistet. Die Schubladen waren aus dem Schreibtisch herausgerissen worden und ihr Inhalt bedeckte einen Großteil des Bodens mit einer gleichmäßigen Papierschicht. Auf dem wackeligen Schreibtisch standen eine Öllampe mit gesprungenem Schirm und ein überquellender Aschenbecher. Gewissenhaft hatten die SUSI-Mitarbeiter beide Gegenstände mit einem nummerierten Schildchen versehen.
Seufzend zog Kolumbini seine Rauchutensilien hervor und begann mit dem Stopfen seiner Pfeife. In Gedanken spulte er das Routinevorgehen ab. Befragung der Nachbarn, warten auf die Ergebnisse von SUSI, Durchsehen der Papiere des Toten nach den Aktivitäten der vergangenen Wochen. Angesichts des Chaos auf dem Boden bezweifelte der Ermittler stark, in letzterer Hinsicht etwas Brauchbares zu finden. Die Anatomie des Verbrechens deutete stark darauf hin, dass jemand gewisse Nachforschungen, beziehungsweise deren Publikmachung, mit allen Mitteln verhindern wollte. Erst erledigte er Marloff, anschließend vernichtete er alle Spuren, die auf eben diese Nachforschungen hinwiesen.
Rauchschwaden waberten durch das Büro, als Kolumbini damit begann, sämtliche Möbel und Papiere systematisch zu durchsuchen, und nach kurzer Zeit bedauerte, dass Fensterputzen für Marloff zu dessen Lebzeiten ein Tabu gewesen zu sein schien. Wahrscheinlich hatte es etwas mit der Erwartung der Klienten zu tun, ein schummriges, schäbiges Büro vorzufinden, wenn sie einen Privatdetektiv aufsuchten. Aus einem plötzlichen Impuls heraus spähte der Ermittler in die halb geöffnete unterste Schublade des Schreibtisches und war nicht im geringsten überrascht, dort eine halb geleerte Flasche von Jimkin Bärdrückers Leckertropfen vorzufinden. Marloff hatte das Klischee gelebt.
Und er war einen geradezu klassischen Tod gestorben.
Kolumbini ließ die Schublade zuschnappen und beschloss, das Durchsuchen der Papiere andersweitig zu regeln. Einen Augenblick überlegte er, die Schnapsflasche Araghast zu schenken. Das war doch einmal ein wirkliches Sammlerstück, original aus dem Büro eines Privatdetektivs. Doch zuerst ging alles zu SUSI, obwohl Kolumbini bezweifelte, dass die Fingerabdrücke des potentiellen Mörders irgendwo zu finden waren. Ein so dummer Täter stieß grundsätzlich nur anderen Ermittlern zu.
Ob Ivonne Gefahr drohte? Der vermutete Tathintergrund sprach dagegen, doch in Ankh-Morpork waren schon die seltsamsten Serienmorde vorgekommen. Warum sollte es nicht irgendjemand auf Privatdetektive abgesehen haben? Das Tatmotiv lautete in den meisten Fällen schlichter Wahnsinn. Der kleine Ermittler zuckte mit den Schultern. Ivonne Kolumbini hatte schon mehrfach bewiesen, dass sie durchaus in der Lage war, auf sich allein aufzupassen. Und selbst wenn es sich um einen dieser Fälle von Serienmord handelte - wahnsinnige Täter waren meist leicht zu fassen. Bei Mördern die ein handfestes Motiv aufwiesen und systematisch planten, gestalteten sich die Ermittlungen häufig weitaus schwieriger.
Vor sich hinpaffend verließ Kolumbini das Büro des aus dem Leben geschiedenen Archibald Marloff und versiegelte die Tür mit einem Klumpen Wachs. Ein in schreienden Violett- und Blautönen gehaltenes Plakat an einer Hauswand auf der gegenüberliegenden Straßenseite erweckte seine Aufmerksamkeit. Der Ermittler legte den Kopf schief.

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Mit verächtlich verzogener Miene brach Kolumbini die Lektüre ab und marschierte in Richtung Pseudopolisplatz davon. Solche Bücher führten nur zu nassen Kopfkissen und waren bestenfalls für Frauen geeignet. Warum schrieb nie irgendwer einen harten, realitätsnahen Roman über die Stadtwache? An seltsamen Fällen konnte es wohl kaum liegen, die gab es zuhauf. Der Ermittler lächelte humorlos, während er sich selbst als Hauptfigur einer Geschichte vorstellte. Er war klein, nach objektivem Maßstab nicht sonderlich attraktiv, verschroben und verbrachte seine Freizeit lieber mit einer Kanne Tee und einem guten Pfeifentabak als mit einer schmachtenden dummen Frau. Mit anderen Worten, ihm fehlte jegliches Romanheldenpotential.

ARAGHAST


"Mist!"
Mit gerunzelter Stirn betrachtete Araghast den Tintenklecks auf dem weißen Büttenpapier und streute schnell eine Prise Löschsand auf das Malheur. Es half alles nichts, er würde die Einladung an Romulus noch einmal von vorn beginnen müssen.
In wenigen Tagen war er ein verheirateter Mann. Diese Erkenntnis überraschte Araghast immer wieder und ein seltsames Kribbeln machte sich in seiner Magengrube breit. Jahrelang hatte er sich gefragt, wie es wohl werden würde, wenn Leonata und er vor den Standesbeamten traten, um ihre Beziehung mit einem offiziellen Dokument zu krönen, und zu seiner eigenen Schande musste er sich eingestehen, dass ihn nun, wo der Termin immer näher rückte, immer wieder eine gewisse Nervosität überkam. Hatten sie auch wirklich an alles gedacht?
Im Geiste ging Araghast, wie so oft in den vergangenen Wochen, die Liste der Dinge durch, die es zu erledigen galt. Das Aufgebot im Standesamt des Palastes für eine nichtkonfessionelle Hochzeit war aufgegeben und der Termin auf den ersten Sektober um halb eins festgelegt. Herr Käse wusste Bescheid, dass am Nachmittag und Abend des großen Tages eine Hochzeitsgesellschaft den Eimer bevölkern würde. Die Einladungen befanden sich gerade in Arbeit und Araghast hoffte, sie in der Mittagspause zum Postamt bringen zu können. Wenigstens brauchte er sich um seine Kleidung keine Gedanken zu machen. Die Ausgehuniform hing gebügelt in seinem Kleiderschrank in der Ankertaugasse 27.
Der Hauptfeldwebel seufzte leise und sein Blick wanderte zu Crunkers, der friedlich auf den Laken des überdimensionalen Himmelbetts schlief. Nun würde er also im Grau der DOG heiraten, der Farbe der Abteilung, in der er eine Art neue Heimat gefunden hatte. Böse Zungen behaupteten, dass der plötzliche Schwund an Abteilungsmitgliedern nach seinem Dienstantritt im Boucherie Rouge auf seinen Ruf als Püschologe des Grauens zurückzuführen war. Araghasts dünne Lippen verzogen sich zu einem spitzzahnigen Grinsen. Es war ein Haufen Arbeit gewesen, Picardos Nachlass aufzuarbeiten, wozu unter anderem die Entlassung einiger nur noch sehr unregelmäßig zum Dienst erscheinender Wächter gehört hatte.
Aber immer noch enthielt die Dienststelle einige Geheimnisse für die Araghast bisher nicht die Zeit gefunden hatte, sie zu lüften. Wer hatte warum das Rosarothe Himmelbeth im zweiten Stock vernagelt? Und was befand sich in der unzugänglichen Ecke neben Breda Krulocks Büro?
Insgesamt glaubte der Feldwebel jedoch, seine Sache bisher recht ordentlich gemacht zu haben. Er hatte eine vertrauenswürdige Stellvertreterin gefunden, die ihm keinerlei unangenehme Fragen nach seinem Tun stellte. Das Boucherie Rouge stand noch und alle wichtigen Gildenhäuser mit Ausnahme der Alchimistengilde ebenfalls. Mit den Näherinnen im Erdgeschoss kam der Hauptfeldwebel gut zurecht und schäkerte gern ein wenig mit ihnen herum. Aus irgendeinem Grund schienen sie ihn sehr interessant zu finden. Das einzige Problem war Robin Picardo...
Der Fähnrich schien sich einen Spaß daraus zu machen, seinem Nachfolger immer wieder kleinere Gemeinheiten unterzuschieben. Zuerst hatte Araghast noch geglaubt, die spitzenbesetzten Unterhosen an der Klinke seiner Bürotür und das mit Wachs verklebte Schlüsselloch gehörten zu einer Art Aufnahmeritual, doch seitdem er eines Morgens einen toten Krustenbrecherfrosch an die Tür seines Büros genagelt gefunden hatte, war bei ihm jeglicher Spaß vorbei gewesen.
Natürlich hatte der Fähnrich alles vehement abgestritten, doch sein seltsames Lächeln sprach Bände. Er konnte die Tatsache nicht ausstehen, ausgerechnet durch Araghast ersetzt worden zu sein. Der Hauptfeldwebel griff nach einem frischen Blatt Papier und entblößte seine angespitzten Eckzähne. Eines Tages ertappte er ihn hoffentlich auf frischer Tat...
Immer noch grinsend betrachtete er Leonatas Postkarte, die sie ihm zum Abteilungswechsel geschrieben hatte. Wehe euch ihr Sünder, die ihr den Pfad der Tugend verlassen habt! Denn die Straße zur Verdammnis ist lang und ihr Ende liegt verloren in der Dunkelheit. Seine Braut würde ihm höchstpersönlich das Fell über die Ohren ziehen, wenn er sich jemals ernsthaft mit einer der Näherinnen einließe. Sie hatte sich mit seinem Hang zu starken Getränken, den sie selbst gelegentlich teilte, und seinen hin und wieder auftretenden Anfällen von Neurosen arrangiert. Doch einen Seitensprung würde sie ihm niemals verzeihen.
Araghast lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und genoss die Stille des späten Vormittags in der Dienststelle. Die Damen im Erdgeschoss erholten sich um diese Tageszeit und die Mitglieder der DOG faulenzten in ihren Büros oder gingen Ermittlungen nach. Das hektische Treiben des Hauptwachhauses mit dem gnadenlosen Kantinenklatsch und den interessanten Fällen, die grundsätzlich an FROG vorbeigewandert waren, befand sich am anderen Ende der Stadt. Bei DOG gab es immer etwas zu tun, jedoch meistens, ohne dass von einer Sekunde auf die andere plötzliche Hektik ausbrach. Das Register der Gildenmitglieder, auch kurz RegGil genannt, musste auf dem aktuellen Stand gehalten werden und Routineobservationen großer und kleiner Gilden wurden im Stichprobenverfahren durchgeführt.
Leise ein Lied der Untoten Socken vor sich hinsummend öffnete Araghast die unterste Schreibtischschublade und goss sich einen guten Schluck des Inhaltes der dort verwahrten Flasche in seine Kaffeetasse. Er war an seinem Ziel angelangt, dort wo er eigentlich schon lange hätte sein können, wenn Mückensturm vor Jahren seine Bewerbung als Experte für den Dobermann/Patrizierpalast nicht abgelehnt hätte. Nun führte Araghast die Abteilung und Mückensturm befand sich auf der Entlassungsliste. Der Hauptfeldwebel prostete dem mit einem Tuch verhangenen Spiegel über dem Kamin zu. Hin und wieder schien ihn das Leben doch einmal ein wenig gewogen zu sein. Zufrieden mit sich selbst und der Scheibenwelt im Allgemeinen tauchte Araghast seinen Federhalter ins Tintenfass und fuhr mit dem Schreiben der Hochzeitseinladungen fort.

Eine halbe Stunde später verließ ein gutgelaunter Hauptfeldwebel mit Crunkers an der Leine das Boucherie Rouge, einen Leinenbeutel, gefüllt mit sorgfältig beschrifteten Briefumschlägen, locker über die Schulter gehängt. Ein kalter Wind aus mittwärtiger Richtung kündigte den Herbst an. Araghast war gespannt darauf, wie Kolumbini, ein Mensch der mit Romantik soviel anfangen konnte wie eine Salatgurke, seine Ernennung zum Trauzeugen wohl aufnahm. Doch Inspäctor Kolumbini war nach dem Zerwürfnis mit Valdimier van Varwald sein bester Freund, und da Leonata schon Mimi Vanderby-Herr als weiblichen Trauzeugen ausgewählt hatte, verlangte die ungeschriebene Tradition, dass er einen männlichen Freund zum offiziellen Zeugen seiner Eheschließung ernannte.
In Gedanken versunken blieb Araghast stehen, um Crunkers einen Laternenpfahl beschnüffeln zu lassen, während sich um ihn herum das übliche morporkianische Straßenleben tummelte.
"Araghast und Leonata Breguyar." murmelte er vor sich hin und betrachtete den schmalen goldenen Reif an seinem linken Ringfinger. Verdammt. Jetzt wurde er schon wieder romantisch, ausgerechnet er, der sich über derartiges Gesülze regelmäßig lustig gemacht hatte. Vielleicht sollte er seine Einstellung zu dem Thema doch noch einmal überdenken.

NYRIA


Dichter Laubwald erstreckte sich zu beiden Seiten der ausgefahrenen Straße, die sich gleich dem Schnitt eines überdimensionalen Messers schnurgerade durch die ansonsten unberührte Hügellandschaft zog. Die letzte warmen Strahlen der Herbstsonne wärmten Nyria Maiors Gesicht, als sie unter dem Segeltuchdach des Planwagens hervorgekrochen kam und sich auf dem Kutschbock neben Karol niederließ. Mit knirschenden Rädern quälte sich das Gefährt die letzte steile Anhöhe des Hügelzugs hinauf und das Fell der beiden scheckigen Zugpferde war nass vom Schweiß.
"Würde es was helfen, wenn wir aussteigen und schieben?" fragte Nyria scherzhaft.
Karol lachte lauthals auf und strich sich das lockige, dunkle Haar aus dem Gesicht.
"Vielleicht." antwortete er grinsend. "Aber die beiden Hübschen hier schaffen es schon. Sie haben es auch schon auf dem Hinweg bis hoch nach Lancre geschafft."
Schweigend lehnte sich Nyria zurück und ließ sich von der Sonne bescheinen. Das Vagabundenleben der letzten zweieinhalb Jahre hatte ihr gefallen. Sie war frei, zu kommen und zu gehen, wann und wohin immer sie wollte. Und wenn jemand begann, seltsame Fragen über gerissene Hühner nach Vollmondnächten zu stellen, war sie schon wieder unterwegs. Rucksacktourismus hatte Bruce es genannt, ein Icksianer, mit dem sie zusammen in den Weiten von Viericks Schafe gehütet hatte. Und gleich darauf hinzugefügt, wie gut sie es doch hätte, Schafhirtin und Hütehund in einem zu sein, was ihm eine schallende Ohrfeige und einen Schwall nicht jugendfreier Beschimpfungen eingebracht hatte.
Und nun befand sie sich auf dem Weg nach Hause. Was für einen seltsamen Klang diese Formulierung doch hatte. Strenggenommen besaß sie gar kein Zuhause mehr, nachdem sie ihr Elternhaus in einem letzten Akt, alle Brücken hinter sich abzubrechen, in Brand gesteckt hatte. Sie war tot. Und das in wörtlichem Sinne. Zusamen mit ihrem Vater, dem letzten Lord von Canis Maior Alpha, war sie in der Familiengruft zur Ruhe gebettet worden...
Jemand zupfte sie am Kragen.
"Einen Cent für deine Gedanken, Ny." drang eine weibliche Stimme in ihr Bewusstsein. "Karol, findest du nicht auch, dass sie in letzter Zeit zu viel vor sich hingrübelt?"
"Ich habe eine Menge, worüber ich nachdenken muss, Viveka." antwortete Nyria. "Mein Abgang aus Ankh-Morpork war, wenn ich es mal so ausdrücken darf, nicht gerade rühmlich. Wenn ich wirklich zurück will, bedarf das Ganze ausgiebiger Planung."
"Ich verstehe nicht, warum du wirklich dahin zurückwillst." bemerkte Karol. "Was schöneres als das Aussteigerleben gibts doch gar nicht. Du bist doch auch eine von uns."
Eine Aussteigerin, ja, ging Nyria durch den Kopf. Aber ich finde es nicht romantisch, mit einem Planwagen durch die Gegend zu ziehen und selbstgemachte Dinge zu verkaufen, so wie ihr.
"Ich muss dort etwas klären." sagte sie. "Einen Verwandten besuchen. Und außerdem... Ich habe mein ganzes Leben in Ankh-Morpork verbracht. Ich vermisse die Stadt. Den Geruch. Diese unvergleichliche Atmosphäre."
"Nicht dein ganzes Leben." Vivekas Hand legte sich auf ihre Schulter. "In den letzten Jahren hast du so viel von der Scheibenwelt gesehen, wie selbst wir es uns nur erträumen können. Gennua... Viericks... Hach, wenn wir uns bloß mal trauen würden, durch Überwald zu reisen und dann die andere Hälfte der Scheibe zu besuchen..."
"Wenn ich sagte, mein ganzes Leben, dann meinte ich mein ganzes Leben." antwortete Nyria genervt. "Ich habe euch doch von meinem kleinen Problem erzählt."
"Achso, ja." Viveka verstummte taktvoll.
Für eine Weile bildeten das Knirschen der Räder, das Stampfen der Pferdehufe auf der Straße und das Zwitschern vereinzelter Vögel die komplette Geräuschkulisse. Nyria schloss die Augen. Es könnte alles so einfach sein. Sie brauchte nur auf diesem Planwagen sitzenzubleiben, wenn Karol und Viveka am Abend in Richtung Kreide abbogen. Auf der Reise von Lancre hatte ihr flinkes Mundwerk eine Menge dazu beigetragen, die Häkeldeckchen, Topflappen und Schnitzereien zu verkaufen, die ihre beiden Reisebegleiter herstellten, und eines Abends hatte ihr Degen Viveka vor zwei allzu aufdringlichen Halbstarken bewahrt. Hier war sie wenigstens zu etwas nutze.
"Guckt mal." sagte Karol plötzlich und mit einem Ruck kam der Wagen zum Stehen.
Nyria blinzelte.
Das was sich ihren Augen darbot, ließ sie sich aufsetzen und einfach nur starren. Gleichzeitig streichelte der Hauch eines Duftes ihre empfindliche Nase, eine Mischung aus Kohl und fauligem Schlamm. Wider Willen stiegen Nyria die Tränen in die Augen. Es war der Geruch der Heimat.
Vor den Reisenden erstreckte sich die Sto-Ebene bis zum Horizont. Gleich einem überdimensionalen Klonk-Brett reihte sich Kohlfeld an Kohlfeld, nur gelegentlich unterbrochen von kleinen braunen Flecken, welche die einzelnen Bauerndörfer und die Regierungssitze der zahlreichen Zwergkönigreiche darstellten, die die Machtstruktur des Landes bildeten.
Nyria rieb sich die Augen. In der Ferne, dort wo Land und Himmel miteinander zu verschmelzen schienen, nahm sie einen dunstigen, schmutzigen Fleck wahr. Und in diesem Moment waren all ihre Zweifel wie weggeblasen. Der verschwommene Klecks am Horizont schien sie förmlich zu rufen. Es war viel geschehen, seit sie Ankh-Morpork verlassen hatte. Nyrialeviatha Thusnelda von Canis Maior Alpha war tot und vergessen. Und Nyria Maior konnte in der Stadt der nahezu unbegrenzten Möglichkeiten noch einmal ganz von vorn anfangen.
"Ah, ich sehe, du willst wirklich gehen." In Vivekas Stimme schwang Bedauern mit.
Nyria drehte sich zu ihr um und lächelte ihr scharfzähniges Lächeln.
"Ich muss." sagte sie. "Mein Gefühl sagt mir, dass ich dort hingehöre. Du kennst doch sicher den Spruch. Einmal ein Morporkianer, immer ein Morporkianer. Und so langsam ist es für mich an der Zeit, dass ich nach Hause gehe." Sie zwinkerte Viveka mit einem smaragdgrünen Auge zu. "Ein Hund braucht sein Revier."

KOLUMBINI


Die Autopsie Archibald Marloffs hatte nichts ergeben, was nicht schon nach der groben Untersuchung am Tatort offensichtlich gewesen war. Die Anzahl der Stichwunden im Rücken des Toten betrug nicht weniger als elf, und diese befanden sich sowohl links als auch rechts der Wirbelsäule in verschiedenen Höhen, woraufhin Inspäctor Kolumbini schloss, dass sich der Mörder entweder nicht besonders gut mit der menschlichen Anatomie auskannte oder ziemlich wütend gewesen war. Laut dem Bericht Jack Narrators waren nur zwei der Stiche im Endeffekt tödlich gewesen. Zudem hatte der Täter Marloffs Taschen gründlich geleert. Nur eine Geldbörse mit anderthalb Dollar in kleinen Münzen war zurückgeblieben, was sich nur allzu deutlich in das Gesamtbild einfügte, dass Marloff aufgrund seines Wissens, und nicht aufgrund seines Besitzes getötet worden war.
Zufrieden mit seinen Schlussfolgerungen für den heutigen Tag hängte Kolumbini seinen MANTEL auf und ließ seinen Blick durch die Eingangshalle seiner Behausung schweifen. Wo mochte seine Kusine wohl stecken?
Er fand Ivonne schließlich in der Bibliothek. Sie saß rauchend in einem der großen lederbezogenen Ohrensessel und blätterte in einem Buch. Das warme Licht der Laterne auf dem Beistelltisch ließ ihre sonst eher herben Gesichtszüge beinahe weich erscheinen.
"Störe ich?" fragte der Ermittler und zog seine Pfeife aus der Westentasche.
Ivonne sah auf und blies sich mit einer Rauchfahne eine Strähne dunkelblonden Haares aus dem Gesicht.
"Fred." sagte sie. "Macht nichts. Das Kompendium der Kohlzüchtung haben mich eh nicht wirklich interessiert."
"Na dann." Kolumbini entzündete einen Fidibus am Lampendocht. "Ich habe ein paar Fragen eher... privatdetektivlicher Natur."
"So?" Ihre Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln. "Was ist los?"
"Sagt dir der Name Archibald Marloff etwas?" Paffend steckte Kolumbini den Pfeifentabak in Brand.
Ivonne hob die sorgfältig gezupften Augenbrauen.
"Ein Kollege. Wir tauschen uns gelegentlich aus. Wieso, stimmt etwas nicht? Sonst würdest du wohl kaum nach ihm fragen."
Ein Rauchring entstieg Kolumbinis Pfeife.
"Er ist tot." erklärte der Ermittler. "Jemand hat ihn in seinem Büro erstochen und anschließend alles durchsucht."
Aufmerksam beobachtete er beim Überbringen der Nachricht das Gesicht seiner Kusine, konnte jedoch keine plötzliche Gefühlsregung feststellen. Ivonne zuckte lediglich mit den Schultern.
"Berufsrisiko." bemerkte sie und drückte ihre Zigarette in einem überfüllten Aschenbecher aus, der neben der Lampe stand. "Lass mich raten. Deine Abteilung ermittelt in dem Fall?"
Kolumbini nickte.
"Am Tatort fand sich keine Quittung, da können wir wohl nicht anders." antwortete er sarkastisch. "Und natürlich ist Herrn MeckDwarf nichts besseres eingefallen, als den Fall mir aufs Auge zu drücken."
"Und nun willst du Informationen."
Was denn sonst, den Wettervorhersage von Ecalpon für das nächste halbe Jahr vielleicht? konnte sich Kolumbini gerade noch verkneifen zu sagen. Natürlich hoffte er auf Informationen.
"Du arbeitest im gleichen Beruf. Da dürfte es doch logisch sein, dass ich zuerst dich frage."
Ivonne lachte leise, während sie ein silbernes Zigarettenetui aufklappte und ihr eine schlanke weiße Tabakrolle entnahm.
"Wir sind schon so zwei Logiker. Also gut, ich werde mich mal umhören. Aber ich garantiere dir für nichts. Wir Privatschnüffler sind ein verschwiegener Haufen."
"Danke." sagte Kolumbini nur und ersparte sich die üblichen Floskeln im Stil von 'Sie haben der Wache damit einen großen Dienst erwiesen'. Wenn es sein musste, würde er für Ivonne das Gleiche tun, und sie wusste es.
In eine dichte Wolke aus Pfeifenrauch gehüllt verließ der Ermittler die Bibliothek. Während er die Stufen zur Eingangshalle hinaufstieg, dachte er missmutig an den morgigen Tag. Die Kollegen von SUSI hatten in Marloffs Büro massenweise Papiere sichergestellt, und nun war es an ihm, sie entweder selbst zu sichten, oder einen Gefreiten zu finden, der das für ihn tat. Rabe Raben oder das Fräulein Ayure Namida konnten sich neben ihrer Ausbildung gut auch einmal nützlich machen.
Mit diesen Gedanken trat Kolumbini ins Wohnzimmer und ließ sich dort im Sessel vor dem Kamin nieder. Hund lag vor dem Feuer wie ein besonders zottiger und dicker Teppich. Zur Begrüßung winselte er leise.
"Igor!" rief der Ermittler.
"Ja, Meifter?" erklang es postwendend hinter ihm.
"Bring mir doch eine Kanne Tee."

VALENTINA


Valentina von Willerfort schwebte im Walzertakt über das Parkett. Der Rock ihres himmelblauen Kleides wirbelte um sie herum, während sie sich von Hanno Gravenstein im Kreis drehen ließ. Der große Salon der Villa des Barons von Offlerberg verschwamm vor ihren Augen zu einem einzigen Wirbel aus Farben, als die Klänge des berühmten Walzers 'Am schönen braunen Ankh' in ihren Ohren dröhnten. Die junge Frau lächelte und genoss den Tanz. Selbstzufrieden dachte sie an die Bankierstochter Antonietta Blüren, die sie vermutlich gerade mit neidischen Blicken nur so durchbohrte. Doch Hanno tanzte schon den ganzen Abend über immer wieder mit ihr, Valentina, und nicht mit dieser dürren Schnepfe mit den verkniffenen Gesichtszügen und dem wohl größten Klatschmaul diesseits von Cori Celesti. Mochte die Blüren doch grün vor Neid werden.
Die Musik endete in einem Tusch, und Valentina drehte eine letzte Pirouette, die sie in einem Knicks enden ließ. Hanno verneigte sich galant und bot ihr seinen Arm dar, um sie von der Tanzfläche zu führen. Leicht schwindelig und erhitzt vom Tanzen hakte sich Valentina bei ihm ein und blies von unten gegen ihre weizenblonden Ponyfransen. Zufällig erhaschte sie einen Blick auf sie beide in einem der zahlreichen großen Spiegel, die die Wände des Salons zierten. Hannos große, kräftige und ihre kleinere, ein wenig rundliche Gestalt passten wunderbar zusammen, wie sie fand. Valentina wusste, dass sich nicht gerade das zierlichste Mädchen Ankh-Morporks war, doch ihre fröhliche Art und ihr hübsches, ein wenig puppenhaftes Gesicht hatten schon so manchen jungen Mann verzaubert.
Würdevoll schritt sie an Hannos Arm auf den Tisch ihres Vaters zu, sich wohl bewusst, dass sich ein Großteil der feinen Gesellschaft Ankh-Morporks hier in diesem Saal befand. Aus den Augenwinkeln sah sie Lord Witwenmacher im Gespräch mit Herrn Boggis und Lord Rust. Die Lady Käsedick, in einem dunkelbauen Abendkleid ein eher seltsamer Anblick, unterhielt sich eifrig mit einer gestrengen älteren Dame. Valentina bemerkte, dass Hanno die beiden ansonsten eher selten auf Bällen anwesenden Damen ebenfalls beobachtete.
"Ich wette zehn Dollar, dass sich ihre Konversation um Sumpfdrachen dreht." murmelte sie.
Hanno zwinkerte ihr zu.
"Die gewinnst du, Tina." gab er ebenso leise zurück.
Gregor von Willerfort, ein stattlicher Mann und ebenso blond wie seine Tochter, kam ihnen entgegen.
"Kommen Sie zu uns mit an den Tisch, junger Gravenstein." lud er Hanno ein und strahlte dabei über das ganze Gesicht. Seine Wangen waren leicht gerötet und Valentina vermutete, dass er bereits fleißig dem Champagner zugesprochen hatte. "Wenn Sie schon den ganzen Abend über meine geliebte Tochter auf der Tanzfläche herumschwenken, würde ich Sie schon gern einmal etwas näher kennenlernen."
"Ein schlechter Scherz, Vater." kicherte Valentina. "Behaupte bloß nicht, dass du den Sohn deines besten Freundes nicht kennen würdest."
Der Lord von Willerfort lachte nur und trat hinter die beiden jungen Leute. Er legte je eine Hand auf eine ihrer Schultern und schob sie in Richtung seines Tisches.
"Verzeiht, aber wenn ich Ihnen das Fräulein für einen Tanz entführen könnte?"
Jemand berührte Valentina an ihrem freien Arm.
Sie sah auf und blickte in ein scheinbar altersloses, markantes Gesicht. Volles weißblondes Haar war zu einem sorgfältigen Kurzhaarschnitt zurechtgestutzt worden.
Während ihr Vater und Hanno innehielten, entsann die junge Frau sich ihrer guten Manieren und knickste.
"Es ist mir ein Vergnügen, Baron von Offlerberg." sagte sie lächelnd und winkte Hanno und ihrem Vater zu. "Keine Sorge, ich laufe euch schon nicht weg."
"Ich werde gut auf diese bezaubernde junge Dame aufpassen." antwortete der Baron schmunzelnd und ergriff Valentinas Ellenbogen.
Ihr wurde beinahe schwindelig, als der Gastgeber, prächtig anzusehen mit seiner hochgewachsenen schlanken Gestalt, die in einem blütenweißen Abendanzug steckte, sie zurück auf die Tanzfläche führte, wo die Kapelle zu einem langsamen Menuett aufspielte. So etwas Wunderbares wie diesen Abend hatte sie in ihrem jungen Leben noch nie erlebt. Erst hatte Hanno dafür gesorgt, dass sich ihr Magen anfühlte, als ob sie Schmetterlinge zu Abend gegessen hätte, und nun führte sie der hochadelige Gastgeber höchstpersönlich über das Parkett.
"Der junge Mann scheint sehr viel von Ihnen zu halten." eröffnete der Baron von Offlerberg das Gespräch.
Vier Schritte rückwärts und einen zur Seite.
"Ich halte ebenfalls sehr viel von ihm, mein Lord." antwortete Valentina.
Der Herr führt die Dame einmal um sich herum.
"Junges Glück." sagte der Baron nach einer Weile verträumt, und für einen Augenblick glaubte die junge Frau, einen Anflug von Schmerz auf seinen charismatischen Gesichtszügen wahrzunehmen. Wie alt war dieser Mann eigentlich? Fünfunddreißig? Fünfundfünfzig? Sie konnte es beim besten Willen nicht sagen.
Zur Seite, Kreuzschritt, wieder zur Seite
"Ich wünsche Ihnen beiden alles Gute." sagte er ernsthaft.
Valentina dankte ihm höflich.
"Der Mann, der Sie beide eben fortgeführt hat, und die dunkelhaarige Dame dort hinten am Tisch sind wohl Ihre Eltern?" erkundigte er sich.
Vorwärts, zur Seite und schließen, die Dame dreht auswärts und wieder zurück
"Er ist mein Vater." sagte sie, als der Baron sie wieder in seinen Armen hielt. "Aber die derzeitige Lady von Willerfort ist nicht meine Mutter."
Der Herr geht auf das Knie herunter und die Dame umkreist ihn einmal
Während von Offlerberg ihr Gesicht nicht sehen konnte, biss sich Valentina auf die Lippen. Sie sprach nicht gern über ihre Stiefmutter. Die Gattin ihres Vaters und sie lebten nebeneinander her und kamen einander gleich einem unausgesprochenen Abkommen nicht in die Quere. Da gab es nicht viel zu erzählen. Das Wort 'Mutter' hatte für Valentina nie viel mehr als eine blasse Erinnerung bedeutet. Ihr Vater war ihre Familie, ihr Ein und Alles.
Der Baron von Offlerberg und sie fassten sich an den Händen.
Gemeinsame Drehung in acht Schritten
"Fräulein von Willerfort, Sie sind eine ausgezeichnete Tänzerin." wechselte ihr Gastgeber zu ihrer großen Erleichterung das Thema.
"Danke, Euer Lordschaft." antwortete Valentina höflich, doch der Zauber des Tanzes war für sie verflogen. Warum hatte der Baron bloß nach ihrer Mutter fragen müssen? Ihr völlig gleichgültiges Verhältnis zu Lady Perdita von Willerfort ging niemanden etwas an.
Schweigend brachten sie den Tanz zu Ende.

Als Valentina zum Tisch ihres Vaters zurückkehrte, hatte dieser Hanno bereits ein Sektglas aufgenötigt und redete eifrig auf ihn ein, während ihre Stiefmutter, prächtig anzusehen in ihrem roten Seidenkleid und die nachtschwarzen Locken mit einem funkelnden Diadem gekrönt, ein wenig pikiert die Lippen schürzte. Offensichtlich war ihr das ausgelassene Verhalten ihres Gatten ein wenig peinlich. Valentina ignorierte sie geflissentlich und ließ sich stattdessen an Hannos Seite auf der samtbezogene Sitzbank nieder.
Breit lächelnd überreichte Gregor von Willerfort seiner Tochter ein gefülltes Sektglas.
"Du kannst dich vor Männern ja wirklich nicht mehr retten, Kind." bemerkte er. "Was habe ich da bloß für eine Schönheit herangezogen?"
Valentina errötete leicht und nippte an ihrem Getränk, während ihr Vater munter weiterplauderte.
"Der junge Herr Gravenstein scheint wirklich große Stücke auf dich zu halten. Glaubst du, dass du es wohl mit ihm aushalten wirst?"
"Ich sehe, du hörst schon die Hochzeitsglocken." antwortete sie neckend. "Willst du mich wirklich so dringend loswerden?"
"Aber nicht doch. Am liebsten würde ich dich für immer behalten, das weisst du doch. Aber junge Liebe... Außerdem verliere ich keine Tochter, sondern gewinne vielmehr einen Sohn."
Sie spürte, wie Hanno sanft ihren Arm berührte und wusste, wie viel ihm die Worte ihres Vaters bedeuteten. Sein eigener Vater war bereits vor einigen Jahren nahezu bankrott verstorben, und der junge Mann war lediglich in Gesellschaft seiner vor Gram gebeugten Mutter und zweier altjüngferlicher Tanten aufgewachsen. Markus Gravensteins Tod hatte Gregor von Willerfort tief getroffen, da die beiden ein enges freundschaftliches Verhältnis verband. Und um so mehr hatte er sich um den jungen Hanno gekümmert und dafür gesorgt, dass er eine anständige Erziehung bekam und seine Mutter ihn mit ihrer Fürsorge nicht völlig vereinnahmte.
Gut gelaunt rieb sich Lord von Willerfort den blonden Schnurrbart.
"Nun, da das auch geklärt ist, dann lasst uns feiern!"
Über das ganze Gesicht strahlend trat er neben seine Gattin und bat sie um den nächsten Tanz.
Nachdenklich sah Valentina den beiden nach, wie sie sich unter die Tänzer mischten.
"Die Aussicht, dass ich eventuell bald heiraten könnte, gefällt ihr bestimmt nicht." bemerkte sie.
"Wer sagt denn, dass ich dich überhaupt heiraten möchte?" neckte sie Hanno.
"Niemand." gab sie mit einem schelmischen Lächeln zurück. "Aber allein die bloße Möglichkeit jagt ihr vermutlich Angst ein. Vor allem, wenn es sich bei meinem Verehrer um den Sohn eines der besten Freunde meines Vaters handelt."
Hanno legte einen Arm um ihre Taille.
"Hat sie Angst um Alfreds Erbe?"
Valentina nickte und nippte an ihrem Sekt.
"Insgeheim fürchtet sie, Vater könnte mir das Geschäft zur Mitgift machen. Alfred ist Dreizehn. Es wird noch einige Jahre dauern, bis er keinen Vormund für sein Erbe mehr braucht. Ausserdem ist er schwach und rückgratlos und wird von seiner Mutter verzärtelt, wo sie nur kann. Er wäre nie in der Lage, das Geschäft angemessen zu führen. Aber darüber denkt die Lady nicht nach, und so wäre meine Hochzeit mit einem tüchtigen Geschäftsmann ganz und gar nicht in ihrem Interesse."
"So, du hältst mich also für einen tüchtigen Geschäftsmann."
"Tu nicht so bescheiden." Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. "Bisher hat sich niemand in der Gilde über deine Arbeit in der Auslandshandelsabteilung beschwert, oder?"
Hanno lachte leise und küsste sie auf die Wange.
"Bisher nicht. Aber wer weiß, was morgen ist?"
"Eben drum" antwortete Valentina und hauchte ihm einen Kuss auf das Ohrläppchen. "Vielleicht wirst du morgen schon zum Abteilungsleiter befördert."
"Und was ist mit heute?" fragte Hanno flüsternd und drehte sich zu ihr herum. Ihr war als versinke sie in seinen braunen Augen.
"Heute..." murmelte sie und versuchte vergeblich, die Schmetterlinge in ihrem Magen zu beruhigen. Potzblitz, sie kannte ihn seit ihrer frühesten Kindheit. Doch seit er vor wenigen Wochen von seiner Aussendienstzeit in Pseudopolis heimgekehrt war, fühlte sie sich in seiner Nähe wie ein verschossener Backfisch.
"Eben." antwortete er kaum hörbar. "Heute möchte ich dich nur küssen."
Und eben dies tat er gleich darauf gründlich.


Auf Damenart


Langsam schritt Araghast die Treppe herunter, ohne sich noch einmal umzudrehen, und verdrängte die Gedanken an Archibald Marloffs Tod. Die ausgetretenen Stufen knirschten unter seinen Füßen. Im Kopf zählte er sie. Die fünfte von unten knarrte ganz besonders und je nach Intensität des Knarrens hatte der Hauptfeldwebel im Laufe des vergangenen Jahres gelernt zu erkennen, welches Abteilungslitglied gerade die Treppe hinaufkam. Nach einiger Übung stellte es kein Problem mehr dar, die forschen Tritte Patrick Nichts' von den sanften, kaum hörbaren Schritten Breda Krulocks zu unterscheiden.
Araghast fragte sich, was ihn bei FROG wohl erwarten würde. Kanndra hatte ihm per Taubenpost von den Neuzugängen und Entlassungen geschrieben, doch der Hauptfeldwebel konnte sich unter den Namen der Neuen nichts vorstellen. DOG war abgeschieden und er besuchte den Eimer nur noch sehr selten. Seltsam, wie sich alles veränderte, überlegte Araghast und verließ die unterste Treppenstufe. Zu seiner Anfangszeit als Wächter war die Taverne in der Schimmerstraße beinahe sein zweiter Wohnsitz gewesen, damals, als Kanndra, Valdimier und er noch unzertrennlich gewesen waren...
Mehrere schattenhafte Gestalten versperrten ihm urplötzlich den Weg und die empfindliche Nase des Hauptfeldwebels nahm den Geruch süßen Parfums wahr.
"Du glaubst doch nicht, dass du dich hier so einfach davonschleichen kannst, Bregs." Mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen trat Lieselotte aus den Schatten und baute sich vor ihm auf. Sie trug eine äußerst knapp sitzende Version der DOG-Uniform und ihre goldenen Locken waren zu einem strengen Knoten zusammengesteckt. Ihre Hände waren hinter dem Rücken verborgen. Die übrigen Näherinnen flankierten sie.
Araghast stellte seinen Karton ab und zuckte mit den Schultern.
"Was bleibt mir anderes übrig." antwortete er. "Der Dienst ruft. Und falls es euch freut, der neue Abteilungsleiter ist derzeit ungebunden, soweit ich weiß."
Allgemeines Gelächer antwortete ihm.
"Du wirst uns fehlen." sagte Ilona-Verona. "Vor allem dein gepflegter Zynismus."
"Und die Augenklappe." fügte Lieselotte hinzu. "Die ganz besonders."
"Soso." Araghast schenkte ihr eines einer seltenen zähnebleckenden Grinsen. "Aber ich werd euch auch vermissen, glaubt mir das."
"He." kicherte Monique. "Ich denke, du bist verheiratet."
"Genau." fuhr Tina fort. "Und wenn man bedenkt, was für eine spektakuläre Hochzeit das war. So möchte ich auch irgendwann mal heiraten." Sie seufzte. "Brennende Liebe im Angesicht von Todesgefahr, Verrat und Intrige. Die Geschichte hätte Barbara Kartenhand auch nicht besser schreiben können."
Bevor Araghast antworten konnte, trat Lieselotte dicht an ihn heran.
"Also, wir Mädchen haben beschlossen, dir eine Kleinigkeit zum Abschied zu schenken." Sie holte ihre Hände hinter dem Rücken hervor und reichte ihm eine Kaffeetasse, verziert mit dem Logo des Boucherie Rouge. "Damit du uns nicht vergisst."
Gerührt nahm Araghast das Geschenk entgegen.
"Noch nie hat mir jemand etwas zum Abschied geschenkt." sinnierte er mit einem schiefen Lächeln. "Die meisten waren eigentlich immer froh, dass sie mich los waren. Vielen, vielen Dank euch allen. Dann sind die Kaffeepausen in Zukunft ja gerettet."
Lieselotte fiel ihm um den Hals.
"Machs gut, Bregs." sagte sie und senkte ihre Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern. "Verdammt, du warst der beste Freund den ich unter den DOGs jemals hatte."
"Keine Sorge, ich werde dein Freund bleiben, auch wenn ich die Abteilung wechsle." gab Araghast ebenso leise zurück. "Du weißt ja, ich habe nur wenige Freunde, aber ich suche sie mir sorgfältig aus."
"Und wenn du ihn siehst, grüß den kleinen Zauberer von mir." Lieselotte hob ihre Stimme wieder.
"Ich werde es ausrichten." antwortete Araghast, löste sich aus der Umarmung und verstaute die Tasse sicher in seinem Karton. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn, als er langsam an den versammelten Näherinnen vorbeischritt. Sie hatten ihn wirklich gemocht, ganz besonders Lieselotte. An der Tür angekommen wandte er sich noch einmal zu ihnen um, balancierte seinen Karton auf dem linken Arm und salutierte mit der rechten Hand.
Geschlossen salutierten Frau Palms Damen zurück.
Draußen begrüßte Araghast die Stille eines sommerlichen Morgens. Schräg fielen die Sonnenstrahlen in die Springstraße und beleuchteten die Fassade des Boucherie Rouge.
Plötzlich fiel ihm der Grund ein, weshalb die Näherinnen ihn so gern hatten. Er hatte sie wie Menschen behandelt und nicht wie Frischfleisch auf einer Auslage. Ihr Beruf war hart und von vielen Bürgern der Stadt wurden sie schief angesehen. Doch Araghast wusste, dass er, wenn es hart auf hart kam, sich auf die Mädchen aus dem Erdgeschoss hundertprozentig verlassen konnte. Und das konnte er nicht von vielen Personen behaupten.
Und während er sich auf den Weg zum Pseudopolisplatz machte, wanderten Araghasts Gedanken unfreiwillig zurück zum vergangenen Herbst.


Tag 2 - Was war und was ist


LEONATA


"Und viel Spaß bei den Näherinnen."
Zufrieden beobachtete Leonata Eule, wie Araghast ihr die Zunge herausstreckte, während sie sich ihre Tasche über die Schulter hängte. Armer Bregs. Sie konnte es einfach nicht lassen, ihn mit der Besetzung des Erdgeschosses des Boucherie Rouge zu ärgern. Schmunzelnd küsste sie ihn auf die Wange, ohne sich strecken zu müssen. Es hatte schon seine Vorteile, dass sie beide die gleiche Körpergröße hatten.
"Oh ja, und wie ich mich amüsieren werde." gab er zurück, als sie schon halb aus der Wohnungstür war. "Ich fange ganz vorn bei Charlette an und wenn ich Glück habe, bin ich heute Abend um sechs mit Estelle fertig."
"Um sechs?" bemerkte sie spöttisch. "Du lässt nach, Bregs, wirklich."
Mit diesen Worten zog sie die Tür zu und fasste ihren Gehstock fester. Kapitän Zunder, der stattliche Kater der Witwe Hollander aus dem ersten Stock, lag auf der Treppe und starrte sie mit seinen gelben, unergründlichen Katzenaugen an.
"Guten Morgen Käptn." begrüßte Leonata das Tier und trat durch die Haustür ins Freie.
Die morgendliche Kälte schlug ihr entgegen und sie klappte den Kragen ihres Mantels hoch. Immer noch zufrieden mit sich selbst und der Scheibenwelt im Allgemeinen machte sie sich durch die noch so gut wie menschenleere Ankertaugasse auf den Weg zur Arbeit.
Nein, was ihr Leben betraf, konnte sich Leonata Eule in letzter Zeit nicht beklagen. Als sie zum Ende der offiziellen Sommerferien der Gildenschulen das Angebot erhalten hatte, als Gastlehrerin in der Assassinen- und der Kaufmannsgilde Mathematik und Naturwissenschaften zu unterrichten, hatte sie dankend angenommen. Endlich kam sie auch beruflich wieder unter Menschen und verbrachte ihre Tage nicht mehr damit, theoretische Vorhersagen und Berechnungen für irgendein mehr oder weniger verrücktes Mitglied der Erfindergilde aufzustellen. Mit den Kaufmannsschülern hatte sie von Anfang an leichtes Spiel gehabt. Sie brauchten das grundlegende Wissen über den Umgang mit Zahlen für ihr späteres Leben als Stützen der Gesellschaft, und nach drei Stunden hatten sie auch begriffen gehabt, dass sie eine Frau als Lehrer genauso zu akzeptieren hatten wie einen Mann. Die Nachwuchsassassinen waren jedoch ein ganz anderes Kapitel gewesen. Erst eine anschauliche Demonstration der Vorausberechnung der Flugbahn eines Bolzens aus einer automatischen Armbrustfalle unter Miteinbeziehung der ephebianischen Winkelmaße hatte die Nachwuchsmeuchler davon überzeugt, dass es vielleicht doch nicht ganz sinnlos sein konnte, sich mit den Grundgesetzen der Mathematik auszukennen.
Lehrerin in zwei der wichtigsten Gilden der Stadt. Eigentlich war es gar keine so schlechte Karriere für die Tochter eines stadtbekannten Verräters. Und in wenigen Tagen heiratete sie einen Hauptfeldwebel der Stadtwache. Leonata lächelte, als sie in die Willkommensseife einbog. Nur zu gut erinnerte sie sich an die Auseinandersetzung mit Schneider Keuchhust wegen des Brautkleides. Keuchhust hätte sie am liebsten mit einer ausladenden Tournüre und zahlreichen Rüschen ausgestattet, doch Leonata war sehr deutlich geworden, was ihre Vorstellung eines geschmackvollen Brautkleides betraf, und der Schneider hatte schließlich zähneknirschend ihren Wünschen zugestimmt. Ansonsten waren, was ihre Hochzeitsbekleidung betraf, alle Traditionen berücksichtigt worden. Das Kleid war neu und Bregs würde es bis zur Hochzeit nicht zu Gesicht bekommen. Etwas Altes war die Perlenkette ihrer Mutter, die sie am Hochzeitstag tragen wollte. Etwas Geborgtes stammte von ihrer Freundin Mimi, die ihr ein Paar glänzender, cremefarbener Handschuhe überließ. Und blau war das Strumpfband, das sie unter den Röcken trug.
Für einen Augenblick verschwand die Vorfreude aus Leonatas Gedanken und machte einem Gefühl leiser Wehmut Platz. Es gab so viele Personen, die die Hochzeit nicht mehr miterleben konnten. Für sie stand an erster Stelle ihr Onkel Hieronymus, der vor dreieinhalb Jahren von seinem eigenen Assistenten ermordet worden war. Er wäre sicher stolz auf sein Mädchen gewesen. Unwillkürlich blieb Leonata stehen und betrachtete ihr eigenes Spiegelbild im Fenster eines Kaffeegeschäftes.
Eine hagere junge Frau mit fest geschnürter Taille, gekleidet in ein schlichtes dunkles Kostüm und einen dunkelbraunen Mantel, blickte ihr entgegen. Das schwarze lockige Haar war im Nacken zu einem festen Knoten gesteckt und auf ihrer spitzen Nase thronte eine Brille mit dicken runden Gläsern, hinter denen ein Paar wacher haselnussbrauner Augen funkelte. Doch, sie hatte sich ganz schön herausgemacht seit den Zeiten, in denen sie für ihren Onkel gearbeitet hatte. Damals waren ein einfacher Rock und ein Herrenhemd über Korsett und Unterrock, sowie ein lockerer Pferdeschwanz das Höchste der Gefühle gewesen, was Oberbekleidung und Schönheit betraf. Doch am gleichen Abend, an dem ihr Onkel den Tod gefunden hatte, war sie Bregs begegnet, und ihr gesamtes Leben war auf den Kopf gestellt worden.
Seufzend wandte sie sich von dem blankgeputzten Fenster ab und fragte sich, was ihre Eltern wohl von ihrer Hochzeit halten mochten.
"Lady Leonata Breguyar von Canis Maior Alpha." sagte sie leise vor sich hin. Vermutlich hätte selbst ihr Vater sich niemals vorgestellt, dass sie in den überwaldianischen Adel einheiratete. Auch wenn es dem zukünftigen Ehemann einen feuchten Kehricht interessierte, von wem er abstammte, und er den überwaldianischen Familienzweig am liebsten aus seinem Stammbaum gestrichen hätte. Ihr Vater. Jeder, der sowohl ihn als auch sie kannte, betonte immer wieder, wie ähnlich sie ihm doch sehe. Die letzte Erinnerung, die sie an ihn hatte, war der Aufbruch zu einer Urlaubsreise mitten in der Nacht, bevor der schreckliche Unfall passierte.
Doch erst Jahre später hatte sie die Wahrheit erfahren. Es hatte niemals eine Ferienreise gegeben, sondern Henning Eule hatte mit seiner Familie die Stadt verlassen wollen, um aus der Ferne den Sturz Lord Schnappübers einzuleiten. Erst die Durchsuchung seines Nachlasses hatte das von ihm geplante Komplott gegen den damaligen Patrizier ans Licht gebracht und er war posthum enteignet worden, was seine Tochter mittellos und ohne Erbe zurückgelassen hatte, ganz der Gnade ihrer noch lebenden Verwandten ausgeliefert. Leonata wagte kaum daran zu denken, was aus ihr geworden wäre, wenn es Onkel Hieronymus nicht gegeben hätte. Dennoch konnte sie nicht anders, als stolz auf ihren Vater zu sein, egal was er verbrochen haben mochte. Schließlich war Lord Schnappüber, wie schon sein Name sagte, übergeschnappt gewesen. Ein Glück, dass er nur ein halbes Jahr nach dem Tod ihrer Eltern von Lord Vetinari abgelöst worden war. Zumindest in dieser Wirklichkeit... Leonata konnte nicht vergessen, was Araghast ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit von Ephraim Farrux als Patrizier in der parallelen Realität der Eddie Wollas-Hefte erzählt hatte. Nachdem sie das gehört hatte, war sie mehr als nur glücklich, in diesem Ankh-Morpork zu leben.
Doch auch auf Araghasts Seite gab es Personen, die es eigentlich verdient gehabt hätten, an der Hochzeit teilzunehmen. Sein Onkel Idian, den er gerade einmal zwei Tage lang gekannt hatte, bevor dieser von seiner eigenen Schwester getötet wurde. Seine Kusine Nyrialeviatha, die beim gleichen Scharmützel ums Leben gekommen war, und von der Bregs nur wusste, dass sie, nachdem sie ihrer verräterischen Tante die Kehle durchgebissen hatte, als Werwölfin vermutlich irgendwo die Scheibenwelt durchstreifte. Kamerun Quetschkorn, Raistans Zwillingsbruder, den Lea nie kennengelernt hatte und der einer von einem Ding aus den Kerkerdimensionen besessenen Wächterin zum Opfer gefallen war. Armer kleiner Zauberer, ging ihr durch den Kopf. Sie hatte Raistan wirklich gern, und das nicht nur, weil er ein wirklich ernstzunehmender Klonk-Gegner war. Er betrieb das Spiel als eine Art Wissenschaft, und hatte sie schon an so manchem Abend vernichtend geschlagen, sowohl mit den Zwerg- als auch mit den Trollfiguren.
Ihr Gehstock klapperte laut auf dem Gehwegpflaster der Filigranstraße, und das Geräusch vertrieb die Gespenster sowohl Araghasts, als auch ihrer eigenen Vergangenheit. Die Gegenwart und nichts anderes zählte. Die Gegenwart, in der sie ihn beinahe tagtäglich wegen der Näherinnen im Erdgeschoss des Boucherie aufzog. Die Gegenwart, in der er über Fähnrich Robin Picardo, seinen erklärten Erzfeind in den Reihen der DOG, fluchte. Die Gegenwart, in der sich der Topf auf dem Küchenschrank, welcher die Samlung für die lizenzierte Inhumierung Ephraim Farrux' enthielt, langsam, aber stetig füllte. Eines Tages würden sie die Summe für sein Ableben zusammenhaben, auch wenn es zwanzig Jahre dauern mochte.
Zur Zeit gefiel Leonata Wilhelmina Eule das Leben ausgesprochen gut.

ARAGHAST


Die Nachricht vom Wachhaus am Pseudopolisplatz traf wie jeden Tag so pünktlich ein, dass Araghast seine Uhr danach stellen hätte können, hätte er eine besessen. Gerade hatte er seinen Mantel an den verschnörkelten Haken neben der Tür gehängt und Crunkers mit einem vom Abendessen übriggebliebenen Knochen verwöhnt, als es auch schon klopfte.
Araghast eilte hinter seinen Schreibtisch und setzte sich, während Crunkers es sich mit seiner morgendlichen Beute vor dem unbefeuerten Kamin gemütlich machte.
"Herein." rief der Hauptfeldwebel und setzte eine abweisende Miene auf, entschlossen, das Kommende so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Es war das gleiche Spiel, jeden Morgen aufs Neue.
Die Tür wurde schwungvoll aufgezogen und der Gefreite Thomas Spitzschuh betrat mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen und einer zusammengerollten Nachricht in der Hand das Drunter und Drüber.
"Möge Seramis dir einen... äh, schönen Tag bescheren, Sir!" posaunte der Kommunikationsexperte in Ausbildung fröhlich und salutierte. "Eben ist eine Taube mit der üblichen Nachricht vom Pseudopolisplatz gekommen. Und ich eilte sofort zu dir, um sie zu überbringen."
"Danke, Gefreiter Spitzschuh." antwortete Araghast kurz angebunden und zog das nächstbeste Papier zu sich heran. "Leg den Brief einfach auf den Schreibtisch und gut ist es."
Der Hauptfeldwebel tat, als würde er angestrengt lesen, als sich Schritte seinem Arbeitsplatz näherten und eine mit einer vertrauten Handschrift beschriebene Papierrolle in die Peripherie seines Sichtbereiches glitt.
"Ach ja, Sir," meldete sich Spitzschuh zu Wort und Araghast seufzte leise.
"Was ist?" fragte er.
"Nun, Sir, ich habe den Aushang vom gestrigen Abend gründlich studiert und es freut mich sehr, dass du... äh, in den heiligen Stand der Ehe eintreten willst. Wenn du für die Hochzeit noch einen Priester brauchst, der den Segen Seramis' über das junge Glück spricht, wende dich vertrauensvoll an mich."
"Danke, kein Bedarf." gab Araghast etwas schärfer als nötig zurück. "Tret einfach weg und miste die Tauben aus, oder öle die TK, oder was auch immer."
"Ja, Sir. Zu Befehl, Sir."
Der Hauptfeldwebel meinte, eine Spur von Eingeschnapptheit aus der Stimme des Gefreiten Spitzschuh herauszuhören. Erleichtert atmete er auf, nachdem die Bürotür ins Schloss gefallen war. Eine Minute mit Thomas Spitzschuh, oder Bruder Laudes, wie er sich selbst nannte, reichten aus, um in Araghast den Wunsch aufkeimen zu lassen, sich Petersilie in die Ohren zu stopfen.
Knochen knirschte unter Crunkers' Zähnen. Araghast lächelte. Der Hund und er verstanden sich. Überhaupt kam er mit den meisten Tieren gut zurecht. Warum konnte es nicht auch mit Menschen so einfach sein. knappe drei Monate hatten gereicht um sich scheinbar auch schon bei einem Teil von DOG unbeliebt zu machen. Wobei er nicht sagen konnte, wieviel davon Fähnrich Picardo zu verdanken war...
Araghast griff nach der Botschaft und entfaltete sie. Kanndras saubere Handschrift füllte die gesamte Seite. Leise vor sich hinsummend überflog der Hauptfeldwebel den Text. Wie jeden Morgen war der Bericht der Abteilungsleiterin von FROG sehr ausführlich. Zuerst bedankte sie sich für die Hochzeitseinladung, um gleich darauf auf andere Themen zu lenken. Neugierig las Araghast von Tussneldas Fortschritten mit der Armbrust, Kathiopejas Überlegungen, als Knallpulverexpertin anzuheuern, einem ermordeten Privatdetektiv, sowie von all den anderen Anekdoten aus seiner ehemaligen Abteilung und dem Wachhaus am Pseudopolisplatz. Und in den Minuten, die er jeden Morgen mit Kanndras Brief verbrachte, wünschte sich Araghast trotz aller Freude über den Posten bei DOG gelegentlich zurück zum munteren Treiben des Hauptwachhauses. Er legte die Nachricht beiseite, griff nach einem leeren Blatt Papier und einem Füllfederhalter und begann zu schreiben.

Von: DOG.Breguyar
An: FROG.Mambosamba
Betreff: Täglicher Lagebericht

Einen schönen guten Morgen, Kanndra!
Dein Brief war so pünktlich wie immer. In Zukunft überlege ich allerdings doch, ihn gleich beim Kommex abzuholen, da Spitzschuh mir jeden Morgen mehr auf die Nerven geht. Er hat mir heute sogar angeboten, meine Hochzeit zu segnen. Dafür kann ich mir allerdings wichtigere Segen vorstellen, als den irgendeiner komischen Wettergottheit, deren Namen mich immer an wachsendes Grünzeug denken lässt.
Die Sache mit dem toten Privatschnüffler hört sich interessant an. Du sagst, Kolumbini hat den Fall? Gut, ein Abend mit ihm in seiner Stammkneipe, und ich weiß mehr. Ich hoffe, dem Guten sind nicht seine Sprüche ausgegangen, als ich ihn zum Trauzeugen gemacht habe.
Was macht eigentlich Harry? Hat er sich immer noch nicht entschieden, wo er nun hinwill? Bestell ihm mal einen schönen Gruß von mir, sein Zimmer in der Puppenstube ist noch frei und Saiyana fühlt sich vermutlich ein wenig einsam, so selten wie ich sie in letzter Zeit zu Gesicht bekommen habe. Und was die Obergefreite Tamir betrifft: Ich bin immer noch der Meinung, sie ist eine unreife, bockige Göre. Und pass auf, sie und Tussnelda von Grantick sind einander spinnefeind. Ein Haufen Stutenbissigkeit, wenn du mich fragst.
Hier bei DOG ist zur Zeit nicht viel los, außer dass ich das Gefühl habe, Fähnrich Picardo versucht klammheimlich, meine Autorität zu untergraben. Die verdächtigen Vorfälle häufen sich. Es wird langsam Zeit, dass ich mir mal etwas einfallen lasse.

Grüße aus dem Boucherie, Bregs


Sorgfältig rollte Araghast die Nachricht fest zusammen und schob sie in eine der in einer kleinen Schüssel bereitliegenden Röhren zur Taubenpostbeförderung. Dabei fiel sein Blick zum ersten Mal bewusst auf das Papier, das er bei Spitzschuhs Besuch vorgegeben hatte zu lesen, und er hielt mitten im Zuschrauben des Röhrchens inne.
Ein wüster Fluch hallte durch das Drunter und Drüber und veranlasste Crunkers, alarmiert den Kopf zu heben.
"Picardo!" zischte Araghast wütend. "Jetzt bist du dran, aber wirklich!"
Sein Blick wanderte zurück zu dem illustrierten Katalog mit Nähzubehör, der vor ihm auf der Schreibtischplatte lag. Er war sich völlig sicher, die Bürotür am vorigen Abend abgeschlossen zu haben. Doch das Schloss war alt und ließ sich sicher ziemlich leicht mit einer Haarnadel knacken...
Araghast knirschte mit den Zähnen. Fähnrich Robin Picardo sollte sich besser vorsehen. Das Maß war nun endgültig voll, und der ehemalige Abteilungsleiter der DOG würde schon bald merken, dass es nicht klug war, sich mit einem Spezialisten für püschologische Kriegsführung anzulegen...
Der Hauptfeldwebel befreite den Brief an Kanndra wieder aus der Nachrichtenhülse und zückte den Federhalter.
Nachtrag: Picardo wird braten! Alles weitere Morgen. fügte er in hastig hingekritzelten Buchstaben hinzu.


RAISTAN


"Hauruck!" rief der Zombie in Wacheuniform und beförderte gemeinsam mit seiner bebrillten Kollegin die abgedeckte Trage auf die Ladefläche des parkenden Eselskarrens, wobei seine Gelenke gefährlich knirschten.
"Keine Spuren." sagte die junge Wächterin ein wenig atemlos und blickte an dem zweistöckigen Haus hinauf, vor dem sie standen. "Im Moment sieht es so aus, als ob ihn jemand dort einfach draufgeworfen hat. Ich habe das Dach auch genau überprüft, wirklich!"
"Na, dann wird da wohl nichts gewesen sein, Olga."
"Leider." die Wächterin seufzte und schob die Brille gegen ihre Nasenwurzel.
Ihr untoter Kollege klopfte ihr auf die Schulter.
"Na dann lass uns den Knaben mal heimbringen, bevor er uns noch anfängt, zu schimmeln.
Raufgeworfen sagst du?" Er folgte dem Blick der jungen Frau und runzelte dabei die graue Stirn. "Dazu müsste man mindestens zwei Trolle brauchen, bei der Höhe und dem Gewicht des Mannes."
"Oder ein Zauberer hat ihn dort hochgezaubert." spekulierte die Wächterin namens Olga, während sie beide den Kutschbock des Eselskarrens bestiegen. "So etwas soll es ja geben, Schwebezauber oder so etwas in der Art. Ich habe mal gesehen, wie ein Student aus der Universität in der Trommel sein Biergas zum Schweben gebracht hat. Ob das auch mit einem Toten klappt?"
"Genausogut könnten zehn oder zwanzig Vampire in Fledermausgestalt die Leiche hingeflogen und da oben abgelegt haben." bemerkte der Zombie und schnalzte mit der Zunge. Das Geschirr klingelte leise, als sich der Karren mitsamt seiner Fracht in Bewegung setzte. "Zum Glück sind die Leute von RUM diejenigen, die sich mit eben dieser Frage amüsieren dürfen, und nicht wir..." Seine Stimme verlor sich in der Ferne.
Raistan Quetschkorn rieb sich die kalten Finger und sah dem davonfahrenden Eselskarren nach. Er hätte die Frage, ob es möglich wäre, die Leiche auf das Dach zu zaubern, uneingeschränkt mit Ja beantworten können. Mit raschen Schritten überquerte er die Straße, während sich um ihn herum die obligatorische gaffende Menge langsam auflöste. Er wollte nur noch ins warme Innere von Tantra Sandelholz' Laden, auch wenn die dort unablässig brennenden Räucherstäbchen jedes Mal eine Herausforderung für seine chronisch kranken Atemwege darstellten. Für diesen Tag hatte er bereits genug gefroren. Kurz vor der Ladentür blieb Raistan noch einmal stehen und legte den Kopf in den Nacken. Rote und gelbe Blätter tanzten durch die berüchtigte morporkianische Luft und das sich zwei Stockwerke höher befindende Dach wirkte wie in einen zarten bunten Schleier gehüllt. Nichts mehr wies darauf hin, dass noch vor einigen Minuten ein Toter dort oben gelegen hatte.
"Faszinierend, oder, Junge?" sagte jemand direkt hinter ihm.
Raistan drehte sich um und bedachte den Sprecher mit einem bösen Blick aus seinen stahlgrauen Augen. Ich bin kein Junge mehr, hätte er dem vierschrötigen Mann am liebsten ins Gesicht gessagt. Ich mag zwar nicht besonders groß sein und die Statur einer verhungernden Vogelscheuche haben, und ein Bart steht mir nun mal nicht, aber ich bin verdammt noch mal zweiundzwanzig Jahre alt und graduierter Zauberer. Und wenn du mich noch einmal Junge nennst, dann wachst du morgen als Kohlkopf wieder auf! Doch solche Antworten gab Araghast Breguyar, während er provozierend mit dem Griff seines Entermessers herumspielte. Raistan Quetschkorn dachte so etwas nur. Und so wandte er sich nur mit zu einem dünnen Strich zusammengepressten Lippen von dem Fremden ab und stieg würdevoll die drei Stufen zur Ladentür hinauf.
Ein Glockenspiel bimmelte leise, als Raistan die Ladentür aufschob, und der gewohnte Schwall rauchwerkgeschwängerter warmer Luft schlug ihm entgegen. Beinahe gewohnheitsmäßig hielt der junge Zauberer den Atem an, als er eintrat. Er musste sich langsam an dieses Zeug gewöhnen, sonst war der nächste Anfall von Atemnot vorprogrammiert.
Das Innere des Entschleierten Aspis sah aus wie immer. Bunte klatschianische Batiktücher verbargen jedes noch so kleine Stück freier Wand und auf dem Kaminsims brannte mindestens ein halbes Dutzend Räucherstäbchen unterschiedlicher Duftsorten. Exotische Waren aus allen Teilen der Scheibenwelt lagen in großen, aus Bambus geflochtenen Körben und in schreienden Farben gehaltene Kerzen brannten in einem mit bunten Glasstücken behangenen Kronleuchter. Während Raistan versuchte, das Stechen in seinen Lungen zu ignorieren, mied sein Blick vorsorglich das kleine Bücherregal neben der Ladentheke. Die Titel der Bücher allein reichten, um einem anständigen Zauberer die Schamesröte ins Gesicht zu treiben. Phrasen wie Eins mit der vollkommenen Sphärenharmonie des Kosmos werden hatte nicht einmal Ewein Krawunkel in einem seiner regelmäßigen Froschpillenräusche benutzt. Doch Ewein war kurze Zeit nach den Ereignissen um Herrn Hongs Dreimal Glücklichen Fischimbiss nach Sto Lat zurückgekehrt, um im Gemüseladen seiner Eltern zu arbeiten.
Eigentlich war es für einen studierten Magier sowieso peinlich genug, ein solches Geschäft wie das von Tantra Sandelholz überhaupt zu betreten. Doch die ständig leicht überdreht wirkende Dame besaß ein umfangreiches Wissen über Kräuter und ihre Wirksamkeit, und ihre Teemischung half unbestritten gegen Raistans hin und wieder auftretenden Schmerzen in der Brust.
Ein Perlenvorhang klapperte.
"Oh, Hallo Raistan." begrüßte ihn die weiche, immer leicht abwesend klingende Stimme der Ladenbesitzerin. "Ich sehe, der Weg deines Schicksals hat dich hierher geführt."
Der junge Zauberer nickte nur. Tantras Redeweise und ihre Art, jeden mit Vornamen anzusprechen, den sie gerade einmal eine Minute lang kannte, konnten auf Dauer sehr nervenaufreibend sein.
"Das Gleiche wie immer?" fragte sie und griff nach einer Papiertüte.
"Nehmen Sie gleich fünfhundert Gramm." sagte Raistan und gab sich Mühe, möglichst flach zu atmen. Warum musste sie nur ausgerechnet heute Patschuliduft mit Spuren von Maiglöckchen verwenden?
Tantra Sandelholz lächelte entrückt, doch ihre Augen waren rotgerändert. Betont energisch stellte sie ihre Kräuterwaage auf den Tresen.
"Ist die Leiche endlich weg?" fragte sie leise und der Klang ihrer Stimme strafte ihren Gesichtsausdruck Lügen.
"Die Wächter haben sie vor ein paar Minuten mitgenommen." berichtete Raistan.
Tantra Sandelholz legte die Hände auf die Brust und seufzte erleichtert.
"Den Göttern sei Dank. Hach, es war so schrecklich! Schangrila sah einen Fuß über der Dachrinne hängen, als sie mir heute Morgen die Melissenlieferung brachte. Sie holte die Wache und die haben hier alles auseinandergenommen. Verhört haben sie mich, obwohl ich nicht einmal einer Mücke weh tun könnte, geschweige dann einem anderen lebenden Wesen! Warum können die Menschen nicht einfach in Frieden und Harmonie miteinander leben?"
Schniefend tupfte sie sich die Augen mit einem Zipfel ihres bunten Schultertuches.
"Was sind das bloß für Personen, die einem Mitmenschen das Leben nehmen? Und ausgerechnet auf dem Dach meines Hauses! Womit habe ich das bloß verdient, ich, einer der friedfertigsten Menschen der Stadt? Was ist bloß so schwer daran, seinen Hass zu begraben und einfach glücklich zu sein, so wie man ist?"
Wieder einmal fühlte sich Raistan in seiner Vermutung bestätigt, dass Frau Sandelholz in ihrer eigenen Wirklichkeit lebte, die mit Ankh-Morpork wenig gemeinsam hatte. Für die Händlerin bestand die Welt aus Liebe, Frieden und rosaroten Wolken. Doch letztere waren im Laufe des Tages auf unsanfte Weise über ihrem Haupt abgeregnet und nun sah sich die unermüdliche Weltverbessererin schlagartig mit der finsteren Realität konfrontiert, was ihr einen ziemlichen Schock versetzt hatte.
Tantra schniefte ein letztes Mal und machte sich daran, verschiedene Kräuter in die Waagschale zu schütten.
"Fast eine Stunde lang haben sie mich verhört." fuhr sie fort. "Dabei wusste ich doch gar nichts! Am Abend bin ich noch bei Schangrila auf einem Sitz-Ein gewesen und bei meiner Heimkehr ist mir auch nichts aufgefallen. Sie wollten sogar, dass ich mir den Toten anschaue! Ich kannte ihn nicht, den armen Kerl. Niemand hat es verdient, einfach so ermordet zu werden."
"Nein." antwortete Raistan diplomatisch. Fast niemand der ermordet wurde, hatte einen solchen Tod verdient. Nur die Rechtschaffenen starben früh, während die wahren Schuldigen sich meistens eines langen und guten Lebens erfreuten. Sein eigener Zwillingsbruder hatte zu denjenigen gehört, die an Heldenmut und das Gute glaubten, und er hatte vor anderthalb Jahren mit seinem Leben dafür bezahlt. Seit Kameruns Tod war Raistan, als wäre ein Teil seiner Selbst gestorben.
"Das Leben ist nun einmal nicht gerecht, Frau Sandelholz." sagte er heiser. "Es schlägt einem die Zähne aus, wo es nur kann."
Die Ledenbesitzerin lächelte schwach.
"So jung und schon so verbittert?" Aufrichtige Besorgnis schwang in ihrer Stimme mit. "Das ist nicht gut. Junge Menschen wie du sollten Freude am Leben haben und sich nicht mit den Sorgen der Alten belasten."
Wenn Sie mein Leben hätten leben müssen, dann würden Sie auch anders denken, brachte Raistan wieder nicht fertig, auszusprechen. Stattdessen räusperte er sich in einem vergeblichen Versuch, das permanente Kratzen in der Luftröhre loszuwerden. Er hoffte sehnsüchtig, dass Tantra sich mit den Kräutern beeilte. Seine Hoffnungen wurden jedoch zunichte gemacht, als sich die Ladenbesitzerin mit beiden Händen auf den Tresen stützte und ihm in die Augen sah.
"Wenn du Probleme hast und mit jemandem reden willst, ich bin immer hier. Jeder Mensch braucht jemanden, der ihm einfach nur zuhört, wenn er sich seine Sorgen von der Seele redet."
Raistan vermutete, dass Tantra eben dieses gerade ungefragt getan hatte, als sie lang und breit von der Leiche auf ihrem Dach erzählte. Leute wie Tantra glaubten grundsätzlich, dass sich so ziemlich jedes Problem durch stundenlanges Ausdiskutieren lösen ließ. Doch er bezweifelte stark, dass Frau Sandelholz wirklich von Kameruns Ende hören wollte. Wenn schon ein Toter auf dem Dach ihres Geschäftes sie beinahe hysterisch werden ließ, wollte er sich lieber nicht vorstellen, wie sie auf eine Geschichte randvoll mit Wahnsinn und Tod reagierte, an deren Ende der eigene Zwillingsbruder von einem Ungeheuer aus den Kerkerdimensionen in Stücke gerissen wurde.
"Danke für das Angebot, aber mir geht es gut." antwortete er deshalb ein wenig schroffer als beabsichtigt. Das Gefühl der absoluten Leere in seinem Inneren ging niemanden etwas an.
"Wirklich?" Tantra Sandelholz ließ nicht locker. "Dann lach doch mal! Du wärst so ein hübscher junger Mann, wenn du nur deine Mundwinkel öfter nach oben bewegen würdest. Und dazu dieses Schwarz. Das macht dich doch nur blass. Warum versuchst du es nicht mal mit einem türkisen Blau oder Hellgrau? Das würde dir wirklich gut stehen. Und wenn du dich einsam fühlen solltest, komm doch einfach mit zum nächsten Sitz-Ein. Du wirst sehen, wir sind alle eine große Familie, und jeder kann bei uns sein Herz ausschütten."
"Meinen Tee, bitte, Frau Sandelholz." sagte Raistan nur und lehnte sich auf seinen Zauberstab. Diese Frau begann langsam aber sicher, ihm auf die Nerven zu gehen.
Tantra runzelte enttäuscht die Stirn.
"Was sind wir aber schlecht gelaunt heute." bemerkte sie und fuhr fort, die Zutaten abzuwiegen. "Das ist nicht gesund, mein Freund. Zuviel Hader mit sich selbst erzeugt überschüssige Gallensäfte, die im Körper langsam sauer werden."
Raistan beschloss, darauf keine Antwort zu geben. Wenn es wirklich so war, wie Frau Sandelholz behauptete, dann müsste Araghast Breguyar schon längst an akuten inneren Verätzungen zu Grunde gegangen sein. Immerhin hatte ihre plötzliche Besorgnis um sein püschisches Wohlergehen ein Gutes. Sie schien die Leiche auf ihrem Ladendach vorerst verdrängt zu haben.
Die Leiche auf dem Ladendach. Zur Zeit schien unlizenzierter Mord wieder einmal in Mode zu kommen. Als aufmerksamer Leser der Times erinnerte sich Raistan nur zu gut an den Leitartikel vom Morgen, welcher sich ausführlich mit der Ermordung des Privatdetektivs Archibald Marloff beschäftigt hatte. Und nun ein zweiter Toter, wieder ohne Quittung. Raistan seufzte leise. Sein Bruder mit seiner seltsamen Gabe, nahendes Unheil zu spüren, hätte ihm sofort sagen können, ob sich etwas Großes anbahnte...
Nein. Das ausgezehrte Gesicht des jungen Zauberers gefror zu metaphorischem Eis, als er sich an das sich selbst gegebene Versprechen erinnerte, weiterzuleben, ohne in Trauer zu versinken. Doch mit dem Weiterleben war es so eine Sache. Immer wieder ertappte sich Raistan dabei, wie er dem Mann immer ähnlicher wurde, als der er sich geschworen hatte niemals zu enden. Manchmal, wenn er während einer schlaflosen Nacht aus dem Fenster seiner Kammer im Wohngebäude der Unsichtbaren Universität sah, bildete er sich ein, selbst gar keinen so schlechten verbitteren, in Alkohol eingelegten Privatermittler abzugeben. Raistan Adelmus Quetschkorn, magische und sonstige Nachforschungen aller Art. Wenn er die langen Gewänder gegen einen schäbigen Mantel, den Zauberstab gegen eine kleine Armbrust und den Kräutertee gegen eine Flasche Bärdrückers tauschen würde... Und dann kam vielleicht eines Tages eine Frau in einem tief ausgeschnittenen Kleid zu ihm um ihn mit dem Fall ihres Onkels zu beauftragen, der mit einer tödlichen Wunde auf dem Dach von Tantra Sandelholz' Esoterikgeschäft aufgefunden worden war. Bis ihn eines Tages jemand erledigte, wie Archibald Marloff erledigt worden war...
Mit zusammengezogenen Augenbrauen schüttelte Raistan kaum merklich den Kopf. Früher oder später endete jeder Tagtraum wieder in der Realität. Und letztendlich kamen bei solchen kleinen mentalen Ausflügen nur Dummheiten heraus. Der Plan, ein klassischer Privatdetektiv zu werden, scheiterte schon allein daran, dass er weder Alkohol trank noch wusste, wie man mit Schusswaffen umging. Außerdem bezweifelte er, dass Verfolgungsjagden im strömenden Regen und tagelange Herumdrückerei in zugigen Kellern seiner von Natur aus angeschlagenen Gesundheit gut taten und wenn es darum ging, geknurrte unterschwellige Drohungen auszuteilen, hielt er lieber den Mund, um nicht mit ausgeschlagenen Vorderzähnen und gebrochener Nase am Boden zu landen.
Papier knisterte leise, als Tantra Sandelholz die teegefüllte Tüte mit einem Rest sonnengelber flauschiger Wolle umwickelte. Insgeheim vermutete Raistan, dass die Händlerin auf diese Weise die Überreste ihrer Schultertuchhäkelorgien entsorgte. Mit einem Nicken nahm er das Päckchen entgegen und legte eine von zahlreichen Bißspuren gezeichnete Dollarmünze in Tantras Hand. Plötzlich schlossen sich die ringgeschmückten Finger um sein knochiges Handgelenk.
"Mach mir nichts vor, mein Freund." die sanfte Stimme der Händlerin erinnerte an blumenübersäte Wiesen und Sonnenschein und Raistan begann zu befürchten, dass der in seinen Lungen brennende Qualm der Räucherstäbchen tatsächlich etwas mit der menschlichen Püsche anstellte. "Dir geht es ganz und gar nicht gut. Denk darüber nach. Es hilft immer, mit jemandem zu reden." Beinahe liebevoll tätschelte Tantra seinen mit verblassten Narben überzogenen Handrücken. "Und vergiss nicht. Alles wird gut, früher oder später."
Wohl eher später, ging Raistan durch den Kopf, als er sich höflich, aber distanziert von der Esoterikerin verabschiedete und aus dem Laden trat. Am unteren Ende der Stufen angekommen blieb er stehen und atmete begierig die kalte, mit dem Geruch faulender Blätter geschwängerte Luft ein. Gegen Tantras Räucherstäbchen erweckte selbst der klassische Ankh-Morpork-Dunst den Eindruck einer frischen Gebirgsbrise. Mittlerweile hatten zahlreiche Fußabdrücke im Straßendreck die Spuren des Wachekarrens bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Fast nichts wies mehr darauf hin, dass in der Knackbruchstraße im Laufe der Nacht ein Verbrechen geschehen war.


VALENTINA


"Ich liebe dich, und ich werde dich immer lieben, selbst wenn alle Schlachtfelder der Scheibenwelt zwischen uns stehen."
Seine Lippen berührten sanft ihre Hand.
"Lebewohl, meine Rose von Pseudopolis."
Durch einen Schleier von Tränen nahm Samantha kaum wahr, wie ihr Geliebter sich in den Sattel seines feurigen Rosses schwang und den Hang hinuntergaloppierte. Seine lange schwarze Haarmähne wehte wie ein Schleier hinter ihm her. Nach wenigen Augenblicken hatte die Dunkelheit ihn verschluckt.
Verzweifelt aufschluchzend sank Samantha auf die hölzerne Bank, auf der sie beide so viele glückliche Stunden miteinander verlebt hatten. Sie konnte ohne ihn nicht leben, selbst wenn ihre Heimatstädte einander den Krieg erklärt hatten. Jede Sekunde ohne ihn wog so schwer wie Blei. Schon bald stand er auf dem Schlachtfeld, seinen blitzenden Degen in der Hand, bereit, Tod und Verderben im heranstürmenden pseudopolitanischen Heer zu säen. Samantha schluchzte auf. Am kommenden Morgen zogen ihre eigenen Brüder für Pseudopolis in den Krieg. Sie fühlte sich innerlich zerrissen wie eine Wolke im Sturm. Auf der einen Seite stand ihre Familie, auf der anderen der Geliebte. Der Sieg des einen bedeutete unweigerlich das Verderben für den anderen.
Und wie auch immer es ausging, sie konnte nur verlieren.
Gleich Tautropfen liefen die Tränen über Samantha Bonarchases Wangen.
"Warum nur?" schrie sie verzweifelt in die kalte Herbstnacht hinaus. Tote braune Blätter raschelten unter ihren Schuhen, als sie aufsprang.
Doch die Sterne am Himmel und der Vollmond antworteten nicht.
Weinend verbarg Samantha das Gesicht in den Händen und hauchte den Namen ihres Geliebten.


Valentina von Willerfort lagte das bestickte Lesezeichen zwischen die Seiten des Buches und putzte sich die Nase. Samantha Bonarchases Liebesleid berührte sie tief. Für einen Augenblick versuchte sie, sich selbst an der Stelle der Heldin des Romans Fackeln im Orkan vorzustellen, wie sie Hanno Gravenstein eines ihrer bestickten Spitzentaschentücher schenkte, bevor er in den Krieg zog, doch es wollte ihr nicht recht gelingen. Hanno gehörte hinter den Schreibtisch eines Kontors und nicht auf ein blutgetränktes Schlachtfeld. Und seitdem er ihr auf dem Ball des Barons von Offlerberg am vergangenen Abend seine Liebe gestanden hatte, fühlte sich Valentina, als schwebe sie durch das Leben. Der Rest des Balles war wie in einem Rausch an ihr vorübergezogen. Noch unzählige Male hatte sie mit ihrem Geliebten getanzt, ganz wie die Romanheldin Samantha mit dem ihrigen auf den prächtigen Plantagenbällen der vornehmen Pseudopolitaner. Doch im Gegensatz zu Samantha gab es keinen Krieg, der ihre Liebe gefährden konnte. Valentina schniefte leise. Hoffentlich ging das Buch für die Liebenden gut aus. Die beiden Hauptfiguren waren einfach für einander bestimmt, das wusste sie. Gegen die Fackeln im Orkan verblasste selbst Barbara Kartenhands neuestes Werk Gepfählte Herzen. Vor fünfzig Jahren, oder wie alt dieser Roman auch sein mochte, hatten die Schriftsteller es noch wirklich verstanden, wahre Liebe zu schildern.
Mit einem leisen Seufzer legte Valentina Buch und Taschentuch beiseite und blickte auf die Standuhr neben dem Kamin. Siebzehn nach eins. Vor lauter Verliebtheit musste sie die Glocke zum Mittagsmahl völlig überhört haben. Mit raschelnden Röcken erhob sie sich aus ihrem Lesesessel und eilte aus dem Salon.
Das Speisezimmer war bis auf das Hausmädchen Adele, welches bei Valentinas Eintreten knickste, leer.
Die junge Frau sah sich suchend um.
"Wo sind die anderen, Adele?" fragte sie verwundert. "Hat es nicht schon geläutet?"
"Nein, Fräulein Valentina." antwortete das Mädchen. "Der gnädige Herr ist noch nicht eingetroffen."
Valentina überlegte einen Augenblick. Ihr Vater war geradezu berüchtigt für seine tadellose Pünktlichkeit. Beinahe zwanzig Minuten Verspätung passten ganz und gar nicht zu ihm.
"Und er hat auch keine Nachricht geschickt, dass er verhindert ist?"
"Nichts, mein Fräulein." Sichtlich verlegen rückte Adele eine Gabel zurecht. "Wünscht Ihr, dass trotzdem serviert wird?"
"Warte noch bis zur halben Stunde." ordnete Valentina an.
Das Hausmädchen knickste und verließ mit dem ihr eigenen leicht hüpfenden Gang das Speisezimmer.
Valentina sah ihr nach. Sie mochte Adele von allen Bediensteten des Hauses am liebsten. Das kleine dunkelhaarige Mädchen besaß eine lebhafte Fröhlichkeit, die ihresgleichen suchte. Ausserdem sang sie beim Putzen. Keine klassischen Lieder, sondern Stücke der Musik mit Steinen drin. Adeles Putzerei verdankte Valentina ihr nicht unbeträchtliches Repertoire an Liedern von Flavius Ernestus Stravinskowitsch, den Untoten Socken, Eselskarren zu Else und anderen Kapellen, deren Musik als Unterhaltung für die niederen Klassen und somit als nicht standesgemäß für sie galt.
Leise knarrend öffnete sich die Tür des Speisezimmers und ein blasses, von dunklen Locken eingerahmtes Gesicht spähte vorsichtig ins Zimmer.
"Wo ist Vater?" fragte Alfred von Willerfort mit seiner leisen Stimme.
"Noch nicht da." antwortete Valentina. "Er ist wohl zu spät."
Alfred trat vollends ins Zimmer und ließ sich schwer atmend auf einen Stuhl fallen.
"Herr Bodenwurst hat mir heute keine Eins im Rechnen gegeben." erklärte er und zog einen Schmollmund. "Er sagt, ich hätte drei Fehler in der Arbeit gemacht."
"Dann wird es wohl so sein." Innerlich verdrehte Valentina die Augen. "Niemand kann immer und überall eine Eins haben."
"Aber ich hatte bisher immer eine Eins im Rechnen." antwortete Albert trotzig.
Valentina zuckte nur mit den Schultern. Der Junge konnte einfach nicht verlieren. Doch letztendlich war all seine Schwäche nur das Ergebnis der Erziehung seiner Mutter, für die ihr kleiner Liebling ihr Ein und Alles war. Seine schwache Gesundheit galt als Ausrede für seine Entbindung von jeglichen unangenehmen Pflichten. Und Lord von Willerfort ließ seiner Frau bei der Erziehung ihres gemeinsamen Sohnes freie Hand. Insgeheim glaubte Valentina, dass ihr Vater seine wahren Hoffnungen betreffend die Geschäftsnachfolge in sie selbst setzte. Die junge Frau lächelte zufrieden. Falls Hanno ihr wirklich einen Heiratsantrag machen sollte, waren ihnen Kontor und Warenlager so gut wie sicher.
Doch wo bei allen Göttern blieb ihr Vater heute Mittag?


ROMULUS


"Auf einem Dach?"
Inspäctor Kolumbini blies eine Rauchwolke in die Luft seines Büros. Er bezeichnete es immer wieder als das seinige, wie Romulus auffiel, selbst wenn der kleine Ermittler gezwungen war, es sich mit dem Anwerber Amok Laufen zu teilen.
Der Werwolf, der sich neben der Tür gegen die Wand gelehnt hatte, nickte nur und sog ebenfalls an seiner Pfeife. Genussvoll ließ er den Rauch über seine zu einem O geformten Lippen quellen und schickte mit einem behutsamen Hauchen einen wabernden Ring in Richtung Decke. Beide Ermittler verfolgten das Gebilde aus Qualm mit dem Blick, sahen zu, wie seine Konturen immer mehr zerfaserten, bis es sich schließlich Teil der allgemeinen Dunstwolke wurde, die das kleine Zimmer erfüllte.
"Auf einem Dach." brach Romulus schließlich das genießerische Schweigen und kehrte zu dem eigentlichen Grund seines Besuches zurück. "Genauer gesagt auf dem Dach eines Ladens für Esoterikartikel. Du weißt schon, Räucherstäbchen, klatschianische Seidentücher, Kräutertees, Bücher die beschreiben, wie man druidische Fruchtbarkeitsrituale daheim nachstellen kann, und solches Zeug."
"Ich kann es mir denken." antwortete Kolumbini. "Plus die Anleitung für unbekleidete Ringelreihentänze auf einer sonnigen Blumenwiese, was sich angeblich förderlich auf den Scheibenfrieden auswirken soll."
"Die Räucherstäbchen waren schon schlimm genug. Meine arme Nase." Romulus nahm einen weiteren tiefen Zug aus seiner Pfeife. "Ich habe das Gefühl, dass ich dieses Mottenkugelaroma die nächsten Tage nicht loswerde. Die Besitzerin war völlig hysterisch wegen des Toten auf ihrem Dach."
"Hat es ihre Vorstellungen vom Scheibenfrieden zerstört?"
"So ungefähr."
"Und was ist nun mit der Leiche?"
"Auf den ersten Blick sieht es nach klarem Mord aus. Seiner Kleidung nach gehörte er nicht gerade zu den Ärmsten. Hauptmann Pismire beschäftigt sich gerade mit ihm."
"Und wer übernimmt den Fall?" erkundigte sich Kolumbini. "Nur falls du auf die Idee kommst, ihn mir zuzuschieben, ich arbeite gerade an dem toten Privatdetektiv von gestern." Demonstrativ klopfte er mit dem Pfeifenkopf gegen den großen Karton, der ein gutes Drittel der Schreibtischplatte einnahm. "Das ist nur ein Teil der Sachen aus Marloffs Büro, die durchgesehen werden müssen. Unsere beiden Auszubildenden sind gerade mit den restlichen zwei Dritteln beschäftigt."
"Dann viel Spaß." Insgeheim bezweifelte Romulus, dass seine Kollegen in den Bergen von Papier etwas Nützliches fanden. Er hatte den vorläufigen Tatortbericht gelesen. Wer auch immer diesen privaten Schnüffler auf dem Gewissen hatte, schien alle Hinweise auf den Grund des Mordes so gut wie nur möglich entfernt zu haben. Es gab kein Notizbuch, keine Nachrichten, nicht einmal eine Auftragsbestätigung für einen noch nicht abgeschlossenen Fall.
"Das heißt, du übernimmst die Dachleiche?" erkundigte sich Kolumbini.
"Das werde ich wohl. Wenn der Fall wirklich in die feinere Gesellschaft hineinreicht, will ich nicht, dass irgendein ungeschickter Anfänger darin herumstochert."
Und außerdem interessiert es mich brennend, warum ein Mörder sein Opfer ausgerechnet auf einem Dach plaziert, dachte er bei sich.
"Ach ja, eine Frage noch."
Dieser so typische Satz für seinen Freund und Kollegen brachte Romulus zum Schmunzeln.
"Was ist?" fragte er.
"Du hast doch heute Morgen auch eine Hochzeitseinladung von Bregs bekommen, oder?"
"Ja, das habe ich." Der Ermittler ließ eine Hand in die Tasche seines grauen Mantels gleiten, wo in einem Umschlag eine goldgerahmte Einladungskarte steckte. "Und ich freue mich drauf. Die beiden passen zueinander wie die Faust aufs Auge, selbst wenn sich einige Wächter immer noch zu wundern scheinen, was sie zusammenhält."
Kolumbini verschwand beinahe hinter seiner ganz persönlichen Dunstglocke.
"Er hat mich gebeten, sein Trauzeuge zu sein." sagte er leise, und Romulus glaubte zu seinem Erstaunen, einen Anflug von Gerührtheit in der Stimme seines ansonsten so abgebrühten und zynischen Freundes zu hören.

Eine halbe Pfeifenfüllung später befand sich Romulus auf dem Weg zum SUSI-Labor, um die Sachen des Toten in Augenschein zu nehmen. Prüfend sog er die Luft ein und nickte zufrieden. Der Pfeifenrauch hatte den Patschuliduft von Tantra Sandelholz' Räucherstäbchen beinahe vollständig aus seiner Nase vertrieben. Er fühlte sich gewappnet für eine Auseinandersetzung mit Rib und dessen obskuren Laborregeln, die schon diverse Wächter an den Rand der Verzweiflung gebracht hatten.
So höflich wie er nur konnte klopfte er an die Labortür und hoffte aus ganzem Herzen, dass die Gnumie gerade andersweitig unterwegs war.
Doch seine Hoffnungen wurden bitter enttäuscht.
"Herein, wenns kein Anwalt ist!" tönte ihm die unverwechselbare Stimme des Feldwebels entgegen.
Romulus atmete noch einmal tief durch und trat ein, während er fieberhaft überlegte, wie sich Rib jetzt noch einmal nannte. Er meinte sich zu erinnern, dass es irgend etwas mit Aua und Schmerzen zu tun hatte.
"Hallo Rib." versuchte er es diplomatisch.
Die Gnumie thronte auf einem Haufen vornehmer Abendbekleidung, der auf einem der Labortische lag, neben sich einen Stapel unbenutzter Papiertüten und eine mit einem sauberen Baumwolltuch ausgelegte Holzschüssel.
"Hallo Romulus." grüßte sie zurück und warf einen Blick auf eine große grüne Tafel, auf der mit Kreide mehrere Wächternamen notiert waren. "Na, was führt deine Schnüffelnase hierher?"
Der Ermittler schielte ebenfalls in Richtung der Tafel und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass sein Name nicht darauf stand. Eine Streiterei mit Rib über angemessene Höflichkeit, Prinzipien und die mutwillige Behinderung laufender Ermittlungen aufgrund persönlicher Abneigung war das Allerletzte, worauf er zur Zeit Lust hatte.
"Es geht um die Leiche von heute Morgen." kam er sogleich auf den Punkt. "Hauptmann MeckDwarf hat mir den Fall übertragen." Das stimmte nicht ganz. Der Wahrheit weitaus näher kam die Tatsache, dass sich der offizielle Abteilungsleiter von RUM oft tagelang nicht im Wachhaus blicken ließ, doch das wollte Romulus Rib nicht gerade auf die Nase binden. Der selbsternannte Herrscher des Labors konnte weitaus kooperativer sein wenn er glaubte, dass jemand, der selbst ihm vorgesetzt war, direkt hinter der Person stand, die die Untersuchungsergebnisse möglichst schnell brauchte.
Rib zuckte mit den bandagierten Schultern.
"Ich bin noch nicht fertig mit den Kleidern." erklärte er. "Das, was in der Schüssel liegt, kannst du schon mal anschauen. Aber nicht anfassen! Wir haben noch nicht nach Fingerabdrücken geschaut."
Romulus nickte und trat an den Labortisch. Behutsam zog er die Holzschale zu sich heran und sah hinein.
Der Inhalt der Taschen des Toten bestand aus den üblichen Dingen. Eine Geldbörse aus hochwertigem Leder, ein Schlüsselbund, ein hellblaues Seidentaschentuch mit dem Monogramm G. v. W. und eine Postkarte, die mit der unbeschriebenen Rückseite nach oben in der Schüssel lag. Vorsorglich notierte Romulus die gestickten Buchstaben auf einem herumliegenden Blatt Papier. Dann nahm er sich eine Pinzette von einem herumstehenden Instrumententablett und wendete die Karte. Ein Zitat in verschnörkelten Buchstaben zierte die Vorderseite.

Wehe euch ihr Sünder, die ihr den Pfad der Tugend verlassen habt! Denn die Straße zur Verdammnis ist lang, und ihr Ende liegt verloren in der Dunkelheit.
(Hwel, Der anzüglich grinsende König, zweiter Akt dritte Szene)


Der Ermittler ließ die Karte wieder zurück in die Schüssel fallen. Wie makaber, dass das Mordopfer eine Karte mit ausgerechnet diesem Spruch bei sich getragen hatte. Der anzüglich grinsende König gehörte zu den acht großen Tragödien, einem Dramenzyklus des Zwergendichters Hwel. Mehr wusste Romulus leider auch nicht, und er machte sich eine geistige Notiz, jemanden, der sich mit Theater und klassischer Bildung auskannte, nach der genauen Handlung des Theaterstückes zu fragen. Jedes Detail an einem Verbrechen, jeder Gegenstand, der am Tatort gefunden wurde, konnte wichtig sein.
Doch erst einmal musste er das Ergebnis der Obduktion abwarten. Vorher konnte er kaum etwas tun, außer am Tresen nachzufragen, ob eine Person mit den Initialen G. v. W. als vermisst gemeldet worden war.


IVONNE


Der Explodierende Kessel war eine Kneipe, in der vorwiegend Alchimisten tranken. Dies machte sich auch in der Innendekoration bemerkbar. Im Flaschenregal hinter der Theke stand eine Öllampe unter einem mit waberndem flüssigem Wachs und Wasser gefüllten Glaskegel. Gemälde mit Stilleben verschiedener alchimistischer Gerätschaften zierten die Wände und irgendein Witzkeks von Kellner hatte sämtlichen Getränken wohl nur für ihn selbst lustige Zweitnamen von Chemikalien gegeben.
Ivonne Kolumbini lehnte an der Theke und klappte die Getränkekarte zu. Wenn Schostok das Lokal auch mögen mochte, ihren Geschmack traf es ganz sicher nicht. Unauffällig warf sie einen Blick auf die Gruppe von Alchimisten, die sich um einen Tisch in der hintersten Ecke versammelt hatten und wie gebannt einem ihrer Kollegen zusahen, der mit schwungvollen Gesten und den entsprechenden Geräuschen vermutlich eine anschauliche Demonstration der Explosion seines letzten Experimentes zum Besten gab. Ansonsten war der Schankraum leer.
Die private Ermittlerin zündete sich eine Zigarette an. Pjotr Schostok mochte einen schlechten Geschmack haben, was Kneipen betraf, doch er war ein sehr erfahrener und meistens gut informierter Schnüffler. Außerdem war er hin und wieder mit Archibald Marloff einen trinken gegangen. Inspäctor brauchte Informationen. Und Ivonne war bereit, sie ihm zu liefern.
"Was darf es sein, verehrtes Fräulein?"
Ivonne wandte sich um und bedachte den pickeligen Jüngling mit den versengten Augenbrauen, der hinter dem Tresen stand und sie breit anlächelte, mit einem durchdringenden Blick.
"Ich nehme einen doppelten Whisky. Egal, welchen Fusel du gerade da hast, Junge."
Die Bezeichnung 'Junge' schien gesessen zu haben. Der Kellner nickte betreten und wandte sich den Flaschen zu. Lässig blies Ivonne einen Schwall Zigarettenrauch in die ohnehin schon stickige Kneipenluft. Sie hatte es nicht nötig, sich von einem halbwüchsigen Nachwuchsalchimisten, der sein Taschengeld mit Barschichten in der Stammkneipe seiner Gilde aufbesserte, lüstern anschauen zu lassen. Mit einer schwungvollen Kopfbewegung warf sie ihr langes dunkelblondes Haar zurück. Schostok konnte auch langsam mal aufkreuzen. Es gehörte sich einfach nicht, eine Dame warten zu lassen, selbst wenn es sich um eine Kollegin handelte.
Schüchtern schob der Kellner Ivonnes Getränk über die Theke. Die private Ermittlerin nahm das Glas ohne ein Wort des Dankes und schnupperte an dem Inhalt. Jimkin Bärdrückers Leckertropfen. Sie hätte es sich denken können, in einem Schuppen wie diesem kein zwergisches Qualitätsprodukt vorgesetzt zu bekommen. Dennoch trank sie, ohne das Gesicht zu verziehen, einen großen Schluck, und ignorierte den leicht chemischen Nachgeschmack des Getränks. Sie konnte eine kleine Stärkung gut gebrauchen. Schostok war, auch wenn er unbestritten zu den besten Schnüfflern Ankh-Morporks zählte, ein unangenehmer schmieriger Mistkerl.
Wenn man vom Dämon spricht, kommt er auch schon, ging Ivonne durch den Kopf, als die Kneipentür aufschwang und ein kleiner Mann mit fettigem Haar und verschlagenen Gesichtszügen den Schankraum betrat. Sein hagerer Körper steckte in einem zerknitterten cremefarbenen Anzug und gegen die Herbstkälte hatte er sich einen breiten dunkelroten Schal um Hals und Oberkörper geschlungen. Seine Miene erhellte schlagartig, als er Ivonne erblickte und auf sie zugeschlurft kam.
"Mademoiselle Kolumbini." begrüßte er sie förmlich und schien zu bedauern, dass sie in einer Hand ihre Zigarette und in der anderen das Whiskyglas hielt. Ivonne wusste jedoch genau, weshalb sie es vorzog, bei der Begrüßung beide Hände voll zu haben. Sie verzichtete nur zu gern auf einen Handkuss dieses Mannes.
"Schostok." begrüßte sie ihn und schenkte ihm ein kleines, wohldosiertes Lächeln.
Dieser hatte sogleich den Kellner zu sich herangewinkt und einen Untervektor-Rum auf Eis bestellt.
"Das Leben ist hart, Ivonne." begann er das Gespräch und kletterte auf einen Barhocker, um nicht zu ihr aufsehen zu müssen. "So ein Ende hat der gute Archibald wirklich nicht verdient. Abgestochen wie ein Schwein, und das in seinem eigenen Büro. Eine traurige Sache." Er seufzte theatralisch.
Ivonne nickte nur und drückte ihre Zigarette in einem überfüllten Aschenbecher aus, der auf der Theke stand, nur um sich gleich darauf eine neue anzuzünden.
"Ja." sagte sie zwischen zwei Zügen. "Scheinbar ist er jemandem zu unbequem geworden."
"Und erst vor drei Abenden bin ich mit ihm noch in der Weintraube versackt." Pjotr Schostok griff nach seinem Getränk wie nach einem Rettungsanker und stürzte es in einem Zug hinunter. "Er war ein guter Freund, sofern wir denn in unserem Beruf überhaupt Freunde haben."
Innerlich verdrehte Ivonne die Augen. Ihr Kollege liebte es, mit dramatischen Worten und Gesten zu übertreiben. Falls er damit hoffte, sie zu beeindrucken, befand er sich allerdings an der völlig falschen Adresse.
"Nenn es einfach ein gutes kollegiales Verhältnis." schlug sie vor und trank einen weiteren Schluck chemisch schmeckenden Bärdrückers. "Wir sind doch alle nicht mehr als Kollegen." Die letzten Worte betonte sie scharf.
Schostok schien diesen Wink mit dem metaphorischen Zaunpfahl jedoch nicht bemerkt zu haben und bestellte mit einer schwungvollen Geste einen weiteren Rum.
"Wer ermittelt in der Wache?" fragte er. "Hast du schon was gehört?"
"Nein." log Ivonne, ohne mit der Wimper zu zucken. "Ich bin meinem Vetter schon seit ein paar Tagen nicht über den Weg gelaufen. Deshalb würde ich ja gern von dir hören, was los ist."
"Soso." Schostok grinste schmierig. "Die berühmte Ivonne Kolumbini möchte von mir wissen, was los ist."
"Zufällig interessiert es mich." gab sie zurück. "Ich nehme die Ermordung eines Kollegen ernst. Wir haben nun mal einen gefährlichen Beruf."
Sein Lächeln wurde breiter.
"Ich könnte dich beschützen, Ivonne."
"Träum weiter." Mit regloser Miene stürzte sie den Rest ihres Getränks ebenso schnell herunter wie Schostok es mit seinem getan hatte. Ihre Gedanken wanderten zu der kleinen Armbrust, die sie in einer speziell eingenähten Halterung in ihrem Mantel trug. Manche Menschen waren das lebende Äquivalent zu dem Geräusch, das schnell über eine Tafel gezogene Fingernägel verursachten. Doch leider brauchte sie Schostok und seine Informationen. Darum zwang sie ihre Mundwinkel nach oben.
"Vielleicht komme ich auf dein Angebot zurück. Vielleicht auch nicht. Was mich allerdings viel mehr interessiert ist die Frage, wer Marloff zum Sensenmann geschickt haben könnte."
"Genau das interessiert mich auch. Alles was ich weiß ist, dass sich der letzte Fall, an dem er gearbeitet hat, in irgendeiner Form mit alten Archiven zu tun gehabt haben muss. Er war am Schimpfen darüber, wie schwer es doch sei, Gefangenenlisten zu bekommen, die älter als vier, fünf Jahre alt sind. Ansonsten war er ziemlich wortkarg, wie immer. Armer Kerl. Er hat darauf gespart, irgendwann mal eine Kneipe auf den Braunen Inseln aufzumachen. Du weißt schon, Sonne, Strand, schöne Mädchen und das alles."
"Tja, nun kann er seine schönen Mädchen da genießen, wo auch immer er jetzt ist." bemerkte Ivonne, während sie im Geiste das Wort 'Gefangenenlisten' notierte.
Schostok griff nach seinem nächsten Getränk.
"Auf Archibald Marloff!" rief er so laut, dass die Alchimisten an ihrem Ecktisch verwundert zu ihm herübersahen, und Ivonne hätte ihn dafür am liebsten geohrfeigt. Stattdessen setzte sie ihre übliche undurchdringliche Miene auf und warf ein paar Münzen auf die Theke.
"Ich muss los." erklärte sie kurz angebunden. "Ein Klient wartet."


RAISTAN


Ungefähr zur gleichen Zeit, als Ivonne Kolumbini den Explodierenden Kessel verließ, erleuchtete das kalte Licht eines magischen Kristalls einen schlichten Grabstein auf dem Friedhof der Geringen Götter. Das dazugehörige Grab war sorgfältig gepflegt und vor dem Stein behaupteten sich ein paar kümmerliche Geranien tapfer gegen die morporkianische Witterung.
Auf seinen Stab gelehnt und die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst betrachtete Raistan in stiller Andacht die letzte Ruhestätte der sterblichen Überreste seines Zwillingsbruders. Er kam oft hierher, abends in der Dunkelheit, wenn ihm die übrigen Friedhofsbesucher nicht in die Quere kamen. Seine Schwester Hermine, die sich immerzu Sorgen um seine Gesundheit, sein seelisches Wohlbefinden und überhaupt um sein ganzes Leben machte, wusste nichts von diesen Besuchen.
Glaub mir, Kleiner. Ich hätte ihn auch so gern noch einmal wiedergesehen. Doch du musst lernen, loszulassen. Das Leben geht weiter. Raistan konnte ihre Stimme deutlich hören. Mochte Mimi doch reden. Sie hatte einen Ehemann, ein kleines Kind und ihre Auftritte als Sängerin in Frau WaWaWumms Skunk-Club.
Der junge Zauberer murmelte einen leisen Befehl, und das Licht des Kristalls auf der Spitze seines Zauberstabs erlosch. Dunkelheit senkte sich über den Friedhof. Durch die dicken Mauern des Tempels der Geringen Götter drang dumpfer getragener Chorgesang.
"Gute Nacht, Großer." sagte Raistan leise und schritt über den Friedhof davon, eine hagere Gestalt in langen schwarzen Gewändern, das Gesicht unter einer weiten Kapuze verborgen.
Er war über Kameruns Tod längst hinweg, versuchte er sich einzureden. Er stand jeden Morgen auf und arbeitete fleißig an seiner Doktorarbeit über abstrakte B-Raum-Theorie und die Auswirkungen dieses Raumes auf das Gefüge der Realität. Er spielt weiterhin in der Klonk-Turniermannschaft der Universität.
Das eiserne Friedhofstor knirschte leise, als Raistan es aufschob und auf die beleuchtete Straße trat. Sein Körper verließ die Welt der endgültig Toten. Die Straßen Ankh-Morporks gehörten den Untoten und Lebenden. Doch wie immer, wenn er den Friedhof verließ, war dem jungen Zauberer, als bliebe ein Teil seiner Selbst dort in der Dunkelheit zwischen den Grabsteinen zurück. Sein Zwillingsbruder und er, sie waren ein einziges Wesen mit zwei Körpern gewesen. Und Kamerun hatte den Teil abbekommen, der die gute Laune und den Humor versprühte, der es ihm ermöglicht hatte, so leicht mit diversen Leuten Freundschaft zu schließen, und überhaupt zum Mittelpunkt jeder Kneipenrunde zu werden. Raistan hingegen war meist eher geduldet worden. Er war nicht mehr als ein gelehrter Eierkopf mit einer chronischen Lungenkrankheit, der weder einen nennenswerten Sinn für Humor besaß, noch sonstige unterhaltsame Qualitäten hatte. Ein guter Charakter und schönes Haar, mehr blieb den allermeisten Personen nicht von ihm in Erinnerung. Erst nach Kameruns Tod war ihm richtig bewusst geworden, dass er eigentlich kaum eigene Freunde besaß.
Du bist zu nichts nütze! ertönte immer häufiger die Stimme seines Vaters in Raistans Kopf. Und der junge Zauberer war immer mehr geneigt, dieser Stimme recht zu geben. Ohne seinen Bruder war er nichts. Erst heute vor dem Entschleierten Aspis war es ihm wieder voll bewusst geworden. Ohne Rückendeckung von Kamerun war er sogar zu feige, größeren und stärkeren Personen schlagfertige Antworten zu geben. Eine Faust war schneller als ein Zauberspruch.
In seine düsteren Gedanken versunken blieb er vor der Auslage eines Tabakwarengeschäfts stehen und musterte die Ausgabe der Times vom heutigen Tag, die der Besitzer ins Schaufenster gelegt hatte. Schon am nächsten Morgen würde vermutlich wieder eine Leiche auf der Titelseite stehen, dieses Mal der unbekannte Tote von Tantra Sandelholz' Ladendach. Raistan biss sich auf die Lippen. Kameruns Tod, so heldenhaft er auch gewesen war, hatte nicht einmal eine einzige Spalte in der Zeitung bekommen. Manchmal, in seinen dunkelsten Stunden, wünschte sich Raistan, an der Stelle seines Bruders gestorben zu sein. Doch er hatte trotz der schweren Verletzungen, die ihm die von einem Ding aus den Kerkerdimensionen besessene Wächterin zugefügt hatte, und seiner angeschlagenen Gesundheit überlebt.
Nichts davon wissend, dass Leonata Eule am Morgen vor einem anderen Schaufenster genau das Gleiche getan hatte, schlug Raistan die Kapuze seines Umhangs zurück und betrachtete sein feingeschnittenes hageres Gesicht im Schaufenster. Über blassen Wangen blickte ein Paar durchdringender stahlgrauer Augen aus der Glasscheibe. Kein einziger Funken Wärme lag in diesem Blick. Es waren die Augen eines Menschen, der in seinem Inneren schon tot war.
Erschrocken von seinem eigenen Ausehen wandte sich der junge Zauberer ab und er fühlte, wie sein fester Vorsatz, einfach weiterzumachen wie immer, zu zerfallen begann. Raistan Adelmus Quetschkorn war zu einer wandelnden Leiche geworden, sein Lebensmut zu einem glimmenden Funken herabgebrannt.
So konnte es nicht weitergehen. Raistan ballte seine freie Hand zur Faust. Es war an der Zeit, über seinen eigenen Schatten zu springen und um Hilfe zu bitten.


FRÄN FROMM


Es gab kein endgültigeres Verbrechen als Mord.
Dies ging Frän Fromm, ihres Zeichens Püschologin der Abteilung RUM, durch den Kopf, während sie durch die dunklen Straßen Ankh-Morporks schritt, um ihrer traurigen Pflicht nachzukommen. Ein zerstörter Gegenstand konnte ersetzt, und Diebesgut wiederbeschafft werden. Doch der Tod einer geliebten Person riss ein Loch in das Leben aller, die sie kannten, und nichts und niemand vermochte diese Leere wieder zu füllen.
Und wieder einmal war es Fräns Aufgabe, einer Familie die Nachricht der Ermordung ihres Oberhauptes zu bringen. Der Hausdiener der Familie hatte den Toten vor einer guten Stunde einwandfrei identifiziert und wurde derzeit von Romulus verhört. Nachdenklich strich sich die junge Vampirin eine rote Locke aus der Stirn. Schlimm genug, dass der Mann hatte sterben müssen. Doch welcher Täter so verrückt war, sein Opfer nach der Tat auf ein Dach zu werfen, wollte ihr nicht in den Kopf, und sie wurde das Gefühl nicht los, dass Romulus gerade auf diese Frage mit einer baldigen Antwort von seiner Abteilungspüschologin rechnete.
Dazu kam die Postkarte in der Manteltasche des Toten. Ihr Vorgesetzter hatte sie dazu angehalten, vorerst keine allzu püschiologisierenden Schlüsse zu ziehen, doch Frän konnte ihre Bedeutung schon erahnen. Die Karte stellte so etwas wie die Visitenkarte des Mörders dar. Sie enthielt eine Botschaft.
"Denn die Straße zur Verdammnis ist lang und wehe euch Sündern..." murmelte die Püschologin leise vor sich hin, während sie auf das gusseiserne Tor ihres Zieles zuschritt. Der auf der Postkarte abgedruckte Spruch klang verdächtig religiös und okkult. Hinzu kam der ungewöhnliche Fundort der Leiche. Beides konnte auf einen Mord mit kultistischem Hintergrund hinweisen.
Aus reiner Gewohnheit atmete Frän Fromm tief durch, zupfte den Kragen ihrer Uniformjacke zurecht und überprüfte den Sitz ihrer beiden gläsernen Dolche in den Gürtelscheiden. Dann zog sie energisch an der Klingelschnur.
Das Läuten der hellen Glocke im Inneren des Hauses klang unangemessen fröhlich in ihren Ohren, und es dauerte nicht einmal eine Minute, bis eine kleine junge Frau in der klassischen Kluft eines Dienstmädchens öffnete.
Sie musterte Frän mit dunklen Knopfaugen einmal kurz von oben bis unten und knickste.
"Die Dame wünschen?" fragte sie abwesend und betrachtete die Püschologin, als habe sie eine plötzliche Erkenntnis, ein zweites Mal.
"Sie sind von der Stadtwache." kam die Feststellung gleichzeitig mit Fräns gezückter Dienstmarke.
Die Gefreite nickte nur.
"Frän Fromm, Püschologin." stellte sie sich vor.
Das Dienstmädchen wurde bleich.
"Es ist etwas mit dem gnädigen Herrn passiert." sagte sie leise. "Sonst wären Sie nicht hier."
Frän nickte nur.
"Gibt es hier so etwas wie ein Wohnzimmer?" erkundigte sie sich. "Ich muss dringend mit der Familie sprechen."
"Aber sicher, Fräulein von der Stadtwache." Die Stimme des Dienstmädchens zitterte leicht. "Kommen Sie mit mir."
Sie gleitete Frän in eine mit unaufdringlichem Prunk eingerichtete Eingangshalle, nahm ihr dort schweigend den Mantel ab und führte die Püschologin anschließend auf eine Doppeltür aus dunklem Holz zu.
"Er ist tot, nicht wahr?" brach sie schließlich das Schweigen. "Sonst wäre Wilko schon wieder hier."
Darauf gab Frän keine Antwort.
Das Dienstmädchen atmete tief durch, schniefte, und betrat den Salon. Von ihrem Posten schräg hinter der Tür aus konnte Frän sie knicksen sehen.
"Verzeiht die Störung, verehrte Herrschaften, aber eine Dame von der Stadtwache möchte Sie sprechen." kündigte sie an. Dies nahm Frän als Zeichen, dem Mädchen zu folgen. Ihre Dienstmarke hielt sie in der Hand. Nun begann der wirklich unangenehme Teil ihres Berufes.
"Frän Fromm, Stadtwache Ankh-Morpork." stellte sie sich erneut vor und ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen. Eine leicht mollige junge Dame mit weizenblondem Haar und einem hübschen Gesicht saß in einem Ohrensessel neben dem Kamin und hielt ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß. Auf dem antik wirkenden Sofa lag eine weitere Dame in mittleren Jahren. Schwarze Locken waren auf ihrem Kopf zu einer kunstvollen Frisur aufgesteckt und ihr gesamtes Aussehen ließ sich nur mit dem Wort edel beschreiben. Bei ihren Füßen saß ein blasser Junge, der ihr so ähnlich sah wie nur der Sohn der Mutter es konnte. Er starrte Frän mit einer Mischung aus Neugierde und Angst an.
Die Püschologin schluckte. Der Anblick der versammelten Familie ließ die Tatsache, dass sie ihre Ausbildung erst vor kurzem abgeschlossen hatte, mit aller Macht in ihr Bewusstsein zurückkehren.
Wie hatte die Formulierung aus diesem Püschobuch noch mal gelautet?
"Ich muss Ihnen leider eine traurige Nachricht überbringen." brachte sie den Standardsatz hervor. "Lord Gregor von Willerfort wurde am Morgen auf einem Dach in der Knackbruchstraße ermordet aufgefunden."


ARAGHAST


"Das war gut." erklärte Araghast und legte das Besteck auf seinen Teller.
Leonata lächelte. "Zum Glück hat man kaum geschmeckt, dass die Soße etwas angebrannt war. Ach ja - was kochst du morgen?"
Nachdenklich ließ der Hauptfeldwebel seinen Blick durch die Küche schweifen. Auf kleinstem Raum drängelten sich ein gusseiserner Herd, eine Spüle, zwei schon ein wenig klapprige Schränke und ein Tisch mit vier Stühlen. Mehrere gebraucht erworbene Kochbücher lagen in einem Stapel auf dem Regal über dem Herd. Vor einer Weile hatten Leonata und Araghast beschlossen, kochen zu lernen, und wie bei ihnen üblich verlief der Prozess nach der Versuch-macht-klug-Methode und hatte bisher zwei Beinahe-Herdbrände, einen dicken Soßenfleck unter der Decke, zerkochte Kartoffeln, halbrohe Bohnen, schwärzliche Koteletts und diverse übergekochte Suppen beinhaltet. Leonata hatte, ganz Wissenschaftlerin, schließlich einen Nachmittag damit zugebracht, verschiedene Grundnahrungsmittel zu kochen, die Zeit des optimalen Gargrades mit der Sanduhr zu messen und schließlich eine Tabelle anzufertigen, die nun direkt neben dem Herd an der Wand hing. Die Sanduhr hatte einen Platz oben auf den Kochbüchern gefunden.
"Wie wäre es mit brindisianischen Spaghetti und dazu Soße mit Eiern und Schinken?" schlug Araghast vor.
"Hatten wir nicht letzten Samstag erst brindisianische Nudeln?"
"Das war mit Tomatensoße." verteidigte sich der Hauptfeldwebel. "Außerdem dauern Nudeln nicht so lange. Wenn ich mich wieder den ganzen Tag mit Picardos Schikanen herumgeärgert habe, bekomme ich immer reichlich Hunger."
"Also gut, morgen Nudeln." Leonata schenkte Bier nach und zwinkerte ihm zu. "Dafür gibts dann aber nächstes Mal, wenn du dran bist, wieder etwas aus der Pfanne."
Araghast stöhnte gespielt auf.
"Ja, Mama." sagte er unterwürfig und zog den Kopf ein, was Leonata veranlasste, in schallendes Gelächter auszubrechen.
"Jetzt tu nicht so, als würde ich dich unterdrücken."
"Ooooh, wie ich ihn spüre, den ständigen Pantoffel in meinem Nacken!" jammerte Araghast herzzerreißend. "Und immer wenn ich heimkomme, fürchte ich das Nudelholz, das schon in der Hand meines Weibes hocherhoben hinter der Tür..."
Die Türglocke läutete.
Leonata und Araghast sahen sich an, und der Hauptfeldwebel verdrehte das Auge.
"Wehe, das ist irgendein dringender Einsatz." bemerkte er. "Da hab ich heute Abend wirklich keine Lust drauf."
"Halb neun." verkündete Lea nach einem Blick auf ihre Taschenuhr. "Wieso ein Einsatz? Du bist doch nicht mehr bei FROG."
Araghast erhob sich schulterzuckend. "Wer weiß, vielleicht ist die Alchimistengilde mal wieder in die Luft geflogen. Dann geht die übliche Routine in dem Fall los. Einen verdeckten Ermittler losschicken, der sich um die Einzelheiten kümmert, herausfinden, wo das neue Gildenhaus wieder aufgebaut wird - Mittlerweile glaube ich, dass es eine Art Zyklus gibt, was das Wandern des Gildenhauses betrifft. Die Alchimisten haben vier oder fünf Häuser, und immer wenn eines hochgegangen ist, ziehen sie eins weiter."
Der Flur war kalt und dunkel. Kapitän Zunder lag auf seinem Stammplatz auf der untersten Treppenstufe und döste vor sich hin. Als er Araghast bemerkte, hob er den Kopf und miaute herausfordernd.
"Ja, du mich auch." antwortete der Hauptfeldwebel nur und suchte in seinem Schlüsselbund nach dem Haustürschlüssel. Für den Fall, dass es sich bei dem abendlichen Besucher um den Gefreiten Spitzschuh handelte, bereitete er sich schon einmal mental darauf vor, jegliche Diskussion über das Wirken Seramis' im Keim zu ersticken.
Was ist denn nun schon wieder los, lag ihm bereits auf den Lippen, als er feststellte, dass es sich bei der schwarzgekleideten Person vor der Tür nicht um einen seiner Kollegen handelte. Die Kapuze, unter der er sich in den vergangenen anderthalb Jahren so oft verborgen hatte, lag auf Raistan Quetschkorns Schultern und sein blasses Gesicht zeigte einen entschlossenen Ausdruck.
"Es tut mir leid, wenn ich störe." sagte der junge Zauberer.
"Du störst nicht." antwortete Araghast und sein sechster Püschologensinn trat ihm mit aller Macht gegen das metaphorische Schienbein. Raistan plante etwas. So entschlossen hatte der Hauptfeldwebel ihn seit dem Tod seines Bruders nicht mehr gesehen.
"Komm rein." lud er seinen Besucher ein und führte ihn in den Flur. Maunzend erhob sich Kapitän Zunder von seinem Ruheplatz und kam gemächlich auf Raistan zugetrottet. Dieser ging in die Hocke und kraulte das dichte Nackenfell des Katers, was dieser mit einem lauten Schnurren quittierte.
"Und wie geht es dir so, Käptn?" fragte der junge Zauberer leise. "Was macht die Mäusejagd?"
Als Antwort rieb der Kater seinen Kopf an Raistans Hand.
"Ah ja. Verstehe. Und die Katze von nebenan?"
"Du kannst nicht wirklich mit Tieren reden, oder?" erkundigte sich Araghast.
Raistan schüttelte den Kopf und fuhr fort, den Kater zu streicheln. Eine seiner langen hellbraunen Haarsträhnen fiel ihm ins Gesicht.
"Na ja, ich wollts nur wissen." brummte der Hauptfeldwebel. "Zauberer sind ja bekanntlich zu allem fähig."
"Nur zu fast allem." korrigierte Raistan ihn und erhob sich. "Die Zeit ohne Schaden zurückzudrehen schaffen wir zum Beispiel bis heute nicht." Ein bitterer Unterton schwang in seiner Stimme mit.
Nachdenklich sah Araghast zu, wie Kapitän Zunder mit eleganten Sätzen die Treppe hochsprang und hingebungsvoll an der Wohnungstür seiner Besitzerin kratzte. Er glaubte zu ahnen, was Raistan hergeführt hatte.

Wenig später saßen sie einander gegenüber am Küchentisch, vor sich eine dampfende Kanne Tee. Leonata hatte sich mit der Begründung, den Unterricht für den folgenden Tag vorbereiten zu müssen, an ihren Sekretär im Wohnzimmer zurückgezogen, doch Araghast hatte an ihrem Blick gesehen, dass sie bei dem folgenden Gespräch die beiden lieber allein lassen wollte. Insgeheim dankte er ihr dafür. Die nächste halbe Stunde wurde sicherlich nicht einfach.
"Also, wo drückt der Stiefel?" begann er ohne Umschweife.
Raistan schien sich plötzlich sehr für den Inhalt seiner Teetasse zu interessieren.
"Wie kommst du darauf, dass ich ein Problem habe?" fragte er.
"Nun, warum solltest du sonst plötzlich am Abend hier aufkreuzen? Ich bin Püschologe, Kleiner. Ich merke, wenn etwas nicht stimmt."
"Kleiner." sagte Raistan abwesend. "Mein Bruder hat mich immer so genannt. Und irgendwie tun es auch alle anderen, ganz automatisch. Fordert mein ganzes Selbst diesen Spitznamen wirklich so heraus?"
Araghast atmete tief durch. Wie brachte er den jungen Zauberer am geschicktesten bei, dass dieser Spitzname einfach passte wie die Faust aufs Auge? Raistan war knapp eins siebzig groß, mager wie eine Latte und litt an einer chronischen Lungenkrankheit. Seine gesamte Erscheinung erweckte ein dringendes Bedürfnis, ihn auf ein mit Kissen überladenes Sofa zu betten und mit Sahnekaffee und Plätzchen zu mästen. Und dennoch, Araghast erinnerte sich nur zu gut, hatte einst ein inneres Feuer in ihm gebrannt, Ein Wille und eine Leidenschaft, die sich über die Grenzen seines schwachen Körpers hinweggesetzt hatten. Vor seinem geistigen Auge sah der Hauptfeldwebel Raistan Quetschkorn nur mit seinem Stab und einem Messer bewaffnet mit ihm zusammen die Assassinengilde einer parallelen Wirklichkeit betreten, um eine Akte zu stehlen, mit einem ausgebildeten Assassinen fertig werden und anschließend in den Patrizierpalast eindringen, um Ephraim Farrux gehörig eins in den Hintern zu treten...
"Mir reicht es." sagte der junge Zauberer plötzlich tonlos. "Mein ganzes Leben. Ohne den Großen bin ich der wohl größte Langweiler der Scheibenwelt. Ich habe immer gedacht, ich käme mit seinem... Tod zurecht, aber ohne ihn bin ich nichts..." Seine Stimme verlor sich und in der kleinen Küche breitete sich erneutes Schweigen aus.
Araghast ahnte, was es für Raistan bedeutete, sich selbst überhaupt einzugestehen, Probleme zu haben. Sie beide waren sich im Geiste ähnlicher, als ein Außenstehender vermutete. Zusammen waren sie duch das sprichwörtliche Pandämonium gegangen und hatten vermutlich die Scheibenwelt gerettet, auch wenn niemals ein Außenstehender davon erfahren hatte. Gemeinsam hatten sie durch ein geschickt angelegtes Gewebe von Lügen Geschehnisse vertuscht, die Araghast seinen Posten in der Wache und vermutlich auch seinen Kopf gekostet hätten. Und wenn es um gewisse Dinge ging, konnte der Kleine genausogut stur wie ein Esel werden, wie er selbst.
"Du bist etwas." antwortete er. "Du bist verdammt klug. Du bist gebildet. Du hast Mut."
"Mutig? Ich?" Raistan sah auf und Araghast erschrak beinahe vor der Kälte des stahlgrauen Blickes, der ihn traf. "Ohne Kamerun hinter mir traue ich mich nicht einmal, jemandem, der mich als Jungen bezeichnet, verbal Paroli zu bieten. Es ist, als... wäre auch der Teil von mir mit dem Großen einfach gestorben."
Darauf wusste Araghast auch keine Antwort. Stattdessen nippte er an seinem heißen Tee. Was Raistan wirklich brauchte, war keine Püschotherapie. Er brauchte schlicht und einfach einen Freund, jemanden seines Alters, der sich ein wenig um ihn kümmerte, ihn an die Hand nahm und sich gemeinsam mit ihm einfach nur mal amüsierte wie vernünftige junge Leute es taten.
Plötzlich fühlte sich Araghast mit seinen beinahe dreißig Jahren uralt. Er hatte alles, was er mit einem anständigen, gesetzten Leben in Verbindung brachte - eine Wohnung, einen festen Beruf und in wenigen Tagen auch eine Ehefrau. Ein Konzert einer Band der Musik mit Steinen drin hatte er schon lange nicht mehr besucht und den Eimer frequentierte er nur noch sehr selten.
"Stimmt etwas nicht?" erkundigte sich Raistan vorsichtig.
Araghast winkte ab.
"Es ist nur die Zeit." sagte er. "Vor über vier Jahren war ich ein weitgereister junger Mann, der in einem Zweiter-Hand-Sarg in einem Keller unter einem Lagerhaus gelebt und sich auf einen neuen Beruf gefreut hat. Seitdem ist so viel passiert. Sowohl Gutes, als auch viel Mist. Was ich sagen will, das Leben ist wie eine Fahrt auf einem Segler in einem Orkan. Es geht vom Wellenberg ins Wellental und Sturzseen drohen immer wieder, einen über Bord zu spülen. Oft glaubt man, sein Leben ist in eben dem Augenblick zu Ende. Aber dann kentert das Schiff doch nicht. Andere, hin und wieder auch treue Freunde, werden über Bord gespült. Doch in jedem Hafen kommen neue Mannschaftsmitglieder an Bord. Keine Person gleicht der anderen und so sind auch die, die man verloren hat, unersetzlich. Doch man sollte die Chance nicht wegwerfen, unter denen, die neu an Bord kommen, neue Freunde zu finden."
"Sofern man denn ein Schiff findet." murmelte Raistan nachdenklich.
Araghast konnte gar nicht anders, als breit zu grinsen.
"Dann mal ab in den Hafen." bemerkte er. "Irgendwo liegt auch der richtige Kahn für dich."


Die Brücke am Ankh


Als er an seine eigenen, lange zurückliegenden Worte dachte, blieb Araghast mitten auf der Pons-Brücke stehen und versuchte, zwischen den Häusern einen Blick auf den Fluss zu erhaschen. Von einem Schiff aufs nächste, ging ihm durch den Kopf. Von FROG zu DOG und nun wieder zurück zu FROG. Gab es so etwas wie das vollkommen richtige Schiff überhaupt, oder wählte man lediglich immer das kleinste Übel?
Humph MackDwarfs Frage, ob er sich nun, da er von allen Abteilungsleiterpflichten befreit war, eine neue Spezialisierung aneigenen wolle, kreiste in Araghasts Bewusstsein. Sicher, eine Stelle als Ermittler bei RUM hatte durchaus ihren Reiz und es gab keinen Streit um Kompetenzen falls er seine Hakennase wieder einmal tief in einen klassischen Fall versenkte. Doch ein neuer Posten hätte eine neue Ausbildung bedeutet und Araghast sah nicht ein, dass er noch eine Ausbildung zum Ermittler gebraucht hätte. Er hatte bereits Fälle gelöst als ein Großteil der heutigen Wächter noch nicht einmal den Königsshilling genommen hatte. Wozu sollte er es sich also antun, von einem wichtigtuenden Mannschaftsdienstgrad das Ermitteln erklärt zu bekommen wie ein blutiger Anfänger? Da blieb er lieber Püschologe, brachte Verbrecher mit verquerem Gerede zum Aufgeben und mischte sich in jeden Fall ein, den er in die Finger bekam. Es gab immer Möglichkeiten, an Ermittlungen zu kommen, und wenn er im Zweifelsfall einfach drauflosarbeitete und sich Zuständigkeitsstreitereien gegenüber taub stellte.
Ein Krustenbrecherfrosch schnellte aus der Ankhoberfläche, packte eine träge über den Fluss dahinsummende Hummel und verschwand mit einem leisen saugenden Geräusch wieder im Schlamm. Entschlossen packte Araghast seine Kiste fester. Er hielt nicht viel von Omen und Vorzeichen, doch das äußerst seltene Wappentier der FROG, gerade jetzt und an dieser Stelle - Er beschloss, es als ein Zeichen zu sehen, dass er auf dem richtigen Weg war.


Tag 3 - Schatten des Verdachtes


ARAGHAST


Auch wenn er es niemals offen zugeben würde, an Tagen wie diesem vermisste Araghast Reggie wirklich. Der Dämon mochte nervig sein, doch wenigstens verschonte er einen mit ständigen Lobpreisungen einer Göttin, und Androhungen körperlicher Gewalt, wie das demonstrative Herumspielen mit einem großen Hammer, endeten nicht bei Intörnal Affärs. Gleich dreimal innerhalb der vergangenen halben Stunde war der Gefreite Spitzschuh im Abteilungsleiterbüro erschienen, um eine Nachricht abzuliefern. Die erste stammte wie üblich von Kanndra, die zweite von Hatscha, und die dritte von Romulus.
Araghast studierte die letzte Nachricht gründlich. Gerüchteweise hatte er schon von dem toten Kaufmann auf dem Dach des Esoterikladens gehört. Er machte sich auf einem herumliegenden Blatt Papier eine Notiz. Tantra Sandelholz also. Die Besitzerin des Entschleierten Aspis war der Wache nicht unbekannt. Vor einigen Jahren hatte sie sich des Verkaufs bewusstseinsverändernder Mittel schuldig gemacht, war jedoch mit einer Verwarnung davongekommen, da sie zum Verkauf gezwungen worden war. Der Hauptfeldwebel schloss sie als Täterin sofort aus. Die Sandelholz war seiner Meinung nach nicht einmal in der Lage, eine Stechmücke zu erschlagen, und außerdem fiel ihm einfach kein Grund ein, weshalb Tantra einen Kaufmann ermorden sollte, es sei denn, die letzte Lieferung Baldrianblätter war verschimmelt.
Und nun bat Romulus darum, dass sich jemand in der Kaufmannsgilde umhörte und nach möglichen Tatmotiven Ausschau hielt. Araghast lächelte hinterhältig. Er wusste schon genau, wen er schicken würde...

Fünf Minuten später stand Lance-Korporal Patrick Nichts vor dem Schreibtisch des Hauptfeldwebels und bemühte sich, den ihn schwanzwedelnd beschnüffelnden Crunkers zu ignorieren.
Araghast schob ihm die Nachricht über die Tischplatte hinweg zu. Während der Husky las, beobachte er, wie sich dessen Miene verdüsterte.
"Und du willst, dass ich in der Kaufmannsgilde verdeckt ein wenig herumschnüffle, Sör?" fragte er.
"Du hast es erfasst." antwortete Araghast nur. Und nicht in der Assassinen- oder sonst einer tollen oder aufregenden Gilde. fügte er in Gedanken hinzu. Er konnte die Überheblichkeit des Lance-Korporals nicht leiden. Nur weil jemand zufällig eine Zeitlang die Schule der Assassinen besucht hatte, hieß es noch lange nicht, dass er die Nase höher tragen durfte als andere Wächter. Innerlich grinsend erinnerte sich Araghast an das Desaster in der Diebesgilde zu Beginn seiner Dienstzeit bei DOG. Sein eigener nicht unerheblicher Beitrag zum Scheitern des Einsatzes hatte Nichts zumindest ein wenig von seinem hohen Ross heruntergeholt.
"Gregor von Willerfort." wiederholte der Lance-Korporal den Namen des Ermordeten. "Erfolgreicher Kaufmann und dazu auch noch von Adel. Ich wette, so einer hatte Feinde genug."
"Ich würde nicht wetten." bemerkte Araghast kühl. "Ich würde lieber gründlich ermitteln."
"Ja, Sör." antwortete Patrick leicht genervt.
Noch so einer, dem es unter Picardo vermutlich besser gefiel, ging Araghast durch den Kopf, nachdem sich die Tür hinter dem Husky geschlossen hatte.
"Weisst du, Crunkers," sagte er zu dem Hund, der sich auf seinem angestammten Platz vor dem Kamin niedergelassen hatte, "Das nächste Mal schicke ich dich zum Schnüffeln los. Auf deine Nase kann man sich jedenfalls verlassen und du hältst dich nicht für etwas Besseres, weil du irgendeine Gildenschule besucht hast."
Araghast knirschte mit den Zähnen. Er hasste es, daran erinnert zu werden, selbst niemals in den Genuss eines Schulbesuches gekommen zu sein. Lesen und Schreiben hatte er nur gelernt, weil er zufällig einen Freund gefunden hatte, der es konnte. Seine Bildung befand sich auf dem Niveau des durchschnittlichen Morporkianers, was einen Wert nahe Null bedeutete. Er war trotz seiner recht verworrenen Herkunft ein wahres Kind der Straße. Und deshalb konnte er hochnäsige Emporkömmlinge, die meinten, etwas Besseres als die übrigen Wächter zu sein, nicht ausstehen. Dazu kamen die ganzen Ausländer. Mittlerweile schätzte Araghast, dass über die Hälfte der gesamten Wächterbelegschaft aus dem Ausland stammte, und war stolz darauf, einer der wenigen gebürtigen Morporkianer zu sein, die in der Wache Dienst taten. Der klassische Weg eines Wächters schien mittlerweile über das Stadttor zu Schnappers Würstchen und den Mitgliedern der Diebesgilde zu führen, bis die hilflosen Neuankömmlinge schließlich ausgeraubt und mittellos auf eines der Rekrutierungsplakate der Stadtwache stießen. So war es gar kein Wunder, dass Stadtführungen bei GRUND mittlerweile zu regulären Ausbildungsprogramm gehörten.
Araghast zog die unterste Schublade seines Schreibtisches auf und gönnte sich den ersten Schluck Rum des Tages. Verstohlen schielte er auf die goldrandverzierten Schulterklappen seines grauen Uniformhemdes, während das scharfe Getränk ihn von innen wärmte. Warum war er damals vor über vier Jahren eigentlich überhaupt Wächter geworden? Die Antwort war einfach. Es war für ihn die einzige Möglichkeit gewesen, nach vielen Jahren mehr oder weniger offensichtlich kriminellen Lebens ein ehrliches Auskommen zu finden. Eine andere Chance hatte sich einem ehemaligen Piraten und Kleingauner gar nicht geboten.
Er dachte an sein gestriges Gespräch mit Raistan zurück. Hatte das Wacheleben ihm wirklich Glück gebracht? Sicher, er hatte seine baldige Ehefrau gefunden und bekam ein sicheres monatliches Gehalt. Aber der Preis für all dies war sein Seelenfrieden gewesen. Ohne die Wache wäre er niemals Stanislaus Olivander begegnet, der ihn zum Trinken von Bl... B-Wort verführt hatte. Ohne seinen Eintritt in die Wache wäre er vielleicht niemals in jenen sonderbaren Laden gelangt, in welchem er Philipp Howards Kraftliebs Ruf des Cthulhupalhulhu gekauft hatte, ein Kauf, dessen Nachwirkungen fatal gewesen waren. Wäre Araghast nicht zur Wache gegangen, wäre Kamerun Quetschkorn höchstwahrscheinlich noch am Leben. Der Hauptfeldwebel trank einen weiteren Schluck Rum. Andererseits, wäre er nicht zur Wache gegangen und hätte nicht dieses Buch in eben diesem Laden gekauft, würde die Scheibenwelt dann überhaupt noch so existieren wie sie war? Es gab so viele Fragen, auf die er keine Antwort wusste. Raistan hatte einmal versucht, ihm zu erklären, wie die Hosen der Zeit funktionierten, doch nach fünf Minuten hatte der Hauptfeldwebel aufgegeben, die Erläuterungen des jungen Zauberers zu verstehen. Letztendlich war er zu dem Schluss gekommen, dass Dinge verdammt noch mal einfach passierten, und man eh nichts dagegen unternehmen konnte, in was für einer bescheuerten Geschichte man nun schon wieder mitspielte. Und gegen das, was er bereits in den Diensten der Wache erlebt hatte, schien die Ermordung eines reichen Pinkels wie diesem von Willerfort wirklich ein Pappenstiel.
Behaglich lehnte sich Araghast in seinem Schreibtischstuhl zurück und nippte zum dritten Mal an der Flasche. Es war seine ureigene Entscheidung gewesen, Wächter zu werden, und er hatte keinerlei Recht darauf, sich über eventuelle Konsequenzen zu beschweren. Das Leben war nun mal ein Mistding, das einen trat, wo es nur konnte, erst recht in einer Stadt wie Ankh-Morpork.
"Auf die verdammte Stadtwache." sagte Araghast laut und hob die Flasche.
Nachdem sein Seelentröster wieder sicher in der untersten Schublade verstaut war, machte sich der Hauptfeldwebel daran, die tägliche Nachricht an Kanndra zu schreiben.


HEINZ-HUBERT


Heinz-Hubert Klaus Detlev Horst Meier von Müller-Schulze Schmidt fühlte sich alles andere als wohl. Durch die hohen Fenster fielen die Strahlen der Morgensonne ins Rechteckige Büro und umrahmten die Silhouette des Patriziers von Ankh-Morpork wie ein flammender Umhang. Der persönliche Sekretär zweiter Ordnung dachte an die dicke Schicht Vampirsonnencreme, die er unter der orangefarbenen Gesichtsschminke trug, und zwang sich, ruhig zu bleiben. Es konnte ihm gar nichts passieren.
"Das wäre dann alles." sagte Lord Vetinari und winkte mit einer bleichen schmalen Hand. "Du kannst gehen."
"Ja, Herr." antwortete Heinz-Hubert und deutete eine leichte Verbeugung an.
Als sich die Tür des rechteckigen Büros hinter ihm schloss, atmete der Sekretär tief durch. Der Sauerstoff hatte keinerlei Effekt auf seine untoten Lungen, doch er fand, dass tiefes Durchatmen hin und wieder einfach sein musste. Als vorbildliches Mitglied der Wirklich-Mensch-sein-Front gehörte sich so etwas einfach. Heinz-Hubert strich sich seine abgetragene, rot-grün karierte Anzugjacke glatt. Er musste endlich lernen, diesen schrecklichen Sonnenaufgang als etwas ganz Alltägliches zu verkraften. Trotz seines Wissens, dass er vor den gleißenden Strahlen geschützt war, überkam ihn jedes Mal wieder die tief in seinem vampirischen Selbst verwurzelte Panik. Er nahm sich vor, bei der nächsten Sitzung mit seinem Püschologen darüber zu sprechen. Zu dumm, dass Drumknott, der eigentliche persönliche Sekretär Vetinaris, vorgestern die Treppe heruntergefallen war und sich ein Bein gebrochen hatte. Heinz-Hubert knirschte mit seinem Gebiss. Der Patrizier schien genau zu wissen, dass der Sonnenaufgang ihm Unbehagen bereitete. Seit Rufus Drumknotts Ausfall bestellte er von den vier persönlichen Sekretären zweiter Ordnung grundsätzlich immer ihn zur Frühbesprechung. Heinz-Hubert war sich sicher, dass eine verdrehte Methode dahintersteckte, konnte sich jedoch nicht vorstellen, was für einen persönlichen Nutzen Lord Vetinari aus einem eingeschüchterten Sekretär zog. Doch wer begriff schon den Patrizier. Bleich und mager, vom Aussehen einem Vampir ähnlicher als Heinz-Hubert es jemals in seiner Existenz wieder sein wollte, regierte er Ankh-Morpork durch ein System, das außer ihm selbst wohl niemand durchschaute.
Der dicke Teppich dämpfte die Geräusche der ausgetretenen Galoschen des Sekretärs. Rückblickend erinnerte seine Karriere in den Diensten der Regierung an die Zündung eines alchimistischen Feuerwerkskörpers. In zahlreichen Gesprächen mit seinem Püschologen und einem Ersatzbefriedigungsseminar der Enthaltsamkeitsliga war herausgekommen, dass er eine Begabung für Zahlen und Ordnungssysteme besaß und folglich hatte er sich für eine Stelle als Buchhalter und Sekretär im Palast beworben. Der B-Wort-Entzug hatte sich als härter erwiesen als erwartet und Heinz-Hubert hatte sich, um nicht verrückt zu werden, in seine Arbeit gestürzt. So hatte eine Beförderung die nächste gejagt und innerhalb von anderthalb Jahren saß er zusammen mit Gisbert Ostenwoge, Jakob Tellerrand und Eusebia Dollarcent im Büro der persönlichen Sekretäre zweiten Grades, unterstellt nur Rufus Drumknott. Und dies war in Heinz Huberts Augen wirklich keine schlechte Karriere für einen zugewanderten Vampir.

"Und?" fragte Eusebia Dollarcent, als er das Büro betrat. Ihre braunen, an den Schläfen leicht angegrauten Locken waren zu einem eleganten Knoten hoch auf ihrem Kopf zusammengesteckt. Heute trug sie ein taubenblaues Kleid und auf ihrem Schreibtisch stand in einer Vase ein Strauß Veilchen. Jedes Mal, wenn er seine Kollegin ansah, spürte Heinz-Hubert einen feinen Stich in seinem nicht schlagenden Herzen.
"Nicht viel." antwortete er. "Ein Brief an den Baron von Offlerberg, dass seine Exzellenz der Einladung zum Ball leider wegen dringender Geschäfte nicht Folge leisten konnte. Dann eine Empfehlung an die Stadtwache, sich doch bitte dringend um den Mörder des Kaufmanns von Willerfort zu kümmern. Seine Lordschaft hat es nicht gern, wenn einflussreiche Bürger einfach so unlizenziert inhumiert werden."
"Unlizenziert inhumiert." sagte Fräulein Dollarcent und lächelte. "Das reimt sich sogar."
Heinz-Hubert spürte, wie ihm die Knie weich wurden. Ihre scharfen, trotz ihres Alters von gewiss über vierzig Jahren makellosen Zähne glänzten im Morgenlicht und der Sekretär schimpfte sich insgeheim selbst für seine Feigheit aus. Warum brachte er es bloß nicht fertig, sie zum Abendessen in den Hahnen-Klub oder ein anderes Feinschmeckerrestaurant einzuladen? Unwillkürlich fuhr er sich mit der Zunge über das ausladende Gebiss, das seine Vampirzähne verbarg. Warum hatte er bloß immer noch dieses Faible für schöne Zähne?
"Dann geben Sie den Schrieb mal her." sagte sie und streckte eine gepflegte Hand mit sorgfältig manikürten Fingernägeln aus. "Ich übernehme den Baron und Sie die Wache?"
Heinz Hubert nickte nur und reichte ihr das Stenogramm. Er genoss es, mit Eusebia allein im Zimmer zu sein. Sie beide waren im Gegensatz zu Ostenwoge und Tellerrand Frühaufsteher.
Wenn man vom Dämon spricht, ging dem Sekretär durch den Kopf, als die Bürotür aufschwang und Gisbert Ostenwoge mit einem breiten Grinsen das Büro betrat.
"Guten Morgen allerseits." grüßte er jovial und warf seinen Hut mit einer gekonnten Handbewegung auf den Ständer. Heinz-Hubert nickte höflich und konzentrierte sich auf seine Arbeit. Er konnte Ostenwoge nicht ausstehen. Wenn sich jemand eindeutig selbst zu wichtig nahm, dann war es dieser Mann mit der eckigen Brille, den Pickelnarben auf den Wangen und dem sorgfältig pomadierten Haar. Doch vermutlich hatte der Patrizier seine Gründe, diesen schmierigen Lackaffen mit dem Posten eines persönlichen Sekretärs zweiter Ordnung zu betrauen, und insgeheim vermutete Heinz-Hubert, dass diese Maßnahme der Abschreckung gewisser Personen diente.
Der Sekretät seufzte leise und tunkte die Feder ins Tintenfass. Gerade als er die Sätze Zu Händen von Rascaal Ohnedurst, Kommandeur der Stadtwache von Ankh-Morpork, Pseudopolisplatz auf einen schlichten Briefumschlag gepinselt hatte, riss ihn Gisbert Ostenwoges Stimme aus seiner Konzentration.
"Sie sehen heute wirklich bezaubernd aus, Fräulein Dollarcent." flötete der schmierige Sekretär lautstark durch das Büro.
Heinz-Hubert zuckte zusammen und nur seine vampirischen Reflexe verhinderten einen Tintenklecks auf dem Umschlag.
"Danke, Gisbert." antwortete Eusebia mit einem in den Augen des reformierten Vampirs wunderschönen scharfzahnigen Lächeln, das ihn schier dahinschmelzen ließ. Gleichzeitig knirschte er mit seinem Gebiss. Warum war sie mit ihm nur per du? Seine Angebetete hatte etwas besseres verdient als diesen Schmierlappen.
"Und, was gibt es Neues bei seiner Exzellenz?" fuhr Ostenwoge im Plauderton fort und Heinz-Hubert konzentrierte sich mit aller Macht auf den Brief an den Kommandeur der Stadtwache. Nicht hinhören, beschwor er sich. Eifersucht führt zur Wut und Wut führt zu uralten Instinkten, die du nicht mehr hast. Du bist ein Mensch. Du bist ein Mensch. Du führst ein ganz normales menschliches Leben. Akten sind das Schönste der Scheibenwelt. Du bist ein Mensch. Du bist ein Mensch...
"Stimmt etwas nicht, Herr Meier?" erklang eine weitere Männerstimme aus der Richtung der Tür.
Heinz-Hubert blinzelte. Am Kleiderständer entledigte sich gerade Jakob Tellerrand, vierter persönlicher Sekretär zweiter Ordnung, seines Mantels.
"Verzeihung. Habe... ich laut geredet?" stammelte Heinz-Hubert.
Auf Tellerrands freundlichem Gesicht erschien ein Lächeln.
"Es muss nicht leicht für Sie sein, dieses neue Leben." sagte er. "Aber Sie machen es wirklich gut. Ich bewundere Sie für ihre Entschlossenheit."
"Danke." antwortete Heinz-Hubert und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Er konnte Jakob Tellerrand gut leiden. Der etwa fünfzigjährige stattliche Mann mit dem grauen, sorgfältig gepflegten Haar und der stets geschmackvollen Kleidung strahlte eine Ruhe und Selbstsicherheit aus die ihresgleichen suchte, und er gab Heinz-Hubert stets das Gefühl, dass er mit seinem Lebensstil auf dem richtigen Weg war.
Mit freundlichem Gruß, Heinz-Hubert Klaus Detlev Horst Meier von Müller-Schulze Schmidt, Sekr. pp. unterschrieb der Sekretär das Schreiben an die Stadtwache und warf einen verstohlenen Blick in Richtung Gisbert Ostenwoge, der still an seinem Schreibtisch saß. Sobald sich Tellerrand im Büro befand, verpuffte die Aufgeblasenheit des anderen zumeist schlagartig. Vermutlich sah der Schmierlappen ein, dass er neben seinem Kollegen als reine Witzfigur erschien. Zufrieden faltete Heinz-Hubert den Brief, schob ihn in den Umschlag und legte ihn in den für den externen Nachrichtenverkehr vorgesehenen Korb.


VALENTINA


Valentina mochte das Gebäude der Anwaltsgilde nicht besonders. Die dunklen holzvertäfelten Wände und die zahlreichen düsteren Porträts berühmter Anwälte schienen Kälte förmlich auszustrahlen. Die junge Frau spürte, wie sich eine Gänsehaut auf ihren Armen bildete. Auch innerlich fühlte sie sich nur leer und kalt. Sie hatte nie geglaubt, dass es möglich war, in so kurzer Zeit von glücklicher Verliebtheit in das tiefe, dunkle Loch der Trauer zu fallen. Als am vergangenen Abend die rothaarige Wächterin auf dem Anwesen erschienen war und die Nachricht vom Tod ihres geliebten Vaters überbracht hatte, war für Valentina eine komplette Welt zusammengebrochen. Zitternd und leise vor sich hinweinend hatte sie der jungen Püschologin zugehört, wie sie mit ruhigen Worten erklärte, dass die Leiche Gregor von Willerforts in den späten Morgenstunden auf dem Dach eines Ladens in der Knackbruchstraße gefunden worden war. Jemand hatte ihm von hinten eine Klinge ins Herz gebohrt.
Insgeheim war Valentina stolz auf sich, im Gegensatz zu ihrer Stiefmutter zumindest halbwegs die Fassung gewahrt zu haben. Perdita von Willerfort war, kaum dass sie vom Tod ihres Gatten erfahren hatte, schreiend und weinend zusammengebrochen und musste schließlich von einer eilig herbeigerufenen Igorina von der Wache ruhig gestellt werden.
Die junge Frau warf ihrer Stiefmutter, die unter einem schwarzen Witwenschleier verborgen neben ihr herschritt, einen finsteren Blick zu. Die Dame des Hauses hatte sich, was das Regeln der Formalitäten betraf, bisher als so nützlich erwiesen wie ein Stück Weißbrot. Es war Valentina gewesen, die Wilko mit einem Terminwunsch für die Testamentsverkündung zur Anwaltsgilde geschickt hatte. Auch eine Nachricht an die Verwaltung des Zentralfriedhofs war bereits abgeschickt. Jemand musste sich um die Dinge kümmern.
Vor der Tür zu Herrn Schrägs Arbeitszimmer rückte Valentina ihr Schleierhütchen zurecht und presste die Lippen aufeinander. Sie ahnte fürchterliches.
Der Gildendiener, der sie geführt hatte, klopfte an und trat in das Zimmer.
"Die Lady Perdita von Willerfort und das Fräulein Valentina von Willerfort." kündigte er an.
"Bitte sie herein." Die Stimme des untoten Anwalts klang nach brüchigem Pergament. Valentina wusste, dass es sich bei Herrn Schräg um einen Zombie handelte, so alt, dass er das Leben ausserhalb der Gesetzeskunde vermutlich mittlerweile vergessen hatte.
"Meine Damen." Die Glieder des Anwalts knirschten leise, als er sich erhob und eine steife Verbeugung andeutete.
"Verehrter Herr Schräg." antwortete die Lady von Willerfort und dem Klang ihrer Stimme nach war sie kurz davor, in Tränen auszubrechen. Valentina begnügte sich mit einem kleinen Knicks, wütend darüber, die Rolle der Untergeordneten spielen zu müssen.
"Setzen Sie sich doch." forderte Herr Schräg sie auf und blickte sie aus seinen triefenden toten Augen an. Während sie der Aufforderung nachkam, hörte Valentina, wie der Gildendiener den Raum verließ und sich die schweren Doppeltüren hinter ihnen schlossen. Ihr fröstelte. Im Büro des Vorsitzenden der Anwaltsgilde brannte kein Feuer und die uralten prunkvollen Möbel erinnerten die junge Frau an die Ausstattung eines djelybebyanischen Grabes.
Der Anwalt räusperte sich. Es klang, als zerrisse jemand ein Blatt Papier.
"Sie sind zu mir gekommen, um der Eröffnung des Testaments Lord Gregor von Willerforts beizuwohnen. Erlauben Sie mir, Ihnen meine Anteilnahme auszusprechen."
Perdita von Willerfort schluchzte unter ihrem Schleier auf.
"Wir danken Ihnen." antwortete Valentina an ihrer statt.
"Das Testament wurde unterzeichnet am achtundzwanzigsten Gruni im Jahre des hinterlistigen Bibers von dem Verfassenden, sowie meiner Person. Der Verfassende hat erklärt, dieses Testament aus freiem Willen und unter Vollbesitz seiner geistigen Kräfte abgelegt zu haben, was keinen Zweifel an der Rechtskräftigkeit dieses Dokumentes erlaubt."
Herr Schräg griff nach dem versiegelten Umschlag, der vor ihm auf der Platte des wuchtigen Nussbaumholzschreibtisches lag. Graue, von mehreren Nähten überzogene Finger brachen das Siegel und zogen ein in der Mitte gefaltetes Blatt Papier hervor. Selbst über Kopf konnte Valentina die schwungvolle sorgfältige Handschrift ihres Vaters erkennen. Im Stuhl neben ihr setzte sich ihre Stiefmutter kerzengerade auf.
Ich weiß genau, worauf du wartest, ging der jungen Frau durch den Kopf.
Da begann Herr Schräg auch schon mit der Verkündung des Testamentes. Valentinas Fingernägel krallten sich in die Lehnen des Stuhles, als der Anwalt die notwendigen rechtlichen Floskeln vorlas. Sie dachte an Hanno, der draußen vor dem Gildenhaus auf sie wartete. Kaum, dass er von der Ermordung ihres Vaters gehört hatte, war er herübergekommen und hatte ihr seine Unterstützung in der schweren Zeit, die nun unweigerlich folgte, angeboten. Doch ihre gemeinsame Zukunft hing vom Testament ihres Vaters ab. Die kratzende Stimme Herrn Schrägs begann, ihr Bewusstsein bis in den letzten Winkel zu füllen.
"Das Anwesen in der Königsstraße, sowie den übrigen Besitz an Grund und Boden, sämtliche beweglichen Güter und alle sich in meinem Besitz befindlichen Anteile des Handelskontors von Willerfort vermache ich meinem Sohn Alfred von Willerfort. Meine geliebte Gattin Perdita von Willerfort soll bis zu ihrem Tode eine jährliche Leibrente von eintausend Ankh-Morpork-Dollar erhalten. Meine Tochter Valentina erhält eine jährliche Leibrente von fünfhundert Ankh-Morpork-Dollar. Dieser Anspruch erlischt zum Zeitpunkt ihrer Eheschließung, wobei sie eine einmalige Mitgift von fünftausend Ankh-Morpork-Dollar erhalten wird."
Selbst unter dem schwarzen Schleier konnte Valentina das Aufflackern des Triumphes in den vom Weinen verquollenen Augen ihrer Stiefmutter erahnen. Wäre sie nicht so wohlerzogen gewesen, hätte sie geflucht wie Adele, wenn diese mit einem besonders hartnäckigen Fleck kämpfte. Ihr verzärtelter Halbbruder war niemals in der Lage, das Geschäft zu führen. Die Nachricht von der Ermordung seines Vaters hatte ihn mit einem Anfall von Atemnot niedergeworfen, von dem er sich laut seiner Mutter bisher nicht erholt hatte, weshalb er der Testamentseröffnung fern bleiben durfte. Es belastet den armen Jungen so sehr, waren ihre Worte gewesen. Valentina warf Herrn Schräg, der gerade die Schlussätze des Testaments verkündete, einen herausfordernden Blick zu, den der untote Anwalt nicht zu bemerken schien. Niemand fragte sie, ob sie etwas zu sehr belastete. Alfred blieb noch seine geliebte Mutter. Sie selbst war nun völlig allein. Sicher, nach dem schicklichen Trauerjahr konnte sie immer noch darauf hoffen, Hanno Gravensteins Frau zu werden, doch alle Hoffnungen, jemals wieder eine vermögende Frau zu sein, konnte sie zusammen mit ihrem Vater begraben. Obwohl sie der erklärte Liebling ihres Vaters gewesen war, hatte dieser immer eine ziemlich konservative Linie vertreten. Alleinstehende Frauen erbten nicht.
"Dies ist mein letzter Wille, und so und nicht anders soll es sein. Unterzeichnet, Lord Gregor von Willerfort." beendete Herr Schräg die Verkündigung des Testaments.
"Wir danken Ihnen." antwortete Perdita von Willerfort mit belegter Stimme. Ihre seidenen Röcke raschelten, als sie sich erhob.
Ein plötzlicher Gedanke schlug gleich einem Blitz in Valentinas Bewusstsein ein. Ihre Stiefmutter hatte gewusst, dass Alfred als Alleinerbe galt, solange sie, nur ein Mädchen, nicht verheiratet war. Ihr Sohn war das Ein und Alles der Lady von Willerfort. Wie weit war sie bereit zu gehen, um seine Ansprüche auf das Familienvermögen zu halten?
Ich danke Ihnen auch, Herr Schräg. dachte Valentina im Stillen. Ich danke Ihnen dafür, dass ich nun klarer sehe.


ROMULUS


Da Hauptmann Humph MeckDwarf wieder einmal durch Abwesenheit glänzte, fand die Abteilungsversammlung von RUM im Büro des stellvertretenden Abteilungsleiters statt. In der Brusttasche von Romulus' Uniformhemd steckte der Brief aus dem Patrizierpalast, von dessen Wichtigkeit ihn der Kommandeur höchstpersönlich vor einer halben Stunde unterrichtet hatte. Der Chief-Korporal musterte die versammelte Truppe. Er hasste es, andere Fälle zurückstellen zu müssen, doch den persönlichen Wünschen des Patriziers handelte man lieber nicht zuwider. Von Hatscha al Nasa wusste er, dass Araghast bereits einen verdeckten Ermittler in die Kaufmannsgilde entsandt hatte, um die dortige Stimmung zu erforschen.
Während er mit knappen Worten die Sitzung eröffnete und kurz den Fall schilderte, ahnte Romulus bereits, dass die Ermordung des Kaufmannes seine Abteilung reichlich auf Trab halten würde. Normalerweise galt, je reicher und angesehener das Mordopfer, desto mehr Verdächtige und Motive gab es. Gregor von Willerfort war sowohl ein erfolgreicher Geschäftsmann als auch von altem Adel gewesen. Und vor allem: Warum bei allen Göttern war die Leiche auf dieses Dach befördert worden?

"Ich glaube, ein ritueller, religiös motivierter Mord kann erst einmal zurückgestellt werden." referierte Frän Fromm wenig später zu letzterem Thema. "Ich habe heute Morgen mit den Okkultismusexperten von SUSI gesprochen, und diesen ist auch keine Religion bekannt, die ihre Menschenopfer auf Dächer wirft."
"Vielleicht war es ein Magier, der die Leiche verstecken wollte und sie mit einem Schwebezauber auf das Dach befördert hat." mutmaßte Rabe Raben.
Schlagartig blickte die versammelte Mannschaft zu Pyronekdan, der gerade ein belegtes Brot auswickelte.
"Äh, ja." Ertappt blickte sich der Zauberer um und ließ sein zweites Frühstück schnell in einer Falte seines Mantels verschwinden. "Möglich wäre es. Aber um eine Masse vergleichbar mit der eines Menschen zu bewegen, ist ein sehr hoher Kraftaufwand erforderlich. Nur ein in Levitationszauberei geübter Magier wäre dazu in der Lage."
"Also heißt das jetzt, dass wir die halbe Belegschaft der Unsichtbaren Universität verhören müssen?" Magane klang alles andere als begeistert. "Ich habe gestern schon die komplette Bewohnerschaft einer Straße verhört, ob jemand mitbekommen hat, wie ein Privatschnüffler erstochen wurde."
"Und wie üblich will niemand etwas gesehen oder gehört haben." bemerkte Kolumbini aus der Ecke bei der Tür. "Alles was ich bisher weiß ist, dass Marloff in irgendwelchen Akten über Gefangene herumgeschnüffelt hat. Was mich so gut wie gar nicht weiterbringt. Und bei der Durchsicht der ganzen Dinge aus seinem Büro könnte selbst ein Anwalt verrückt werden. Das wird noch mindestens bis heute Abend dauern."
Romulus räusperte sich.
"Du bleibst fürs Erste an dem Marloff-Mord dran. Wir anderen sind wohl erstmal genug für die Dachmörder-Ermittlungen."
Kolumbini nickte zufrieden und begann, seine Teeutensilien aus dem MANTEL zu ziehen.

Nach und nach verließen die Abteilungsmitglieder das Büro. Romulus von Grauhaar atmete auf und unterdrückte ein Gähnen. Im Laufe der vergangenen halben Stunde war der Sauerstoffgehalt der Zimmerluft trotz des geöffneten Fensters auf nahezu Null gesunken.
Jetzt gab es nur noch eine Sache zu klären.
"Hauptgefreite Ziegenberger, ich habe noch eine Frage an dich."
Die rothaarige junge Frau, die gerade im Begriff war zu gehen, knickste.
"Ja, Sir?"
"Kennst du dich mit Theaterstücken aus?" fragte Romulus.
Ophelia lächelte höflich.
"Ein wenig, Sir. Die Klassiker habe ich studiert und gelegentlich sehe ich mir auch einmal ein modernes Stück an."
Romulus zog die Postkarte, die in der Fracktasche des ermordeten Gregor von Willerfort gesteckt hatte, hervor und reichte sie seiner Kollegin.
"Sagen dir das Zitat oder das Stück irgend etwas?"
Während sie die Karte las, beobachtete der Chief-Korporal die junge Frau. Weshalb ausgerechnet sie, eine Tochter aus gutem Hause, zur Wache gekommen war, blieb ihm ein Rätsel. Sie knickste, anstatt zu salutieren. Sie kritzelte komische Dinge in ihren Notizblock, wenn sie glaubte, dass keiner sie beobachtete. Sie besaß perfekte Manieren und passte eigentlich gar nicht in den rauhen Haufen der Stadtwächter. Und dennoch bereicherte sie die Abteilung auf ihre eigene Art ungemein.
"Der anzüglich grinsende König ist eine der acht großen Tragödien des Zwergendichters Hwel, Sir." erklärte sie schließlich. "Dies sind acht Theaterstücke, in denen jeweils ein besonders abscheulicher Mord vorkommt. In diesem Stück geht es um einen König, der drei Töchter hat. Zwei von ihnen reißen sich zusammen mit ihren Ehegatten darum, das Reich zu erben und schrecken vor nichts zurück, während die dritte ihrem Vater treu ergeben ist. Es kommt zu einigen hochdramatischen Verwicklungen und am Ende sind beinahe alle Protagonisten aus dem Leben geschieden, wie in jedem Drama von Hwel." Sie seufzte kaum hörbar. "Es ist ein sehr grausames Theaterstück."
"Kommen dort irgendwelche Toten auf Dächern vor?" hakte Romulus nach.
Nach kurzem Nachdenken schüttelte Ophelia Ziegenberger den Kopf.
"Es wird dort vergiftet, hinterrücks gemeuchelt und Augen werden ausgestochen, aber ein Toter auf einem Dach kommt meines Wissens nicht vor, Sir."
"Hm." Romulus rieb sich das stoppelige Kinn. Die vage Theorie eines verrückten Mörders, der nach berühmten Morden aus Theaterstücken tötete, löste sich in Wohlgefallen auf. Das wäre auch zu einfach gewesen, hätte Kolumbini jetzt bestimmt gesagt, wenn er sich noch im Raum befunden hätte. Fred glaubte grundsätzlich nur an das, was er sah. Nur zu gern hätte Romulus ihn beim Fall des ermordeten Kaufmanns dabeigehabt, doch die Leiche des Privatdetektivs lag ebenfalls im Kühlraum von SUSI und verlangte nach Aufklärung seines gewaltsamen Todes.
"Stimmt etwas nicht, Sir?" erkundigte sich Ophelia vorsichtig.
"Nein, alles in Ordnung." antwortete Romulus. "Ich war nur gerade in Gedanken. Danke für deine Hilfe."
"Oh, gern geschehen, Sir." Die Hauptgefreite knickste erneut und als ob sie unterschwellig bemerkt hatte, dass sie entlassen war, verließ sie das Büro.
Romulus begann, seine Pfeife zu stopfen. Hoffentlich fanden Araghast und seine Hunde in der Kaufmannsgilde irgend etwas, das ihn weiterbrachte. Die Familie des Ermordeten musste noch verhört werden, doch Fräns Bericht zufolge schien die Trauer der Angehörigen echt zu sein. Magane kümmerte sich im Laufe des Tages mehr oder weniger unwillig um die Vernehmung der Kontorangestellten, doch der Ermittler glaubte nicht, dort einen dringenden Verdächtigen zu finden. Sein Bauch sagte ihm, dass mehr hinter der Sache steckte. Warum machte sich jemand sonst die Mühe, die Leiche auf ein Dach zu befördern? Es hatte beinahe etwas von einem Ritual. Und wie war von Willerfort überhaupt auf das Dach gekommen? Herr Made von SUSI hatte in einem Anflug von Diensteifrigkeit sämtliche Theorien notiert und mit dem Tatortbericht abgegeben, darunter auch die Theorie des Schwebezaubers. Der Chief-Korporal entzündete seine Pfeife und paffte vor sich hin. In Momenten wie diesem bedauerte er, dass Araghast Breguyar FROG verlassen hatte, um das Boucherie Rouge zu übernehmen. Bregs hatte den verrücktesten Fällen einen Sinn gegeben und selbst als ihn alle außer Kolumbini für verrückt erklärt hatten, war der Fall Dreimal glücklicher Fischimbiss am Ende gelöst worden, auch wenn sich Romulus auf einige Ereignisse im Zuge der Ermittlungen immer noch keinen Reim machen konnte. Der Ermittler zuckte mit den Schultern. Insgeheim gestand er sich ein, dass er ziemlich ratlos war, wo er nun mit seinen Nachforschungen beginnen sollte. Das Schreiben aus dem Patrizierpalast war deutlich genug gewesen. Die Wache sollte gefälligst möglichst schnell Ergebnisse liefern. Vermutlich wusste Lord Vetinari bereits viel mehr über den Mord als die Wache und wollte nur den offiziellen Weg gehen, um nicht als allwissender Tyrann zu gelten. So etwas sah ihm ähnlich.


NYRIA


Kohl...
Mehr Kohl...
Noch mehr Kohl...
Und hin und wieder zur Abwechslung ein Korn- oder Rübenfeld.
Bereits nach zwei Tagen Fußweg hatte Nyria die Sto-Ebene mehr als nur gründlich satt und immer noch schien Ankh-Morpork kaum nähergekommen zu sein. In ihren Augen glich es einem wahren Wunder, dass die Bewohner der armseligen Dörfer entlang der Straße angesichts dieses Panoramas noch nicht dem Wahnsinn verfallen waren.
Mit schräg gelegtem Kopf las sie das schiefe Ortsschild, das wenige Schritte vor ihr auf einem wurmstichigen Pfosten ruhte. Die bereits abblätternde weiße Farbe formte in ungelenken Buchstaben die Worte Kohldorf - Herzogtum Sto Barrat.
Nyria konnte gar nicht anders, als laut loszuprusten. Anscheinend befand sich die Phantasie der Bewohner der Sto-Ebene, was Ortsnamen betraf, auf dem Niveau eines Schimmelpilzes. Dunkel erinnerte sie sich daran, den Namen Sto Barrat einmal während ihrer Schulzeit gehört zu haben, doch die zugehörige Unterrichtseinheit über die wirtschaftlichen Verhältnisse der Sto-Ebene hatte sie zu ihrer großen Erleichterung bereits größtenteils verdrängt. Schulterzuckend passierte Nyria das Ortsschild. Mittlerweile war sie eine erfahrene Scheibenbummlerin. Was kümmerten sie da irgendwelche Probleme lokaler Wirtschaft...
Die Erinnerung an Scheibenbummler im Allgemeinen und ihre letzten Reisebegleiter Karol und Viveka im ganz Besonderen versetzte Nyria einen leichten Stich in der Magengrube und wie schon so oft ereilten sie Zweifel, wirklich das Richtige zu tun.
Jetzt werd endlich erwachsen, Ny, schimpfte sie sich in Gedanken selbst aus und steckte sich eine Zigarette an. Du kannst nicht ewig weglaufen. Sie musste zurück nach Ankh-Morpork.
Kohldorf entpuppte sich als eine Ansammlung armseliger Hütten, die sich rund um eine heruntergekommene Herberge und einen Mietstall drängten. Auf einer Anhöhe in einiger Entfernung stand ein kleines Schloss, über dem eine bunte Standarte wehte Der penetrante Geruch gekochten Kohls stieg in Nyrias sensible Nase und die junge Frau verzog das Gesicht. Beinahe liebevoll dachte sie an die halbe Dauerwurst in ihrem Rucksack, ein Abschiedsgeschenk von Karol und Viveka. Wenn sie Maß hielt, reichte die Wurst zusammen mit dem trockenen Kanten Brot noch für drei weitere Tage.
Mehrere zerlumpte Kinder starrten sie an, als sie über den Dorfplatz schritt und das Wirtshaus geflissentlich ignorierte. Sie hatte ein einziges Mal während ihrer gesamten Existenz vom berüchtigten Kohlbier der Sto-Ebene gekostet und sich danach geschworen, dass es auch das letzte Mal gewesen war. Der Geschmack ähnelte einer flüssigen Version von Schnappers Würstchen.
Plötzlich erklang Hufgeklapper, das schnell lauter wurde. Nyria blieb stehen und sah sich um, insgeheim hoffend, dass es sich um die wöchentliche Postkutsche von Lancre nach Ankh-Morpork handelte. Postkutschen besaßen auf der Rückseite oft eine kleine Ladefläche für Gepäck, und eine wagemutige Person konnte auf diese Weise gut einige Meilen als blinder Passagier mitreisen. Die Kunst bestand darin, im letzten Augenblick vor der Abfahrt aufzuspringen, ohne gesehen zu werden, und sich anschließend gut festzuhalten, um nicht beim nächsten größeren Schlagloch wieder auf der Straße zu landen. Nyria war auf diese Weise durch halb Überwald gereist.
Doch es war nicht die Postkutsche, die schließlich zwischen den Bauernkaten auftauchte. Ein fülliger Mann in prächtigen Kleidern sprengte auf einem feurigen Hengst auf den Dorfplatz, flankiert von zwei ebenfalls berittenen Wachen. Die Kinder stoben schreiend auseinander.
Unwillkürlich wanderte Nyrias Hand zum Griff ihres Degens.
"Durchsucht die Häuser!" befahl der Füllige und zügelte sein Pferd. "Und wenn ihr ihn irgendwo findet, bringt mir auch diejenigen, die ihn versteckt halten - und zwar in Ketten!"
"Zu Befehl, mein Lord." antwortete die größere der beiden Wachen und schwang sich aus dem Sattel. Sein Kollege folgte seinem Beispiel und gemeinsam marschierten sie auf die nächste Hütte zu.
Wachsam ließ der Adelige seinen Blick über den schlammigen Dorfplatz schweifen, bis sein Blick an Nyria hängen blieb.
"He, du!" schnauzte er und kam auf sie zugeritten. "In Namen des Herzogs Elfried von Sto Barrat, Stehen geblieben!"
Nyria zuckte nur mit den Schultern, ließ den Degengriff los und wartete, bis der Reiter bei ihr war. Sie verabscheute diesen Mann jetzt schon, doch ihre Neugierde war geweckt. Alles, selbst sich mit einem aufgeblasenen Landadeligen herumzuärgern, war aufregender als die Aussicht, den Rest des Nachmittags durch weitere endlose Kohlfelder zu wandern.
"Bist wohl fremd hier, was, Bengel?" herrschte der Reiter sie von oben herab an. "Sonst wüsstest du vermutlich, dass der Besitz von Schwertern oder schwertartigen Waffen hier mit dem Abhacken einer Hand bestraft wird."
"Tut mir leid." antwortete Nyria knapp. "Ich stamme aus Ankh-Morpork und kenne mich mit den hiesigen Gebräuchen nicht aus."
"Soso." bekam sie zur Antwort. "Dann sieh zu, dass du so schnell wie möglich wieder dorthin verschwindest. Wir mögen hier keine Fremden."
"Ich werde mich bemühen." gab Nyria zurück und rückte ihren mit Aufnähern von den verschiedensten Orten der Scheibe verzierten Rucksack zurecht. Doch kaum, dass sie sich in Bewegung gesetzt hatte, lenkte der Reiter sein Pferd um sie herum und versperrte ihr den Weg.
"He, was soll das?" beschwerte sie sich. "Sie haben doch gerade gesagt, dass ich verschwinden soll."
Sie konnte gerade noch ausweichen, als der Adelige mit der Reitpeitsche nach ihr schlug.
"Jetzt werd mir hier nicht frech, Bürschchen! Ich bin noch nicht fertig mit dir!"
"Aha." antwortete Nyria nur und unwillkürlich wanderte ihr Blick zur Kehle des Mannes. Sie konnte das Pulsieren seiner Halsschlagader über dem Kragen der Reitjacke deutlich erkennen. Das Pferd begann, nervös zu schnauben, als es ihre Witterung aufnahm.
"Hast du einen Jungen gesehen? Etwa so alt wie du, ein wenig größer, dünn, langes hellbraunes Haar, hört auf den Namen Matthias Kohl?"
"Wieso?" erkundigte sie sich, ohne die Halsschlagader ihres Gegenübers aus den Augen zu verlieren. "Hat er was verbrochen?"
"Das geht dich nichts an, Bengel." fauchte der Reiter und versuchte, sein scheuendes Pferd unter Kontrolle zu halten. "Wenn du von hier wärst, hätte ich dir für deinen mangelnden Respekt vor der Obrigkeit schon längst das Fell über die Ohren gezogen. Also, hast du ihn gesehen? Und hör gefälligst auf, mich so anzustarren!"
Grinsend senkte Nyria den Blick.
"Ich habe ihn nicht gesehen, mein Lord. Wirklich nicht."
Das Pferd tänzelte zur Seite und Nyria nutzte die Gelegenheit, vorbeizuschlüpfen. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie der Adelige verzweifelt versuchte, nicht vom Rücken seines buckelnden Hengstes zu fallen. Das Tier rollte vor Panik mit den Augen. Der Mann schrie noch etwas Unartikuliertes, doch Nyria verstand die Worte nicht mehr, da sie gerade dabei war, Sto Barrat rennend zu verlassen.
Nach einigen hundert Metern hielt sie mitten auf einem Kohlacker an und blickte zurück. Niemand verfolgte sie. Erleichtert aufseufzend ließ sie sich zwischen den überreifen, streng riechenden Kohlköpfen nieder, nahm mehrere tiefe Schlucke aus ihrer Wasserflasche und drehte sich eine Zigarette. So wenig sie sich auch mit ihrer zweiten Existenz anfreunden konnte, hin und wieder hatte sie auch ihre guten Seiten.
Das war also Sto Barrat gewesen. Nicht gerade ein einladendes Plätzchen. Und sie fragte sich, ob der Junge, der scheinbar irgend etwas Schlimmes angestellt hatte, entkommen war. Insgeheim drückte sie ihm die Daumen. Nur zu gern hätte sie gesehen, wie er den ausladenden Mantel des Mannes in Brand steckte, oder was halbwüchsige Jungen hier mitten in der Provinz auch immer so an Schabernack trieben.


KOLUMBINI


"Igor?"
"Ja, Herr?"
"Bring mir den letzten Stapel mit den Sachen aus Marloffs Büro."
"Ja, Herr."
Müde rieb sich Kolumbini das gesunde Auge. Stunden über Stunden hatte er die in einer grauenhaft unleserlichen Handschrift geschriebenen Notizen des ermordeten Archibald Marloff zu entziffern versucht, und zahlreiche Seiten seines Blockes mit eigenen Notizen gefüllt. Falls Wut über eine unerwünschte Enthüllung das Mordmotiv gewesen war, konnte er gleich sämtliche Personen, die Marloff je im Auftrag anderer bespitzelt hatte, auf die Liste der Tatverdächtigen setzen. Privatdetektive gehörten, genau wie Wächter, nicht gerade zu den beliebtesten Bürgern Ankh-Morporks. Kolumbini sah zu, wie Igor den mit Tatortmaterial Teil 5 beschrifteten Karton auf den Schreibtisch stellte und wortlos die bereits durchgelesenen Notizbücher und Aktenordner forträumte. Seine Motivation, weiter nach Indizien zu suchen, war auf dem absoluten Nullpunkt angelangt. Wenn er wenigstens gewusst hätte, wonach er zu suchen hatte, wäre die Sache wesentlich einfacher. Ivonnes Hinweis auf Gefangenenpapiere half Kolumbini auch nicht sonderlich weiter. Die Wache sorgte jährlich dafür, dass hunderte von Personen im Gefängnis, am Galgen oder in der Skorpiongrube des Patrizierpalastes landeten. Die einzige relative Klarheit im Fall Archibald Marloff bestand im Motiv. Jemand wollte entweder nicht, das gewisse Dinge publik wurden, oder wollte sich für die Aufdeckung seiner pikanten Geheimnisse rächen.
Und dann hatte Araghast ihn auch noch zum Trauzeugen ernannt. Kolumbini konnte es immer noch nicht fassen. Ausgerechnet er, der Zyniker und Frauenhasser vom Dienst, sollte mit seiner Unterschrift einer Ehe zur Rechtskräftigkeit verhelfen. Diese Bitte seines Freundes rührte ihn weitaus mehr, als er es je bereit war zuzugeben. Und dazu hatte sich Bregs auch wirklich eine anständige, intelligente Frau ausgesucht. Im Gegensatz zu vielen anderen verstand Kolumbini nur zu gut, weshalb es für den Hauptfeldwebel ausgerechnet das Fräulein Leonata hatte sein müssen. Und er war sich sicher, dass sich die beiden über die Flasche echten zwergischen Whisky, die er als Hochzeitsgeschenk gekauft hatte, sehr freuten.
Wahllos griff Kolumbini in den Karton, welcher größtenteils den Inhalt von Marloffs Papierkorb enthielt, und packte ein Bündel zerknüllten Papiers. Nach einem Schluck mittlerweile lauwarmen Tees glättete er das erste Blatt, das aussah, als sei es aus einem Notizbuch herausgerissen worden, und begann zu lesen.

Keine Notiz betr. I. M. in Liste zu finden. Versucht, H. ausfindig zu machen, doch H. bereits verstorben. Akten Sondergruppe Ankertaugasse ---> Wache? Sondergruppe wurde vor 20 Jahren aufg

Der Rest der Tintenschrift war durch einen bräunlichen Fleck unleserlich geworden, doch Kolumbini genügte der vorhandene Text, um seine Motivation wieder in Schwung zu bringen. Still dankte er dem verstorbenen Marloff für das Verschütten der Flüssigkeit. Von einer Person mit den Initialen I. M. war in keiner anderen Notiz oder Akte die Rede gewesen, und der Privatdetektiv hatte sich bisher als äusserst penibler Buchführer erwiesen. Doch vor allem die Erwähnung der Wache ließ ihn mit dem Fingerknöchel sein Glasauge bearbeiten. Wie jeder Wächter kannte er die Geschichte der Sondergruppe Ankertaugasse, die als Geheimpolizei für frühere Patrizier gearbeitet hatte und erst von Lord Vetinari aufgelöst worden war.
Und er beschloss, am kommenden Morgen den hinteren Ecken des Archivs einen Besuch abzustatten.


ROMULUS


Während Kolumbini in seinem Büro saß und mit frischem Elan den Inhalt von Archibald Marloffs Papierkorb sortierte, schlurfte Romulus von Grauhaar durch die dämmrigen Straßen Ankh-Morporks. Die Aussagen der Familie von Willerfort lagen ihm schwer im Magen und er beschloss, einen Abstecher in den Eimer zu machen. Er hatte sich sein Feierabendbier wahrlich verdient, bevor er in seine Wohnung zurückkehrte und eine weitere schlaflose Nacht mit lautstarker Musikbegleitung
verbrachte.
Während er seine Schritte der Stammschenke der Stadtwache entgegenlenkte, bedauerte der Chief-Korporal, dass es ihm ziemlich unmöglich war, einen verdeckten Ermittler unauffällig in das Haus der von Willerforts einzuschleusen. Das einzige was er tun konnte war eine Bitte an die Hauptgefreite Ziegenberger, unauffällig die Beziehungen ihrer Familie ein wenig spielen zu lassen. Die häusliche Trauerfeier für den ermordeten Kaufmann war auf den kommenden Tag angesetzt. Romulus lächelte grimmig, als er die Tür des Eimers aufzog und ihm ein Schwall warmer, mit Bieraroma geschwängerter Luft entgegenschlug. Hin und wieder konnte es durchaus nützlich sein, eine Dame aus der städtischen Gesellschaft in der Abteilung zu haben.
Der Chief-Korporal ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und erspähte zu seinem leisen Bedauern keinen seiner wenigen Freunde. Mehrere SEALS saßen an einem Tisch und diskutierten lautstarküber neue Möglichkeiten der Vorfahrtsbestimmung an der Kreuzung von Sirupminenstraße und Ulmenstraße. Zwei Tisch weiter trösteten zwei Rekruten einen sichtlich geknickten Kollegen. Romulus seufzte leise und setzte sich allein an einen ruhigen Ecktisch. Umständlich begann er, seine Pfeife zu stopfen.
"Das Gleiche wie immer?" fragte Herr Käse wenig später und der Chief-Korporal nickte nur. Paffend breitete er seine Verhörnotizen vor sich aus und begann, sie in handliche Stücke zu zerreißen und auf der verschrammten Tischplatte hin- und herzuschieben.
Alfred von Willerfort war lediglich ein von seiner Mutter verhätschelter Junge, aus dem vor lauter Tränen und einem Anfall von Atemnot nicht viel herauszubekommen war. Seine Mutter hatte das Verhör ziemlich energisch und unter Tränen beendet und den Ermittler dazu noch ausgeschimpft, wie er es auch nur wagen konnte, den armen Jungen dermaßen zu bedrängen. Romulus schob die mit Alberts nichtigen Aussagen beschrifteten Papierschnipsel an den Rand des Tisches. Der Junge war viel zu verweichlicht, um an so etwas wie einen Mord auch nur zu denken.
Der Blick des Ermittlers wanderte zu einem in der Mitte der Zettelanordnung liegenden Schnipsel, der deutlich die Aufschrift Testament trug. Der schwächliche Albert war von seinem Vater zum Alleinerben des Familienbesitzes bestimmt worden. Diese Tatsache war seiner Schwester Valentina ziemlich sauer aufgestoßen, und sie hatte während des Verhörs kein Hehl daraus gemacht, dies zu verbergen. Ihre Andeutungen, dass sie im Fall einer Heirat Aussichten auf zumindest das Geschäft gehabt hätte, waren ziemlich direkt gewesen. Als erfahrener Ermittler hatte Romulus gespürt, dass sie insgeheim ihre Stiefmutter, die Lady von Willerfort, des Mordes verdächtigte. Zudem liebte Valentina einen jungen mittellosen Kaufmannsgildenangestellten namens Hanno Gravenstein, auf den ihr Vater sehr große Stücke gehalten hatte.
Romulus kratzte sich an der bärtigen Wange. Perdita von Willerfort besaß also durchaus ein Motiv, ihren Ehegatten zu ermorden. Ihre Fürsorge für ihren Sohn schien beinahe grenzenlos, und schon weitaus geringere Vermögen als der Besitz der Familie von Willerfort hatten anständige Bürger zu heimtückischen Mördern ihrer eigenen Angehörigen werden lassen.
Doch der Chief-Korporal konnte sich eine Frau wie die Lady nur sehr schlecht dabei vorstellen, ihren Gatten hinterrücks zu erstechen und seine Leiche anschließend, wie auch immer, auf ein Dach zu befördern. Einen scheinbar natürlich wirkenden Giftmord traute er der sich nahe an der Grenze zur Hysterie befindlichen Dame ohne Weiteres zu, doch die Umstände der Ermordung von Willerforts sprachen eine völlig andere Sprache. Und dennoch, es gab zumindest eine Person, die vom Ableben des Kaufmannes profitierte. Zudem bestand immer noch die Möglichkeit, dass die Dame auf gedungene unlizenzierte Mörder zurückgegriffen hatte.
Fest stand bis jetzt lediglich, dass von Willerfort zusammen mit seiner Familie vom Ball des Barons von Offlerberg heimgekehrt war, jedoch, als sich seine Gattin bereits zu Bett begeben hatte, noch mit der Begründung, einen Schlummertrunk einzunehmen, im Wohnzimmer verblieben war. Seiner Kleidung und dem Inhalt seiner Taschen nach zu schließen hatte das Opfer anschließend das Haus noch einmal verlassen und war laut des Obduktionsberichtes zwischen drei und vier Uhr in der Frühe ermordet worden. Niemand im Haushalt hatte ihn gehen sehen, oder eine Ahnung gehabt, weshalb er sich in den späten Nachtstunden noch draußen herumgetrieben haben könnte. Romulus nahm einen kräftigen Zug aus seinem frisch gezapften Bier, das ihm Herr Käse wortlos serviert hatte. Er griff in die Tasche seines grauen Mantels und holte die Postkarte hervor, die in den Kleidern der Leiche gesteckt hatte.
"Denn die Straße zur Verdammnis ist lang, und ihr Ende liegt verloren in der Dunkelheit..." sagt er halblaut vor sich hin. Bisher hatte ihn die Karte kein bisschen weitergebracht. Weder hatte jemand der von Willerforts etwas damit anfangen können, noch hatte der Ermordete ein übermäßiges Interesse an Hwels Theaterstücken gezeigt.
Nicht nur das Ende der Straße zur Verdammnis lag irgendwo in der Dunkelheit, sondern auch das Ende der Ermittlungen. Romulus wagte nicht einmal zu hoffen, dass Magane von den Kontorangestellten nützliche Hinweise erhalten hatte. Dazu saß ihm auch noch der Patrizier höchstpersönlich im Nacken und erwartete Ergebnisse. Und zu guter Letzt hatte er absolut keine Ahnung, was er Araghast und seiner Braut zur Hochzeit schenken sollte.


ARAGHAST


Die Nudeln mit der Eier-Schinken-Soße schmeckten, wie Araghast mit Stolz feststellte. Vielleicht wurde aus ihm eines Tages ja doch noch ein halbwegs annehmbarer Koch. Zufrieden wickelte er eine Portion brindisianischer Spaghetti um seine Gabel.
"Übrigens, heute ist ein neuer Schüler im unteren Kaufmannsgildenkurs dazugekommen." erzählte ihm Leonata über den Tisch hinweg. "Er wusste einiges vom Stoff der höheren Klassen und meinte, mich und die anderen Schüler damit beeindrucken zu müssen."
Der Hauptfeldwebel lächelte.
"Wie sah er aus?" erkundigte er sich. "Groß, blond, trug einen schwarzen Ledermantel über dem Anzug und eine Sonnenbrille?"
"Genauso." antwortete Leonata. "Ich musste ihn deutlich auffordern, diese lächerliche Brille doch bitte abzunehmen. Woher kennst du ihn? Hat er irgendwas verbrochen?"
Araghast lachte leise.
"Patrick Nichts, verdeckter Ermittler. Ich habe ihn in die Gilde geschickt, damit er sich wegen des toten Kaufmanns mal umhört. Bisher scheint RUM nicht den leisesten Schimmer zu haben, wer den alten Pfeffersack umgelegt hat."
"Gregor von Willerfort." Leonata schien durch die Küchenwand in unbestimmte Fernen zu blicken und eine steile Falte bildete sich zwischen ihren Augenbrauen. "Weißt du, Bregs, ich kannte ihn ein wenig. Gewissermaßen. So wie ein fünfjähriges Mädchen nun einmal jemanden kennt. Hin und wieder hat er meinen Vater besucht und wenn ich Glück hatte, bekam ich eine Lutschstange von ihm. Dann tätschelte er mir immer den Kopf und sagte, was für ein schönes Mädchen ich doch sein würde, wenn ich einmal groß bin. Nach dem Tod meiner Eltern habe ich ihn allerdings nie wiedergesehen." Sie zuckte mit den Schultern. "Und nun wurde er ermordet und auf ein Dach geworfen. In der Kaufmannsgilde war es heute das Gesprächsthema Nummer eins und die Assassinen haben fleißig gerätselt, wie der Täter die Leiche wohl auf das Dach bekommen hat. Sie waren ziemlich verärgert. Knabenlieb aus der sechsten Klasse meinte zu einem seiner Freunde, von Willerfort hätte mit vierzigtausend Dollar auf der Liste gestanden."
Araghast stieß einen Pfiff aus. "Vierzigtausend. Kein Wunder, dass der Mörder lieber selbst Hand angelegt hat." Er sah zu dem Topf auf dem Küchenschrank. "Glücklicherweise liegt Farrux nur bei zehntausend."
"Und das ist immer noch mehr als genug." seufzte Leonata. "Leider geben die Assassinen keinen Angestelltenrabatt."
"Wenn sie wenigstens ihre Quittungen halbwegs ordentlich ausfüllen würden." bemerkte Araghast und kratzte den letzten Rest Soße vom Teller. "Die Hauptgefreite Krulock hat manchmal Wische zu überprüfen, die eher Ähnlichkeit mit einem Stück Abortpapier als mit einer anständigen Quittung haben. Du kannst nicht zufällig dafür sorgen, dass es irgendwo einen Kurs im anständigen Aufbewahren und Ausfüllen von Quittungsformularen gibt?"
Lachend schüttelte Leonata den Kopf.
"Als Nichtgildenmitglied kann ich da leider nichts bewirken. Ich kann die Schüler nur dazu anhalten, ordentlicher zu schreiben."
Araghast legte das Besteck beiseite.
"Ich kann es immer noch nicht wirklich fassen, dass du freiwillig bei diesem Verein arbeitest. Ich kann diese verdammten Mistkerle nicht ausstehen mit ihrem überheblichen Gehabe und ihrer verqueren Moral. Außerdem ist mir da entschieden zu viel Gift im Umlauf. Hoffentlich kommt keiner deiner Schüler auf dumme Ideen, wenn du mal schlechte Noten verteilst. So ganz geheuer ist mir die Sache nicht."
"Auf die Inhumierung eines externen Lehrers steht eine sehr endgültige Entlassung aus der Schule." erklärte Leonata geduldig. "Und außerdem," ein schelmisches Lächeln huschte über ihr Gesicht, "würde ich sagen, dass dein Posten bei FROG auch nicht gerade ungefährlich war. Glaub nicht, ich hätte mir keine Sorgen gemacht. Wenn ich an die ganzen Toten denke - diese Gold Moon zum Beispiel."
Araghast war ihr unendlich dankbar, dass sie Charlotta nicht erwähnte. Er schob sich den letzte Portion Soße in den Mund und legte den Löffel auf den Teller.
"Wie viel Kraft wäre nötig, um von Willerfort von Straßenhöhe auf das verdammte Dach zu werfen?" fragte er, nachdem er geschluckt hatte.
"Es kommt darauf an, wie viel er gewogen hat und wie hoch das Dach ist." antwortete Leonata.
Araghast zuckte mit den Schultern. "Sagen wir mal, zwei Stockwerke und etwa 100 Kilo Gewicht."
Seine Braut überlegte kurz.
"Um von Willerfort in den zweiten Stock zu werfen, würde schon mindestens ein sehr starker Troll gebraucht." erklärte sie schließlich. "Wenn nicht sogar zwei."
Nachdenklich rieb sich der Hauptfeldwebel das Kinn. Ihm kam ein Gedanke.
"Trolle." sagte er. "Wer weiß, vielleicht hat von Willerfort irgendwelche Geschäfte mit Chrysopras' Bande gemacht und etwas ist schiefgelaufen. Die Sache mit dem Dach könnte eine neue Masche der Trollmafia sein." Er seufzte. "Ich werde morgen mal irgendwen drauf ansetzen. Unsere beiden Molosse sind schon seitdem ich Abteilungsleiter von DOG bin nicht mehr zum Dienst erschienen. Aber ich denke, Patrick Nichts wird sich der Herausforderung 'Brekzie' mit Vergnügen stellen."



Püscho 2


Die Uhr über dem Tresen zeigte fünf vor sieben, als Araghast das Wachhaus am Pseudopolisplatz betrat. Zwei nervöse Rekruten sahen bei seinem Eintreten panisch auf und entspannten sich sogleich. Der Hauptfeldwebel verkniff sich ein Grinsen und steuerte ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen auf die Treppe zu.
Die dritte Stufe von unten knarrte immer noch, sobald man weit genug an den rechten Rand trat, stellte er auf seinem Weg nach oben fest. Wie oft in seinem Leben mochte er schon über diese Stufe gelaufen sein? Tief atmete er die vertraute Duftmischung aus Aktenstaub, Metallpolitur und Kaffee ein und fühlte sich bei jedem Schritt den er tat mehr und mehr wie ein Seeriesender, der nach langer Fahrt in den heimischen Hafen zurückkehrte.
Im zweiten Stock angekommen bog er rechts ab und passierte das Büro der Fernwaffenexperten, sich eingestehend, dass er keine Ahnung hatte, wer zur Zeit dort residierte. Eine scharfe Biegung nach links brachte Araghast in den Flur in dem die Püschologenbüros lagen. Vor der Tür von Püscho 1, wie das inoffizielle Kürzel für den Raum lautete, blieb Araghast stehen und las das Namensschild.
Nyvania befand sich noch im Dienst, stellte er fest, und sie hatte zur Zeit sogar eine Auszubildende, eine gewisse Sayadia Trovloff. Schulterzuckend wandte er sich ab und wanderte weiter zur zweiten Tür des abgeschiedenen Korridors. Sie war unbeschriftet und stand einen Spaltbreit offen.
"Danke, Kanny." sagte Araghast beinahe unhörbar und stieß die Tür mit dem Fuß auf. Seine Freundin und zukünftige Abteilungsleiterin schien geahnt zu haben, dass er nicht gern mit jemandem sein Büro teilte.
Hell fiel das Morgenlicht durch das Fenster in der rechten Wand und beleuchtete einen schlichten, mit Gebrauchsspuren übersäten Schreibtisch und den ebenso einfachen Stuhl dahinter. Der Hauptfeldwebel trat ein, durchquerte den Raum und stellte seinen Karton auf dem Tisch ab. Anschließend musterte er den Raum gründlich.
Auf Schreibtisch und Stuhl, sowie auf dem Wandregal, der Fensterbank und dem kleinen Ofen in der Ecke lag eine feine Staubschicht. Offenbar stand das Büro schon länger leer. Araghast erinnerte sich daran, das Zimmer während seiner Abteilungsleiterzeit zuletzt als Lagerraum für allerlei Ausrüstung genutzt zu haben.
"Tja, da bin ich wieder." stellte der Hauptfeldwebel fest, griff in seinen Karton und entnahm ihm eine beinahe volle Flasche Rum. Er zog den Korken und prostete der halb offen stehenden Tür zu. "Auf mein neues Büro. Und auf dass dieses Mal hoffentlich keiner auf die Idee kommt, mich mit einer Sitzblockade absägen zu wollen!"
Ein humorloses Lächeln stahl sich auf seine schmalen Lippen, als er die Flasche zum Mund führte und seine Erinnerungen zum wiederholten Mal an diesem Tag um ein Dreivierteljahr zurückwanderten.


Tag 4 - Wege die sich trennen


ARAGHAST


"Wo ist Crunkers?"
Lieselotte zuckte mit den bloßen, milchweißen Schultern.
"Ich weiß es nicht." sagte sie. "Sonst sitzt er immer hechelnd unten an der Treppe. Ich weiß nicht, was du mit ihm angestellt hast, aber er scheint dich wirklich zu mögen."
"Tiere mögen mich komischerweise meistens." antwortete Araghast. "Was ich von Menschen oft nicht gerade behaupten kann. Mit diesem komischen Hausmeister habe ich es mir gleich am ersten Tag verscherzt, Picardo kann mich sowieso nicht leiden und beim Rest der Truppe habe ich als ehemaliger FROG wahrscheinlich sowieso einen schweren Stand. Aber was solls. Ich bin es gewohnt, dass andere mich nicht mögen. Immerhin mag ich die meisten anderen Leute auch nicht besonders."
"Wir im Erdgeschoss mögen dich lieber als Picardo, Bregs." sagte Lieselotte. "Du rennst wenigstens nicht schreiend vor uns weg, sobald wir dich mal ärgern."
Araghast grinste schief. "Ich bin Frauen, die mich ärgern, gewohnt. Meine eigene kann es einfach nicht lassen, mir jeden Morgen viel Spaß mit euch zu wünschen."
"Und, was antwortest du ihr?"
"Dass ich mich schon prächtig mit euch amüsiere."
"Soso, so einer bist du also." Lieselottes rot lackierter Zeigefinger schwang vor seiner Hakennase hin und her. "Eigentlich schade, dass du heiratest. Du hast etwas, was andere Leiter dieser Abteilung bisher nicht hatten."
Immer noch grinsend klopfte Araghast gegen seine Augenklappe.
"Arrrr." knurrte er und Lieselotte brach in schallendes Gelächter aus.
"Weißt du, seitdem ich dich kenne, habe ich mir überlegt, auch mal so eine Augenklappe anzuschaffen." kicherte sie. "Das eröffnet dem Rollenspiel völlig neue Möglichkeiten. Sag mal, du willst mir nicht zufällig mal deine ausleihen?"
"Du willst nicht wirklich sehen, wie die leere Augenhöhle dahinter aussieht." antwortete Araghast trocken. "Nicht sehr schön, das kann dich dir sagen. Und das Gefühl, zu spüren, wir einem jemand sein Messer ins Auge rammt und die plötzliche Erkenntnis, für den Rest seines Lebens auf einem Auge blind zu sein, ist noch viel weniger schön."
Lieselotte seufte. "Warum musst du immer plötzlich so ernst werden?"
"So bin ich halt. Und das ändert immer noch nichts an der Tatsache, dass Crunkers nicht da ist, wo er eigentlich sein sollte."
"Er ist ein Tier. Und wer weiß schon, was ein Tier denkt."
"Crunkers ist nicht dumm. Er weiß genau, dass ich meistens irgendeine Kleinigkeit für ihn mitgebracht habe. Und deswegen sitzt er jeden Morgen hier."
"Dann viel Spaß beim Lösen des Rätsels." wünschte ihm Lieselotte und versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken.
"Gute Nacht." sagte Araghast. "Beziehungsweise Guten Morgen."
Nachdenklich sah er der Näherin nach, wie sie in ihrem Zimmer verschwand. Irgend etwas stimmte nicht, das spürte er in seinen Knochen. Wo steckte der verdammte Hund?
Auch im Flur des ersten Stockes war nicht ein einziges Schwanzhaar vom Maskottchen der DOG zu sehen.
Und die Tür zu seinem Büro stand einen Spaltbreit offen...
Araghast zog sein Entermesser. Sicher war sicher. Wenn die Tür nicht wieder geschlossen war, hielt sich ein potentieller Einbrecher in den meisten Fällen noch im Zimmer auf. Auf leisen Sohlen näherte sich der Hauptfeldwebel dem Drunter und Drüber, während er innerlich mit den Zähnen knirschte. Wer bei allen Geschöpfen des Pandämoniums hatte es gewagt, in sein Büro einzubrechen?
Ein letzter Schritt und Araghast stand mit dem Rücken an die Wand gedrückt neben der Tür seines Büros. Erinnerungen an die langen Jahre bei FROG kamen in ihm hoch. Beinahe automatisch nahmen Valdimier van Varwald und der schon vor langer Zeit verschwundene Werwolf Sidney vor seinem inneren Auge Gestalt an, wie sie mit entsicherten Pistolenarmbrüsten neben ähnlichen Türen standen und auf das Zeichen des Einsatzleiters warteten. Araghast selbst war oft derjenige gewesen, der eben dieses Zeichen gegeben hatte. Und nun stand er hier im Flur des ersten Stockes des Boucherie Rouge vor seiner eigenen Bürotür und konnte nur hoffen, dass er beim Stürmen nicht sofort einen wohlgezielten Bolzen zwischen die Augen bekam. Natürlich konnte er um Hilfe bitten, doch diese Blöße wollte er sich nicht geben. Dies hier war ein Wachhaus, zumindest ein inoffizielles.
Und er, Hauptfeldwebel Araghast Breguyar, Abteilungsleiter der Dienststelle zur Observierung von Gildenangelegenheiten, ließ es sich nicht so einfach bieten, dass jemand seine Bürotür geknackt hatte, um seine Geheimnisse und vermutlich auch die Rumflasche in der untersten Schreibtischschublade auszuspionieren. Er hatte die Schnauze endgültig voll von Leuten, die in seinen ureigenen Angelegenheiten herumschnüffelten. Wer auch immer da es geschafft hatte, vor den Augen einer gesamten Abteilung der Stadtwache Ankh-Morporks in sein Büro einzubrechen, zumindest ein paar Tritte in den Allerwertesten waren ihm sicher.
Drei... zählte Araghast in Gedanken rückwärts. Zwei... Seine rechte Hand schloss sich fester um den Griff des Entermessers, während die Linke die Stelle seiner grauen Uniformjacke berührte, wo auf der Innenseite das alte FROG-Abzeichen eingenäht war. Eins...
Jetzt!

Ein kräftiger Tritt des Hauptfeldwebels, und die Tür schlug krachend gegen die Wand des Abteilungsleiterbüros. Araghast sprang mit einem Satz ins Zimmer, spürte keine Waffen auf sich zurasen, drehte sich blitzschnell um seine eigene Achse und hechtete hinter der nun weit offen stehenden Tür in Deckung.
Dann erlaubte er sich eine schnelle Musterung des Raumes.
Ein meckerndes Lachen aus der Richtung des Schreibtisches lenkte Araghasts Aufmerksamkeit auf sich und was er dort sah, ließ ihn in einer plötzlichen Welle des Zorns die Zähne zusammenbeißen.
In seinem zur Zeit höchsteigenen Bürostuhl, die Füße lässig auf die Schreibtischplatte gelegt und genüsslich an einer Möhre knabbernd, saß niemand anderes als Fähnrich Robin Picardo und schien sich köstlich zu amüsieren. Das schwarze Tuch, das den Spiegel über dem Kamin verhüllt hatte, lag in einem Haufen zerknitterten Stoffes am Boden.
"Was willst du hier?" fauchte Araghast, trat aus seiner Deckung und steckte sein Entermesser weg. "Warum bist du in mein Büro eingebrochen, Picardo?"
Der Fähnrich grinste hämisch. Möhrenstücke klebten an seinen Zähnen.
"Dein Büro? Ich habe diese Abteilung länger geleitet als du deinen grünen Quaker, und du redest von deinem Büro?"
Araghast baute sich vor dem Schreibtisch auf.
"Jetzt ist es mein Büro." antwortete er mit gezwungener Ruhe, während es ihn in beiden Händen juckte, dafür zu sorgen, dass sich sein Gegenüber für den Rest seines Lebens nur noch von Suppe ernähren konnte. "Und wenn du damit ein Problem hast, dann geh eine Runde heulen. Aber erst verzieh dich aus meinem Schreibtischstuhl! Und wo hast du Crunkers gelassen?"
"Den habe ich weggesperrt." Ein weiteres Stück Möhre verschwand in Robin Picardos Mund. "Eine Schande, wie schnell du den Hund mit deinen kleinen Tricks auf deine Seite bekommen hast, Breguyar. Du gehörst nicht hierher. Diese ganzen Leistungstests, deine dämlichen Vorstellungen von Zucht und Ordnung - das brauchen wir hier nicht. DOG braucht keinen ehemaligen FROG und auch seine Methoden nicht. Verschwinde dahin, woher du gekommen bist. Hoffentlich kapierst du endlich, dass man dich hier nicht haben will."
"Mich schert es einen Dreck, ob ich hier gemocht werde oder nicht." gab Araghast zurück. "Du bist jedenfalls hier und jetzt in diesem Büro nicht erwünscht. Soll ich dich nochmal extra daran erinnern, dass du den Abteilungsleiterposten vor einigen Monaten völlig freiwillig einfach so hingeschmissen hast? Ich befehle dir hiermit, Leine zu ziehen, und zwar plötzlich!"
Robin Picardo kicherte nur.
"Du kannst mir gar nichts befehlen. Ich bin hier der Fähnrich, und du bist nur Hauptfeldwebel. Wurdest wohl nicht mal für gut genug befunden, um Offizier zu werden, was? Ich bleibe hier so lange sitzen, wie es mir gefällt, Breguyar. Und du wirst nichts dagegen machen können."
Araghasts Auge verengte sich zu einem Schlitz. Er würde Picardo einen Deckzettel verpassen, den dieser nie vergaß.
"Warts nur ab. Ich habe die Schnauze endgültig voll von dir und deinen verdammten Schikanen." sagte er kalt und verließ das Drunter und Drüber.
Als Araghast über den Flur stapfte und den Weg zum zweiten Stock einschlug, glaubte er felsenfest, die Blicke seiner Untergebenen durch Schlüssellöcher und Türschlitze hindurch zu spüren. Früher oder später bekam er heraus, wer alles hinter diesem versuchten Staatsstreich steckte. Und diejenigen konnten sich auf wirklich interessante Zeiten gefasst machen.
Die Außentreppe wackelte leicht, als Araghast die Stufen hinaufstapfte und die erwachende Stadt mit einem bösen Blick bedachte. Der Hauptfeldwebel ballte die freie Hand zur Faust. Und er war doch tatsächlich kurzfristig so naiv gewesen zu glauben, mit dem Abteilungswechsel würde alles besser werden. Doch letztendlich hatte er lediglich einen schnüffelnden Valdimier van Varwald gegen einen intrigierenden Robin Picardo ausgetauscht. Und DOG leerte sich mehr und mehr...
Araghast konnte sich gerade noch zurückhalten, der TK-Anlage einen gehörigen Tritt zu verpassen.
"Spitzschuh!" schallte seine geübte Kommandostimme einen Augenblick später durch die zweite Etage des Boucherie. "Komm sofort her und bring mir was zu schreiben mit!"
Und wie um seine Worte zu unterstreichen, schmetterte der Hauptfeldwebel die Terrassentür mit aller Kraft hinter sich ins Schloss. Selbst wenn das Krachen die Näherinnen im Erdgeschoss aufweckte, in diesem Moment war Araghast alles egal. Sein gesamtes Denken war darauf ausgerichtet, Picardo eins reinzuwürgen, und zwar kräftig. Tief in seinem Inneren rieb sich sein vampirisches Selbst die metaphorischen Hände.
"Ja, Sör?" Der Gefreite Spitzschuh salutierte zackig. "Seramis möge diesen Tag..."
"Halts Maul!" schnauzte Araghast den Kommunikationsexperten in Ausbildung an. "Ich werde jetzt eine Nachricht an das Wachhaus am Pseudopolisplatz schicken, die verflucht eilig ist. Und wenn ich heute noch eine einzige Lobpreisung an deine komische Göttin höre, sorge ich dafür, dass du wieder zum Rekruten degradiert wirst!"


HEINZ-HUBERT


"Und, was hat seine Exzellenz uns heute gegeben, Jakob?" erkundigte sich Fräulein Dollarcent bei dem eintretenden Persönlichen Sekretär zweiter Klasse Tellerrand.
Heinz-Hubert war froh, dass unter seiner orangefarbenen Schminke niemand das Erröten seiner kreidebleichen Wangen bemerkte. Schnell beugte er sich über die Übersicht des neuen Aktenablagesystems, das er während des vergangenen Arbeitstages entworfen hatte. Zahlen und organisierte Ordnung waren sein Ein und alles und das sorgfältig gezeichnete komplizierte Organigramm, welches beinahe seine komplette Schreibtischplatte bedeckte, verursachte ein wohliges Gefühl der Befriedigung in seiner Magengrube. Ordnung und klare Regeln seien für seine neue Existenz von äußerster Wichtigkeit, hatte sein Püschologe ihm gesagt, und Heinz-Hubert hatte ihn beim Wort genommen. Ein reformierter Vampir brauchte eine Ersatzbefriedigung und er hatte sie im Zählen und Ordnen gefunden.
"Ich will mich ja nicht beschweren, aber irgendwie ist es kalt hier drin." jammerte Gisbert Ostenwoge hinter seinem Schreibtisch. "Vielleicht war es doch keine so gute Idee, meinen neuen Keuchhust-Seidenanzug ausgerechnet heute auszuführen."
"Oh, das ist ein echtes Keuchhust-Modell?" fragte Fräulein Dollarcent bewundernd.
"Natürlich." Aus den Augenwinkeln konnte Heinz-Hubert sehen, wie Ostenwoge seiner angebeteten Eusebia ein breites Grinsen schenkte. "Aus achatener Seide. Er hat ein Vermögen gekostet, doch das war es mir wert. Weißt du, ein Mann meiner Position muss gewissen Ansprüchen genügen, auch was sein Äußeres betrifft."
Während er den aufdringlichen Prunk der Kleidung seines Kollegen verstohlen musterte, ertappte sich Heinz-Hubert bei dem Gedanken, Ostenwoge einmal zeigen zu wollen, was wirklicher, über mehrere Jahrhunderte angeeigneter Stil bedeutete. und dazu zählten ganz bestimmt keine blasslila Dreiteiler aus Wildseide mit hellgrüner Halsbinde.
"Ich weiß nicht, welche Ansprüche Sie an den guten Geschmack stellen, aber meiner Meinung nach ist Ihr gutes Stück ein wenig, nun ja, überladen." mischte sich Jakob Tellerrand ein, der gerade schwungvoll einen dicken Aktenordner auf seinen Schreibtisch wuchtete. "Der Anzug ist modisch, daran hege ich keinerlei Zweifel. Aber die Mode ändert sich schnell."
Er nickte Heinz-Hubert zu.
"Aber wenn ich es mir recht überlege, ist es wirklich ein wenig kühl hier. Der Herbst ist früh gekommen in diesem Jahr."
Der Vampir verstand diesen Wink und erhob sich. Tellerrand verstand, dass sich normale menschliche Betätigungen positiv auf seine Nerven auswirkten und delegierte solche Aufgaben freundlich, aber bestimmt an ihn. Mit gebeugtem Rücken, wie es die goldenen Regeln des Uncoolseins der Wirklich-Mensch-sein-Front vorschrieben, schlurfte Heinz-Hubert zum Kamin, tief in Gedanken versunken. Gisbert Ostenwoge ließ keine Gelegenheit ungenutzt, das Fräulein Dollarcent zu beeindrucken, und er selbst war immer noch zu schüchtern und gehemmt, sie auf einen Kaffee einzuladen. Vielleicht sollte er wirklich mit seinem Püschologen über diese Angelegenheit reden.
Die Kohlen klapperten leise, als sie in den Kaminofen rieselten. Zufrieden mit seinem Werk schob Heinz-Hubert zerknülltes Papier zwischen die Briketts und riss ein Streichholz an, das er auf seinen sorgfältig aufgeschichteten Haufen fallen ließ. Sofort fing das Papier Feuer und das Innere des Ofens wurde in goldgelbes Licht getaucht.
Und gerade als er die Ofenklappe schließen wollte, sah Heinz-Hubert das halb verbrannte kleine ledergebundene Buch. Sein Gebiss fiel ihm beinahe aus dem Mund. In seiner früheren Existenz hatten ähnliche Büchlein oft auf den Nachttischen junger Damen gelegen, die er... Nein, er wollte nicht daran denken. Seine Vergangenheit, in der er ein Schloss in der Nähe von Klein-Kleckersdorf in Überwald besessen und den Namen Boroslav Constantius Ignifaz Stanislav Arturo Tremadoc von Ashgill-Namur Serpukhov getragen hatte, war aus und vorbei. Nichts als das Hier und Jetzt zählte. Hatte seine verehrte Eusebia etwa ihr Tagebuch verbrannt? Heinz-Huberts Hand schoss vor und mit vampirischer Schnelligkeit zog er das angesengte Buch aus dem Kamin und ließ es in seinen Ärmel gleiten. Betont ruhig schloss er die Ofenklappe, während es in seinem Inneren brodelte. Unüberwindlich lang erschienen ihm auf einmal die Stunden bis zum Feierabend, wo er sich endlich den Inhalt seines Fundes zu Gemüte führen konnte.


ARAGHAST


Es war nur eine knappe halbe Stunde vergangen, als ein von Kanndra persönlich geführter Einsatztrupp vor dem Boucherie Rouge vom Eselskarren sprang. Araghast lehnte unter der roten Laterne an der Tür und winkte, als seine güngekleideten ehemaligen Abteilungsmitglieder Aufstellung bezogen.
"Eine interessante Post war das, die da heute Morgen gekommen ist." begrüßte ihn Kanndra. "Den Spaß will ich mir nicht entgehen lassen."
"Er hat einen Denkzettel verdient." antwortete Araghast. "Ich habe entgültig die Schnauze voll von seinen Mätzchen." Er musterte die angetretene Truppe. "Wo ist Valdimier?"
"Er meinte, er habe es nicht nötig auszurücken, nur weil du anscheinend deinen Abteilungsleiterposten nicht ohne Hilfe halten kannst." erklärte Kanndra schulterzuckend.
"Meine Güte, wenn es nur darum gehen würde, Picardo aus meinem Büro zu schmeißen, hätte ich das schon selbst erledigt." Araghast verdrehte das Auge. "Hier geht es um püschologische Kriegsführung. Langsam fange ich an, Valdimier und seine ewigen Spitzen ziemlich satt zu haben. Ja, ich habe mich eine Zeitlang komisch verhalten. Und ja, es gab da ein paar Tage an die ich mich nicht im geringsten erinnern kann. Aber er soll endlich aufhören, mir püschische Labilität zu unterstellen."
"Ist ja gut." Kanndra klopfte ihm auf die Schulter. "Also, wo sitzt er?"
"Kommt mit."
Während sie die Treppe hinaufstiegen, wurde Araghast erst wirklich bewusst, wie FROG sich in den wenigen Monaten seiner Abwesenheit verändert hatte. Von Kanndras Begleitern kannte er nur Tussnelda von Grantick mehr als flüchtig, und auch sie befand sich noch nicht allzu lange in der Abteilung. Waldemar von Silberfang war ihm lediglich aus dem Bewerbungsgespräch als der Werwolf in Erinnerung geblieben, dessen Name Programm war. Wie konnte man nur so dumm sein und einen silbernen Löffel fangen, wenn man genau wusste, dass dieser einem Schmerzen verursachte? Dem dritten Mann war er noch nie begegnet. Vermutlich handelte es sich um Raucher sonstwas, den Kanndra kürzlich als Knallpulverexperten eingestellt hatte.
Oben angekommen deutete Araghast auf die Tür des Drunter und Drüber.
"Da drin." flüsterte er. "Gebt ihm Saures."
Kanndra nickte und gab den FROGs ein Zeichen. Diese pirschten sich auf Zehenspitzen an die Tür heran und entsicherten ihre Waffen.
Ein wenig wehmütig betrachtete Araghast die eingespielte Routine der Freiwilligen Retter Ohne Gnade. Genau wie er selbst es immer getan hatte, hob Kanndra die Hand und zählte mit den Fingern bis drei.
Tussnelda riss die Bürotür auf und die drei FROGs stürzten sich auf den sichtlich überraschten Fähnrich Picardo. Es war kaum eine halbe Minute vergangen, als sie mit ihrem in Handschellen gelegten Mitwächter wieder auf dem Flur erschienen. Picardos Gesicht war rot vor Wut.
"Das wirst du mir büßen, Breguyar!" brüllte er. "Hast wohl nicht den Mut, mich selbst aus dem Büro zu schmeißen, was? Da sieht man es mal wieder, du bist nicht gut genug für DOG!" Tussnelda und von Silberfang hatten Mühe, ihn zu halten, so sehr wehrte er sich.
Araghast trat vor.
"Fähnrich Robin Picardo, hiermit enthebe ich dich wegen akuter Unzurechnungsfähigkeit vorläufig deines Amtes. Alles weitere hängt davon..."
"Niemals!" schrie Picardo. "Das kannst du gar nicht, du Versager von einem Hauptfeldwebel!"
"Doch, das kann ich." gab Araghast zurück. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie mehrere DOGs sich in angemessenem Abstand auf dem Flur versammelten. "Ich bin ausgebildeter Püschologe und habe damit das Recht dazu. Vielleicht bringt dich eine der Zellen im Hauptwachhaus ja endlich mal zu Verstand. So leicht, wie du vielleicht dachtest, bin ich nicht abzusägen, du Mistkerl."
"Du bist kein Püschologe mehr!"
"Ich habe aber immer noch die Erlaubnis vom Kommandeur persönlich, püschologische Sitzungen abzuhalten." Araghast ließ seine angespitzten Eckzähne aufblitzen. "Abführen." sagte er zu Tussnelda, Waldemar und Raucher, die dem Befehl sogleich nachkamen.
Als Picardo außer Sicht war, trat Kanndra an ihn heran.
"Hast du wirklich das Recht, ihn vorläufig abzusetzen?" fragte sie flüsternd.
Araghast zuckte mit den Schultern.
"Keine Ahnung. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass der Knollensauger vermutlich eh nicht sonderlich glücklich darüber ist, wie er seinen Posten hingeschmissen hat, rechne ich mir gute Chancen aus, mit der Sache durchzukommen."
"Manchmal bist du ein echter skrupelloser Mistkerl." bemerkte Kanndra.
"Hab ich je gesagt, ich wäre keiner?"
"Nein. Aber hin und wieder machst du mir beinahe Angst."
"Ich bin leider keine so charmante Persönlichkeit wie du, Kanny." Araghast grinste schief. "Irgendwie muss ich mich ja durchsetzen."
Kanndra seufzte leise.
"Sei vorsichtig, Bregs." sagte sie. "Eine zu strenge Hand ist auch nicht gut. FROG warst du ein guter Abteilungsleiter, aber in den anderen Abteilungen weht ein anderer, weniger scharfer Wind. Ich habe es selbst gemerkt, als ich bei RUM gewesen bin."
"Keine Sorge. Ich weiß schon, was ich tue." Araghast verschränkte die Arme. "Und Picardo ist wirklich nicht richtig im Kopf, glaub mir das."
"Ich habe es gesehen. Dann machs gut, Bregs."
"Machs gut, Kanny. Und vielen Dank nochmal."
Zwei Reihen weißer Zähne blitzten in ihrem schokoladenbraunen Gesicht auf.
"Das ist schon in Ordnung. Wir Frösche und ehemaligen Frösche müssen ja zusammenhalten."
Mit diesen Worten verschwand Kanndra Mambosamba die Treppe herunter.
Araghast wandte sich seinen im Flur versammelten Abteilungsmitgliedern zu.
"Das Theater ist vorbei." knurrte er. "Hier gibts nichts mehr zu sehen."
Lance-Korporal Drei Hungrige Mäuler öffnete den Mund, als ob sie etwas sagen wollte, doch Araghasts Blick brachte sie zum Schweigen. Wortlos trotteten die DOGs von dannen.
Nachdem er sich sicher war, dass ihn niemand mehr beobachtete, stürmte der Hauptfeldwebel in sein Büro und knallte die Tür hinter sich zu. Der Schreibtischstuhl lag umgekippt am Boden und die grünen Enden mehrerer Möhren waren auf der Schreibtischplatte verstreut. Araghast wischte sie mit dem Arm in den Papierkorb. Dann öffnete er die unterste Schublade und genehmigte sich einen großzügigen Schluck aus der Rumflasche. Wenigstens damit hatte Picardo keinen Unsinn angestellt.
Als er die beruhigende Wirkung des Alkohols spürte, trat Araghast an den Kamin und hob das schwarze Tuch auf, das in den vergangenen Monaten den verhassten Spiegel bedeckt hatte. Der Stoff fühlte sich schwer und kalt in seinen Händen an.
Fluchend warf er das Tuch auf das Himmelbett. Hoffentlich hatte Picardo seine Lektion gelernt. Araghast Breguyar war nicht so einfach loszuwerden, wie es sich so manche wohl erhofft hatten. Es benötigte schon mehr als nur ein paar dämliche Streiche, um einen alten Piraten aus der Fassung zu bringen.


VALENTINA


Das Erdgeschoss des Anwesens derer von Willerfort war zum Bersten mit Kondolenzbesuchern gefüllt. Zahlreiche Gildenfreunde des verstorbenen Familienoberhauptes drängten sich nebst Gattinnen im Wohnzimmer in der Nähe des Tisches mit den Getränken. Auf dem Sofa im Wohnzimmer thronte Ephraim Farrux und sprach der Witwe mit blumigen ausschweifenden Worten Trost zu, während seine Angetraute mit einer Gruppe Damen schwatzte und Sekt schlürfte.
Angewidert wandte Valentina sich ab. Sie konnte diesen fettleibigen jovialen Schwätzer nicht ausstehen, und nur widerwillig dankte sie ihm insgeheim dafür, dass er ihre Stiefmutter zeitweilig beschäftigte. Adele eilte mit einem Tablett voller Gläser an ihr vorbei. Dem Hausmädchen war seit dem vorgestrigen Abend ihre übliche Fröhlichkeit völlig abhanden gekommen.
Leise seufzend verließ Valentina das Wohnzimmer, passierte eine Schulbekanntschaft und die rothaarige Tochter des Verlegers Ziegenberger, die angeregt plauderten, und ließ sich schließlich im beinahe leeren Speisezimmer auf einen Stuhl sinken. Hanno stand am gekippten Fenster, den Blick nach draußen gerichtet.
"Mutter hat von der Testamentseröffnung gehört." sagte er tonlos.
Valentina war nicht im geringsten überrascht. Ankh-Morpork war bekannt dafür, dass die Spatzen die neuesten geheimen Eröffnungen fröhlich von den Dächern sangen. Sie ahnte, was nun kam.
Hanno drehte sich zu ihr um. Sein ansehnliches Gesicht war in Kummerfalten gelegt.
"Ich weiß, dass es nicht als schicklich gilt, während der Trauerzeit eine romantische Beziehung zu einem jungen Mann aufrechtzuerhalten." kam sie ihm zuvor.
"Ich liebe dich, Valentina." beteuerte er hastig und begann, unruhig im Zimmer auf- und abzugehen. "Und es schert mich nicht, dass meine Mutter der Meinung ist, eine Frau ohne anständige Mitgift sei nicht standesgemäß für mich." Er winkte ab. "In Wirklichkeit möchte sie nur durch meine Heirat mit einem reichen Mädchen selbst wieder in Luxus leben."
"Ich frage mich, ob meine eigene Stiefmutter für das Vermögen getötet haben könnte." sprach Valentina ihren Verdacht aus. "Sie wusste, dass ich im Fall einer Hochzeit das Geschäft erben würde. Ach Hanno, es ist einfach alles so verzwickt. Du kennst meinen Bruder. Und du weisst, wie sehr die Lady ihn verhätschelt und verwöhnt. Ich habe ihren Triumph unter dem verweinten Gesicht gesehen, als wir die Anwaltsgilde verlassen haben."
Hanno trat hinter sie und legte ihr seine Hände auf die Schultern.
"Das sind schwere Tage für dich." sagte er leise. "Aber ich bin mir sicher, die Wache tut alles, um den Täter zu finden. Ich wurde eine halbe Stunde lang verhört, aber letztendlich sind sie wohl zu dem Schluss gekommen, dass dein Vater für mich lebend weitaus nützlicher gewesen wäre. Ich vermisse ihn auch sehr. Letztendlich ist er auch für mich immer eine Art Vater gewesen."
"Er war so ein guter Mensch." Valentina konnte nicht verhindern, dass Tränen ihre Wangen hinunterzulaufen begannen. "Immer hat er nur das Beste für alle gewollt. Alle haben ihn geliebt."
"Doch jemand war trotzdem bereit, ihn zu töten."
Die junge Frau schniefte.
"Wenn ich denjenigen in die Hände bekomme, wird er dafür büßen."
Zärtlich ließ Hanno seine Finger ihren Hals hinaufgleiten.
"Vertrau den Wächtern." sagte er. "Sie werden schon wissen, ws sie tun. Bitte fang nicht noch an, auf eigene Faust nachzuforschen. Das könnte den Täter auf dich aufmerksam machen und ich will dich nicht verlieren."
"Wie witzig." gab Valentina zurück und erhob sich. Mit einer energischen Handbewegung wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. "Wir sollten zurück zur Gesellschaft gehen. Ich werde bestimmt schon vermisst."
Hanno hauchte ihr einen Kuss auf das Ohr und fasste sie galant am Arm. Während sie zur Tür schritten, regte sich in Valentina der Trotz. Niemand, nicht einmal Hanno, würde sie davon abhalten, die Zimmer ihrer Stiefmutter und die Geschäftsbücher des Kontors zu durchsuchen. Ihre Romanheldin Samantha Bonarchase hätte auch nicht gezögert, es zu tun.

Kurz nachdem die beiden das Zimmer verlassen hatten, schlüpfte ein bärtiger, in einen Flickenmantel gehüllter Gnom aus einer Gardinenfalte. Flink hangelte er sich am Fensterrahmen hoch und zwängte sich mit einiger Anstrengung durch den offenstehenden Spalt.


LEONATA


"Die Hausaufgaben sind die Nummern drei, vier und fünf auf Seite neununddreißig der Geometrica. Wir sehen uns übermorgen wieder."
Mit einem geräuschvollen Zuschlagen des Lehrbuches beendete Leonata Eule die Stunde und fünfundzwanzig Nachwuchsassassinen machten sich eilig daran, ihre Unterrichtsmaterialien zusammenzupacken. Lächelnd beobachtete die Lehrerin ihre Klasse. Was Bregs sich bloß wieder für unnötige Sorgen machte. Die erste Klassenarbeit war geschrieben und benotet worden und bisher hatte keiner der Schüler irgendeinen Versuch unternommen, sie zu inhumieren.
Nach und nach verließen die einundzwanzig Jungen und vier Mädchen den Klassenraum und ließen Leonata allein zurück. Gesprächsfetzen drangen an ihr Ohr, als sich die Schüler an ihr vorbei zum Ausgang bewegten.
"...und Herr Graumunchen hat ihn wirklich in Geographie durchfallen lassen? Nur weil er Basalt nicht von Granit unterscheiden konnte?"
"Ich sagte doch, Benjen ist beim Mauerspiel eine absolute Niete. Beim letzten Mal ist er nach anderthalb Minuten von der Wand gefallen."
"...hat die Inhumierung einfach nicht geschafft. Der Herzog war wirklich..."
"...soll jetzt eine Belohnung auf von Willerforts Mörder ausgesetzt haben. Der kann nur noch hoffen, dass die Wache ihn vor uns erwischt."
Während sie die Tafel wischte, notierte sich Leonata mental die letzte Bemerkung des seltsamerweise immer außerordentlich gut informierten Jeremiah Knabenlieb. Es war keinesfalls unüblich, dass die Gilde die Ursache entgangener teurer Inhumierungen gern selbst zur Rechenschaft zog. Leonata hatte von dem Folterzimmer im Keller des Gildenhauses gehört, welches der entsprechenden Einrichtung im Patrizierpalast in puncto Einrichtung ebenbürtig sein sollte. Ihre Gedanken wanderten zu dem Topf auf dem Küchenschrank. Irgendwann war der Tag für Ephraim Farrux gekommen, auf legale Weise zu sterben. Leonata traute sich durchaus zu, sich des verhassten Ehemannes ihrer Kusine auf eigene Faust zu entledigen, doch eine offizielle Inhumierung besaß weitaus mehr Stil. Weitaus energischer als nötig verschloss die Lehrerin ihre Tasche. Zur Zeit weilte Farrux vermutlich bei den von Willerforts, nervte die übrigen Trauergäste mit seinem Geschwätz und fraß das kalte Buffet leer.
Wenige Minuten später verließ Leonata das Gildenhaus der Assassinen und spazierte gemächlich durch den späten Nachmittag. Bregs traf sich am Abend mit seinen Freunden und Kollegen und somit fiel die allabendliche Kochprozedur aus. Dies war ihr gar nicht einmal so unrecht. So hatte sie endlich die Gelegenheit, in Ruhe die neueste Ausgabe des Rundschreibens der Erfindergilde zu lesen. Seitdem Eddie Wollas keine Romane mehr schrieb, war sie auf wissenschaftliche Lektüre umgestiegen. Barbara Kartenhand und die sensationell erfolgreiche Neuauflage von Fackeln im Orkan interessierten sie nicht besonders. Liebesromane waren ihrer Meinung nach etwas für Frauen die nicht in der Lage waren, ihr Leben auf eigene Faust interessant zu gestalten. In der Wirklickeit spielten sich weitaus faszinierendere Dramen ab, als in irgendwelchen schmalztriefenden Büchern. Die Ermordung Gregor von Willerforts war lediglich das neueste Beispiel. Einen kurzen Augenblick lang spielte Leonata mit der Idee, der trauernden Familie ihre Aufwartung zu machen. Nach den ungeschriebenen Gesetzen der feinen Gesellschaft war es ihre Pflicht als Tochter eines alten Freundes des Verstorbenen. Doch vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie die vornehmen Damen und Herren sich weigerten, mit ihr zu sprechen, und ihr auf jede erdenkliche Weise zu verstehen gaben, dass sie unerwünscht war. Es zählte nicht, dass von Willerfort oft lachend zu Henning Eule gesagt hatte, er wolle auch einmal so eine wunderbare Tochter haben. Nach seinem Unfalltod war die Wahrheit herausgekommen. Ihr Vater hatte geplant, den verrückten Lord Schnappüber zu verraten. Und nur erfolgreiche Verräter bekamen den Applaus des Volkes.
Wer das Spiel der Herrscher spielt, gewinnt oder stirbt, hieß es im Theaterstück Ein Lied von Schnee und Asche von Hwel, einem eher unbekannten Stück des großen Zwergendichters, welches Leonata sehr mochte.
Trotzig schob sie das Kinn vor. Mochte die feine Gesellschaft dort bleiben, wo die Sonne nicht schien. Sie brauchte ihre Anerkennung nicht, um ein zufriedenes Leben zu führen. Sie hatte ihren baldigen Ehemann ohne irgendwelche Kuppelei wohlmeinender Verwandter gefunden. Die Trauerfeier konnte ihr gestohlen bleiben. Und auf der für den folgenden Tag angesetzten Beerdigung konnte sie sich immer noch von Gregor von Willerfort verabschieden.
Die Lutschstangen, die er ihr oft mitgebracht hatte, waren rot-weiß geringelt gewesen.


IVONNE


Es war durchaus bequem, einen Igor im Haus zu haben, diese Tatsache konnte Ivonne Kolumbini nicht leugnen. Doch zur Zeit war der Bucklige mit ihrem Vetter Inspäctor unterwegs, um die Ermordung eines der Kollegen der privaten Ermittlerin aufzuklären. Und so musste sie sich wohl oder übel selbst zur Tür bemühen, als es kurz nach Einbruch der Dunkelheit läutete.
Ivonne schob sich ihre Zigarette in den Mundwinkel und spähte durch das im Allgemeinen auch Spion genannte kleine Fenster. Ein schmächtiger Mann stand draußen, die Hände in den Taschen seines zu weiten Mantels vergraben und einen breitkrempigen Hut tief ins Gesicht gezogen.
Ivonne war sich ziemlich sicher, dass der Fremde zu ihr wollte.
Nach einem tiefen Zug aus ihrer Zigarette öffnete sie die Tür.
Der Besucher hob den Kopf und musterte sie gründlich aus stechenden Augen hinter dicken Brillengläsern.
"Bin ich hier richtig bei Ivonne Kolumbini?" fragte er schließlich.
Der private Ermittlerin nickte.
"Das bin ich."
Der Fremde reichte ihr eine in einem ledernen Handschuh steckende Hand, die Ivonne ergriff und kurz drückte.
"Fizbald Penheylon ist mein Name."
"Sehr erfreut."
Die Zigarette wanderte in den anderen Mundwinkel.
"Wollen Sie nicht hereinkommen?"
Der Mann, der sich als Fizbald Penheylon vorgestellt hatte, schüttelte den Kopf.
"Ich bin hier, um Ihnen einen Fall anzubieten."
"Soso." Ivonne lehnte sich lässig in den Türrahmen. "Hier direkt auf der Türschwelle?"
Hektisch blickte sich Penheylon um, als ob er den im Dunklen liegenden Vorgarten nach Verfolgern absuchte.
"Ich bin nur ein Bote." sagte er flüsternd. "Das Angebot kommt von meinem Herrn. Wären Sie bereit, mit mir zu kommen?"
"Ich weiß nicht." antwortete Ivonne kühl. "Vor drei Tagen erst wurde einer meiner Kollegen abgestochen wie ein Schwein. Ich hoffe, Sie sehen ein, dass ich da ein wenig vorsichtig bin."
Penheylon lächelte nervös.
"Niemand hat vor, Ihnen ein Haar zu krümmen, Fräulein Kolumbini. Niemand weiß, an was für einem Fall sich Herr Marloff verschluckt hat. Alles was mein Herr und ich wollen ist, Ihnen einen ziemlich großen Fall anbieten. Es heißt, Sie seien gut."
Lächelnd winkte Ivonne ab.
"Versuchen Sie nicht, mir zu schmeicheln. Aber eventuell haben Sie mich ja neugierig gemacht. Ein großer Fall also. Warten Sie einen Augenblick."
Die private Ermittlerin trat von der Tür zurück und drückte ihre heruntergebrannte Zigarette in einem Aschenbecher neben der Garderobe aus. Nachdem sie in ihren hellen Mantel geschlüpft war, überprüfte sie, ob der Pfefferzerstäuber und die kleine Armbrust dort steckten, wo sie hingehörten. Sie traute diesem Penheylon nicht weiter als von der Wand bis zur Tapete. Er arbeitete also für jemanden. Ivonne hielt nicht viel von Klienten, die einen Untergebenen vorschickten. Entweder war es ihnen insgeheim peinlich, einen Privatdetektiv zu engagieren, oder sie hatten etwas zu verbergen.
In den meisten Fällen beides.
Schwungvoll warf Ivonne ihr langes dunkelblondes Haar zurück und setzte einen eleganten Herrenhut auf. Sie war bereit für alles, was kommen mochte.
Penheylon hatte sich nicht vom Fleck gerührt und trat sichtlich angespannt von einem Fuß auf den anderen. Erleichterung zeigte sich auf seinem kantigen Gesicht, als Ivonne ins Freie trat und die Tür hinter sich abschloss.
"Ich warne Sie noch einmal." sagte sie knapp. "Keine krummen Dinger."
"Das würde mein Herr niemals tun." antwortete Penheylon beinahe übertrieben beschwichtigend und ergriff fürsorglich ihren Arm.
Ivonne riss sich schweigend los und folgte dem schmächtigen Mann zu einer schlichten parkenden Droschke am Straßenrand. Zwei Pferde mit dunklem Fell stampften unruhig im Licht von zwei Laternen links und rechts neben dem Kutschbock. Ein livrierter Kutscher hielt den Wagenschlag auf und bedachte Ivonne mit einer leichten Verbeugung.
"Nach Ihnen." sagte Penheylon und trat zur Seite.
Unwillkürlich glitt Ivonnes Hand in ihren Mantel und berührte den Griff der Handarmbrust. Sie rechnete damit, in jedem Augenblick einen Stoß von hinten zu bekommen, der sie kopfüber in die Kutsche beförderte. Doch nichts geschah.
Wenig später saß sie bequem in den dunkelblauen Samtpolstern gegenüber dem schweigsamen Penheylon und sah durch die Fenster das abendliche Ankh-Morpork an sich vorüberziehen. Vereinzelte aufgewirbelte Blätter erinnerten sie daran, dass der Herbst nahte. Die Jahreszeit, in der sich die drückende heiße Gestanksglocke über der Stadt verflüchtigte und ihre Bewohner wieder anfingen, klar zu denken. Es war die Jahreszeit, in der ein Privatdetektiv oft die besten Aufträge bekam.
Nach einer kurzen Fahrt bog die Kutsche abrupt nach rechts ab und Ivonne hörte Kies unter den Rädern knirschen. Augenblicke später hielt das Gefährt und die Tür schwang auf.
"Nach Ihnen." wiederholte sich Penheylon und sprach damit zum ersten Mal, seitdem sie am Haus der Kolumbinis abgefahren waren.
Ivonne zuckte mit den Schultern und stieg aus. Die Absätze ihrer Stiefel klapperten laut auf poliertem Marmor. Der Kutscher hatte die Droschke genau an den unteren Rand einer breiten Treppe herangefahren, die in fünf Stufen zum mit einem Balkon überdachten Hauseingang führte. Auf den von Fackellicht beleuchteten Türflügeln aus dunklem, massiv wirkendem Holz prangte ein Wappen, das Ivonne noch nie zuvor gesehen hatte. Der dunkelrote Schild war diagonal durch ein blaues Band geteilt. In der linken oberen Hälfte lagen drei Tiere, die auf den ersten Blick entfernte Ähnlichkeit mit Sumpfdrachen aufwiesen, während rechts unten ein einzelner stilisierter kegelförmiger Berg mit weißer Kuppe dargestellt war.
"Das Familienwappen meines Herrn." klärte Penheylon sie auf. Er musste ihren Blick bemerkt haben. Scheinbar handelte es sich bei ihm um einen guten Beobachter, eine Erkenntnis, die sich Ivonne sogleich unterbewusst notierte.
"Die drei Krokodile stehen für den Gott Offler, zu dem sich der Gründer der Dynastie besonders hingezogen fühlte, und der Berg stellt den Montus Offlerus dar, der dem Offler heilig ist. Doch der starke Glaube an den Krokodilgott ist in der Familie längst Vergangenheit." Penheylon seufzte, als ob er dies bedauerte. "Alles was davon geblieben ist, ist der Name. Von Offlerberg."
"Moment." Ivonne wandte sich zu ihm um. Sie konnte es kaum glauben. "Der Baron von Offlerberg? Der Mann, über den sich die Tratschspalten gewisser Zeitungen seit Monaten geradezu überschlagen? Der Mann, über den gemunkelt wird, er habe genug Geld, um halb Ankh-Morpork zu kaufen?" Sie lächelte Penheylon kalt an. "Er muss ja ganz schön in der Klemme stecken, wenn er es nötig hat, einen Privatdetektiv anzuheuern."
"Die Gründe meines Herrn sind allein seine Sache, Fräulein Kolumbini." erklärte der Diener ruhig. "Folgen Sie mir bitte."
Ivonnes Neugierde stach sie in die metaphorischen Rippen, während sie Penheylon ins Haus folgte. Die Sache wurde langsam wirklich interessant. Was konnte jemand wie der berühmt-berüchtigte Baron von Offlerberg von ihr wollen? Wie dem auch war, bestimmt sprang am Ende eine hübsche Summe für sie heraus.
Ein weiterer Diener nahm ihr wortlos Mantel und Hut ab und Ivonne hatte Mühe, ihren Pfeffersprüher unauffällig in der Tasche ihres Jacketts verschwinden zu lassen. Edelmann hin und her, sie ging lieber auf Nummer sicher.
Als Penheylon sie weiter durch das Haus führte, nahm Ivonne eine unauffällige Sondierung der Einrichtung vor. Alles wirkte teuer, geschmackvoll und edel, doch die private Ermittlerin hegte den Verdacht, dass der Baron einfach einen professionellen Wohnungseinrichter gebeten hatte, sich der Sache anzunehmen. Allem fehlte eine persönliche Note, ein wenig Chaos in diesem perfekt arrangierten Musterbeispiel eines prunkvollen Stadtsitzes. Ihr war, als ob von Offlerberg dies alles nur hatte herrichten lassen, um seinen Reichtum zur Schau zu stellen. Genau wie die achtspännige Kutsche, mit der er durch die Stadt zu fahren pflegte.
Ein funkelnder Kronleuchter hing über der großen Freitreppe, die in die erste Etage führte. Als sie hinaufstiegen, blickte Ivonne zurück. Das Licht einer einzelnen Öllampe auf einem kleinen Tisch brach sich in den geschliffenen Kristallen zu einem unwirklichen Sternenhimmel. Wider Willen lief Ivonne ein kalter Schauer den Rücken hinab. Als ob der Baron selbst die Sterne gekauft und in seinen Palast gesperrt hätte...
Am oberen Ende der Treppe wies Penheylon auf eine schlichte Tür zu ihrer Linken.
"Das Arbeitszimmer. Mein Herr erwartet Sie dort."
Ivonne nickte nur und zupfte den Kragen ihres Jacketts zurecht. Sie wollte das Gespräch so schnell wie möglich hinter sich bringen und in ihr vertrautes Milieu zurückkehren. Nicht, dass sie etwas gegen vornehme Häuser hatte, doch von Offlerberg schien ihr ein ganz besonderes Kaliber von reichem Pinkel zu sein. Sie atmete tief durch und sehnte sich nach einer Zigarette.
Die Schläge ihrer Knöchel gegen die Tür hallten unnatürlich laut durch die Villa. Seufzend verschränkte sie die Arme vor der Brust. Wohin hatte sich dieser Penheylon bloß verdrückt? Normalerweise begleitete ein Diener einen Gast bis zum Gastgeber. Doch anscheinend gab es im Haus des Barons von Offlerberg andere Regeln. Ivonne meinte, gelesen zu haben, dass der Baron aus der Gegend von Gennua stammte. Vielleicht galten dort andere Etikette. Sie nahm sich vor, ihre Mutter danach zu fragen.
"Herein."
Die Stimme war dunkel und volltönend. Mit einem letzten Blick zurück zum menschenleeren Treppenhaus ergriff Ivonne die Türklinke und kam der Aufforderung nach.
Der Baron von Offlerberg saß aufrecht hinter einem wuchtigen Schreibtisch aus tezumanischem Mahagoni und der erste Gedanke der privaten Ermittlerin war, dass er sich für sein Alter von wahrscheinlich über fünfzig Jahren erstaunlich gut gehalten hatte. Das volle weißblonde Haar war sorgfältig aus dem markanten, leicht gebräunten Gesicht zurückgekämmt und ein blütenweißer Anzug umhüllte einen schlanken hochgewachsenen Körper. Ein freundliches Lächeln ließ eine Reihe sorgfältig gepflegter, gerader Zähne aufblitzen.
"Fräulein Ivonne Kolumbini." sagte er und neigte den Kopf zur Begrüßung. "Ich bin froh, Sie hier an diesem Abend begrüßen zu dürfen."
"Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, Euer Lordschaft." antwortete Ivonne höflich und trat häher.
"Hat Penheylon Sie gut hergebracht?" erkundigte sich der Baron. Er wies auf einen bequem wirkenden Sessel vor dem Schreibtisch. "Setzen Sie sich doch. Darf es etwas zu trinken sein?"
"Einen Whisky, wenn es Ihnen nichts ausmacht." sagte Ivonne und nahm Platz.
Der Baron erhob sich höchstpersönlich und machte sich an einem Eckschränkchen zu schaffen, was der Privatdetektivin Gelegenheit gab, den Raum genauer zu mustern. Das Arbeitszimmer bestach durch die gleiche teure, jedoch unpersönliche Einrichtung wie die übrigen Zimmer, die sie zu Gesicht bekommen hatte, doch ein Gegenstand passte nicht recht zum Gesamtbild. An der Wand hinter dem Schreibtisch, mit dem Rücken zu von Offlerbergs Sitzplatz, hing das überlebensgroße Porträt einer Frau. Eine wahre Flut schwarzer Locken unrahmte ein vornehmes Gesicht mit vollen Lippen und haselnussbraunen Augen. Die Augenbrauen der Dame waren zu geschwungenen Bogen gezupft und ein goldenes Medaillon an einer kurzen Kette zierte ihren schlanken Hals.
"Wer ist sie?" konnte Ivonne sich nicht verkneifen, zu fragen.
Der Baron kehrte mit zwei Gläsern, in denen eine klare braune Flüssigkeit herumschwappte, zum Schreibtisch zurück und schob eines der kostbaren Kristallgefäße der privaten Ermittlerin zu.
"Ich weiß es nicht." sagte er. "Das Bild fiel mir zufällig in die Hände, kurz nachdem ich in Ankh-Morpork eintraf. Die Dame gefiel mir, deshalb erwarb ich es." Wieder ließ er seine Zähne aufblitzen. "Ich kann schönen Frauen nun einmal nicht widerstehen."
"Soso." antwortete Ivonne nur trocken und nippte an ihrem Getränk. Sofort besserte sich ihre Meinung über ihren potentiellen Klienten. Das, was er serviert hatte, war kein billiger Fusel, sondern erstklassiger zwergischer Einzelmalz.
"Kommen wir zum Geschäftlichen." sagte sie. "Ihr... Diener deutete an, dass Sie die Dienste eines Privatdetektivs benötigen." Ihre Hand glitt in die Brusttasche ihres Jacketts. "Haben Sie etwas dagegen, dass ich rauche?"
Der Baron schüttelte den Kopf und Ivonne förderte ein silbernes Zigarettenetui zu Tage. Galant gab er ihr Feuer.
"Also." sagte sie, als sie sich paffend im Besuchersessel zurücklehnte. "Worum geht es?"
Ein Hauch von Kummer legte sich auf das markante gutaussehende Gesicht von Offlerbergs.
"Ich hatte einen Schulfreund." begann er. "Sagen wir es so, er interessierte sich sehr für Politik und entwickelte Ambitionen in dieser Richtung. In den letzten Monaten der Regierung Schnappüber brach mein Kontakt mit ihm plötzlich ab und ich wusste lange Zeit nicht, warum. Erst als ich nach Ankh-Morpork übersiedelte fand ich heraus, dass er plötzlich spurlos verschwand. Ich vermute, er ist verhaftet worden, aber genaues konnte niemand mir sagen. Und da kommen Sie ins Spiel, Fräulein Kolumbini. Schaffen Sie es, herauszufinden, was mit meinem Freund geschehen ist?"
Ivonne blies eine Rauchwolke in die Luft.
"Geben Sie mir den Namen Ihres Freundes und ich sehe, was ich tun kann. Ankh-Morpork ist voller Münder, die gegen einen kleinen Gefallen nur allzu gern bereit sind, zu plaudern."
Der Baron von Offlerberg räusperte sich.
"Sein Name war, oder ist, Ignatius Merino."
"Ignatius Merino." wiederholte Ivonne und trank einen großen Schluck zwergischen Whiskys. "Und wieviel ist Ihnen die Suche nach Ignatius Merino wert?"
"Einhundert Dollar im voraus." sagte von Offlerberg lächelnd. "Weitere zweihundert, wenn Sie Hinweise dafür finden, was mit Ignaz geschehen ist."
Ivonne Kolumbini nickte.
"Abgemacht." sagte sie.


RAISTAN


Simon Kamerun Herr lag auf dem Schoß seiner Mutter und nuckelte hingebungsvoll an seiner Flasche. Lächelnd sah Mimi von ihrem Sohn auf.
"Er ist schon wieder gewachsen. Frau Rutschtrocken hat gestern gesagt, dass er für sein Alter schon sehr groß ist. Vor einem knappen Jahr hat er noch einfach so in meinen Arm gepasst." Sie streichelte das flaumige hellbraune Haar des Jungen. "Wie die Zeit vergeht..." murmelte sie.
"Das liegt in der Natur der Zeit." antwortete Raistan nur und rührte seinen Tee um.
Die Geschwister saßen allein in der Küche der Herrs. Julius, Hermines Ehemann, hatte sich in das winzige Wohnzimmer zurückgezogen um ungestört an seinem neuesten Roman zu arbeiten, einem Sittengemälde der späten Königszeit.
"Aber was ich dir eigentlich sagen wollte," Mimi beugte sich vor und ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. "Ich bin wieder schwanger. Es war nicht geplant und ich habe Julius noch nichts davon gesagt. Also pssst!"
"Aber warum?" fragte Raistan. "Ein zweites Kind, das ist doch schön."
Mimi schüttelte den Kopf und eine Strähne rotgefärbten Haares fiel ihr ins Gesicht.
"Ist es nicht." sagte sie. "Wenn mein Bauch so dick wird, dass es unter meinen Auftrittskleidern auffällt, muss ich mit dem Singen wieder aussetzen. Und Julius' letztes Buch hat sich so gut wie gar nicht verkauft. Wir kommen zur Zeit gerade so über die Runden." Eine Träne lief ihre Wange hinunter. "Und Julius will nicht auf mich hören. Ich habe ihm hundertmal gesagt, schreib endlich mal was Publikumswirksames. Jetzt, wo Eddie Wollas seit über einem Jahr anscheinend nicht mehr veröffentlicht, fehlt etwas in dieser Art auf dem Romanheftmarkt. Aber nein, der werte Herr Schriftsteller ist sich zu fein für Gruselhefte. Er will ernstgenommen werden und schreibt deshalb langweilige Familiengeschichten, die niemand lesen will. Dabei bräuchte er nur ein neues Fackeln im Orkan zu schreiben und wir hätten für das nächste Jahr ausgesorgt."
Raistan kannte den Autorenstolz seines Schwagers nur zu gut. Oft genug hatte er dessen Vorträge über die Irrungen und Wirrungen der Gründung der Lehrergilde und ähnliche uninteressante Themen, die angeblich ertklassigen Romanstoff boten, anhören müssen.
"Warum schreibt er dann nicht unter Pseudonym?" schlug er vor. "Ich wette, Eddie Wollas hieß in Wirklichkeit auch ganz anders."
Bei diesen Worten lächelte er schwach. Nur er selbst und Araghast Breguyar wussten, wer sich wirklich hinter Eddie Wollas verbarg und warum es seit anderthalb Jahren keine neuen Hexer von Ankh-Hefte mehr gegeben hatte.
Mimi blickte in ihren Schoß, wo ihr Sohn am Nuckel der Flasche lutschte.
"Glaub nicht, dass ich das nicht schon vorgeschlagen hätte." sagte sie trübsinnig. "Aber nein, es geht ihm ums Prinzip. Um seine Schriftstellerehre." Sie schniefte. "Wenn ich das schon höre... Ich weiß einfach nicht mehr weiter, Kleiner. Was ist, wenn wir die Miete nicht mehr bezahlen können? Sollen Simon und sein Geschwisterkind irgendwo unter einer Ankhbrücke oder in einem Dreckloch in den Schatten groß werden?" Sie war kaum noch zu hören. "Sheridee aus dem Skunk-Club hat mir gesagt, in der Nähe der Ulmenstraße gibt es einen alten Arzt, der keine Fragen stellt. Aber das kann ich einfach nicht. Ich habe ein Kind verloren, das reicht."
Raistan schluckte und wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte die Folgen von Mimis Ausrutscher mit dem Sohn des Herzogs ihres Heimatdorfes mit eigenen Augen miterlebt und hatte vom Heuboden aus zusammen mit seinem Zwillingsbruder zugesehen, wie der Herzog höchstpersönlich gekommen war und das Neugeborene mitgenommen hatte. Daraufhin hatte ihr Vater Mimi aus dem Haus gejagt weil sie Schande über den guten Namen der Familie gebracht hatte. Raistan hatte es nie verstanden. Als ob eine Familie bettelarmer Kohlbauern überhaupt so etwas wie einen guten Namen besitzen konnte.
"Der Herzog hat Vater zwanzig Dollar und zwei Flaschen Bärdrückers als Belohnung dafür gegeben, dass er dich rausgeworfen hat." sagte Raistan. "Was aus deinem Jungen geworden ist, weiß keiner."
"Eben drum." Mit dem Ärmel wischte sich Mimi die Augen. "Verstehst du, ich will dieses Kind unbedingt behalten. Es ist bloß alles so... festgefahren. Warum sind Künstler bloß immer so wahnsinnig weltfremde Menschen?"
"Auch nicht mehr als so mancher Zauberer." bemerkte Raistan. "Es gibt ein paar Stubenhocker in der Universität die nicht einmal wissen, dass Schnappüber schon seit gut zwanzig Jahren nicht mehr Patrizier ist."
Mimi brachte ein schwaches Lächeln zustande.
"Versprich mir, dass es soweit nie mit dir kommt, Kleiner." Sie musterte ihn gründlich, jetzt wieder ganz die ältere Schwester. "Und zieh dir mal was anderes an als dieses ständige Schwarz. Du siehst aus wie eine wandelnde Leiche. Die schickliche Trauerzeit ist längst um."
"Ich weiß." Raistan verschränkte die Arme. "Aber es erschien mir einfach richtig. Aber ich habe in den letzten Tagen viel nachgedacht. So kann es nicht weitergehen. Ich habe mir überlegt, ich werde einfach für ein paar Wochen Urlaub machen. Bregs hat eine interessante Theorie. Wenn jemandem nur noch die Decke auf den Kopf fällt, könnte er einfach mal versuchen, sein Leben aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Und genau das habe ich vor."
"Wo sol es denn hingehen?" erkundigte sich Mimi.
"Nirgendwohin. Zumindest nicht, was den Ort betrifft. Was ich meine ist, dass ich einfach mal eine Zeitlang jemand anderes bin als Raistan Adelmus Quetschkorn. Wer weiß, vielleicht suche ich mir eine Stelle als Reporter bei der Times. Oder ich arbeite in einem Geschäft."
Seine Schwester starrte ihn entsetzt an.
"Das meinst du nicht ernst." brachte sie hervor.
"Doch." antwortete Raistan nur.
"Aber... das kannst du nicht machen! Deine Gesundheit spielt da niemals mit! Du brauchst viel Ruhe..."
"Ich weiß nicht warum, aber seit der unglücklichen Fischimbiss-Geschichte ist meine Gesundheit so gut wie noch nie." unterbrach sie der junge Zauberer scharf. "Ich habe seitdem kein Blut mehr gehustet und die Schmerzen sind auch längst nicht mehr so schlimm. Und ich habe auch nicht vor, als Möbelpacker bei AEKI zu arbeiten und Möbel mit unaussprechlichen Namen zu schleppen. Mimi, ich bin nicht mehr dein siebenjähriger kleiner Bruder der beinahe an einer Lungenentzündung gestorben ist und fast zu schwach zum Laufen war. Ich weiß, was ich tue. Und außerdem," Er langte über den Güchentisch und griff ihre Hand. "Wenn ich mir eine Stelle suche, verdiene ich auch etwas." Auch er flüsterte nun. "Und mein Neffe oder meine Nichte da in deinem Bauch kann das Geld bestimmt gut gebrauchen."
"Du bist verrückt, Kleiner." murmelte Mimi.
"Ganz im Gegenteil." widersprach ihr Raistan. "Ich fühle mich gerade so püschisch normal wie schon lange nicht mehr."


ARAGHAST


Bis auf die drei Wächter in der Ecknische war der Pferdestall leer. Humbertolini der Wirt stand hinter der Theke und beobachtete das Trio. Wieder einmal hatte sein Stammgast Inspäctor Kolumbini seine beiden Freunde mitgebracht, den Bärtigen und den hageren Schwarzhaarigen mit der Augenklappe. Der Wirt hatte keine Ahnung, wie sie hießen. Aber er war der Meinung, dass Kolumbini ein wenig Gesellschaft beim Trinken nur gut tat.

"Danke." sagte Kolumbini, als die beiden Biere und der Kutscher auf dem Tisch standen. Der kleine Ermittler wartete, bis sich der Wirt entfernt hatte, und beugte sich dann vor.
"Und du hast Picardo wirklich des Amtes enthoben und von einem FROG-Trupp abführen lassen?"
Araghast nickte.
"Frechheit siegt." erklärte er. "Kanndra macht sich zwar schon Sorgen um mich, ich könnte die Hunde zu hart anfassen, aber hey, ich habe nun mal meine Vorstellungen von einer gut laufenden Abteilung. Wo soll das denn enden, wenn einem jeder auf der Nase herumtanzt wie er lustig ist?"
"Manchmal bin ich wirklich froh, keinen Ehrgeiz zu haben, was das Leiten einer Abteilung betrifft." bemerkte Kolumbini und sah zu Romulus. "Das wird dir aber wahrscheinlich bald blühen, wie ich unseren Kommandeur kenne."
Der Werwolf sah von seiner frisch gestopften Pfeife auf.
"Vermutlich. MeckDwarf macht sich rar, wo er nur kann." Er runzelte die Stirn. "Und Picardo ist wirklich dermaßen durchgedreht? Eigentlich habe ich ihn immer für ganz in Ordnung gehalten."
"Irgendwas stimmt mit ihm nicht." sagte Araghast nur und verschwieg wohlweislich seine ganz persönliche Fehde mit dem Fähnrich, die während einer Ausnahmesituation sogar bis zur Anheuerung eines Assassinen von der Seite Picardos gegangen war. "Aber was solls. Er hat bekommen, was er verdient hat. Unterschätze niemals den Püschologen."
"Im Gegenteil." Kolumbini trank von seinem Kutscherbier. "Du bist der einzige Püschologe in der Wache, dem ich traue."
"A propos." warf Romulus ein und paffte an seiner frisch entzündeten Pfeife. "Habt ihr in der Kaufmannsgilde irgendeine Spur im Willerfort-Mordfall gefunden?"
"Nicht wirklich." antwortete Araghast. "Ich habe Patrick Nichts als Lehrling geschickt. Er hat brav an Leonatas Unterricht teilgenommen und sich umgehört, aber alles was dabei herauskam waren Lobesreden, was für ein vorbildlicher Geschäfts- und Privatmann von Willerfort doch war. Der Verehrer der Tochter arbeitet in der Gilde, aber er hat durch den Mord eher verloren als gewonnen. Ich will nicht ausschließen, dass der Mörder sonst irgendwo in der Gilde sitzt, doch scheint es mir ziemlich unwahrscheinlich. Den offiziellen Bericht kriegst du morgen."
"Mist." bemerkte Romulus nur.
"Aber vielleicht interessiert es dich, dass von Willerforts Ableben der Assassinengilde wahrscheinlich vierzigtausend Dollar wert gewesen wäre." fuhr Araghast fort. "Lea hat es von einem Schüler aufgeschnappt."
"Ein stolzer Preis." merkte Kolumbini an. "Und ein guter Grund, selbst tätig zu werden, wenn man das Geld nicht hat."
"So viel verdient ein Wächter in seinem ganzen Leben nicht." Nachdenklich sah Romulus in die Flamme der auf dem Tisch stehenden Laterne. "Daraus lässt sich schließen, dass der Mörder entweder nicht genug Geld für eine lizenzierte Inhumierung hatte, oder seinen Namen nicht in den Auftragsbüchern der Assassinengilde sehen wollte." Er räusperte sich. "Und da ist noch was. In von Willerforts Manteltasche steckte eine Postkarte mit einem Theaterzitat. Wehe euch ihr Sünder, denn die Straße zur Verdammnis ist lang und ihr Ende liegt verloren in der Finsternis. Oder so ähnlich."
"Hwel, der anzüglich grinsende König, zweiter Akt, dritte Szene." sagte Aragast nur.
"Woher weißt du das?" fragte Kolumbini verwundert. "Ich dachte immer, du liest lieber deine Gruselromane als Theaterstücke."
Araghast strich mit dem Zeigefinger über den Rand seines Bierglases.
"Ich habe eine Postkarte mit diesem Spruch von Lea geschenkt bekommen, als ich die Abteilung gewechselt habe. Hinten drauf stand eine Bemerkung über Näherinnen und dass ich doch gefälligst die Finger von ihnen lassen soll."
"Soso." bemerkte Kolumbini. "Nun, ich als Trauzeuge hoffe doch sehr, dass du dich daran gehalten hast."
"Eigentlich sind sie gar nicht übel." gab Araghast grinsend zurück. "Sie gehören jedenfalls zu den wenigen Bewohnern des Boucherie, die nichts gegen mich haben. Ganz im Gegensatz zu gewissen Mitgliedern meiner Abteilung."
"Wie Picardo." ergänzte Kolumbini.
"Ich will heute Abend nichts mehr von dem Mistkerl hören." sagte der Hauptfeldwebel nur. "Mal sehen, was der Knollensauger mit ihm anstellt. Übrigens, was den von Willerfort-Fall betrifft - Gestern Abend habe ich mal Lea gefragt, wieviel Kraft denn unbedingt nötig wäre, um ihn überhaupt auf das Dach zu bekommen."
"Und?" Romulus beugte sich vor.
"Es wäre mindestens ein kräftiger Troll nötig. Was mich auf die Idee gebracht hat, dass von Willerfort vielleicht Ärger mit Chrysopras hatte und diese Dächerwerferei irgendein neuartiges Mafiaritual darstellt."
"Das wäre eine Möglichkeit." Ein großer Rauchring wanderte aus Romulus' Mund in Richtung Decke. "Bisher scheint von Willerfort allerdings ein wahrer Ehrenmann gewesen zu sein."
"Es konnt ganz drauf an, wie man das Wort Ehre in Ankh-Morpork definiert." bemerkte Kolumbini und entzündete seine eigene Pfeife. "Hier kann es genausogut bedeuten, jemanden vor seiner Ermordung darauf hinzuweisen, dass es sich um eine offizielle Gildeninhumierung handelt."
"Und jetzt hat sich auch noch der Patrizier persönlich eingeschaltet und verlangt, dass der Fall bevorzugt behandelt wird." fuhr Romulus fort. "Das heißt, wir schaufeln nun mit fast allen Abteilungsmitgliedern anstatt nur zwei Personen den sprichwörtlichen Heuhaufen nach der Stecknadel um. Wenn du dich um Chrysopras kümmern würdest, wäre ich dir wirklich dankbar, Bregs."
Araghasts Zähne blitzten im Kerzenlicht auf.
"Ich habe unseren Hobby-Moloss Patrick Nichts drauf angesetzt. Du weißt doch, wie krankhaft neugierig ich bin. Und, was macht dein toter Privatdetektiv, Fred?" wechselte er das Thema.
"Ich habe den halben Tag im Archiv verbracht, mir eine Staublunge geholt und nach den Akten der Sondergruppe Ankertaugasse gegraben. Zu dumm nur, dass die Sondergruppe bei der Machtergreifung von Lord Vetinari aufgelöst wurde und kurz zuvor noch die halbe Stadt abgebrannt ist. Ihr könnt euch sicher denken, wie erfolgreich ich gewesen bin. Sagen euch zufällig die Initialen I. M. im Zusammenhang mit irgendwelchen Gefangenenlisten vor zwanzig Jahren etwas?"
Die beiden übrigen Anwesenden schüttelten beinahe synchron die Köpfe.
"Das könnte von irrtumssicherer MUT-Anleitung bis zu Igors Multifunktionsorganen so ziemlich alles bedeuten." witzelte Araghast.
"Oder irreführende Mutmaßungen." fiel Romulus ein.
"Wer weiß, vielleicht ist es auch nur eine Anspielung auf inkompetente Mordexperten." bemerkte Kolumbini selbstironisch und widmete sich seinem Kutscherbier. "Das nächste was ich tun kann wird wohl darauf hinauslaufen, dass ich sämtliche dafür in Frage kommenden Archive nach irgendwelchen Gefangenenlisten durchsuchen darf. Die Listen der Wache bin ich schon durchgegangen und von einem I. M. gab es natürlich, wie zu erwarten, zur entsprechenden Zeit keine Spur. Die Sondergruppe Ankertaugasse war nach ihrer Auflösung sehr gründlich darin, sämtliche Akten zu vernichten."
"Der Patrizierpalast." schlug Romulus vor. "Oder vielleicht noch ein paar Gilden."
"Gebt mir ein paar Jahre Zeit und vielleicht löse ich den Fall dann tatsächlich." Kolumbinis Stimme triefte vor Sarkasmus. "Ich bin mir zwar mittlerweile ziemlich sicher, dass dieser I. M. Marloffs letzter Fall war, aber ansonsten tappe ich immer noch im Dunklen. Warum kann der Mörder nicht einfach irgend so ein Irrer sein, der sich aus nicht nachvollziehbaren Gründen an der Wache rächen will und deshalb wild in der Gegend herummordet? Von solchen Verrückten hatten wir mittlerweile so viele, dass für die Fallösung eigentlich schon irgendwo ein Schritt für Schritt-Plan existieren sollte."
Romulus rieb sich den Bart.
"Ich finde es immer wieder schade, dass wir nicht alle drei in der gleichen Abteilung stecken." sagte er. "Bregs, wechsel doch auch mal zu RUM."
"Wenn das so einfach wäre." antwortete der Hauptfeldwebel. "Es ist eine Art Fluch. Zuerst wurde ich bei DOG als Experte für Palastverschwörungen abgelehnt, werde daraufhin Püschologe und hänge eine halbe Ewigkeit dort als stellvertretender Abteilungsleiter fest. Dann übernehme ich die Abteilung und habe wiederum keine Möglichkeit, den Okkultismusexpertenposten zu besetzen."
Kolumbini und Romulus mussten bei diesen Worten schmunzeln. Nur zu gut erinnerten sie sich an den erbitterten Privatkrieg zwischen Araghast und Skilla Amelia Winchester, einer FROG, die sich den vom Hauptfeldwebel so begehrten Posten sofort gegriffen hatte.
"Deshalb habe ich mich sofort beworben, als Picardo zurückgetreten ist." fuhr Araghast fort. "Ich wollte endlich mal wieder ermitteln dürfen." Er verzog das Gesicht. "Dieser ganze Abteilungskram ist teilweise totaler Blödsinn. Andauernd prügeln wir uns um Kompetenzen, anstatt einfach denjenigen zu schicken, der sich wirklich auskennt."
Schmunzelnd hob Romulus sein Bierglas.
"Auf das Ermitteln." sagte er. "Die einzige wahre Wachearbeit."
"Auf das Ermitteln." kam es zweistimmig zurück und Glas klirrte, als die drei anstießen.


ROBIN


Die massiven Eisenstäbe der Zelle fühlten sich rauh unter Robin Picardos schweissnassen Händen an. Der Fähnrich knirschte mit den Zähnen und wünschte Araghast Breguyar ewige Verdammnis in den Feuergruben des Pandämoniums. Wie hatte es dieser Witz von einem Emporkömmling nur wagen können, ihn einfach so von einem FROG-Trupp abführen zu lassen? Und Breguyar glaubte allen Ernstes, ihn, der er die Dienstelle zur Observierung von Gildenangelegenheiten zwei Jahre lang geleitet hatte, einfach so ersetzen zu können? Verfluchter Püschologe. Doch seine Rache würde fürchterlich sein, sobald er erst einmal hier heraus war. Robin ließ die Gitterstäbe los, ballte seine Hände zu Fäusten und begab sich in die Angriffsposition eines Boxers, die ihm der mysteriöse Tyler Schmierseif einmal gezeigt hatte. Wütend hieb er mehrmals gegen die Wand und spürte nicht, wie seine Fingerknöchel anfingen, zu bluten. Er war zur Zeit der einzige Bewohner des Zellentraktes im Wachhaus am Pseudopolisplatz, und somit verhallten seine Wutschreie ungehört. Wie sie da oben in den Büros in in der Kantine wohl über ihn lachen mochten? Von einem Hauptfeldwebel, der unfähig war, die Offizierslaufbahn einzuschlagen, aufgrund püschischer Unzurechnungsfähigkeit vom Dienst befreit. Zwei schwungvolle Tritte ließen die hölzerne Pritsche erbeben, ein dritter beförderte sie krachend gegen die Wand. Robin verspürte einen plötzlichen nagenden Hunger auf Karotten. Ein weiterer Tritt und der unbenutzte Blecheimer flog quer durch die Zelle und prallte scheppernd an der Gittertür ab.
"Lobin!"
Die leise Stimme mit dem unverkennbaren Akzent, die ihm so vertraut war wie sein stoppelbärtiges Gesicht im Spiegel, ließ ihn innehalten. Metall klirrte.
"Bleib ganz luhig, Lobin. Ich bin hiel, um dich zu befleien."
Der Fähnrich fuhr herum und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht.
"Drei!" stieß er hervor. Deutlich konnte er das Gesicht der Achatenerin hinter den Gitterstäben erkennen. Sie war damit beschäftigt, die Zellenschlüssel durchzuprobieren, und ein schelmisches Lächeln spielte um ihre Lippen.
"Es wal einfach." sagte sie. "Ich habe Hatscha eine Zusammenfassung del Elmittlungen im Kaufmannsmold volbeigeblacht. Niemand hat mich zu den Zellen velschwinden sehen."
"Zellen sind von Arsch." knurrte Robin. "Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie dankbar ich dir bin. Du bist die einzige, die noch zu mir hält. Breguyar hat Hatscha mit seinen püschologischen Tricks auf seine Seite gezogen, Patrick sieht zu ihm auf, weil er lange ein FROG gewesen ist, Goldie mag ihn zwar nicht, ist aber zu gerecht um etwas zu unternehmen, Arwan ist eh alles egal, Breda mag ihn, weil er ein verfluchter halber Blutsauger ist, und den Rest der Abteilung kann man auch vergessen. Warum hat Ohnedurst mich ausgerechnet durch ihn ersetzen müssen?"
Es klickte, als Drei Hungrige Mäuler den richtigen Schlüssel im Schloss herumdrehte. Knirschend schwang die Zellentür auf.
"Schnell." sagte der Lance-Korporal. "Fluchen kannst du hintelhel auch noch genug. Da voln beim Tisch des Zellenwächtels liegt ein Mantel mit Kapuze. Ich muss dich noch ungesehen hiel helausblingen."
Mühsam schluckte Robin seine angestaute Wut herunter und trat aus der Zelle. Am Liebsten hätte er seine ehemalige Stellvertreterin an sich gedrückt, doch dafür blieb keine Zeit. Schnell hüllte er sich in den bereitliegenden Mantel und zog sich die Kapuze tief in die Stirn. Währenddessen schob Drei Hungrige Mäuler einen abenteuerlich gebogenen Draht in das Schlüsselloch der offenen Zellentür.
"Manchmal ist es doch zu etwas Nutze, einmal die Expeltin fül die Diebesgilde gewesen zu sein." erklärte sie und zwinkerte ihm zu. "Man wild denken, du wälrest mit Hilfe des Dlahtes von allein ausgeblochen."
Kluge kleine Achatenerin. Sie dachte an alles. Mit einer nahezu lässigen Handbewegung ließ sie den Bund mit den Zellenschlüsseln wieder auf den dafür vorgesehenen Haken gleiten und spähte aus dem Zellengang hinaus in den Kellerflur. Nach einer Zeit, die Robin wie eine kleine Ewigkeit vorkam, bedeutet sie ihm, ihr zu folgen.
Ohne weitere Zwischenfälle gelangten sie zur Kellertreppe, die auf den Innenhof hinausführte. Als Drei Hungrige Mäuler die Kellertür aufstieß, stellte Robin zu seiner Überraschung fest, dass es draußen bereits stockfinster war. In der fensterlosen Zelle war ihm jegliches Zeitgefühl abhanden gekommen.
Plötzlich zog der Lance-Korporal die Tür bis auf einen winzigen Spalt wieder zu und bedeutet Robin, still zu sein. Gedämpfte Stimmen drangen an die Ohren des Fähnrichs, begleitet von dem quietschenden Geräusch einer Seilwinde.
"Vorsicht! Nicht so schnell!" beschwerte sich eine männliche Stimme.
"Machs doch besser! Ich fand gleich, dass es eine absolut dumme Idee war, die Pathologie in den ersten Stock zu verlagern."
"Was kann ich dafür, wenn der Oberfeldwebel will, dass die Leiche noch heute Abend an die Familie übergeben wird. Die scheinen es ja mächtig eilig zu haben, ihre Toten unter der Erde verschwinden zu lassen. Dabei hat RUM, soweit ich weiß, immer noch nicht die leiseste Ahnung, wer es gewesen sein kann. Wir haben doch beide gesehen, wie er da oben auf dem Dach lag. Ich frage mich wirklich, wie er da hochgekommen ist. Es gibt so viele Möglichkeiten."
Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen. Das Quietschen der Winde erstarb und machte schleifenden Geräuschen Platz.
"Würdest du bitte runterkommen und mir helfen?" erkundigte sich die männliche Stimme schließlich. "Ich fürchte, mir ist gerade eine Naht gerissen."
Robin atmete erleichtert auf, als schließlich eine Tür zuklappte und die Stimmen verstummten. Vorsichtshalber wartete Drei Hungrige Mäuler noch ein wenig, bis sie Robin aus dem Keller und im Eilschritt über den verlassenen Innenhof führte. Als sie das Tor aufzogen, blickte der Fähnrich beinahe wehmütig zurück zum Wachhaus. Das war es also gewesen, sein Leben bei der Stadtwache von Ankh-Morpork. Unwillkürlich griff er nach der Dienstmarke, die immer noch in der Brusttasche seines Hemdes steckte. Breguyar hatte ihm nicht nur seine Abteilung, sondern auch seinen Beruf genommen, und war Schuld daran, dass er sich nun verkriechen musste wie ein unlizenzierter Dieb.
"Komm schon." wisperte Drei Hungrige Mäuler und zupfte ihm am Mantelärmel. "Wil haben jetzt keine Zeit fül Sentimentalitäten. Bei mil zu Hause können wil in Luhe dalübel leden."
Robin nickte schicksalsergeben. Hoffentlich hatte sie Karotten bei sich daheim...


HEINZ-HUBERT


Heinz-Hubert Klaus Detlev Horst Meier von Müller-Schulze Schmidt schloss die Tür seiner Wohnung hinter sich und hängte seine Schlüssel sorgfältig an den dafür vorgesehenen Haken. Er war stolz auf seine tägliche Routine. Der Schlüsselbund kam an seinen Platz, genau wie der Mantel. Anschließend begab er sich täglich in die Küche, kochte sich auf seinem kleinen Kohlenherd einen Tee, den er ganz nach den Vorschriften der Liga aus einer Tasse trank, und setzte sich schließlich mit der Abendausgabe der Times in den gemütlichen Ohrensessel vor dem Kamin, in dem selbstverständlich auch ein Feuer brannte. Dieses allabendliche Ritual beruhigte Heinz-Huberts Nerven ungemein. Er tat völlig normale menschliche Dinge und trug dabei unmodische Pantoffeln mit rosa Häschenmuster und Ponpons auf den Fußspitzen.
Doch an jenem Abend war alles anders und Heinz-Huberts Hände zitterten, als er das halbverbrannte Notizbuch aus seiner Manteltasche befreite und ins Wohnzimmer trug. Den Tee übersprang er und ließ sich gleich in seinen Sessel fallen. Seine Vampiraugen hatten keinerlei Schwierigkeiten, im Licht des beinahe vollen Mondes die vom Feuer verschonten Buchstaben auf der ersten Seite zu entziffern.
Mitten in der Lektüre schrak Heinz-Hubert auf und sein Blick wanderte hektisch zu der Öllampe, die unbenutzt auf einem Tischchen neben dem Sessel stand. Wie hatte er vor Aufregung bloß das Licht vergessen können? Menschen brauchten Licht, um des Nachts zu lesen. Hektisch entzündete Heinz-Hubert die Lampe und lehnte sich anschließend um einiges entspannter in die Kissen zurück.
"Ich bin ein Mensch." sagte er beschwörend zu sich selbst. "Ich bin ein Mensch. Ich bin ein Mensch. Ich bin ein Mensch. Ich bin ein Mensch. Das darf ich nie vergessen."
Schließlich fühlte sich Heinz-Hubert soweit mental gestärkt, dass er seinen Ofenfund wieder aufnahm. Das Führen von Notiz- und Tagebüchern war ihm bei der Enthaltsamkeitsliga als eine typisch menschliche weibliche Eigenschaft beigebracht worden. Welchen Grund konnte Eusebia haben, ihr Tagebuch im Ofen ihrer Arbeitsstelle zu verbrennen? Gab es etwa einen verflossenen Liebhaber? Oder liebte sie gar wirklich diesen Schnösel Gisbert Ostenwoge? Diese Vorstellung ließ Heinz-Hubert trotz seiner untoten Natur erschauern. Gierig blätterte er um und verschlang den Inhalt der folgenden Seite förmlich mit den Augen.
Nach fünf Seiten klappte er das Buch enttäucht wieder zu. Was er zwischen schwarzer Asche entziffern konnte, entsprach ganz und gar nicht seinen Vorstellungen von Eusebia Dollarcents geheimen Aufzeichnungen. Hauptsächlich handelte das Buch von einem Auftrag, Archivrecherchen, Notizen irgendwelcher Befragungen und zwischendrin einem Einkaufszettel. Nach weiteren fünf Seiten Lektüre beschlichen Heinz-Hubert ernste Zweifel, dass das Notizbuch überhaupt von seiner Kollegin stammte. Er kannte die Handschrift seiner heimlichen großen Liebe. Eusebia schrieb weitaus runder und verschnörkelter als die Person, die seinen Ofenfund geschrieben hatte. Offensichtlich gehörte das Notizbuch irgendeiner Person, die einem gewissen I. M. hinterhergeschnüffelt hatte. Fieberhaft ging Heinz-Hubert die Liste seiner Bekannten durch. Niemand von ihnen besaß diese Initialen. Doch wie war dieses Buch in den Ofen des Büros geraten? Auch mit den Handschriften Jakob Tellerrands und Gisbert Ostenwoges stimmte die der Notizen nicht überein.
Heinz-Hubert zuckte mit den Schultern. Neues darüber, wie er es vielleicht schaffen konnte, Eusebia zu erobern, hatte er jedenfalls nicht erfahren. Seufzend stand er auf und schlurfte in seinen Pantoffeln in Richtung Küche. Plötzlich verspürte er einen starken Hunger auf aufgewärmten Tomatenketchup.



Bewerbungsgespräch


Pünktlich um acht Uhr stand Araghast vor Kanndras Bürotür und sah ein letztes Mal an sich herunter. Sein drahtiger Körper steckte in der grün-schwarzen Uniform der FROG und der Krustenbrecherfrosch-Anstecker war von seinem Exil in der Innenseite einer DOG-Uniformjacke auf die Brusttasche des Uniformhemdes zurückgekehrt. Der Hauptfeldwebel überprüfte zum letzten Mal den Sitz seiner Schulterklappen, strich sich eine Haarsträhne, die es irgendwie geschafft hatte dem fest geflochtenen Zopf zu entkommen, aus dem Gesicht und klopfte an.
"Herein." drang Kanndras Stimme gedämpft durch die Tür.
Araghast trat ein, marschierte geradewegs zum Schreibtisch und salutierte schwungvoll.
"Hauptfeldwebel Breguyar meldet sich zum Dienst." erklärte er förmlich.
Kanndra und er sahen sich einen kurzen Augenblick an und brachen gleichzeitig in hemmungsloses Gelächter aus.
"Schön, dass du wieder da bist, Bregs." sagte sie. "Ohne dich hat uns letztendlich doch was gefehlt."
"Was denn?" fragte Araghast und ließ sich in den bereitstehenden Besucherstuhl fallen. "Streitereien um Kompetenzen und unabgesprochene Alleingänge? Bedrohung des Kaffeedämonen mit einer Streitaxt? Haarsträubende Verschwörungstheorien?"
"Unter anderem genau das." antwortete Kanndra lächelnd. "Irgendwie fehlte das Salz in der Abteilungssuppe. Nyvania ist keine schlechte Püschologin und Sayadia Trovloff macht sich soweit auch nicht schlecht, aber du hast deine ganz eigene Art und an deinen Dickschädel ist noch keiner herangekommen."
Der Hauptfeldwebel grinste schief.
"Also, dann fang mal an mit dem Bewerbungsgespräch."
Kanndra räusperte sich theatralisch und setzte eine ernste Miene auf.
"Araghast Breguyar, du hast dich also für den Posten des Püschologen beworben." begann sie. "Kannst du mir sagen, was deine Gründe waren?"
"Ich habe die Stelle schonmal gehabt und bin zu faul, eine neue Spezialisierung zu erlernen." antwortete Araghast ebenso ernst.
"Und warum glaubst du, für den Posten besonders geeignet zu sein?"
"Ich bin chronisch schlecht gelaunt, kann Leute besonders gut gegen mich aufbringen, mache eh, was ich will und der Okkultismusexperte ist mal wieder besetzt."
"Gut." erklärte Kanndra feierlich. "Damit wäre den Formalitäten genüge getan. Willkommen bei FROG. Den Anstecker hast du ja schon, also kann ich den Teil auch überspringen."
"Quak." bemerkte Araghast und salutierte erneut, dieses Mal weitaus lässiger. "Ich fühle mich schon wieder richtig zu Hause. Auch wenn ich wahrscheinlich die Hälfte der Abteilung nicht mehr kenne."
Kanndra nickte.
"Tussnelda ist weg, Mohrtischa Unmagisch und Übrigens Gernegroß auch. Und Rina..." sie zog ein Blatt Papier aus dem Ablagekorb und hielt es hoch. "Ich habe ein Memo vom Kommandeur bekommen mit der Frage, wo sie in der letzten Zeit gesteckt hat."
Araghast seufzte. "Wieder einer von der alten Garde, der vermutlich bald geht. Sie war meine Ausbilderin. Weißt du noch, damals bei GRUND - ach was solls, lange ists her." Er sah sich im Büro um und sein Blick blieb an dem aus alten Wahooniekisten gezimmerten Regal hängen. "Warum hast du das alte Ding eigentlich nicht weggeschmissen?"
"Ich fand, es gehört irgendwie in dieses Büro. So wie Venezias Würstchenflecken auf der Schreibtischplatte und die Gnomenleiter. Jeder Abteilungsleiter hinterlässt hier seine Spuren, auf die eine oder andere Weise. So etwas verleiht dem Büro erst richtig Charakter."
"Und was willst du hinterlassen?" erkundigte sich Araghast.
Kanndra stützte den Kopf auf die verschränkten Hände und legte die Stirn in Falten.
"Ich bin noch am Überlegen. Vielleicht ein paar Töpfe mit Hühneraugensalbe. Oder ich kaufe ein paar wirklich hässliche kitschige Vorhänge in Tantra Sandelholz' Geschäft. Aber erstmal habe ich vor, noch für mindestens ein halbes Jahr hierzubleiben."
"Hachja, Tantra Sandelholz." Araghast konnte es sich nicht verkneifen, sein Auge zu verdrehen. "Die wohl friedliebendste Person Ankh-Morporks. Wenn alle wären wie sie, könnten wir den Laden hier dichtmachen."
"Vermutlich." stimmte Kanndra ihm zu. "Sie lebt auf gewisse Weise in ihrer eigenen Welt. Die Leiche auf ihrem Dach damals muss der Schock ihres Lebens gewesen sein."
"Wehe euch ihr Sünder, die ihr den Pfad der Tugend verlassen habt! Denn die Straße zur Verdammnis ist lang und ihr Ende liegt verloren in der Dunkelheit." zitierte Araghast nachdenklich seine Postkarte. "Weißt du, ich musste heute schon oft an damals denken."
Kanndra beugte sich vor.
"Die ganze Geschichte hat mich oft an einen Stein erinnert, den man in einen Teich wirft. Es fing klein an und dann wurden die Wellenkreise immer größer. Und schließlich hat sich das alte Wächtersprichwort bewahrheitet, dass eine Leiche selten allein kommt."


Tag 5 - Falsches Spiel


ROMULUS


Romulus von Grauhaar rieb sich die Schläfen. Eine weitere von bereits viel zu vielen schlaflosen Nächten lag hinter ihm. Wann ging Stravinskowitsch endlich wieder auf Tournee, so dass das nächtliche Geklampfe und das Gefiedel auf der Überwaldianischen Arschgeige zumindest für ein paar Wochen ein Ende hatte? Der stellvertretende Abteilungsleiter von RUM griff sich eine Dose Superbulle aus einer Kiste neben dem Schreibtisch. Der Tag fing gut an. Sein Schädel brummte von mindestens zehn Anläufen seines Nachbarn, die Akkorde von Gaudete, Gaudete Brutha est natus in die richtige Reihenfolge zu bringen und der Vollmond war nur noch einige Stunden entfernt. Wie immer am Tag vor der unfreiwilligen Verwandlung fühlte sich Romulus gereizt und schlecht gelaunt. Sein Blick glitt zu dem Hundekorb in der Ecke seines Büros. Dieser Gegenstand hatte in seinen Augen etwas entwürdigendes an sich, doch einmal im Monat wurde er gebraucht. Dagegen half rein gar nichts.
Dazu sahen die Stunden bis zur Verwandlung in einen felltragenden Vierbeiner auch nicht besser aus. Der Willerfort-Mordfall machte kaum Fortschritte.
Vor Romulus auf der Tischplatte lagen die Berichte von Ophelia und Septimus über die Trauerfeier. Die einzige Person mit einem Motiv war und blieb die Lady des Hauses. Araghast überprüfte die Trollmafia-Theorie, doch je länger Romulus darüber nachdachte, desto mehr Lücken wies diese Argumentation auf. Was nützte es der Brekzie, wenn niemand in der Ermordung des Kaufmanns ihre Handschrift erkannte? Troll-Mafiosi zerquetschten ihre Opfer in den meisten Fällen zu Mus und hinterließen eine eindeutige Warnung an andere, dass dies ebenfalls mit ihnen geschehen konnte, wenn sie nicht gehorchten. Vermutlich wusste Araghast dies tief in seinem Inneren ebenfalls und wollte einfach nur irgend etwas tun.
Der Ermittler leerte die Superbulle-Dose in einem Zug und warf sie in den Papierkorb. Mittlerweile waren sie soweit, jeder noch so vage erscheinenden Spur hinterherzulaufen, in der Hoffnung, dass sich ein Zufallstreffer ergab. Und zu allem Überfluss saß der Patrizier RUM im Nacken. Romulus nahm sich gerade vor, Ophelia Ziegenberger auf die Lady Perdita von Willerfort anzusetzen, als es an der Tür klopfte.
"Herein." brummte Romulus und rieb sich den Stoppelbart.
Die Gefreite Ayure Namida trat ein und salutierte. Sie wirkte außer Atem.
"Sör, als ich es gehört habe, bin ich sofort zu dir gelaufen. Es gibt eine zweite Leiche auf einem Dach!"
Schlagartig war Romulus hellwach.
"Wo?" fragte er nur.
"In Ankh, Sör." antwortete Ayure und strich sich eine schwarze Haarsträhne aus dem erhitzten Gesicht. "Die Straße heißt Wollgrube und liegt hinter dem Schlummerhügel."
"Danke, Gefreite." Der Ermittler griff nach seinem Hut und stülpte ihn sich auf den Kopf. "Wir treffen uns in zwei Minuten unten am Haupteingang. Geb SUSI Bescheid, sie sollen mit einem Trupp anrücken. Wenn möglich mit schwindelfreien Leuten."
Nachdem die Gefreite sich entfernt hatte, steckte Romulus vorsichtshalber zwei weitere Dosen Superbulle in die Taschen seines Mantels. Während des Gespräches von einer knappen halben Minute Dauer war sein ganzes Gebäude an Theorien im Mordfall Willerfort ins Wanken geraten. Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder handelte es sich bei dem zweiten Mord um einen Trittbrettfahrer, oder die Sache artete in Serienmord aus. Und die Möglichkeit von letzterem reichte allein aus, um Romulus' Laune noch weiter zu verschlechtern.
Und es blieb immer noch die ungeklärte Frage, was man Bregs bloß zur Hochzeit schenkte... Warum hatte er am vergangenen Abend bloß vergessen, dezent nachzufragen?


KANNDRA


Eine weitere Leiche auf einem Dach. Kanndra Mambosamba konnte nicht leugnen, dass die Sache begann, wirklich interessant zu werden. Leise ein Lied vor sich hinsummend schlenderte sie die Kellertreppe herunter, um nach dem gefangenen Fähnrich Picardo zu sehen. Sie hoffte, dass er seine Lektion gelernt hatte. Und insgeheim musste sie sich selbst eingestehen, dass die ganze Verhaftungsaktion ein ungeheurer Spaß gewesen war. Wenn Bregs' Umgang mit DOG ihr auch gelegentlich ein wenig hart erschien, eines musste sie ihrem Freund lassen - Er verstand sich ausgezeichnet auf die Taktiken der püschologischen Kriegsführung. Überhaupt, ohne ihn fehlte dem Wachhaus am Pseudopolisplatz etwas. Sein unnachahmlicher 'FROOOOGS! Angetreten!'-Schrei und seine farbenfrohen Flüche hatten jahrelang zum Alltag gehört. Objektiv betrachtet war Araghast ein chronisch schlecht gelaunter Mistkerl. Doch seine oft nicht ganz einfache Art und seine Angewohnheit, sich die Fälle, die ihn interessierten, einfach zu schnappen, hatten die gemeinsame Zeit bei FROG erst richtig interessant gemacht. Natürlich hatte es schwierige Zeiten gegeben und bis heute waren die Umstände des Falls Herr Hong und der daraus resultierende Tod der Knallpulverexpertin Charlotta nicht endgültig geklärt, eine Tatsache, die Valdimier Bregs aus irgendwelchen Gründen ziemlich nachzutragen schien. Aber Araghast hatte dem Wacheleben eine ganz besondere Würze gegeben.
Und nun saß er im Boucherie Rouge, beobachtete Gildenaktivitäten und war hoffentlich seinem Ziel, auch ohne endlose Streitereien um Kompetenzen ermitteln zu können, ein gutes Stück nähergekommen.
Der Zellenblock lag im Dunklen. Kanndra entzündete eine Laterne und wanderte von Tür zu Tür, bis sie schließlich Robins Zelle erreichte.
Die Gittertür stand eine Handbreit offen und ein verbogener Draht steckte von außen im Schloss. Kanndra verdrehte die Augen. Sie hätte es wissen müssen.
Schulterzuckend machte sie sich auf den Weg zu ihrem Büro. Was auch immer Picardo geritten hatte, es war nun nicht mehr ihr Problem. Mit diesem Ausbruch konnte er seine Wachekarriere als so gut wie beendet betrachten. Sie würde Bregs in ihrem täglichen Brief von der Flucht des Fähnrichs in Kenntnis setzen. Und anschließend wartete Elvira Donatellos Fackeln im Orkan in der untersten Schreibtischschublade. Kanndra seufzte leise, als sie an das Buch dachte. Von dieser Geschichte konnte sich selbst ihre Nachbarin Tania alias Barbara Kartenhand noch eine Scheibe abschneiden. Samantha Bonarchase. Während sie die Treppen hinaufstieg, ließ sich die Abteilungsleiterin der FROG den Namen genüsslich auf der Zunge zergehen. So hießen wirklich nur die Heldinnen schmalziger Liebesromane. Was jedoch die männliche Hauptfigur betraf - Plötzlich konnte Kanndra gar nicht anders, als lauthals loszulachen.


ROMULUS


Die Füße des Toten ragten gleich einer Karikatur über die Regenrinne des dreistöckigen Hauses. Romulus von Grauhaar konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als er sich mit Ayure im Schlepptau durch die Schaulustigen drängte, welche wild diskutierend die Straße versperrten. Vor dem Eingang des Hauses redete Charlie Holm eifrig auf einen älteren Herrn in Morgenrock und Schlafmütze ein, während Olga-Maria Inös ihr Bestes tat, ein Absperrseil quer über die Straße zu spannen.
"Chief-Korporal von Grauhaar, Abteilung für Raub und unlizenzierten Mord." stellte sich der Ermittler kurz und bündig vor und zeigte seine Dienstmarke. "Und meine Kollegin Ayure Namida. Wir hätten Ihnen gern einige Fragen gestellt."
Der Mann mit der Nachtmütze wirkte sichtlich erleichtert, als Charlie Holm sich nach einem kurzen Nicken in Richtung seiner Kollegen zum parkenden Eselskarren aufmachte.
"Mein Name ist Kurt Wachmacher, Vertreter für Bettzeug. Immer zu Ihren Diensten." Er ergriff Romulus' Hand und schüttelte sie kräftig. "Sie sehen so müde aus, Herr Wächter. Könnte ich Sie vielleicht für eine Schlummerrolle begeistern? Das Modell Isadora garantiert erstklassigen Schlafkomfort und hilft garantiert gegen Nackenschmerzen. Die Füllung besteht..."
"Eigentlich bin ich hier, um von Ihnen etwas über die Leiche auf dem Dach zu erfahren." unterbrach ihn Romulus.
"Äh... ja, die Leiche." Herr Wachmacher brauchte einen Moment, um den abrupten Themawechsel zu verdauen. Er seufzte tief. "Da gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen. Ich wollte die Milch hereinholen, da habe ich nach oben geschaut um zu gucken, wie das Wetter heute wird. Wissen Sie, in der Bettzeugbranche kann man gar nicht genug auf so etwas aufpassen. Ein Regenguss, und all die guten Federbetten auf dem offenen Karren sind ruiniert. Ganz zu schweigen von den Matratzen. Die Federn sind aus echtem Spitzhornbergeisen. Und es wäre zu schade, wenn...
"Die Leiche, Herr Wachmacher." Romulus unterdrückte nur mit Mühe ein Knurren. Warum musste er ausgerechnet heute, wo sein Geduldsfaden angesichts des nahenden Vollmondes so dünn wie ein Spinnenwebfaden war, an eine solche Nervensäge geraten?
Der Vertreter räusperte sich.
"Tja, da hingen die Füße über das Dach. Zuerst habe ich hochgerufen, aber der Kerl da oben hat mir nicht geantwortet. Dann ist mir dieser Dach-Mörder eingefallen, über den ich vor ein paar Tagen in der Zeitung gelesen habe. Und ich habe mir gedacht, so etwas kann doch nicht normal sein, dass da oben nun einer liegt, und den Nachbarsjungen zur Wache geschickt. Das wird ja auch immer schlimmer in dieser Stadt. Jetzt hat man als unbescholtener Bürger schon morgens einen Toten auf dem Dach!"
"Ja ja." antwortete Romulus abwesend und beobachtete aus den Augenwinkeln die beiden Mitarbeiter einer der zahlreichen Zeitungen der Stadt, einen Mann und eine Frau, die einen Ikonographen auf ein Dreibein setzten und den Apparat auf die beiden über die Dachrinne ragenden Beine ausrichteten. Die Presse hatte ihm gerade noch gefehlt.
"Danke, Sie haben uns sehr geholfen." wimmelte er den Versuch Herrn Wachmachers, ihm eine tiefschlaffördernde Matratze zu verkaufen, ab. "Wenn Sie uns nun auf das Dach lassen würden - Wir haben einige Spuren zu sichern."
"Oh, wie aufregend." Der Vertreter überreichte Romulus einen großen Schlüssel. "Darf ich dabei zusehen?"
"Nein. Aber melden Sie sich bitte zur ausgiebigeren Befragung im Wachhaus am Pseudopolisplatz. Den Schlüssel bekommen Sie zurück, wenn wir hier fertig sind."
Ayure Namida war derweil mehrere Schritte zurückgetreten und blickte nach oben.
"Ich finde es unheimlich, Sör." bemerkte sie, nachdem Romulus zu ihr getreten war. "Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie der Tote dort hochgekommen ist. Das hier ist sogar noch ein Stockwerk mehr als beim letzten Mal."
"Das kann bisher keiner." brummte Romulus. "Dann lass uns unseren Freund da oben mal anschauen."
Ein Blitz erhellte die Straße. Die Ikonographiererin der Zeitung hatte mit ihrer Arbeit begonnen.

Oben auf dem Dach wehte eine frische Brise und Romulus musste seinen Hut festhalten, damit er nicht davongeweht wurde. Die Luft roch nach baldigem Regen. Ein Blick auf den Körper, der dort mit ausgestreckten Gliedern vor ihm lag, genügte, um festzustellen, dass der Mann mausetot war. Das schüttere angegraute Haar war vom Wind zerzaust und der Mund des Toten stand gleich einem lautlosen Schrei weit offen.
Wortlos balancierte Charlie Holm nach einer gründlichen Untersuchung des Schlosses der Dachluke über die abschüssigen Schindeln zur Leiche.
"Ayure, du gehst wieder runter und horchst dich bei den Nachbarn um." befahl Romulus und sah zu, wie Charlie neben der Leiche niederkniete. Die Schritte der Gefreiten entfernten sich die Stiege hinab.
"Männlich, Geschätztes Alter etwa Mitte vierzig bis Mitte fünfzig." erklärte der Spurensicherer und begann, sich Notizen zu machen. "Wohlgenährt, wertvolle Kleidung." Er beugte sich über die Leiche. "Seiner Lage nach zu urteilen wurde der Tote durch einen Wurf oder einen ähnlichen Vorgang auf dieses Dach befördert. Spuren in seiner unmittelbaren Umgebung: Keine."
Als wäre dies sein Stichwort gewesen, näherte sich Romulus ebenfalls der Leiche. Vorsichtshalber zog er sein Halstuch über Mund und Nase. Mit einer Hand an seinem Hut ließ er sich auf die Knie nieder. Sofort kitzelte der süßliche Geruch geronnenen Blutes seine empfindliche Nase und er zwang sich, fest an Blumenkohl zu denken. Währenddessen machte Charlie einige Ikonographien des Leichnams in seiner ursprünglichen Lage.
"Darf ich?" fragte Romulus, als der Spurensicherer das Gerät zur Seite legte.
"Tun Sie, was Sie nicht lassen können." antwortete dieser nur und rieb sich die lange Nase.
Der Ermittler streifte mühselig einen Handschuh über und klopfte die Manteltaschen der Leiche ab. In der linken Seitentasche spürte er etwas hartes rechteckiges und förderte schließlich eine Postkarte zu Tage. Als er die Aufschrift las, wusste er, dass Gregor von Willerforts Tod erst der Anfang gewesen war.

Wehe euch ihr Sünder, die ihr den Pfad der Tugend verlassen habt! Denn die Straße zur Verdammnis ist lang und ihr Ende liegt verloren in der Dunkelheit.
(Hwel, Der anzüglich grinsende König, zweiter Akt dritte Szene)


Unten auf der Straße fand Romulus seine Kollegin Ayure in Bedrängnis. Der ältliche Reporter hatte die Chance genutzt und damit begonnen, sie auszufragen. Olga-Maria Inös war derweil damit beschäftigt, eine Gruppe Schuljungen davon abzuhalten, über die abgesperrte Straße zu trampeln.
"Ich sagte doch bereits, wir wissen noch nichts Genaueres." Obwohl sie von oben auf den Mann herabblicken konnte, klang Ayure ein wenig eingeschüchtert.
"Aber Sie gehen von einem Gewaltverbrechen aus?" kam postwendend die Gegenfrage.
Romulus zog das Tuch von seinem Gesicht und trat zu den beiden.
"Wer sind Sie überhaupt?" schnauzte er den Journalisten an. "Und warum belästigen Sie meine Kollegin?"
Der Reporter warf ihm einen durchdringenden Blick aus blauen Augen hinter eckigen Brillengläsern zu.
"Erwin Egon Kirsche, Katastrophenreporter der Ankh-Morpork Times." stellte er sich vor. Seine Stimme war leise, besaß aber einen scharfen Unterton, der es unmöglich machte, sie zu überhören. "Ich berichte über den sogenannten Dach-Mörder. Ist es wahr, dass es sich bei der Leiche dort oben um sein nächstes Opfer handelt?"
Romulus knirschte mit den Zähnen. Die Postkarte, die sich zur Zeit in einer Tüte in Charlie Holms Spurensicherungskoffer befand, sprach eine eindeutige Sprache. Doch dieser dreiste Pressemensch brauchte nicht alles zu wissen. Er hatte selbst Schuld, einem Werwolf kurz vor Vollmond auch noch den letzten Nerv zu rauben.
"Kein Kommentar." antwortete er kurz angebunden und ließ Kirsche einfach stehen. Ayure folgte ihm hastig.
"Lektion Nummer eins." erklärte er, während er ein Seil aus dem Eselskarren griff. "Aufdringliche Reporter wird man am Besten los, indem man sie einfach ignoriert. Und nun lass uns sehen, dass wir den Kerl da oben irgendwie vom Dach bekommen. Reporter sind wie die Geier in der klatschianischen Wüste. Wenn sie erst einmal Beute gewittert haben, gibt es für sie kein Halten mehr."
Unwillkürlich sah Ayure nach oben in den wolkenverhangenen Himmel, als erwartete sie, dort oben die kahlköpfigen Aasfresser kreisen zu sehen.


VALENTINA


Mit einem leisen Scharren glitt der mit kunstvollen Schnitzereien verzierte Deckel auf den Eichensarg, in dem die sterblichen Überreste ihres Vaters ruhten. Ein Sturzbach von Tränen lief über Valentinas Wangen und wie durch einen Schleier nahm sie wahr, dass sich mehrere Friedhofsbedienstete an das Einschlagen der Nägel machten. Auf dem Stuhl neben ihr rang ihre Stiefmutter um Fassung und Valentina konnte sich denken, dass auf den Bänken hinter ihnen zahlreiche weitere Damen in ihre Taschentücher schnieften, während ihre Ehemänner sich Mühe gaben, eine steinerne Miene zur Schau zu tragen.
Es waren viele gekommen, um Gregor von Willerfort die letzte Ehre zu erweisen. Unter den Trauergästen befand sich der gesamte Vorstand der Kaufmannsgilde. Hinzu kamen Geschäftspartner und Freunde mit ihren Gattinen. Lord von Willerfort war ein beliebter Mann gewesen. Selbst seine zweite Ehe mit einer Tochter mouldawianischer Einwanderer war ihm von der feinen Gesellschaft verziehen worden. Nur allzudeutlich konnte Valentina sein fröhliches Gesicht mit dem sorgfältig zurechtrasierten blonden Schnurrbart und den kleinen Grübchen in den Wangen vor sich sehen. Mein kleiner Engel. hatte er, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, immer zu ihr gesagt und sie auf die Stirn geküsst. Eines Tages wirst du die glücklichste Frau der Scheibenwelt sein.
Vor wenigen Tagen hatte Valentina ihm diese Worte noch anstandslos geglaubt. Doch nun lag der Körper ihres Vaters kalt und reglos in dieser schrecklichen Holzkiste, die gerade von den acht Sargträgern auf ein Tragegestell gehoben wurde.
Warum ausgerechnet er, hatte sich Valentina seitdem immer wieder gefragt. Ihr Vater hatte niemandem etwas zu Leide getan. Er bezahlte seinen Angestellten und Lagerarbeitern einen anständigen Lohn und besaß einen guten Ruf als ehrlicher Geschäftsmann. Bisher hatten die ermittelnden Wächter nicht den kleinsten Hinweis auf den Täter gefunden. Die Geschäftsbücher waren im Laufe des vergangenen Tages von ihr selbst überprüft worden und wiesen keinerlei Unregelmäßigkeiten auf.
Teure Kreppseide raschelte und Spazierstöcke klapperten auf dem steinernen Kapellenboden, als sich die Trauergesellschaft erhob. Valentina tupfte sich die Augen mit einem schwarzen Spitzentaschentuch und wappnete sich innerlich für das Kommende. Es war ihre erste offizielle Beerdigung. Beim Tod ihrer Mutter war sie noch so klein gewesen, dass sie sich an nichts erinnern konnte. Insgeheim wünschte sie sich, dass sich ihre Stiefmutter ein wenig mehr zusammenriss. Perdita von Willerfort schien einer Ohnmacht nahe zu sein und wurde auf beiden Seiten gestützt. Sie übertrieb es wirklich mit der Trauer. Wieder einmal fühlte Valentina nagende Zweifel in sich aufsteigen. War die herzzerreißende Verzweiflung der Lady echt, oder spielte sie der gesamten Scheibenwelt lediglich etwas vor, während sie sich insgeheim darüber freute, ihrem Sohn das Erbe gesichert zu haben?
Valentinas Blick traf sich mit dem Alfreds, der hektisch an seinem Asthmamittel schnüffelte. Dieses einzige Mal wenigstens konnte er seinen Pflichten als neuer Mann des Hauses nicht entkommen.
Zwei Angestellte des Bestattungsinstituts öffneten die große Flügeltür und Wind und vereinzelte Regentropfen wehten in die Kapelle. Valentina kuschelte sich tief in ihren Pelzmantel und reihte sich neben ihrer Stiefmutter in den Trauerzug ein. So ähnlich mussten sich Regimentssoldaten fühlen, wenn sie zum Spießrutenlaufen vor ihren Kameraden antreten mussten. Sie konnte die bohrenden Blicke der Damen der Gesellschaft förmlich in ihrem Rücken spüren. Wie mochte sich Lord von Willerforts Tochter wohl halten auf dem Weg zur Familiengruft? Versank sie völlig in Trauer wie ihre Stiefmutter, würde das als Zeichen von Schwäche angesehen werden. Gab sie sich hingegen übermäßig selbstsicher und kalt, hielt man sie für herzlos. Am liebsten hätte sich Valentina in ihrem Zimmer verkrochen, die Vorhänge zugezogen, die Tür abgeschlossen und sich in die Lektüre von Fackeln im Orkan geflüchtet. Irgendwo in der Menge der Trauernden befand sich Hanno, doch er durfte nicht zu ihr. Nicht auf einer derart offiziellen Veranstaltung. Die frisch gefallenen Blätter, die die zahllosen Gräber des Zentralfriedhofs bedeckten wie eingefärbter Hagelzucker eine besonders makabere Torte, raschelten unter ihren Füßen. Weitere Blätter tanzten im Wind und der Nieselregen bildete schon bald einen dünne feuchte Schicht auf dem Deckel des Sarges. Eine einsame Frau stand ein wenig abseits des Marschweges und blickte dem Trauerzug nach. Als sie Valentinas Aufmerksamkeit gewahr wurde, nickte sie kurz zum Gruß und senkte den Blick.
"Beim blinden Io, sie hat Nerven!" zischte eine gehässige Stimme laut und deutlich in den Reihen der Trauergäste. "Hier zu erscheinen, obwohl sie genau weiß, dass ihre Anwesenheit unerwünscht ist!"
Valentina ignorierte die Bemerkung. Sie kannte die hochgewachsene schlanke Dame mit dem Gehstock nicht. In der feinen Gesellschaft mit ihren komplizierten Ritualen war es leicht, in Ungnade zu fallen, und es interessierte sie nicht, was die Fremde vielleicht einmal angerichtet haben mochte. Da bog der Trauerzug auch schon um eine Ecke und die unbekannte Frau verschwand sowohl aus ihrem Gesichtsfeld als auch aus ihrer bewussten Erinnerung.


GOLDIE


Eigentlich entsprach die Safarie im zweiten Stock des Boucherie Rouge nicht unbedingt den Bedürfnissen eines Zwerges, fand die Hauptgefreite Goldie Kleinaxt. Der ganze Raum vermittelte das Gefühl der endlosen Weite der klatschianischen Steppe, was einem Zwerg, der beinahe sein ganzes Leben in den engen Stollen des heimatlichen Bergwerkes verbracht hatte, zumindest während der Eingewöhnungsphase nicht besonders gut bekam. Darum hatte Goldie ihr Büro ein wenig dekoriert.
An diesem Vormittag war der Dobermann gerade damit beschäftigt, das Mitgliederregister der Klempnergilde auf den neuesten Stand zu bringen, als es leise an der Tür klopfte.
"Herein." rief die Zwergin abwesend und strich den Namen eines bei einer Fäkalgasexplosion ums Leben gekommenen Mitglieds aus.
"Bist du allein?" war die beinahe geflüsterte Frage des Lance-Korporals Drei Hungrige Mäuler, als sie sich ins Zimmer drückte.
Verwundert sah Goldie auf, erhob sich und salutierte.
"Hier ist niemand, Ma'am." sagte sie. "Stimmt etwas nicht?"
Drei legte den Zeigefinger auf die Lippen.
"Du blauchst nicht fölmlich zu sein, Goldie. Eigentlich bin ich gal nicht hiel, falls du velstehst."
Für einen Augenblick überlegte Goldie, wie diese Metapher nun zu verstehen sei, beließ es aber dabei, kurz die Stirn zu runzeln. Irgend etwas beunruhigte ihre Kollegin.
"Was ist denn los?" fragte sie stattdessen.
Seufzend ließ sich die verdeckte Ermittlerin in Ausbildung auf das Himmelbett fallen.
"Es geht um unselen ehemaligen Abteilungsleitel." erklärte sie. "Du weißt doch, dass Bleguyal ihn gesteln hat velhaften lassen."
Goldie nickte.
"Eine völlig unnachvollziehbare Handlung."
Drei Hungrige Mäuler sah sie ernst an.
"Jetzt einmal ganz ehllich, Goldie. Was hältst du von Bleguyal? Du blauchst keine Angst zu haben, dass ich ilgend etwas weitelelzähle, also sei ganz offen."
Die Zwergin zuckte mit den Schultern.
"Er ist jetzt unser Abteilungsleiter." erklärte sie. "Und er ist anders als unser Fähnrich Picardo. Strenger. Mehr... FROG."
"Findest du, dass el zu uns passt?" hakte Drei nach.
Goldie überlegte einen Moment. Was bezweckte ihre Kollegin mit dieser Fragerei? War dies einer von Breguyars seltsamen Tests? Aber wenn es so wäre, wieso hatte er dann ausgerechnet Drei Hungrige Mäuler ausgesucht, deren Nähe zu Robin Picardo abteilungsweit bekannt war? Goldie beschloss, dem Lance-Korporal zu vertrauen.
"Nein." antwortete sie. "Er passt nicht zu uns."
"Weil el zu sehl ein FLOG ist?" bohrte Drei weiter.
Goldie atmete tief durch und sah aus dem Fenster. Eine Taube flog daran vorbei, an ihrem Bein baumelte eine Nachrichtenkapsel. Die tägliche Routine der Wache ging weiter, egal was intern auch geschehen mochte. Der Dobermann fasste einen Entschluss.
"Nicht nur deshalb." sagte sie zögernd. "Araghast Breguyar... er ist ein böser Mensch. Ich glaube nicht, dass er ehrlich ist. Und ich traue ihm zu, über Leichen zu gehen, wenn es sein muss. Er hat es einfach an sich, das Böse. Allein schon sein stechender durchdringender Blick. So gucken nur wahre Schurken." Die Zwergin räusperte sich. "Fähnrich Picardo dagegen - er war ein guter Mann. Bei ihm gab es so etwas wie ein Familiengefühl hier bei DOG."
Nun war es heraus und Goldie fühlte sich beinahe erleichtert. Schon lange hatte in ihr die Gewissheit genagt, dass dem neuen Abteilungsleiter nicht zu trauen war. Endlich hatte sie jemanden gefunden, dem sie sich anvertrauen hatte können.
Ein Lächeln breitete sich auf Drei Hungrige Mäulers Lippen aus.
"Lobin Picaldo geht es gut." teilte sie mit. "Ich habe ihn aus del Zelle im Hauptwachhaus befleit. Und el ist nun ebenfalls nicht gut auf Bleguyal zu splechen."
"Das kann ich mir denken." bemerkte Goldie.
Drei schnippte mit den Fingern.
"Ganz untel uns." Verschwörerisch beugte sie sich vor und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. "Was wüldest du davon halten, wenn Bleguyal plötzlich seines Postens enthoben, odel ganz aus del Wache helausgewolfen wülde?"
"Ein böser Mann bekommt irgendwann, was er verdient." antwortete Goldie.
"Und," Dreis Stimme war kaum noch zu hören, "Was wäle, wenn du selbst einen Teil dazu beitlagen kannst, Bleguyal loszuwelden?"
Die Zwergin erschrak.
"Du meinst... eine Intrige?" fragte sie vorsichtig.
Drei Hungrige Mäuler nickte nur.
"Ich weiß nicht."
In Goldies Inneren fand ein Kampf statt. So gern sie den unehrlichen ungeliebten Vorgesetzten los wäre, es war einfach nicht richtig, Böses mit Bösem zu bekämpfen. Wenn sie sich selbst erst einmal auf den Pfad der Korruption begeben hatte, gab es kein Zurück mehr. Und Rechtschaffenheit hatte in Goldies Weltsicht einen hohen Stellenwert.
Der lauernde katzenäugige Blick ihrer achatenen Kollegin schien Löcher in ihr Bewusstsein zu bohren.
"Komm schon, Goldie." beschwor Drei ihre Kollegin. "Lobin blaucht deine Hilfe. El will nul Gelechtigkeit fül sich. Bleguyal ist ein Schulke. Hilf ihm und mil, Bleguyal loszuwelden. Es ist zum Wohl del gesamten Wache."
"Zum Wohl der gesamten Wache." wiederholte Goldie und spielte mit den Enden ihrer Barthaare. Ihr ehemaliger Abteilungsleiter brauchte sie und ihre Hilfe. Dank Araghast Breguyar hatte seine Karriere bei der Wache ein unrühmliches Ende gefunden. Hatte dieser es dann nicht automatisch verdient, es heimgezahlt zu bekommen?"
"Für die Gerechtigkeit." sagte die Zwergin schließlich leise und vermied es, ihre Kollegin dabei anzusehen.


ARAGHAST


Völlig ahnungslos, dass vor zehn Minuten der Grundstein einer Verschwörung gegen ihn gelegt worden war, blickte Araghast Breguyar in die Runde der in seinem Büro versammelten DOG-Wächter. Auf seinem Schreibtisch lag die Nachricht von Romulus, die vor einigen Minuten eingetroffen war und seine kompletten Vermutungen über die Hintergründe des von Willerfort-Mordes über den Haufen geworfen hatte.
"Leute, wir haben eine zweite Leiche auf einem Dach." kam er ohne Umschweife auf den Punkt. "Es scheint der gleiche Tathergang wie beim ersten Mord zu sein. Zuerst ein Messer in den Rücken und dann wurde der Kerl auf das Dach geschafft, fragt mich nicht, wie. Und in seiner Manteltasche befand sich wieder eine Postkarte, so wie diese hier." Er hielt die Karte, die er von Leonata zum Antritt seines Abteilungsleiterpostens bekommen hatte, in die Höhe.
"Du meinst, dass wieder dieser Verdammnisspruch von Hwel draufsteht, Sör?" erkundigte sich Arwan aus den Tiefen des überdimensionalen Himmelbettes.
Araghast nickte.
"Aber was hat DOG mit dem Mord zu tun?" schaltete sich Patrick Nichts ein.
Ein strenger Blick des Hauptfeldwebels ließ ihn den Mund halten.
"Ich war noch nicht fertig, Lance-Korporal Nichts. Der Tote hieß Hannibal Mellendorff, war zu seinem Todeszeitpunkt vierundfünfzig Jahre alt und Mitglied der Kaufmannsgilde. Und selbst du, Lance-Korporal Nichts, musst doch zugeben, dass zwei tote Kaufmänner innerhalb weniger Tage durchaus einen Fall für DOG darstellen."
"Ja, Sör." antwortete Patrick und Araghast vermutete, dass er es sich nur mit Mühe verkniff, seinem Abteilungsleiter eine Fratze zu schneiden.
"Deshalb werden wir RUM bei den Ermittlungen unterstützen." fuhr der Hauptfeldwebel fort. "Kleinaxt, hast du die Klempnergildenliste fertig aktualisiert?"
"Ja, Sör." antwortete die Zwergin und schaute zur Seite, als habe er sie bei etwas ertappt.
"Gut. Dann stattest du zusammen mit Nichts der Kaufmannsgilde verdeckt einen Besuch ab." erklärte Araghast und ignorierte Patricks leises Aufseufzen geflissentlich. "Ich werde mir die Gildenleitung vorknöpfen. Ach ja, und Gefreiter Spitzschuh und Lance-Korporal Drei Hungrige Mäuler - Ihr räumt Picardos Büro aus. Er wurde heute Morgen, nachdem seine Flucht aus dem Zellentrakt entdeckt worden ist, von Kommandeur Ohnedurst offiziell aus der Wache geworfen. Macht mit dem Kram, was ihr wollt, sorgt nur dafür, dass das Büro frei wird."
Hätten Blicke töten können, wäre Araghast auf der Stelle unter dem Blick Drei Hungrige Mäulers tot umgefallen.
"Ja, Sör!" brachte sie hervor und rauschte aus dem Drunter und Drüber.
Schulterzuckend sah Araghast ihr nach. Er wusste, dass sie ihm die Geschehnisse des gestrigen Tages mehr als nur übel nahm, doch was hätte er tun sollen? Picardo war es gewesen, der sich wie das letzte hinterhältige Kameradenschwein benommen hatte. Die Konsequenzen geschahen ihm nur recht. Auf einem Piratenschiff wäre sein Handeln nicht mit einem schlichten Rauswurf beantwortet worden. Dort hätte man ihn mindestens gekielholt.
"Ende der Sitzung." sagte der Hauptfeldwebel nur und wandte sich mit den Gedanken wieder dem bevorstehenden Besuch der Kaufmannsgilde zu. Dieses Mal hatte Romulus wirklich Glück gehabt, was die Identifizierung der Leiche betraf. Offensichtlich machte sich der Dach-Mörder, wie er mittlerweile getauft worden war, nicht die Mühe, die Taschen seiner Opfer zu leeren, und hatte den Gildenausweis Mellendorffs in dessen Brieftasche gelassen.
Nachdenklich sah der Hauptfeldwebel zu, wie Breda Krulock als letzte Wächterin das Büro verließ. Die Firma Mellendorff und Sohn war führend im Handel mit Wolle und Wolltuch aus den Regionen jenseits der Sto-Ebene.
Zwei Tote. Zwei angesehene wohlhabende Kaufmänner ungefähr gleichen Alters. Zwei Postkarten mit dem gleichen Hwel-Zitat in ihren Taschen. Zwei Dächer, auf denen die Leichen platziert worden waren.
Araghast ballte die Hände zu Fäusten. Ein einzelner Mord kam oft genug vor. Doch mehrere Morde nach dem gleichen Muster - das schrie geradezu nach einem Serientäter.
"Ich verwette eine Flasche Rum, dass es, falls wir den Täter nicht bald erwischen, weitergeht mit der Morderei." erklärte der Hauptfeldwebel dem ausgiebig den leeren Futternapf beschnüffelnden Crunkers. "Und warum zum Pandämonium das Gewerfe auf Dächer?"


HEINZ-HUBERT


Er hatte es gewagt. Der Rosenstrauß lag eingewickelt in unauffälliges braunes Papier vor Heinz-Hubert auf der Schreibtischplatte. Unruhig schielte der Persönliche Sekretär zweiter Ordnung zum leeren Schreibtisch Eusebia Dollarcents. Vor kurzem hatten die Gildenglocken zehn Uhr verkündet und seine Kollegin war immer noch nicht zur Arbeit erschienen. Langsam begann Heinz-Hubert, sich ernsthafte Sorgen zu machen, und wie es schien, war er nicht der einzige. Auch Jakob Tellerrands Miene war düster und immer wieder verließ er das Büro für kurze Zeit. Einzig und allein Ostenwoge wirkte wie immer.
"Und wieder ein Brief an die Stadtwache." verkündete er, als er wieder einmal mit Heinz-Hubert allein war, und schnippte einen Umschlag lässig in den Postkorb. "Seine Exzellenz wird langsam ungehalten. Am Morgen gab es den zweiten toten Kaufmann auf einem Dach und die Wächter sind unfähiger als ein Haufen Ankhschlamm, irgendeine heiße Spur zu finden." Er kicherte. "Wenn das so weitergeht, ist die Kaufmannsgilde bald ausgestorben."
Heinz-Hubert zuckte nur mit den Schultern und überhörte den folgenden hämischen Vortrag seines Kollegen über die nicht vorhandene Kompetenz der Stadtwache geflissentlich. Seine Gedanken wanderte zurück zu Eusebia. Wo blieb sie bloß? Hoffentlich war ihr nichts zugestoßen. Insgeheim schämte sich Heinz-Hubert für die Episode mit dem Tagebuch, was auch der Hauptgrund dafür gewesen war, dass er sich in aller Frühe zu einem Blumenhändler begeben hatte. Ihm war, als hätte Eusebia eine Entschuldigung verdient. Das Herumschnüffeln in den persönlichen Aufzeichnungen einer anderen Person, egal ob es nun seiner Angebeteten oder einer ganz anderen Person gehört hatte, gehörte sich einfach nicht. Dennoch wurde der Sekretär den Gedanken an das Buch nicht los. Von wem mochte es stammen und wer hatte es hier in der Schreibstube in den Ofen geworfen?


ARAGHAST


Araghast konnte Kaufmänner nicht besonders gut leiden. In seinen Augen handelte es sich größtenteils um profitgierige korrupte Pfeffersäcke, die auf dem Rücken anderer schamlos in ihre eigenen Taschen wirtschafteten. Während seiner Zeit als Schiffsjunge auf der Sonne von Herscheba war er oft genug dabei gewesen, als die Mannschaft die schweren, mit wertvollen Waren beladenen Koggen geentert und geplündert hatte. Gerechte Umverteilung der Güter, hatte Kapitän Drache es genannt. Und wenn Araghast an Kaufmänner wie Ephraim Farrux dachte, verspürte er nicht das geringste Mitleid. Solche Schweine in Menschengestalt hatten es einfach verdient, nach Strich und Faden ausgenommen zu werden.
Und so musste der Hauptfeldwebel unweigerlich schmunzeln, als er die prunkvolle Fassade des Hauptquartiers der Kaufmannsgilde vor sich aufragen sah. Das Leben besaß seine ganz eigene Absurdität. Wenn die Pfeffersäcke dort drinnen wüssten, dass ein ehemaliger Pirat kurz davor stand, in ihrem eigenen Interesse zu ermitteln... Vorsichtshalber nahm Araghast noch einen tiefen Schluck aus seinem Flachmann, um seine Nerven zu beruhigen. Niemand in der Gilde konnte wissen, dass er selbst oft genug dabeigewesen war, als diverse Güter... umverteilt wurden. Hauptfeldwebel Breguyar war nun der Abteilungsleiter der Dienststelle zur Observierung von Gildenangelegenheiten, und wer auch immer ihm irgendwelche verbrecherischen Aktivitäten nachweisen wollte, musste schon sehr tief graben.
Das Pochen von Araghasts Faust gegen das Hauptportal der Gilde fiel dementsprechend energisch aus.
"Ja?" näselte eine männliche Stimme hinter einer schmalen Klappe in der Tür.
Ohne Worte hielt Araghast seine Dienstmarke vor die Öffnung.
"Stadtwache von Ankh-Morpork." erklärte er kurz angebunden. "Ich will Herrn Spottbillig sprechen. Es geht um die jüngsten Morde an Gildenmitgliedern."
"Morde?" fragte der Torwächter pikiert. "Ich weiß nichts von Morden."
Araghast verdrehte sein Auge. Er hatte so etwas bereits erwartet.
"Gregor von Willerfort." zählte er genervt auf. "Hannibal Mellendorff. Na, klingelts?"
"Mellendorff?" kam die erstaunte Antwort. "Ermordet? Wie denn das?"
"Eben das versuche ich, herauszufinden. Und deshalb wäre ich wirklich dankbar, wenn ich mit Herrn Spottbillig persönlich reden könnte."

Erstaunlich, wie schnell einige sensationelle Neuigkeiten manche Menschen dazu bringen konnten, einem die Arbeit zu erleichtern, dachte Araghast, als er von einem übereifrigen Diener durch das Gildenhaus der Kaufmänner geführt wurde. Sobald es einem aus ihren eigenen Reihen an den Kragen gegangen war, konnten sich diese snobistischen Pfeffersäcke erstaunlich kooperativ zeigen. Die Taube in der Manteltasche des Hauptfeldwebels gurrte leise und Araghast unterdrückte nur mit Mühe den Impuls, von außen auf die Tasche zu schlagen. Tauben fielen für ihn in die gleiche Kategorie wie Nachrichtendämonen - er sah sie als ein leider notwendiges Übel.
Geflissentlich ignorierte er die weitschweifige Ankündigung seiner Person durch den Gildendiener und fütterte die Taube mit einigen Brocken Papageienfutter. Schließlich wurde er in das pompöse Arbeitszimmer gebeten.
Als er des unaufdringlichen Prunkes ansichtig wurde, zogen für kurze Zeit eine wehende Piratenfahne und johlende Freibeuter vor seinem geistigen Auge vorbei. Herr Spottbillig selbst saß gleich einer massigen Kröte hinter einem mit Intarsien verzierten Schreibtisch aus klatschianischem Ebenholz und tupfte sich mit einer Serviette den Mund ab.
"So, was muss ich da hören?" begann er das Gespräch ohne jegliche Begrüßung. "Hannibal Mellendorff wurde ermordet? Gerade bin ich von der Beerdigung des Lords von Willerfort zurückgekehrt, und nun das."
"Das wurde er." antwortete Araghast und erwartete gar nicht erst, einen Sitzplatz angeboten zu bekommen. "Heute Morgen lag er mausetot auf einem Dach in der Wollgrube beim Schlummerhügel. Der Tathergang ist mutmaßlich der Gleiche wie bei der Ermordung von Willerforts."
"Und?" fragte Herr Spottbillig.
"Was und?" gab der Hauptfeldwebel zurück und ließ die Hand in die Manteltasche gleiten, um der schon wieder lauthals gurrenden Taube den Schnabel zuzuhalten.
"Was gedenkt die Wache, zu unternehmen?"
Araghast atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe, obwohl er dem Seeräuber in sich am liebsten den sofortigen Enterbefehl gegeben hätte. Männer wie Spottbillig glaubten, dass sie die Macht hatten, alles und jeden, der ihren Weg kreuzte, herumzukommandieren wie einen Lakaien.
"Die Wache wird ermitteln." erklärte der Hauptfeldwebel in neutralem Tonfall. "So, wie sie es immer tut."
"Sie täte besser daran, schnell zu ermitteln." erwiderte Herr Spottbillig ungehalten und wies auf eine Schiefertafel mit einer Grafik, die an der dem Schreibtisch gegenüberliegenden Wand hing.
"Sehen Sie, die Kurve steigt stetig an, das heißt, dass unsere Gewinne steigen. Mehrere unter seltsamen Umständen ermordete Gildenmitglieder können sich als äußerst geschäftsschädigend erweisen, das wird doch selbst ein Wächter verstehen."
"Und wie ich es verstehe. Vermutlich genauso geschäftsschädigend wie wiederholte unlizenzierte Piratenüberfälle." konnte sich Araghast nicht verkneifen, zu bemerken. Die Taube biss schmerzhaft in seinen Daumen und einen Fluch unterdrückend zog er seine Hand ins Freie. Insgeheim nahm er sich vor, mit dem Gefreiten Spitzschuh ein ernstes Gespräch über die Taubendressur zu führen.
Herr Spottbillig zuckte mit den Schultern.
"Was wissen Sie schon von Geschäften. Haben Sie noch etwas zu sagen, oder wollen Sie nur weiter meine Zeit verschwenden?"
"Ein wenig Zeit möchte ich noch verschwenden." bemerkte Araghast. "Hatten von Willerfort und Mellendorff viel miteinander zu tun?"
Das Oberhaupt der Kaufmannsgilde verbrachte einige Zeit damit, sich ausgiebig seine knollige Nase zu reiben.
"Sie pflegten gelegentlich miteinander zu Mittag zu essen." antwortete er schließlich. "Es gab keinen Grund zur Missgunst zwischen ihnen. Sie führten ihre Geschäfte in verschiedenen Sektoren."
"Verstehe." Araghast begann, die weiterhin leise vor sich hingurrende Taube ins Pandämonium zu wünschen, so wie die gesamte Kaufmannsgilde. Kein Wunder, dass Schwallsack Farrux sich in diesem Laden so wohlfühlte. Hier befand er sich unter Seinesgleichen.
"Das wäre dann alles, Herr Spottbillig." fügte er hinzu und wandte sich ohne einen Abschiedsgruß zum Gehen. Wenn man ihn hier behandelte wie ein lästiges Stück Dreck, konnten die Pfeffersäcke lange auf Höflichkeiten seinerseits warten.
Eine Sache noch, Wächter." Die Pikiertheit war deutlich aus der Stimme des Gildenoberhauptes herauszuhören.
"Ja?" antwortete Araghast nur.
"Ihre Manteltasche gurrt."


LEONATA


"Die Masse des Mannes beträgt 90 Kilogramm, für die Scheibenanziehung dürft ihr einen Wert von gerundet 10 Metern pro Quadratsekunde annehmen. Die Höhe des Daches beträgt zwölf Meter. Und nun - wie viel Kraft wird benötigt, um diesen Mann auf das Dach zu befördern... Ja, Fräulein Wiggs?"
Das junge Mädchen lächelte Leonata freundlich an.
"Ist der Mann noch am Leben, oder schon inhumiert?" erkundigte sie sich.
"Suchen Sie es sich aus. Ich versichere Ihnen, es hat nur äußerst geringe Auswirkungen auf seine Flugbahn."
Mehrere Nachwuchsassassinen kicherten leise.
Leonata ließ ihren strengsten Lehrerinnenblick durch die Runde schweifen und schlagartig verstummten die Schüler und beugten sich über ihre Hefte. Zufrieden ließ sie sich hinter dem Katheder nieder und ließ ihre Gedanken zurück zu Gregor von Willerforts Beerdigung wandern. Das blonde Mädchen, allem Anschein nach seine Tochter, hatte sich gut gehalten, während die Witwe dem Zusammenbruch nahe gewesen war. Dunkel meinte Leonata sich zu erinnern, dass von Willerfort zweimal verheiratet gewesen war, zuerst mit einer Dame der morporkianischen Gesellschaft, und nach ihrem Tod mit einer Ausländerin.
Es klopfte und noch bevor Leonata den Klopfenden hereinbitten konnte, öffnete sich die Tür und einer der Vertrauensschüler schaute in den Klassenraum herein.
"Verzeihen Sie, wenn ich störe, Fräulein Eule." sagte er und verneigte sich galant. "Aber der Herr Mericet möchte Sie umgehend sprechen."

Im Gegensatz zu dem stets höflichen und galanten Lord Witwenmacher konnte Leonata den verkniffenen Mericet, amtierendes stellvertretendes Oberhaupt der Assassinengilde, nicht sonderlich leiden. In seiner Nähe verspürte sie das ständige Bedürfnis, sich im Inneren der Hirnschale zu kratzen. Es hieß, der alte Assassine hätte eine hämische Freude daran, Schüler bei den Abschlussprüfungen sehr endgültig durchfallen zu lassen.
Selbst zur Mittagszeit glich Mericets dunkel getäfeltes Büro einer Gruft.
"Ah, Fräulein Eule." begrüßte er Leonata mit einem verkniffenen Lächeln. "Es freut mich sehr, dass Sie meiner, ähm, Einladung so unverzüglich gefolgt sind. Setzen Sie sich doch. Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?"
"Vielen Dank, aber mir ist zur Zeit nicht nach warmen Getränken." antwortete die junge Frau höflich und ließ sich auf dem Besucherstuhl nieder.
Mericet lachte meckernd.
"Sind Sie so vorsichtig? Glauben Sie mir, wir brauchen Ihre Fähigkeiten zur Ausbildung unserer Schüler. Ihr Ableben wäre kein Gewinn für uns."
"Das freut mich zu hören, Herr Mericet." bemerkte Leonata trocken und spielte mit dem Silberknauf ihres Gehstocks. "Aber was verschafft mir die Ehre bei Ihnen? Ich unterrichte gerade die vierte Klasse."
"Oh." Wieder dieses verkniffene Lächeln. "Eigentlich wollte ich Ihnen nur dazu gratulieren, wie wunderbar sich Ihre Stunden in unseren neuen Lehrplan einfügen. Seitdem Sie unsere Schüler die ephebianische Geometrie lehren, sind die Fallenbaukurse mit weitaus mehr Erfolg gekrönt als zuvor. Ich hoffe doch sehr, Sie fühlen sich wohl bei uns? Die Farbe Ihrer Kleidung lässt dies vermuten, wobei ich Sie hoffentlich nicht darauf hinweisen muss, dass reines Schwarz ausschließlich ausgebildeten Gildenmitgliedern vorbehalten ist."
"Ich bin am Vormittag auf einer Beerdigung gewesen." erklärte Leonata, während sie insgeheim die Augen verdrehte. Hatte der alte Mericet sie wirklich nur aus dem Unterricht gerufen um ihr zu erzählen, wie wunderbar er ihr Konzept des praxisbezogenen Lernens fand?
"Verstehe." antwortete der Assassine. "Lord Gregor von Willerfort, nicht wahr? es ist wahrlich eine Tragödie. Und nun gab es eine zweite unlizenzierte Inhumierung des gleichen Typs."
Leonata nickte. "Ich habe davon auf der Straße gehört."
Plötzlich beugte sich Mericet vor und sah ihr direkt in die Augen.
"Geht es Ihnen auch wirklich gut, Fräulein Eule?" fragte er mit einem lauernden Unterton in der Stimme.
Die junge Frau runzelte verwirrt die Stirn. Was war plötzlich in ihren Gesprächspartner gefahren?
"Mir geht es wunderbar." antwortete sie wahrheitsgemäß. "In wenigen Tagen werden ich heiraten. Und darauf freue ich mich wirklich sehr."
"Dann gratuliere ich herzlich." Das verkniffene Lächeln Mericets wuchs in die Breite und Leonata wurde das unbestimmte Gefühl nicht los, dass soeben ein Spiel begonnen hatte, dessen Regeln sie nicht kannte.


ARAGHAST


"Ich habe es zufällig in der Times gefunden und dachte, es könnte dich interessieren, Sör." Breda Krulock schob Araghast die Zeitung über den Schreibtisch. "Hinten, bei den Kleinanzeigen."
Der Hauptfeldwebel nahm das Blatt entgegen und schlug die vorletzte Seite auf. Mit zusammengekniffenem Auge überflog er die Gebote und Gesuche, wobei sich seine Mundwinkel hin und wieder zu einem Lächeln verzogen.
"Ich finde immer wieder faszinierend, was manche Leute loswerden wollen." bemerkte Breda. "Wer braucht schon einen tragbaren Lügendetektor?"
"Kein Schwein." antwortete Araghast hinter der Zeitung. "Und selbst wenn der Apparat tatsächlich funktionieren sollte, hier in Ankh-Morpork würde er wahrscheinlich Daueralarm geben. Man sollte eher einen Apparat erfinden, der ehrliche Antworten meldet. Hm, das ist wirklich interessant." Der Hauptfeldwebel ließ die Times sinken.
"Und, hast du schon eine Idee, wen du schicken willst, Sör?" Die Vampirin schob sich eine pechschwarze Haarsträhne aus der Stirn. Ich scheide aufgrund meiner Spezies ja leider aus."
"Wenn ich überhaupt jemanden schicke." Nachdenklich legte Araghast den Zeigefinger in das Grübchen an seinem Kinn. "Vielleicht will RUM auch einen verdeckten Ermittler hinschicken." Er warf einen Blick aus dem Fenster, sprang auf und griff nach seinem Mantel. "Noch ist es hell. Ich könnte es schaffen, mit Romulus zu reden, bevor der Mond aufgeht."
Breda nickte nur und sah zu, wie ihr Vorgesetzter die Seite mit den Anzeigen aus der Zeitung herausriss und zusammengefaltet in seine Manteltasche steckte.
"Gut gemacht, Obergefreite." sagte er noch, bevor er davoneilte.

Während er seine eiligen Schritte durch den Spätnachmittagsverkehr in Richtung Hauptwachhaus lenkte, überflog Araghast noch einmal die Anzeige.

Hauslehrer gesucht
Ich suche einen Hauslehrer für meinen Sohn (13 Jahre), welcher aufgrund seines sensiblen Zustands in nächster Zeit nicht in der Lage sein wird, die Schule zu besuchen. Männliche menschliche Bewerber werden bevorzugt. Lady P. von Willerfort, Königsstraße 16, Ankh


In Gedanken ging Araghast die Eignung seiner Hunde für den Posten durch. Hatscha, Breda, Drei, Goldie, Arwan, Neflie und Klitzegroß fielen schon einmal aufgrund ihres Geschlechtes oder ihrer Spezies heraus. Und den Gefreiten Spitzschuh als Hauslehrer wollte sich Araghast nicht einmal vorstellen, es sei denn, die Lady von Willerfort hätte jemanden gesucht, der ihren Sohn zum Seramisglauben konvertierte. Der einzige der DOGs, der zumindest die Grundvoraussetzungen für den Einsatz, der in Araghasts Gedanken immer mehr Gestalt anzunehmen begann, aufbrachte, war der Lance-Korporal Patrick Nichts. Doch etwas in dem Hauptfeldwebel sträubte sich gegen Patrick Nichts als Hauslehrer. Er würde keinen ehemaligen Assassinen in einen Haushalt schicken, in dem erst vor wenigen Tagen ein Mord geschehen war.

"Heute nicht mehr." kam die Antwort postwendend auf Araghasts Anklopfen.
"Ich bins, Romulus." antwortete der Hauptfeldwebel. "Und glaub mir, ich wäre nicht hier, wenn es nicht verdammt brennen würde."
Eine halbe Minute verstrich, bis Romulus von Grauhaar die Tür seines Büros öffnete. Sein Hemd war schief zugeknöpft und hing halb aus den Hosen heraus.
Araghast nickte nur kurz und verkniff sich jegliche Bemerkung über den unordentlichen Zustand der Kleidung seines Freundes und Kollegen. Stattdessen warf er einen kurzen Blick aus dem Fenster. Die Sonne war bereits zur Hälfte hinter den Dächern Ankh-Morporks verschwunden. Es blieb ihm nicht mehr viel Zeit. Hastig zog er die zusammengefaltete Zeitungsseite aus der Manteltasche und reichte sie Romulus.
"Die von Willerforts suchen einen Hauslehrer." erklärte er. "Und ich dachte, das wäre eine passende Gelegenheit, uns einzuschalten."
Der Ermittler überflog die Anzeige.
"Männlich, menschlich und gebildet." brummte er. "Das wird kompliziert. Mein erster Gedanke wäre unser Fräulein Ziegenberger, aber sie überzeugend als Mann zu kostümieren wäre schwierig." Romulus begann, in seinem Büro auf- und ab zu gehen und Araghast kam nicht umhin zu bemerken, dass er immer wieder verstohlen in Richtung Fenster sah.
"Wen hast du noch?" fragte der Hauptfeldwebel.
"Lilli Baum." kam die leicht gereizt klingene Antwort. "Sie hält sich allen Ernstes für einen solchen. Also auch ungeeignet. Ich könnte höchstens Kolumbini schicken, der hat ja schon mal verdeckt als Lehrer ermittelt. Aber irgendwer muss sich auch um diesen toten Privatdetektiv kümmern. Was sind deine Optionen?" Nachdenklich rieb sich Romulus seinen Bart und Araghast wurde das Gefühl nicht los, dass selbiger seit seiner Ankunft bereits um einen guten Zentimeter gewachsen war.
"Patrick Nichts." Der Hauptfeldwebel verzog das Gesicht.
"Wo liegt da das Problem?" fragte Romulus.
"Ganz einfach." Araghast lehnte sich neben dem Türrahmen an die Wand. "Es gefällt mir einfach gar nicht, einen ehemaligen Assassinen in ein Trauerhaus zu schicken. Außerdem ist er arrogant und neigt zur Selbstüberschätzung. Ein Hauslehrer sollte meiner Meinung nach mehr... du weißt schon, ruhig und geduldig sein und sich nicht für den großen Helden halten."
"Aber hast du eine bessere Idee?" hakte Romulus nach.
Der Hauptfeldwebel schüttelte den Kopf. "Eben darum bin ich ja hier. Aber wie unser werter Patrizier sagen würde, ich möchte dich nicht länger aufhalten. Ich weiß, welcher Tag heute ist. Dann muss es wohl doch Nichts sein."
"Ich wollte, ich wüsste jemanden, der geeigneter ist." antwortete Romulus und gemeinsam sahen sie zu, wie die letzten Sonnenstrahlen von einer dunklen Wolke ausgelöscht wurden. "Es tut mir leid, dich jetzt rauszuschmeißen, aber es ist so weit." Und er begann, sein Hemd aufzuknöpfen.
"Dann bis morgen." verabschiedete sich Araghast und verließ das Büro des Ermittlers.


NYRIA


Einige Meilen randwärts des Herzogtums Sto Barrat saß Nyria Maior auf einem Feldstein und beobachtete das Licht der untergehenden Sonne, das hinter der Dunstglocke des fernen Ankh-Morpork milchigrot erschien. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, als sie tief in ihrem Inneren spürte, dass der Vollmond nur noch knapp unterhalb der Gipfel der Spitzhornberge am mittwärtigen Horizont stand.
"Semper Humanus." sagte Nyria leise vor sich hin und kicherte. Das Motto ihrer Familie, des uralten und noblen Hauses von Canis Maior Alpha, war nicht mehr als ein schlechter Witz. Der speziesistische Urahn, der sich diesen Spruch hatte einfallen lassen, würde sich vermutlich vor Wut in seiner Gruft umdrehen, wenn er wüsste, dass es sich bei den letzten beiden übrig gebliebenen Familienmitgliedern um einen Halbvampir und eine Werwölfin handelte. Doch auch vor den Ereignissen, denen Nyria ihre jetztige Existenz verdankte, war alles, was die Familie noch besaß, der Name gewesen. Ein spielsüchtiger Großonkel hatte das gesamte Vermögen auf der Rennbahn verjubelt und das Pech war denen von Canis Maior Alpha seitdem auf der ganzen Linie treu gewesen. Nyrias Vater war wegen eines Serienmordes, den er nicht begangen hatte, im Gefängnis gelandet, ihre Tante aus der Familie verstoßen worden und als unlizenzierte Näherin zu Grunde gegangen, weil sie von einem Vampir geschwängert worden war. Das Ergebnis dieser speziesübergreifenden Liebesnacht war Nyrias Vetter, bei dem sie dringend Abbitte für das Chaos, das sie bei ihrer überstürzten Flucht aus Ankh-Morpork hinterlassen hatte, leisten musste.
Nachdenklich rieb sich Nyria ihren Unterkiefer, in dem ein leichtes Ziehen bereits die bevorstehende Transformation ankündigte. Auch nach fast drei Jahren als Werwolf konnte sie sich einfach nicht an das Gefühl der zwanghaften Verwandlung gewöhnen. Im tiefsten Grunde ihres Bewusstseins hasste sie es, einmal im Monat dazu gezwungen zu sein, eine Nacht auf allen Vieren zu verbringen. Doch dies war der Preis, den sie nicht ganz freiwillig dafür gezahlt hatte, noch auf der Scheibenwelt zu wandeln. Ihr Seufzen verwandelte sich in ein kehliges Knurren.
Wenig später lief ein struppiger Wolf mit sandfarbenem Fell und einem Rucksack zwischen den Zähnen durch die Kohlfelder in Richtung Ankh-Morpork.


KOLUMBINI


Kolumbini stand in eine Wolke aus Pfeifenrauch gehüllt am Wohnzimmerfenster seiner Villa und sah zu, wie der Vollmond über den Dächern Ankh-Morporks aufstieg. Im Laufe des Tages hatte sich der Himmel aufgeklart. Nur noch vereinzelte Wolkenfetzen zogen an der silbernen Scheibe vorbei und kündeten von einem entfernten Sturm. Unwillkürlich musste der kleine Ermittler an seinen Kollegen Romulus von Grauhaar denken, der die Nacht in seinem Hundekorb verbringen musste, und meinte, durch das geschlossene Fenster hindurch schwach das Heulen eines Wolfes zu vernehmen. Welke Blätter tanzten in einem plötzlichen Windstoß durch die Luft und ihre sich schwarz gegen den Himmel abzeichnenden Silhouetten erinnerten Kolumbini an einen Schwarm tanzender Fledermäuse. Ein wenig wehmütig dachte er an seine Heimat Kurzbach. Nächte wie diese gehörten dort einzig und allein den Untoten und die Lebenden blieben in ihren Häusern. Nicht so wie in Ankh-Morpork, diesem stinkenden, brodelnden Schnelztiegel der Spezies und Kulturen, der kuriose Verbrechen gebar wie Kaninchen Junge. Und irgendwo dort draußen lief auch der Mörder Archibald Marloffs frei herum.
Kolumbini stieß eine Rauchwolke aus. Was auch immer er anstellte, er trat in diesem Fall auf der Stelle wie ein Hamster in seinem Laufrad. Die mysteriöse Person namens I. M. war und blieb wie vom klatschianischen Treibsand verschluckt und sämtliche möglichen Spuren waren im Sande verlaufen. Der Ermittler hasste es, es zugeben zu müssen, doch allmählich gingen ihm die Ideen aus. Doch immerhin war er nicht der einzige erfolglose Wächter. Wer auch immer die beiden Kaufmänner ermordet und auf die Dächer befördert hatte, ging ebenfalls sehr raffiniert vor, warum auch immer er es tat. Mit gerunzelter Stirn wandte sich Kolumbini vom Fenster ab und stopfte seine Pfeife nach. Vielleicht gab es doch irgendwo einen vergessenen Gott der Dachdecker oder Schornsteinfeger, dem einige durchgeknallte Kultisten in peinlichen Kutten durch Blutopfer zu neuem Ruhm verhelfen wollten. Ein zynisches Lächeln stahl sich auf die Lippen des Ermittlers als er durch den dunklen Raum zum Kamin schritt, eine Rauchfahne hinter sich herziehend. In Gedanken malte er sich aus, wie ein Trupp FROGs mit gezückten Armbrüsten einen angemessen düsteren Keller stürmte, zwei oder drei Kuttenträger als Kollateralschaden erledigte und schließlich stolz mit dem Obermotz im Schlepptau von dannen zog. Theoretisch könnte es so sein. Wie schon so oft in der Geschichte der Stadtwache.
Doch ein unbestimmtes Gefühl in der Magengrube sagte ihm, dass die Angelegenheit weitaus komplizierter war als die übliche Angelegenheit mit religiösen Verrückten.
"Denn die Straße zur Verdammnis ist lang." murmelte er leise. "Und ihr Ende liegt verloren in der Dunkelheit."
Er hörte, wie jemand die Wohnungstür ins Schloss zog und die Schlüssel einsteckte. Kurz darauf vernahm er das Pochen von Absätzen auf dem Parkett und Ivonne betrat das Wohnzimmer, eine frisch angezündete Zigarette in einer Spitze zwischen den Fingern. Im flackernden schwachen Licht des Kaminfeuers erkannte Kolumbini, dass sie anstatt ihres üblichen cremefarbenen Kostüms ein schwarzes hochgeschlossenes Kleid trug und ihr Haar zu einem strengen Knoten aufgesteckt hatte.
"Ich sehe, du hast wieder verdeckt geschnüffelt, Ivonne." bemerkte er.
Seine Kusine ließ ein tiefes, kehliges Lachen erklingen.
"Das ist mein Beruf, Fred." konterte sie und kam näher, während sie mit der freien Hand einige Nadeln aus ihrem Haar zog. "Und dazu war dieser grauenhafte Aufzug auch noch völlig umsonst." Die letzte Haarnadel glitt aus dem Knoten, welcher sich sogleich auflöste. Genüsslich schüttelte Ivonne ihr langes dunkelblondes Haar aus. "Dabei sollte man meinen, dass einem die Informationen geradezu vor die Füße fallen, so pingelig wie diese Anwälte mit ihren Prozessakten sind."
Sie unterbrach sich um Hund hinter den Ohren zu kraulen, der gemächlich auf sie zugetrottet kam und ihre Röcke beschnüffelte.
"Verstehe." Kolumbini zog an seiner Pfeife. "Die Anwaltsgilde also. Lass mich raten, du hast dir mal wieder einen dieser Fälle geschnappt, hinter denen mehr steckt als der übliche untreue Ehepartner."
Ivonne befreite ihre Finger aus Hunds Fell und winkte ab.
"Ehepaare. Fred, über so etwas bin ich längst hinaus. Mittlerweile grabe ich nach Personen, die komplett verschwunden sind." Sie verzog das Gesicht. "Zur Zeit leider ziemlich erfolglos. Da war jemand entweder ziemlich gründlich, sämtliche Spuren zu entfernen, oder ich habe die richtige Quelle noch nicht gefunden."
"Wem sagst du das." Der Ermittler ließ sich in seinem Sessel nieder. "Ich trete im Marloff-Fall auch auf der Stelle. Alles was ich weiß ist, dass der Gegenstand seiner letzten Ermittlungen irgendwann vor vielen Jahren verhaftet wurde. Zumindst gab es zu dieser Zeit die Sondergruppe Ankertaugasse noch, was bedeutet, dass der Fall in die Zeit vor Vetinari reicht. Die Initialen der Person waren anscheinend I. M."
"I. M." wiederholte Ivonne. "I. M. wie Ignatius Merino?"
"Wie?" fragte Kolumbini und seine Hand wanderte beinahe automatisch zu seinem Glasauge. "Ivonne, was für einen Auftrag hast du angenommen?"
Die Privatdetektivin trat hinter den Sessel und ihre Rauchwolke vermischte sich mit der ihres Vetters.
"Ich spreche normalerweise nicht über meine Klienten." sagte sie ruhig.
"Normalerweise." gab Kolumbini zurück. Das Geräusch seines Fingerknöchels auf seinem künstlichen Auge hallte im dunklen Zimmer wieder. "Aber wenn vielleicht jemand wegen eben dieses Falles ermordet wurde - ob du es glaubst oder nicht, irgendwie bist du mir doch wichtig. Und ich glaube nicht, dass deine Mutter besonders glücklich darüber wäre, wenn du wie Marloff endest."
"Na gut." Ivonne seufzte tief. "Gestern hat mir der Baron von Offlerberg höchstpersönlich einen Fall angeboten. Sein Schulfreund, der sich politisch engagiert hat, ist vor vielen Jahren spurlos verschwunden, noch vor Vetinaris Amtsantritt. Er hieß Ignatius Merino. Die Sache schien mir interessant und die Bezahlung war reichlich, da habe ich den Auftrag angenommen. Und da in den meisten Fällen auf eine Verhaftung ein Prozess folgt, habe ich mir heute das Archiv der Anwaltsgilde vorgenommen. Allerdings bin ich nicht fündig geworden."
"Wenn ich nur wüsste, wo Marloff überall gewesen ist..." murmelte Kolumbini. "Irgendwo muss er auf jemanden gestoßen sein, der nicht wollte, dass mehr über diesen Ignatius Merino herausgefunden wird." Er erhob sich und wandte sich zu seiner Kusine um. "Ich werde morgen mal ein ernstes Wörtchen mit dem werten Herrn Baron reden. Aber eine Frage noch - Er hat dir gegenüber wirklich kein einziges Wort gesagt, dass er vielleicht schon einmal jemanden angeheuert hat, nach Merinos Verbleiben zu forschen?"
Ivonne schüttelte den Kopf.
"Wenn das so ist, Fred... Jetzt werde ich erst wirklich neugierig, was hinter allem steckt."
"Es liegt mir fern, dich an deiner Arbeit zu hindern." erklärte Kolumbini. "Aber mir kommt da eine Idee, wie wir beide unsere Fälle gelöst bekommen, ohne dass jemand etwas von unserer Verbindung mitbekommt. Ich habe einen guten Freund, der sich zur Zeit um diverse Gildenangelegenheiten kümmert und einer kleinen Kooperation unter der Hand nicht abgeneigt ist. Araghast Breguyar sagt dir etwas?"
Die Privatdetektivin nickte nur.
"Dann schau morgen Mittag um zwölf in der Geflickten Trommel vorbei. Ich werde ihm Bescheid sagen."


NYRIA


Nyria leckte sich die letzten Blutspuren von der Schnauze. Ein weiterer Grund, die Sto-Ebene zu hassen - selbst die Kaninchen besaßen einen kohlartigen Nachgeschmack. Gesättigt nahm sie den Griff ihres Rucksacks wieder zwischen die Zähne und lief weiter, immer an der mondbeschienenen Straße entlang. Je nachdem, wie gut sie vorankam, konnte sie in wenigen Tagen in Ankh-Morpork sein. Schon bildete sie sich ein, über den allgegenwärtigen Ausdünstungen der Kohlfelder den unverkennbaren Geruch der Stadt zu wittern.
Doch plötzlich nahm ihre Nase eine weitere Duftspur wahr. Gleich einer dünnen schokoladenbraunen Spur wehte ein Hauch feinsten Kakaos die Straße entlang. Nyria lief schneller und bald darauf konnte sie die Umrisse eines zweispännigen Eselskarrens sehen, der im Schrittempo in Richtung Ankh-Morpork unterwegs war. Fetzen einer Unterhaltung drangen an ihr Ohr. Verborgen zwischen Kohlköpfen, deren reifes Aroma gleich einer metaphorischen Faust ihren Riechnerv traf, schlich Nyria näher.
Die trübe Sicht - Musik mit Grusel drin stand in deutlichen Lettern auf der Rückseite des Karrens geschrieben und Nyria konnte Teile eines Schlagzeugs und den verpackten Hals eines mächtigen Kontrabasses über den Karrenrand ragen sehen.
"Eine Unverschämtheit, dass sie uns nicht mal haben spielen lassen." bemerkte eine weibliche Stimme. "Dieses Sto Barrat kann man wirklich in der Pfeife rauchen."
"Was soll man auch erwarten, wenn ihnen nicht mal ein besserer Name als Kohldorf für ihr Kaff einfällt." fügte ein volltönender Bariton hinzu. "Sie mögen keine Musik mit Steinen drin. Und wahrscheinlich auch keine Untoten."
"Ich wusste schon immer, dass dieser abartige Kohlgeruch etwas mit den Köpfen der Leute anstellt." schaltete sich eine dritte, leisere Männerstimme ein. "Der Mief ist überall. Habt ihr auch schon das Gefühl, dass unser Kakao leicht nach Kohl schmeckt? Theo, warum schreibst du nicht mal ein Lied über Kohl? Langsam wird mir dieses Zeug wirklich unheimlich."
Der Bariton räusperte sich.
"Du meinst wie Kohlkopf, Kohlkopf, grün und fein - Dein Aroma lässt mich spei'n?" schallte es durch die Nacht und löste einen Anfall von Heiterkeit auf dem Karren aus. Auch Nyria schmunzelte, so gut wie es ihre Wolfsschnauze erlaubte. Die Leute auf dem Karren schienen in Ordnung zu sein. Vielleicht waren sie ja auch so nett, sie ein Stück mitzunehmen.
Mit mehreren schnellen Sprüngen eilte sie am Karren vorbei und einige Meter weiter, setzte sich mitten auf die Straße, stellte den Rucksack ab, unter dessen Klappe ihr Degen festgeklemmt war, und setzte ihren liebsten Wolfsblick auf.
"Brrr." rief der Kutscher, ein schlanker junger Mann, dessen blondes Haar im Mondlicht schimmerte, und die Esel kamen zum Stehen.
"Da will wohl jemand mit." bemerkte die Frau und lehnte sich über den Karrenrand.
"Wauuuuuuuu." bellte Nyria als Antwort.
"Komm her." sagte der blonde Mann. "Irgendwo zwischen den Särgen und dem Bass ist noch Platz."
Dies ließ sich Nyria nicht zweimal sagen. Sie nahm Anlauf und sprang mit einem gewaltigen Satz auf den Kutschbock und von dort aus weiter auf die Ladefläche, wo sie auf einem Sargdeckel landete.
Sie setzte ihren Rucksack ab und sah sich um.
Insgesamt vier Särge standen dicht gedrängt auf der Ladefläche, daneben lagerten mehrere sorgfältig in Segeltuch eingepackte Musikinstrumente, sowie ein großer Sack, der die Quelle des Kakaoaromas darstellte. Auf dem Sarg der am nächsten zum Kutschbock stand, lümmelte in nachlässiger Haltung eine Frau. Ihr Gesicht war jung und bleich und wurde von einer Flut rabenschwarzen Haares eingerahmt. Der Vollmond spiegelte sich in ihren ebenfalls dunklen Augen. Sie trug ein schlichtes weißes Kleid mit bis unter die Brust hochgerutschter Taille, welches sicherlich schon hundert Jahre aus der Mode war und an dessen Mieder das schwarze Band der Liga der Enthaltsamkeit befestigt war.
"Hallo." sagte sie und schlug die in völligem Gegensatz zum Kleid in derben Zwergenstiefeln steckenden Füße übereinander. "Ich bin Nastja." Lächelnd und dabei ihre spitzen Eckzähne zeigend wies sie auf ihren Sitznachbarn, einen breitschultrigen Vampir mit kurzgeschorenem dunklem Haar und markanten Gesichtszügen, der ihr mit einer Tasse Kakao zuprostete. "Das hier ist Vassili, unser Bassist. Kraga, unser Gitarrengott, sitzt neben ihm und da hinten pennt Willibald gerade vor sich hin."
"Jetzt nicht mehr." tönte es zwischen den Instrumenten und in den Haufen kam Bewegung. Ein wirrer Lockenkopf erschien hinter der Bassgeige. "Ihr macht hier ein Spektakel, dabei kann man unmöglich schlafen." Grüßend nickte er Nyria zu und verkroch sich wieder in seine Ecke.
Die Werwölfin bellte eine Begrüßung.
Derweil zog Nastja an einer blonden Haarsträhne des Kutschers, der sich fluchend umwandte.
"Wehe, du hast eins ausgerissen!" drohte er ihr scherzhaft.
"Darf ich vorstellen: Theo, unser Sänger und Goldlöckchen vom Dienst."
Dieser grinste sie an und seine Eckzähne blitzten.
"So ist sie, unsere Nastja." bemerkte er. "Sie hat einiges an Spaß nachzuholen, nachdem sie fast zweihundert Jahre lang ein Haufen Asche war."
"Na und?" gab sie zurück. "Ich bin vierhundertsechsunddreißig Jahre älter als du."
"Was solls." murmelte Theo. "In unserem Zustand ist Alter relativ. Aber ich muss sagen, für dein Alter hast du dich wirklich gut gehalten, Nastja."
"Kent ihr eigentlich den Spruch 'Zu alt für Musik mit Steinen drin, zu jung zum sterben'?" schaltete sich Vassili ein.
Kraga winkte ab. "Für Musik mit Steinen drin ist man nie zu alt. Ansonsten dürfte es die Untoten Socken auch nicht mehr geben. Die spielen schon einige Jahre."
Nyria rollte sich in einer freien Ecke zwischen Willibalds Füßen und dem Kakaosack zusammen und döste ein, die Stimmen der sich unterhaltenden Musiker entfernt in den Ohren. Diese Band schien eine lustige Truppe zu sein. Sie war sich sicher, dass der Rest der Reise interessant werden würde.


Auspacken


Nachdem Araghast nach einem ausgiebigen Schwatz von Kanndra in sein eigenes Büro zurückgekehrt war, machte er sich dran, seine Kiste auszupacken. Sein Schreibzeug und die Ikonographie seiner Frau fanden ihren Platz auf der Schreibtischplatte, die Rumflasche wanderte wie gewohnt in die unterste Schublade. Gerade als er das Geschenk der Näherinnen auf der Fensterbank abgestellt hatte, schwang die Rohrpostklappe auf und eine nur allzu vertraute und verhasste Stimme drang in Araghasts Gehörgang.
"Na dann stimmt es also wirklich." posaunte Reggie durch das Büro. "Willkommen zurück am Pseudopolisplatz, einäugige Saufnase."
Araghast wandte sich um.
"Du wirst es mir nicht glauben, aber ich habe euch Nervensägen wirklich vermisst da drüben." sagte er. "Aber werd nicht zu übermütig. Die Drohung mit der wirklich großen Axt steht immer noch."
"Hm." sagte der Rohrpostdämon und eine winzige brennende Zigarette erschien in seiner Hand. "Verstehe. Püschologische Kridingsbums, oder? Jedenfalls wollte ich nur sagen, meine Kumpels und ich, wir sind froh, dass du wieder da bist. Du hast immer so wunderbar schlechte Laune und kannst wenigstens noch richtig drohen. Bei den meisten anderen macht es einfach keinen Spaß mehr."
"Soll das ein Kompliment sein, Reggie?"
"Nö." Der Dämon grinste breit und paffte eine Rauchwolke in Araghasts Büro. Spöttisch salutierte er und tauchte kopfüber in die Röhre. Bevor sich die Klappe schloss, hörte Araghast noch ein gekreischtes "Ha, Leute, das nächste Würstchen ist meins! Der einäugige Saufkopf ist wirklich wieder da!"
"Du mich auch, Reggie." murmelte der Hauptfeldwebel und machte sich wieder ans Auspacken.


Tag 6


ROMULUS


Drei leere Dosen Superbulle standen bereits auf Romulus von Grauhaars Schreibtisch. Eingehend musterte der Ermittler die Etiketten und schluckte das wölfische Knurren hinunter, das sich in seiner Kehle bildete. Am liebsten hätte er diesen schmierigen Gesandten des Patriziers, Gimpel Ostenwelle oder wie er auch immer hieß, in hohem Bogen aus seinem Büro geworfen.
"...und darum muss ich hoffentlich nicht noch einmal betonen, dass seine Exzellenz diesem Fall die höchste Priorität einräumt und, so hoffe ich doch, alle unwichtigeren Fälle vorerst zurückgestellt oder an andere Abteilungen umverteilt werden." erklärte der Palastangestellte mit jovialem Lächeln, in das Romulus am liebsten den Knauf seines Dienstschwertes gerammt hätte.
"Wir werden tun, was wir für richtig halten." brummte der Werwolf und rieb sich sein bärtiges Kinn. Wie immer nach der monatlichen zwangsläufigen Verwandlung kribbelte sein Kiefer, als würden sich seine Zähne erst langsam wieder ihren Platz im menschlichen Gebiss suchen. Insgeheim hoffte er, dass der Sekretär den diskret hinter der Tür stehenden Hundekorb nicht bemerkt hatte.
"Dann bleibt uns wohl nur die Hoffnung, dass Ihr Richtiges auch unserem Richtigen entspricht." bemerkte der Gesandte des Patriziers und lachte über seinen eigenen, wie Romulus fand, miserablen Witz. "Aber denken Sie daran, seine Exzellenz möchte möglichst schnell Ergebnisse sehen."
"Und wie ich dran denke. Es bereitet mir schlaflose Nächte." Romulus hoffte, dass seinem Gegenüber der ironische Tonfall in seiner Stimme nicht entgangen war. "Unsere Abteilung tut, was sie kann. Aber wir können nun mal auch nicht hexen."
"Verstehe." Der Sekretär erhob sich und strich seinen zartlila Seidenanzug glatt. "Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag, aber vergessen Sie nicht die Wünsche seiner Exzellenz bezüglich des Falles."
Am liebsten hätte der Chief-Korporal seinen Besucher noch gebeten, die schleimige Spur auf dem Boden aufzuwischen, die er hinterlassen hatte, doch wohlweislich hielt er den Mund und sah grußlos zu, wie der Sekretär seiner Wege ging. Kaum dass dieser die Tür hinter sich geschlossen hatte, wurde sie auch schon wieder geöffnet und Kolumbini schob sich in das Büro.
"Was war das denn für einer?" fragte der Ermittler und wies mit dem Daumen in Richtung Flur. "Empfängst du neuerdings schon Mitglieder der Vereinigung für die Verbreitung schlechten Modegeschmacks?"
"Wenn es nur das wäre, Fred." antwortete Romulus. "Der Mann war ein Bote aus dem Palast, der mir zu verstehen gegeben hat, dass der Patrizier diesen Dachmörder sehr ernst nimmt. Er hat verlangt, dass wir alle unwichtigeren Fälle erstmal zurücklegen."
"So ein Schwachsinn." kommentierte Kolumbini ungerührt und begann, seine Pfeife zu stopfen. "Gerade jetzt, wo ich bei unserem toten Schnüffler endlich weitergekommen bin."
"Erzähl." sagte Romulus nur und holte ebenfalls seine Rauchutensilien aus seinem Schreibtisch.
"Freund Zufall war mein Helfer. Du weißt doch, dass Marloffs letzter Fall die Suche nach einem gewissen I. M. beinhaltet hat. Tja, und vor ein paar Tagen wurde Ivonne angeheuert, nach einem gewissen Ignatius Merino zu suchen, der vor gut zwanzig Jahren spurlos von der Bildfläche verschwunden ist." Kolumbini pausierte um seine Pfeife zu entzünden.
"Und wer war der Auftraggeber?"
Eine Rauchwolke hüllte den kleinen Ermittler ein.
"Kein Geringerer als der Baron von Offlerberg, der derzeitige Herrscher der Klatschspalten. Merino war ein alter Schulfreund von ihm. Ich habe mir vorgenommen, ihm heute einen kleinen Besuch abzustatten. Irgendwer will anscheinend nicht, dass etwas über den Verbleib dieses Ignatius Merino herausgefunden wird."
"Nur zu." auch Romulus verschwand hinter einer Wolke aus würzigem Pfeifenqualm. "Ich sehe nicht ein, alle anderen laufenden Fälle zu den Akten zu legen. Und was wirst du mit Ivonne machen?"
Kolumbini zwinkerte ihm zu.
"Ich habe eine Nachricht an einen Freund geschrieben, der ihr weiterhelfen wird und zusammen mit ihr im Fall herumstochert. Es muss nicht jeder wissen, dass sie und ich miteinander zu tun haben."
"Soso, ein Freund." Romulus nickte wissend. "Lass mich raten. Mager, schwarzhaarig, Augenklappe, zur Zeit graue Uniform?"
"Wer sonst? Er ist der einzige außer dir, dem ich genug vertraue. Außerdem weiß ich, dass Bregs einem kleinen Spiel abseits der Regeln nicht abgeneigt ist. Die beiden werden sich schon einigen."
"Oh, ja." Ein Rauchring wanderte zur Decke. "Sag mal, Fred, du hast nicht zufällig Interesse an einer Stelle als Hauslehrer bei der Familie von Willerfort?"
Schnell winkte Kolumbini ab.
"Nein Danke. Einmal das Lord Winder-Internat hat mir für das ganze Leben gereicht. Außerdem habe ich noch einen Fall zu lösen. Aber warum? Sucht die Witwe einen Hauslehrer?"
"Für ihren Sohn. Bregs war gestern Abend noch kurz deswegen hier. Im Moment sieht es so aus, dass er nun Patrick Nichts dort vorbeischicken wird, aber glücklich war er darüber nicht."
Für eine Weile schwiegen die beiden Ermittler und durchsetzten die Luft in Romulus' Büro mit Tabakqualm.
"Und hat Dachleiche Nummer zwei schon etwas interessantes ergeben?" erkundigte sich Kolumbini schließlich.
"Nicht viel." antwortete Romulus. "Mellendorff hatte eine Frau und zwei Söhne. Der ältere ist vor sechs Jahren von zu Hause fortgelaufen um Musiker mit Steinen drin zu werden und wurde von seinem Vater enterbt. Seitdem hat ihn niemand des Haushalts mehr gesehen. Der jüngere, Samuel, wird nun wohl das Handelshaus übernehmen. Derzeit ist eher die Frage, was hatte er mit Gregor von Willerfort gemeinsam, dass sie beide tot auf Dächer geschmissen wurden und diese komische Postkarte in der Tasche stecken hatten."
"Denn die Straße zur Verdammnis ist lang." Kolumbini sog nachdenklich an seiner Pfeife. "Und wehe denen, die den Pfad der Tugend verlassen haben."
"Ich habe mir dieses Theaterstück von Hwel mal durchgelesen." Romulus klopfte auf ein dickes Buch auf seiner Schreibtischplatte. "Mehrere Erben streiten sich darin um ein Königreich. Fällt dir irgendein Königreich ein, um das sich von Willerfort und Mellendorff oder vielleicht auch beide mit jemand anderem gestritten haben könnten?"
"Handelsinteressen vielleicht." riet Kolumbini. "Oder irgendein Mädchen. Frauen können bei Männern manchmal geradezu püschiotische Reaktionen hervorrufen. Diese ganzen komischen Liebesromane sind vermutlich voll davon."
Bei diesen Worten musste Romulus plötzlich grinsen.
"Die halbe weibliche Belegschaft der Abteilung liest gerade dieses Fackeln im Orkan und gestern habe ich Magane in der Kantine dabei ertappt, wie sie sich über dem Buch halb totgekichert hat. Was ist an dieser Schnulze bloß dran?"
"Frag mich was anderes." antwortete Kolumbini nur.
"Gut. Was kann ich Bregs und Lea zur Hochzeit schenken?"


VALENTINA


Ein Hauslehrer, das war ja wohl die Höhe! Wie weit wollte die Lady von Willerfort ihren Liebling noch verhätscheln? Unauffällig beobachtete Valentina über den Rand von Fackeln im Orkan die beiden Kandidaten, die nebeneinander auf dem Sofa saßen und mit der Hausherrin die angemessenen Höflichkeitsfloskeln austauschten. Abgesehen von der Tatsache, dass sie beide noch jung waren, hätten sie untschiedlicher nicht sein können. Der rechte Kandidat erinnerte eher an den Helden eines Liebesromans als an einen Hauslehrer. Sein kurzgeschnittenes strohblondes Haar war sorgfältig frisiert und sein markantes gutausehendes Gesicht sonnengebräunt. Der durchtrainierte Körper steckte in einem gutsitzenden schwarzen Anzug, an dessen Brusttasche eine Sonnenbrille klemmte, darunter ein blütenweißes Hemd. Als er Valentinas Blick bemerkte, lächelte er ihr zu und ließ zwei Reihen weißer Zähne aufblitzen. Schnell senkte Valentina den Kopf und gab vor, sich auf Samantha Bonarchases Trauer am vermeintlichen Grab ihres Geliebten zu konzentrieren. Doch stattdessen beobachtete sie durch die Fransen ihres Ponys hindurch den zweiten Kandidaten. Er war kleiner und von zierlicherem Wuchs. Sein schmales feingeschnittenes Gesicht war blass und ausgezehrt und er trug sein langes hellbraunes Haar im Nacken zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden. Ein paar kalter eisgrauer Augen funkelte hinter einer Brille mit ovalen Gläsern. Seine Kleidung bestand aus einem dreiteiligen braunen Anzug mit Kniehosen, dessen Schnitt schon mehrere Jahre aus der Mode war, weißen Strümpfen, einem ungebleichten Hemd und einer dunkelblauen Halsbinde.
Der schmachtende Held und der schwindsüchtige Poet, taufte Valentina die beiden insgeheim. Sie war gespannt, wer von ihnen am Ende die Stelle bekam.
"...und dann habe ich für zwei Jahre Morporkianisch und Leibeserziehung am Lord Winder-Internat unterrichtet." erklärte der Held gerade. "Aber ich bin auch in anderen Fächern sehr bewandert. Rechnen und Geographie stellen auch kein Problem dar."
"Danke, Herr Wagenbruch. Und wie sehen Ihre Referenzen aus, Herr Danglars?"
Der Angesprochene lächelte scheu, ein Lächeln, das seine Augen nicht erreichte.
"Ich beherrsche die höhere Mathematik, die Naturwissenschaften, ein wenig theoretische Geographie, das Morporkianische, sowie das Latatianische und das Altephebianische." antwortete er mit leiser, aber dennoch auf eine seltsame Art durchdringender Stimme. "Nur mit Kenntnissen in Leibesertüchtigung kann ich leider nicht dienen."
"Oh, eine klassische Bildung." Lady Perdita von Willerfort klang erfreut. "Und wie ist Ihr Wissen in klassischer Literatur und Geschichte?"
Während sie der Lady Rede und Antwort standen, beobachtete Valentina die Körperhaltung der beiden Kandidaten. Herr Wagenbruch lehnt lässig in den Polstern, während Herr Danglars aufrecht dasaß und die knochigen Hände über den Knien zusammengelegt hatte. Sie vermutete, dass ersterer zur neuen Schule der Pädagogen zählte, die sich den Schülern als ihr Freund und Helfer darstellten. Dies galt laut Hanno als die neueste Mode in der Erziehung.
"Ich sehe meine Aufgabe als Lehrer darin, dem Schüler Spaß am Wissen zu vermitteln." bestätigte Wagenbruch in diesem Moment ihre Mutmaßungen. "Bildung sollte kein staubtrockenes Etwas sein, das auf irgendwelchen Elfenbeintürmen steht. Wenn ein Schüler kein Interesse für zum Beispiel Latatianisch zeigt, dann ist es halt so. Dann würde ich diesen Schüler vorerst etwas anderes lehren, für das er sich mehr interessiert, und immer wieder Brocken des Latatianischen einstreuen und ihm zeigen, dass dieses Fach gar nicht so schlimm ist. Zudem gehört zu einem gesunden Geist auch ein gesunder Körper, weshalb die Leibeserziehung einen hohen Stellenwert einnimmt. Die Pädagogik befindet sich zur Zeit im Umbruch, meine Lady. Und was moderne Erziehungsmethoden betrifft, bin ich hervorragend ausgebildet."


ARAGHAST


"Und, Lance-Korporal?" fragte Araghast, kaum dass Patrick Nichts sein Büro betreten hatte.
"Die Operation Schultüte ist schiefgelaufen, Sör." meldete der verdeckte Ermittler und schob seine Sonnenbrille nach oben. "Die Lady hat einen anderen eingestellt."
Araghast legte in Ruhe den Bericht über einen Betriebsunfall in der Bäckergilde beiseite, den er gerade gelesen hatte.
"Das ist schade." antwortete er. "Und woran lag es, dass man dich nicht wollte?"
Patrick verzog das Gesicht.
"Ich habe mich vorher über die neuesten pädagogischen Methoden informiert und war bestens vorbereitet. Ihr hat anscheinend nicht gefallen, dass ich mich als Lehrer unter anderem für Sport und Leibeserziehung ausgegeben habe. Aber wer hätte auch ahnen können, dass der Junge kränklich ist und deshalb keinen Sport verträgt."
"Nicht dein Fehler, Lance-Korporal." Araghast zuckte mit den Schultern. "Ich wusste es auch nicht. Hast du zufällig mitbekommen, wen sie genommen hat?"
"Einen blassen bebrillten Kerl, mager wie eine Latte und wahrscheinlich der langweiligste Mensch der Scheibenwelt." kam es wie aus der Pistole geschossen. "Sein Name ist Edmond Danglars. Er wird den von Willerfort-Jungen wahrscheinlich zu Tode anöden."
"Soso." bemerkte Araghast nur und notierte sich den Namen auf dem Rand des Bäckergildenberichts. "Das wäre dann alles."
"Ja, Sör." antwortete der verdeckte Ermittler und verließ das Drunter und Drüber ohne ein weiteres Wort.
Die Tür hatte sich kaum hinter Patrick Nichts geschlossen, als ein breites Grinsen auf Araghasts Gesicht erschien. Sein Plan war aufgegangen.
Er wartete eine Minute, erhob sich und schlich zur Tür. Auf dem Flur war alles still.
Lautlos drückte Araghast die Türklinke nach unten und stahl sich aus seinem Büro. Auch wenn er wenige Talente besaß, Schleichen gehörte dazu. Verstohlen sah er sich um. Niemand war zu sehen.
Mit wenigen Schritten war Araghast an der Treppe und tastete sich abwärts, die knarrenden Stufen sorgfältig vermeidend. Eine innere Stimme sagte ihm, dass er es mit der Vorsicht übertrieb, doch er wollte sich den Spaß nicht von seiner eigenen Vernunft verderben lassen. Falls herauskam, dass er einen Zivilisten für Ermittlungen eingespannt hatte, würde es vermutlich Ärger geben, doch das war Araghast egal. Während er den Flur in dem die Zimmer der Näherinnen lagen entlangschritt, dachte er an das lange Gespräch, das er am vergangenen Abend geführt hatte und an die aufleuchtenden Augen seines Gegenübers. Mit seiner Aktion schlug er gleichzeitig drei Fliegen mit einer Klappe. Erstens brachte er hoffentlich die Ermittlungen vorwärts, zweitens half er einem guten Freund, der gerade verzweifelt nach einem Sinn in seinem Leben suchte, und drittens half er auch gleichzeitig Freunden in akuter Geldnot. Warum war Julius Herr bloß ein solcher künstlerlischer Sturkopf?
Leise klopfte Araghast an Lieselottes Tür.
Eine verschlafene Stimme bat ihn herein und der Hauptfeldwebel bekam sogleich ein schlechtes Gewissen, als er die Näherin sah, die mit zerzauster Frisur und in einen roten Morgenmantel gehüllt auf der Bettkante saß.
"Entschuldigung, dass ich dich geweckt habe." sagte er.
Lieselotte winkte ab. "Das macht nichts. Ich bin es gewöhnt. Hauptmann Llanddcairfyn tauchte öfter mal zu unmöglichen Zeiten auf."
Araghast ging nicht weiter auf diesen Kommentar ein und ließ sich auf dem plüschbezogenen Schminkhocker nieder.
"Ich brauche deine Hilfe." kam er ohne Umschweife zur Sache. "Du hast doch sicher von dem Dach-Mörder gehört, oder?"
"Und ob." antwortete Lieselotte. "Ich frage mich, wie der Täter es geschafft hat, die Toten auf die Dächer zu bekommen. Das ist ja schon fast ritualistisch. Was kann ich für dich tun, Bregs?"
"Ich habe es geschafft, einen Freund als Hauslehrer in die Familie von Willerfort einzuschleusen." erklärte Araghast. "Hättest du etwas dagegen, dass der junge Mann eine gewisse Neigung zu Freudenhäusern und ganz besonders deiner Gesellschaft entwickelt? Ich muss dich allerdings vorwarnen, für ihn sind Frauen Wesen von anderen Welten."
Lieselotte lachte.
"Keine Sorge, ich werde ihn schon nicht auffressen. Also, du möchtest, dass ich quasi sein Alibi bin, während er seine Informationen an dich weitergibt?"
Araghast nickte.
"Dafür hast du auch was gut bei mir. Du weißt ja, eine Hand wäscht die andere und zwei die Füße."
"Und was ist, wenn ich deine Augenklappe dafür verlange? Arrrrrrrrr." hauchte Lieselotte und beugte sich vor.
Araghast hob einen warnenden Zeigefinger.
"Die brauche ich noch. Ich hab doch gesagt, das was sich darunter befindet sieht nicht wirklich schön aus."
"Dann muss ich mir halt so mal eine besorgen." Lieselotte lächelte. "Piratenrollenspiele sind zur Zeit sehr beliebt. Aber ich frage mich manchmal, ob das Piratenleben wirklich so romantisch ist, wie es in den Legenden immer dargestellt wird. Wahrscheinlich ist es wie der Näherinnenberuf. Entweder wird es romantisch verklärt, oder die Leute rümpfen die Nase."
"Und wie bist du bei der Gilde gelandet?" fragte Araghast.
Für einen kurzen Augenblick verhärtete sich Lieselottes hübsches Gesicht.
"Du kennst doch die übliche Geschichte." sagte sie. "Mädchen vom Land kommt nach Ankh-Morpork auf der Suche nach einem Leben, das nicht die Ehe mit einem armen Kohlbauern und mindestens acht Kinder beinhaltet. Und da ich nicht gerade hässlich bin, bin ich halt in der Näherinnengilde und nicht als Dienstmädchen geendet. Und bevor du fragst, der Begegnung mit Schnappers Würstchen bin ich entkommen. Ein Kohlstecher, der kurzfristig hier in der Stadt sein Glück versucht hat, hatte mich vorgewarnt."
"Eine ähnliche Geschichte haben viele Wacherekruten zu erzählen." antwortete Araghast nachdenklich. "Manche haben sogar wirklich mal kurz bei der Näherinnengilde vorbeigeschaut und waren dann entsetzt, dass dort keine Handarbeiten ausgeübt werden."
Lieselotte lachte hart auf. "Glaub mir, ich habe das Gleiche gedacht. Ich kann nämlich auch gut mit Nadel und Faden umgehen und dachte mir, dass die Gilde vielleicht Arbeit für mich hätte. Und du?" fragte sie. "Wo kommst du her?"
"Affenstraße 12, Schatten, Ankh-Morpork. Meine Mutter hat ebenfalls als Näherin gearbeitet, nachdem meine Großmutter sie wegen mir rausgeworfen hat. Das war noch vor Vetinari, bevor es die Gilde gab. Deshalb hat es auch niemanden gekümmert, dass einer ihrer Kunden ihr den Hals umgedreht hat." Verbitterung schwang in seiner Stimme mit.
"Und was ist dann aus dir geworden?"
Araghast zog seinen Flachmann aus der Hosentasche. "Willst du auch einen Schluck?"
"Solange es kein Kohlschnaps ist, immer gern." Lieselotte zwinkerte ihm zu und holte zwei Sektgläser unter dem Bett hervor. "Kunden mögen das Zeug." sagte sie und stellte die Gläser auf ihren Schminktisch. "Ich tue immer so, als würde ich es auch mögen, aber in Wirklichkeit kann ich dieses Gesprudel nicht ausstehen."
Sorgfältig verteilte Araghast den Hochprozentigen auf die beiden Gläser.
"Was aus mir geworden ist." fuhr er fort. "Nun ja, ich wurde ins Waisenhaus gesteckt. Dort bin ich mit elf Jahren weggelaufen um mein eigenes Glück zu suchen." Er reichte Lieselotte einen Sektkelch. "Ich habe als Schiffsjunge angeheuert und es bis zum Leichtmatrosen gebracht, bis ein Freund mir etwas vererbt hat. Daraufhin habe ich meinen Vater gesucht und nur noch eine abgebrannte Ruine gefunden. Prost."
Sie stießen an und tranken.
"Dann war dein Vater der Vampir." forschte Lieselotte nach.
Araghast nickte langsam.
"Und ich bin verdammt froh, dass er von einer Person, die mein vollstes Vertrauen in dieser Hinsicht genießt, endgültig pulverisiert wurde." Er seufzte tief und genoss die Wirkung des Untervektor-Rums.
"Was auch immer das für ein Fusel ist, der schmeckt wirklich gut." bemerkte Lieselotte und starrte in ihr Glas. "Weißt du, Bregs, was dich wirklich sympathisch macht ist, dass du dich nicht für was Besseres hältst als wir. Hauptmann Daemon hat sich immer einen Spaß draus gemacht, mit uns zu kokettieren. Er hat uns immer ausgeholfen, wenn Probleme auftraten, aber hat immer eine ziemliche Show draus gemacht, es alles möglichst doppeldeutig und anzüglich erscheinen zu lassen. Dabei ist nie irgend etwas zwischen ihm und uns gelaufen. Dann kam Picardo und er schien wirklich Angst vor uns zu haben, als ob wir irgendeine ansteckende Krankheit hätten." Sie trank einen weiteren Schluck. "Und so ähnlich ist es auch mit den meisten anderen männlichen Abteilungsmitgliedern. Ja, sie freuen sich, wenn ich Schmink- und Verkleidungskurse gebe, aber letztendlich machen sie sich nur über mich und die anderen lustig und reißen einen schlüpfrigen Witz nach dem anderen. Wir leben damit, lächeln und überhören es und tun so, als würden wir es witzig finden."
"Zur Zeit als ich bei der Wache angefangen habe, waren Wächter auch nicht angesehener." erzählte Araghast. "Wir waren diejenigen, die sich den letzten Versuch für ein halbwegs ehrliches Leben geschnappt haben. Ich kann gerade mal lesen und schreiben, bin froh, es überhaupt irgendwie gelernt zu haben und habe nie eine Schule von innen gesehen. Und wenn jetzt Rekruten und Gefreite ankommen, die schon diese und jene Gildenschule besucht haben und ihr Maul aufreißen, was sie alles können, dann kommt mir oft einfach nur die Galle hoch." Er legte seinen Kopf in den Nacken und leerte sein Glas. "Ich liebe Lea auch dafür, dass es ihr völlig egal ist, woher ich komme. Wir haben uns während eines Falles kennengelernt, in der Nacht als ihr Onkel, der ihr sehr viel bedeutet hat, ermordet wurde. Es war insgesamt eine ziemlich kuriose Geschichte mit einem Gesellschaftsspiel, das mit einer künstlich geschaffenen Realität eines Krimirätsels wechselgewirkt hat." Araghast lächelte schief. "Anscheinend habe ich damals schon komische Fälle beinahe magisch angezogen. Ich kann mich noch genau daran erinnern, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Sie stand plötzlich einfach da. So groß wie ich, trug ein Männerhemd und eine fleckige Schürze. Brille auf der Nase, ein lockerer Zopf und eine Krücke in der Hand. Und, so bescheuert es auch klingt, schon am gleichen Abend habe ich festgestellt, dass wir beide die Geschichten von Eddie Wollas mögen. Ich habe mich sofort in sie verliebt. Sie hatte so schöne Augen hinter dieser Brille. Wegen Trauerzeit und so habe ich mehrere Wochen gebraucht bis ich es gewagt habe, sie zum Essen in Hargas Rippenstube einzuladen. Wir haben seitdem einiges miteinander durchgemacht, uns mit ihrerm Vormund und einigen anderen Speziesisten und Pfeffersäcken angelegt, sind unverheiratet zusammengezogen, was an sich schon als Skandal gilt, ich habe ihr die schlimmste Geschichte meines Lebens gebeichtet und sie hat mich nicht verlassen. Auch wenn sich viele Wächter wundern, warum wir eigentlich überhaupt ein Paar sind, wir verstehen uns einfach. Sie ist die Frau mit der ich alt werden möchte."
"Manchmal wünschte ich, das würde jemand zu mir sagen und es auch meinen." auch Lieselotte leerte ihr Glas in einem Zug.
Araghast zuckte mit den Schultern. "Ich wollte, mir würde etwas tröstendes oder irgendein seichter falscher Kommentar einfallen."
Die Näherin lachte. "Dafür bist du wenigstens ehrlich. Von diversen falschen Versprechungen und sonstigem Gesülze tun mir nur noch die Ohren weh."
Der Hauptfeldwebel konnte nicht anders, als ebenfalls zu lachen. "So etwas finde ich einfach nur beschissen." Er erhob sich aus einem Meer von Plüsch. "Lieber die Wahrheit sagen und sich Feinde machen, als lustig Honig um Mäuler zu schmieren. So weiß ich wenigstens, wer mich leiden kann und wer nicht. Jetzt muss ich aber los, ein Treffen wartet."
"Eine neue Eigenaktion?" fragte Lieselotte mit unschuldiger Miene.
"Vielleicht." antwortete Araghast nur. "Ein Wächter muss jede Gelegenheit nutzen um einen Fall gelöst zu kriegen."


KOLUMBINI


Das ist kein Stadthaus, das ist schon fast ein Palast, ging Kolumbini durch den Kopf, als er durch das Gittertor des von einer hohen Mauer umgebenen Anwesens spähte. Der Baron von Offlerberg musste wirklich so reich sein wie die Klatschspalten der städtischen Zeitungen behaupteten. Niemand sonst, der nicht schon seit Generationen in Ankh-Morpork lebte oder das Grundstück geerbt hatte, konnte sich ein solches Haus im vornehmsten Teil von Ankh leisten. Neugierig musterte Kolumbini das auf einer Metallplatte am Gitter angebrachte Wappen. Der dunkelrote Schild war diagonal durch ein blaues Band geteilt. In der linken oberen Hälfte lagen drei Krokodile, die Wappentiere des Gottes Offler, während rechts unten ein einzelner stilisierter kegelförmiger Berg mit weißer Kuppe dargestellt war. Aus Twurps Adelsstände - die erweiterte Ausgabe wusste der Ermittler, dass es sich hierbei um den Montus Offlerus handelte. Dort hatte er zudem erfahren, dass die Familie derer von Offlerberg ihre Wurzeln in Gennua hatte und dort den Namen Offlerimonti trug.
Bei dem Namen, der seinem eigenen so ähnlich klang, seufzte der Ermittler leise. Seine Mutter Elisa war ebenfalls Gennuanerin gewesen und hatte zudem in den Diensten der dortigen Stadtwache gestanden. Ob ihr die Familie der von Offlerbergs wohl bekannt gewesen war? Oder ob seine Tante Emilia vielleicht etwas über die von Offlerbergs wusste? Während er den Kragen seines MANTELs gegen den kalten Herbstwind hochklappte, machte er sich eine geistige Notiz, sie zu fragen.
Am Torpfosten befand sich neben einem prunkvollen Messingschild und der Platinplakette der Diebesgilde eine Klingelschnur. Kolumbini zog energisch daran und hörte, wie in der Ferne eine dunkle Glocke läutete. Gemütlich lehnte er sich an den Pfosten, schenkte eine Tasse Tee ein und wartete.
Es dauerte eine Weile, bis Schritte auf dem Kies der Auffahrt knirschten. Der Ermittler ließ seine Teetasse verschwinden und blickte wieder durch die Gitterstäbe. Ein kleiner bebrillter Mann in einem Anzug, der ihm eine Nummer zu weit war, kam vom Haus herüber. Knapp zwei Meter vor dem Tor blieb er stehen, als fürchtete er einen Angriff.
"Wer sind Sie?" fragte er unfreundlich.
Kolumbini zeigte seine Dienstmarke.
"Korporal Ursow Drachenstein von der Stadtwache." stellte er sich mit dem Namen seines Vaters vor. "Ich habe einige Fragen an den Baron von Offlerberg."
"Stadtwache." Der Diener, den der Ermittler aufgrund Ivonnes detaillierter Beschreibung als Fizbald Penheylon identifiziert hatte, klang überrascht und ein wenig erschrocken. "In welcher Angelegenheit wünschen Sie den Herrn Baron zu sprechen?"
"Es ist eine reine Routineuntersuchung." bemühte sich Kolumbini den Sekretär zu beschwichtigen. "Er war der Letzte, der einem ermordeten Privatdetektiv namens Archibald Marloff einen Auftrag gegeben hat. Ich möchte lediglich in Erfahrung bringen, ob dieser Fall ein Grund für einen Mord sein könnte."
"Ich verstehe. Warten Sie einen Augenblick." Penheylon entfernte sich mehrere Schritte von der Auffahrt und verschwand aus Kolumbinis Blickwinkel. Kurz darauf erklang das leise Knirschen von Zahnrädern und das Tor verschwand in einer schmalen Öffnung im linken Torpfosten.
"Ein zwergischer Mechanismus, nehme ich an." bemerkte Kolumbini, als er eintrat, und erhaschte noch einen flüchtigen Blick auf den Sekretär, wie er eilig ein buchgroßes Stück der Mauer zuklappte.
Sogleich war Penheylon wieder bei ihm.
"Mein Herr ließ nur das Feinste vom Feinsten einbauen." erklärte er kurz angebunden und bedeutete Kolumbini, ihm zu folgen. Sie waren nur wenige Meter gegangen als der Ermittler hörte, wie sich die Maschinerie wieder in Bewegung setzte.
Das Familienwappen derer von Offlerberg zierte auch die Haustür. Mit einer knappen Verbeugung bat Penheylon ihn hinein und Kolumbini bewunderte wieder einmal Ivonnes Scharfsinn. Ihr Kommentar Wie aus einem Wohnen-für-reiche-Pinkel-Musterhaus traf perfekt zu. Nachdem er das Angebot, seinen Mantel zu nehmen, abgelehnt hatte, führte ihn der Sekretär den gleichen Weg, den ihm seine Kusine beschrieben hatte, und klopfte schließlich an die gleiche Tür vor der er Ivonne hatte einfach stehen lassen.
Eine gedämpfte dunkle Stimme fragte nach seinem Begehr. Penheylon öffnete die Tür gerade so weit, dass er ins Zimmer schlüpfen konnte und schloss sie direkt vor Kolumbinis Nase wieder. Der Ermittler strengte seine Ohren an um die darauf folgende Unterhaltung zu verstehen, doch alles was er vernahm war ein unartikuliertes Gemurmel. Mit Bedauern wandte er sich von der Tür ab und musterte den perfekt zusammengestellten unaufdringlichen Prunk des hinter ihm liegenden oberen Teils der Eingangshalle. Die Villa des Barons gefiel ihm immer weniger, je länger er sich darin aufhielt. Nirgendwo zeigten sich Spuren, dass tatsächlich jemand in diesem Haus wohnte. Keine mit Mänteln bestückte Garderobe, keine von einem wohlmeinenden Igor sorgfältig angebrachten Spinnweben, keine überquellenden Aschenbecher und nichts, was auch nur entfernt wie ein persönliches Erinnerungsstück aussah. Der Ermittlerer lächelte zynisch als er sich vorstellte, wie Hund durch dieses sterile Ambiente schlurfte und seine Haare überall verteilte.
Kolumbinis Überlegungen wurden abrupt unterbrochen als sich die Tür des Arbeitszimmers öffnete und Penheylon heraustrat.
"Der Herr Baron ist bereit, Sie zu empfangen." sagte er mit säuerlicher Stimme und ehe Kolumbini es sich versah, verschwand er die Treppe zum Erdgeschoss hinab.
Von Ivonne bereits auf ein solches Verhalten vorgewarnt, zuckte Kolumbini nur mit den Schultern und betrat das Arbeitszimmer des Barons.
"Korporal Drachenstein von der Stadtwache, nehme ich an." begrüßte ihn der hellblonde Mann hinter dem Schreibtisch freundlich.
Kolumbini schluckte einen bissigen Kommentar, dass es ihm äußerst schwergefallen wäre, sich urplötzlich in Frau Palm von der Näherinnengilde zu verwandeln, hinunter.
"Ja, der bin ich." sagte er und zeigte erneut seine Dienstmarke vor, während er sein Gegenüber genau musterte. Der makellos gebügelte weiße Anzug, die hochgewachsene sportliche Figur - plötzlich wusste Kolumbini, weshalb der Baron problemlos in einem dermaßen perfekt arrangierten Haus leben konnte, ohne sich wie ein Eindringling zu fühlen. Er schätzte von Offlerberg sofort als eine Person ein, der der äußere Schein alles bedeutete.
Ein wohldosiertes Lächeln huschte über die Lippen des Barons.
"Setzen Sie sich doch." forderte er seinen Besucher auf und wies mit einer einladenden Handbewegung auf einen bequemen Sessel. "Darf ich Ihnen ein Getränk anbieten?"
"Alkohol im Dienst ist verboten." Kolumbini ließ sich auf der Kante des Sessels nieder. "Ich bin eigentlich hier um Ihnen ein paar Fragen über einen Mann namens Archibald Marloff zu stellen."
"Oh, Marloff." Von Offlerberg verzog kurz das Gesicht. "Eine Schande, dieser Mord."
"Allerdings." stimmte Kolumbini ihm zu. "Wir von der Wache fragen uns derzeit, was der Grund seines Todes gewesen ist. Wie wir mittlerweile wissen, sind Sie sein letzter Auftraggeber gewesen."
"Das stimmt." gab der Baron zu. "Aber warum soll es ausgerechnet mein Auftrag gewesen sein, der jemanden dazu gebracht hat, ihn zu ermorden? Ein privater Ermittler verbringt über Jahre hinweg jeden Tag damit zu, im Schmutz seiner Mitmenschen herumzuwühlen. Da sammelt sich im Laufe der Zeit sicherlich eine Menge Groll gegen ihn an."
"Das kann ich mir denken." antwortete Kolumbini und sein Blick wanderte zu dem Gemälde einer dunkelgelockten Frau über dem Kopf des Barons, das zwischen den perfekt zusammenpassenden unaufdringlich edlen Möbelstücken des Arbeitszimmers merkwürdig fehl am Platz wirkte. "Uns Wächtern ergeht es auch nicht viel anders. Deshalb ist es auch eine reine Routinebefragung. Aber um uns in der Aufklärung des Falles alle Spuren offen zu halten muss ich fragen, wie der Auftrag lautete, den Sie Marloff gegeben haben."
Von Offlerberg seufzte gelangweilt.
"Ich wüsste nicht, was Sie meine Privatangelegenheiten zu kümmern habe, aber da ich ein anständiger Neubürger der Stadt bin und der Wache nur ungern im Weg stehe - Ich habe Marloff gebeten, nach einem alten Schulfreund von mir Ausschau zu halten."
Kolumbini rieb sich umständlich die Nase.
"Ein alter Schulfreund also. Und wie war sein Name?"
"Ignatius Merino." antwortete der Baron.
Umständlich notierte Kolumbini den Namen in seinem Notizbuch.
"Und was ist mit diesem Merino passiert, dass Sie einen Privatdetektiv anheuern um nach ihm zu suchen?" forschte er weiter.
Der Baron räusperte sich und lehnte sich über seinen Schreibtisch nach vorn.
"Eben das weiß ich nicht. Mein Kontakt zu ihm brach vor etwa zwanzig Jahren plötzlich ab und seitdem habe ich nie wieder etwas von ihm gehört, obwohl er über Jahre mein bester Freund gewesen ist."
So etwas ist bedauerlich." Kolumbini erhob sich und schob seinen Notizblock in die Tasche seines MANTELs. "Das wäre dann alles. Ich danke Ihnen für Ihre Antworten." Und kein Wort haben Sie davon erwähnt, dass Sie Ivonne angeheuert haben, fügte er im Stillen hinzu. Irgend etwas ist da, das Sie lieber nicht mit der Wache besprechen wollen.
"Gern geschehen." Wieder dieses schnelle Lächeln auf den Lippen des Barons. "Ich bin der Stadtwache immer gern behilflich."
Als er die Hand schon auf den Türgriff gelegt hatte, wandte sich Kolumbini noch einmal um.
"Eine Frage noch. Können Sie ich vorstellen, warum sich Marloffs Mörder größte Mühe gegeben hat, sämtliche Spuren betreffend Ermittlungen nach dem Verbleib Ignatius Merinos zu vernichten?"
Zufrieden beobachtete er, wie die Gesichtszüge des Barons für kurze Zeit entgleisten, bevor sie völlig ausdruckslos wurden.
"Ich weiß nicht, was Ignaz getan hat, was einen Mord herausfordern würde." sagte von Offlerberg schroff. "Alles was ich wissen will ist, was mit ihm geschehen ist."
"Und darum brauche ich Fakten." erklärte Kolumbini ruhig und ließ die Türklinke los. "Auf welche Schule sind Sie und Ihr Freund gegangen?"
"Wir haben zusammen das Lord Winder-Internat vor den Toren Ankh-Morporks besucht." antwortete der Baron, zu seiner freundlichen Jovialität zurückfindend. "Anschließend kehrte ich zurück nach Gennua und Ignaz trat sein väterliches Erbe hier in Ankh-Morpork an. Wir haben seitdem nur noch Briefkontakt gehalten, welcher, wie gesagt, vor zwanzig Jahren plötzlich endete."
"Hat er je geschrieben, dass er in irgendwelchen Schwierigkeiten gewesen ist?" forschte Kolumbini weiter, den über Ivonne erhaltenen Hinweis über Gefangenenlisten im HInterkopf.
Von Offlerberg überlegte kurz.
"Nicht, dass ich wüsste. Soweit ich es aus seinem Briefen herauslesen konnte, lebte er zufrieden von den Zinsen seines angelegten Erbes als Privatmann und genoss die üblichen Freuden unserer Klasse." Ein milder Blick von oben herab traf den Ermittler. "Sie verstehen schon. Bälle, die Oper, die Rennbahn, Abendgesellschaften."
"Dann wird sich doch wohl sicher irgendwer aus Ihrer Klasse an den Herrn Merino erinnern können." Kolumbini konnte sich einen sarkastischen Unterton in seiner Stimme nicht verkneifen.
Der Baron ignorierte den Seitenhieb geflissentlich.
"Glauben Sie mir, ich habe schon versucht, auf diesem Weg Informationen einzuholen. Aber alles was ich erfahren habe war, dass er einfach nirgendwo mehr erschien."
"Was war seine letzte bekannte Adresse?" bohrte der Ermittler weiter.
"Irgendwo im Siebenschläfer. Die Nummer weiß ich nicht mehr genau. Die Briefe von damals habe ich leider in Gennua gelassen."
"Nun, das waren doch schon mal einige Informationen mehr als Sie mir zu geben bereit waren." Kolumbini fuhr sich mit der Hand durch sein unordentliches Haar. "Die Stadtwache dankt Ihnen für Ihre Hilfsbereitschaft."
Und mit diesen Worten verließ er um einige Eindrücke reicher das Arbeitszimmer des Barons von Offlerberg.


NYRIA


Die Sonne hielt sich hinter grauen Wolken verborgen, die den Himmel über den Weiten der Sto-Ebene überzogen wie eine besonders große Bettdecke.
"Und schließlich bin ich einem wandernden Aussteigerpaar von Lancre heruntergekommen und vom Rand der Sto-Ebene aus dann zu Fuß weitergelaufen." beendete Nyria ihre Erzählung. "Immer der Dunstglocke und dem Gestank nach, sozusagen."
"Beneidenswert." Willibald der Schlagzeuger ließ seinen Blick über den Horizont schweifen. "Weiter als Überwald sind wir bisher nicht gekommen. Aber wer weiß, vielleicht machen wir irgendwann doch nochmal eine Welttournee. Auch wenn Viericks und Klatsch für den Rest von uns wahrscheinlich nicht so gemütlich werden."
Nyria musste lachen. Sie hatte den jungen Mann mit dem wilden Lockenkopf und einzigen Nichtvampir der Band sofort gut leiden können.
"Zuviel Sonne gibt es nicht." bemerkte Theo, der als einziger der Untoten noch nicht zu Bett gegangen war, und sah von seinem Romanheft auf. "Es gibt nur zu schwache Sonnencreme."
"Weißt du, ich finde dein Unlebensmotto immer wieder faszinierend." grinste Willibald.
Theo zuckte nur mit den Schultern. "Alte Gewohnheiten sind nun mal schwer loszuwerden. Nur weil ich jetzt spitze Zähne habe, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht der Alte geblieben bin."
"Dann bist du gar nicht als Vampir geboren worden?" fragte Nyria.
"Ein Gruhpie hat ihn gebissen." Willibald verzog das Gesicht.
"Diese dumme Kuh." murmelte Theo und klappte sein Heft zu. "Na ja, jetzt schlürfe ich halt Kakao, wie die anderen. Und wenigstens brauche ich nun keine Schminke auf der Bühne mehr, ich bin jetzt sozusagen naturblass. Außerdem habe ich mir vorgenommen, meinen Vater zu besuchen, wenn wir wieder in der Stadt sind. Einfach nur um ihm unter die Nase zu reiben, dass sein unnützer Sohn erstens tatsächlich Musiker mit Steinen drin geworden ist und zweitens zudem nun auch noch der Spezies angehört, die er am meisten hasst, dieser verkalkte Speziesist."
"Darf ich zugucken?" fragte Willibald. "Ich will sein Gesicht sehen. Weißt du noch, wie er versucht hat, dir die Freundschaft mit Kraga zu verbieten, weil er es nicht haben konnte, dass sein Sohn mit einem Vampir befreundet ist?"
"Lang ists her." seufzte Theo. "Aber die Speziesisten sitzen wahrscheinlich immer noch überall."
"Wem sagst du das." Nyria schlug die Beine übereinander und lehnte sich auf dem Kutschbock zurück. "Ein Teil meiner Familie war ähnlich." Ihr Mund verzog sich zu einem wölfischen Grinsen. "Sie würden wahrscheinlich im Grab einen Drehwurm bekommen wenn sie wüssten, dass die letzten lebenden Familienmitglieder ein Halbvampir und eine Werwölfin sind."
"Halbvampire? So etwas gibt es wirklich?" fragte Theo erstaunt.
Nyria nickte. "Mein Vetter ist einer."
"Faszinierend." bemerkte der blonde Vampir. "Eddie Wollas hat mal in einem Roman aus der Hexer von Ankh-Serie einen auftauchen lassen. Band 29, das Grauen am Ende der Zeit, war es, wenn ich mich richtig erinnere. Allerdings hat Schannon der Assassine ihm am Ende den Garaus gemacht." Er betrachtete den Heftroman in seiner Hand. "Komisch. Wollas hat seit anderthalb Jahren keinen neuen Roman rausgebracht. Früher sind sie alle zwei Monate erschienen. Wovon soll ich mich bloß für unsere Musik inspireren lassen, wenn da nichts mehr nachkommt?"
"Dann fang wieder von vorne an." antwortete ihm Willibald ungerührt.
Theos Antwort bestand aus einem ausgiebigen Gähnen.
"Da weiß ich doch schon, wie es ausgeht. Aber egal, ich krieche auch mal in meinen Sarg."
Er ließ das Romanheft in seiner Westentasche verschwinden.
Und aus welchem Stadtteil kommst du?" erkundigte sich Nyria bei Willibald.
"Bezirk Sirupminenstraße." erklärte dieser. "Meine Eltern haben einen Gemischtwarenladen im Fischbeinweg. Es hat ihnen nie gefallen, dass ich Musiker mit Steinen drin werden..."
Ein markerschütternder Schrei von der Ladefläche des Karrens zerriss die Ruhe über den Kohlfeldern.
Nyria und Willibald fuhren herum und sahen Theo sichtlich erschrocken an seinem geöffneten Sarg stehen. Darin saß aufrecht eine Gestalt, von der die beiden auf dem Kutschbock nur eine schmale Rückseite und langes hellbraunes Haar erkennen konnten.
"Ich... äh..." stammelte die unbekannte Person. "Bitte beißen Sie mich nicht, ich wollte doch nur..." Panisch blickte sie wild um sich und Nyria erkannte, dass es sich um einen Jungen im Frühstadium der Adoleszenz handelte.
"Reg dich ab, hier frisst dich keiner!" rief sie ihm geistesgegenwärtig zu.
Entsetzt wies der Junge auf den immer noch ziemlich verblüfft dreinschauenden Theo.
"Aber er... ist ein... Vampir!" quiekte er und seine Stimme überschlug sich in den disharmonischen Tonlagenwechseln des Stimmbruchs.
"Na und?" gab Nyria zurück. "Und wie kommst du eigentlich auf den Karren?"
"Genau." fügte Theo hinzu. "Was hast du eigentlich in meinem Sarg verloren?"
Der Junge schluckte.
"Ich habe mich versteckt." sagte er leise und ließ den Kopf hängen. "Gestern Abend vor dem Gasthaus in diesem Ort stand der Karren. Und ich bin einfach draufgeklettert und habe mich in dieser Kiste versteckt. Ich wusste nicht, dass es..."
"Ein Sarg war?" hakte Nyria nach.
"Hmm-mmm." schüchtern sah der Junge zu Theo auf. "Werden Sie mich nun aussaugen oder mich vom Karren werfen?"
Der Sänger ging in die Hocke.
"Wenn du mir sagst, wovor du dich verstecken wolltest, überlege ich es mir vielleicht noch einmal." sagte er in versöhnlicherem Tonfall.
"Vor dem Herzog." murmelte der Junge. "Er wollte mich nicht gehen lassen und nach meinem letzten Fluchtversuch hat er mich für eine Woche bei Wasser und Brot in den Keller gesperrt. Dieses Mal musste ich es einfach schaffen."
In Nyrias Erinnerung begann sich etwas zu regen.
"Kommst du aus Sto Barrat?" erkundigte sie sich.
Der Junge nickte.
"Ich bin vor ein paar Tagen durchgekommen. Dein Herzog hat gerade das komplette Dorf durchsuchen lassen und mich beinahe festgesetzt. Er war stinkwütend. Was hast du bloß angestellt?"
"Und wie heißt du eigentlich überhaupt?" fügte Theo hinzu.
"Matthias Kohl." stellte sich der Junge vor. "Und ich habe nichts angestellt, bitte glauben Sie mir. Alles was ich will ist nach Ankh-Morpork und meine Mutter finden."


IVONNE


Soso, die Trommel also. Ivonne Kolumbini hätte es sich fast denken können. Sie nickte dem Zerreißertroll an der Tür kurz zu, schob sich ihren Herrenhut tiefer in die Stirn und betrat den Schankraum. Ivonne mochte die wohl berüchtigtste Taverne Ankh-Morporks. Der Schankraum war zu jeder Tageszeit angemessen schummrig und groß genug um die gewisse Anonymität zu wahren, die die meisten ihrer Klienten bevorzugten. Und bis vor anderthalb Jahren war die abendliche Prügelei immer ein Erlebnis gewesen. Doch leider war der junge Kamerun Quetschkorn bei irgendeinem unerfreulichen Heldenabenteuer ums Leben gekommen und der neue Schlägereikoordinator verstand in Ivonnes Augen rein gar nichts von seinem Beruf. Vor ihrem geistigen Auge sah die Privatdetektivin den jungen Quetschkorn breitbeinig auf einem Tisch stehen, das schulterlange hellbraune Haar mit einem geflochtenen Lederband aus der Stirn gebunden, seinen großen Anderthalbhänder schwingend als würde die Waffe nicht mehr wiegen als ein brindisianisches Florett. Er hatte auch einen Bruder gehabt, einen schmächtigen Zauberer, der der Prügelei hin und wieder ein paar magische Effekte hinzugefügt hatte. Damals war der Tavernenkampf noch eine wirkliche Schau gewesen, dachte Ivonne, als sie die Stufen zum Schankraum hinunterstieg, und stellte gleichzeitig fest, dass sie sich schon beinahe anhörte wie eine alte Frau. Früher war immer alles besser gewesen. Verdammt, ich bin neunundzwanzig, dachte sie. So alt bin ich doch noch gar nicht.
Suchend ließ sie ihren Blick durch den Schankraum schweifen. Inspäctor hatte sie überredet, sich hier mit Araghast Breguyar zu treffen. Sie kannte ihn flüchtig als guten Freund ihres Vetters. Insgeheim gefiel ihr der Gedanke nicht sonderlich, die Ermittlungen abzugeben, selbst wenn der Fall Marloff vermutlich das Leben gekostet hatte. Dreihundert Dollar waren viel Geld.
Ein Mann an einem Tisch im rückwärtigen Bereich des Schankraums warf ihr eine Kusshand zu. Er trug ein zerschlissenes rotes T-Shirt mit der Aufschrift Für immer und ewig - Die Untoten Socken und dichtes schwarzes Haar fiel ihm offen über Schultern und Brust. Ein halbleeres Bier stand vor ihm.
Ivonne musste zweimal hinschauen um ihrem Kontaktmann zu erkennen. Gewandt schlängelte sie sich zwischen den Tischen hindurch und nahm gegenüber dem Hauptfeldwebel Platz.
"Entschuldigung für die Kusshand." sagte dieser zur Begrüßung mit einem schiefen Lächeln. "Aber ich bin eigentlich gar nicht hier. Zumindest nicht offiziell."
"Schon gut." antwortete Ivonne. "Ich hatte schon Klienten die sich weitaus schlimmer benommen haben." Sie musterte ihn noch einmal gründlich von oben bis unten. "Erstaunlich, wie anders du aussiehst ohne Uniform. Ich habe nie gemerkt, dass deine Haare so lang sind."
Breguyar schob eine gürtellange Strähne über seine Schulter nach hinten. "Ich hasse Leute die mit scharfen Klingen in der Nähe meines Kopfes herumfuchteln." erklärte er. "Und das beinhaltet auch Friseure."
Ivonne nahm ihren Hut ab und legte ihn vor sich auf den Tisch.
"Fred hat dir eine Nachricht geschickt, oder?"
Breguyar nickte. "Die I. M.-Geschichte. Es scheint, als hätte man dich für den gleichen Fall angeheuert wegen dem Marloff nun die Radieschen von unten beguckt. Und Fred will dir nicht das Geschäft kaputtmachen indem ihr zusammenarbeitet."
"Genau." Ivonne bedeutete Hibiskus Dunhelm, ihr das Übliche zu bringen.
"Und du bist nicht allzu begeistert von der Idee, mit der Wache zusammenzuarbeiten." fuhr Breguyar fort und nahm einen Schluck aus seinem Bier.
"Woher glaubst du das zu wissen?" gab Ivonne zurück und setzte eine steinerne Miene auf um zu verbergen, wie sehr der Hauptfeldwebel den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
"Ich kann es mir denken." antwortete Breguyar nur. "An deiner Stelle wäre ich auch nicht froh drüber, mich in großem Stil mit der Wache einzulassen." Mit nachdenklichem Blick legte er seinen Zeigefinger in das kleine Grübchen in seinem Kinn. "Ich wette, bei einem Auftraggeber wie diesem von Offlerberg springt ein gutes Sümmchen dabei raus."
"Püschologe, oder?" gab Ivonne zurück. "Das war doch dein Posten bevor du angefangen hast, Abteilungen zu leiten."
"Richtig. Aber fress mich nicht gleich auf, nur weil ich Wächter bin. Ivonne, wenn wir zusammenarbeiten, können wir eigentlich nur Vorteile dabei rausschlagen. Fred hat mir die Marloff-Akte zukommen lassen. Was hältst du davon, wir ermitteln zusammen und jeder gibt seine Ergebnisse dort ab, wo er sie abgeben muss."
Sie schwiegen, als Dunhelm Ivonnes Getränk servierte und gleich kassierte. Die private Ermittlerin trank sogleich einen großen Schluck des zwergischen Lebenswassers.
"Das klingt mir aber gar nicht nach Wächter." bemerkte sie, als sich der Wirt entfernt hatte.
Ein flüchtiges Lächeln huschte über Breguyars schmale Lippen.
"Ich habe nie gesagt, dass ich immer ein ehrlicher Wächter bin." antwortete er. "Wenn jeder immer streng nach den Vorschriften arbeiten würde, hätten wir so manchen Fall nie gelöst."
"Zum Beispiel?" hakte Ivonne, zog eine Zigarette aus ihrem silbernen Etui und klemmte sie sich zwischen die unauffällig geschminkten Lippen.
Araghast Breguyar lachte trocken.
"Guter Versuch, Ivonne. Aber das ist Berufsgeheimnis."
Die private Ermittlerin riss ein Strichholz an und entzündete ihre Zigarette.
"Ich hatte auch keine Antwort erwartet." erklärte sie und lächelte ebenfalls. "Wenn du etwas verraten hättest, hätte ich genau gewusst, dass ich dir nicht vertrauen kann."
"Sag noch einmal etwas über Püschologie." Breguyar bediente sich ausgiebig an seinem Bier. "Also, haben wir eine Abmachung?"
Ivonne nickte und blies eine Rauchwolke in die stickige Tavernenluft. "Einverstanden. Wir kümmern uns zusammen um die Sache und berichten getrennt." Innerlich entspannte sie sich. Inspäctor hatte recht gehabt, was seinen Freund betraf. Breguyar war so korrupt wie nur ein waschechter Morporkianer sein konnte und verstand die Spielregeln seiner Heimatstadt vermutlich besser als die meisten übrigen Wächter. Seine Mentalität war der ihrigen ähnlicher als sie bei den bisherigen flüchtigen Begegnungen den Eindruck gehabt hatte.
Klirrend trafen Bier- und Whiskyglas aufeinander.
"Auf einen erfolgreichen Fall!"


RAISTAN


Raistan konnte es immer noch kaum glauben, dass Araghasts Plan, die eigenen Kollegen auszumanövrieren, tatsächlich aufgegangen war und er die Stelle als Hauslehrer wirklich bekommen hatte.
Unauffällig musterte er die schwarz gekleidete Runde, die sich zu einem schweigsamen Abendessen zusammengefunden hatte. Die Lady von Willerfort saß mit gesenktem Blick über ihrem Teller und schien von dem, was um sie herum geschah, kaum Notiz zu nehmen. Zu ihrer Rechten saß Raistans zukünftiger Schüler Alfred, blass und ebenso schweigsam, und stocherte in seinem Essen herum. Eine der ersten Handlungen der Lady nach der Einstellung des neuen Hauslehrers war es gewesen, auf die schwachen Nerven und die anfällige Gesundheit ihres Sohnes hinzuweisen und Raistan zu bitten, ihn keiner unnötigen Aufregung auszusetzen. Insgeheim war der junge Zauberer gespannt darauf, Alfred von Willerfort, jetzt offizieller Erbe des beträchtlichen Familienvermögens, am kommenden Morgen näher kennen zu lernen. Wenn Araghasts Informationen stimmten, war der Junge verwöhnt und wehleidig und seine Mutter hielt ihm, wie sein Freund sich unverblümt wie immer ausgedrückt hatte, grundsätzlich die Hand vor den Hintern.
Raistans Blick wanderte zur Tochter des Hauses. Sie trug, wie ihre Stiefmutter, ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid, welches überhaupt nicht zu ihr passte. Und als ob sie seinen Blick bemerkt hätte, lächelte sie ihn über die Suppenterrine hinweg an.
"Woher stammen Sie eigentlich, Herr Danglars?" erkundigte sie sich. "Ihr Name klingt nicht sehr morporkianisch."
"Meine Eltern kamen aus Quirm." spulte Raistan seine sorgfältig vorbereitete Lügengeschichte ab. "Aber ich selbst wurde in Ankh-Morpork geboren. Den quirmianischen Namen habe ich aus Traditionsgründen bekommen."
Schweigen senkte sich wieder über die Tischgemeinschaft, ein Schweigen, das Raistan nicht einmal unangenehm war. Ihm war, als hätte er im Laufe der vergangenen anderthalb Jahren sowieso verlernt, sich zu unterhalten. Genau wie er es verlernt hatte, zu leben.
Plötzlich musste er innerlich lächeln. Vor wenigen Tagen hatte er sich erst vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn er die Zauberei an den Nagel hängte und eine Privatdetektei aufmachte, und nun saß er hier mit einer falschen Identität und suchte nach Spuren in einem Mordfall. Nein, zwei Mordfälle, korrigierte er sich selbst. Am Morgen des vergangenen Tages hatte es eine zweite Dach-Leiche gegeben und der einzige Anhaltspunkt war eine Postkarte mit einem Zitat aus einem dramatischen Theaterstück.
Die Brille mit den Fensterglas rutschte seine Nase herab und Raistan schob sie hastig wieder nach oben. Das ungewohnte Gewicht auf der Nasenwurzel fühlte sich seltsam an, genau wie der Zopf. Edmond Danglars versteckte sich nicht hinter einem Vorhang aus Haar, so wie Raistan Adelmus Quetschkorn es immer tat. Edmond Danglars war ein staubtrockener Gelehrter, der Bildung für das höchste aller Güter hielt und es als seine beinahe missionarische Aufgabe sah, diese zu verbreiten. Unwillkürlich tastete Raistan nach dem aus dem Fundus von DOG stammenden gefälschten Mitgliedsausweis der Lehrergilde, der in der Tasche seines Jacketts steckte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, ob er irgendwelches schauspielerisches Talent besaß. Der einzige Grund, weshalb er Araghasts Vorschlag angenommen hatte, war die Aussicht auf ein wenig Abenteuer und Abwechslung und ein Urlaub von seinem Leben gewesen, dazu der Verdienst von drei Ankh-Morpork-Dollars pro Tag, den seine Schwester nur allzugut gebrauchen konnte. Seine Lippen verengten sich zu einem schmalen Strich. Er hatte vor, seine Aufgabe so gut wie möglich zu erledigen. Wie ein wirklicher Privatschnüffler.

Wenig später saß er im leeren Salon am Couchtisch, nippte gelegentlich an einer Tasse Kräutertee und malte ein Klonk-Brett in sein Notizbuch, auf welches er daraufhin die Ausgangspositionen der Figuren in seinem letzten Spiel mit Leonata Eule einzeichnete. Sie war selbst für ihn, den bisher ungeschlagenen Universitätsmeister und Vierten der letzten morporkianischen Meisterschaften, eine ernstzunehmende Gegnerin. Leider lehnte sie alle seine Überredungsversuche, auf Turnieren mitzuspielen, aus Zeitgründen ab.
Raistan hörte, wie sich die Zimmertür öffnete und sich leise Schritte und das Rascheln von Damenröcken ihm näherten.
"Sie sitzen hier ja ganz allein." erklang die Stimme des Fräuleins Valentina von Willerfort. Die Schritte stoppten direkt hinter dem Sessel in dem er saß, und ein Hauch süßen Parfums kitztelte ihn in der Nase. "Oh, Sie spielen Klonk?"
Raistan schlug sein Notizbuch zu.
"Es ist eine gute Methode, den Verstand in Übung zu halten." antwortete er in bester Gelehrtenmanier. "Außerdem ist die soziale Komponente des Spiels sehr interessant. In Klonk-Vereinen spielen Zwerge und Trolle gemeinsam ohne jegliche Schlägereien. Der uralte Konflikt wird quasi auf das Spielbrett verlagert, und da jeder Spieler einmal die Zwerge und einmal die Trolle bekommt, ist zudem sehr unterschiedliches taktisches Denken gefordert."
"Sie müssen nicht zeichnen." Die junge Frau ließ sich auf dem Sofa nieder und legte ein Buch auf den Tisch. "Wir haben ein Klonk-Brett und Figuren im Schrank." Ihr Gesicht verdüsterte sich. "Mein Vater hat gelegentlich eine Partie mit mir gespielt. Ich bin zwar keine besonders gute Spielerin, aber es hat uns immer Vergnügen bereitet."
"Es tut mir Leid, was mit Ihrem Vater geschehen ist, Fräulein von Willerfort." bekundete Raistan sein Beileid. "Er hat Ihnen viel bedeutet, nicht wahr?"
"Viel." Sie schloss die Augen, als ob sie die aufsteigenden Tränen zurückhalten wollte. "Ich danke Ihnen für Ihr Mitleid." sagte sie höflich und griff nach ihrem Buch.
Raistan nahm einen Schluck aus seiner Teetasse. "Sie können diesen Satz wahrscheinlich nicht mehr hören." antwortete er.
"Da haben Sie recht." Valentina von Willerfort schniefte. "Es waren viele auf seiner Beerdigung. Geschäftspartner, der Vorstand der Kaufmannsgilde, sonstige Bekannte. Aber ich frage mich, wie vielen von ihnen hat mein Vater wirklich etwas bedeutet und wer ist nur gekommen, weil es sich so gehörte?" Sie winkte ab und suchte die Taschen ihres Kleides ab. "Ach, warum erzähle ich Ihnen das eigentlich. Sie können sich sicherlich kaum vorstellen, wie ich mich fühle."
"Als wäre Ihnen plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen worden?"
Überrascht ließ das Fräulein die Hand mit dem Taschentuch in ihren Schoß sinken und sah Raistan an. Er schob die rutschende Brille zurück auf seine Nasenwurzel und beugte sich vor. Er hatte keinerlei Ahnung, wie er mit einer trauernden jungen Dame umgehen sollte und hoffte, dass er nun keinen Fehler machte. Er hasste es, über dieses Thema zu sprechen. Doch wenn er Valentina von Willerfort zum Reden bringen wollte, blieb ihm in dieser Situation nichts anderes übrig.
"Ich hatte einen Bruder." sagte er kurz. "Wir zwei waren sprichwörtlich ein Herz und eine Seele, bis er vor anderthalb Jahren ums Leben gekommen ist. Deshalb verstehe ich schon, wie es Ihnen zur Zeit geht."
"Oh." Valentina schluckte. "Entschuldigung. Das wusste ich nicht."
"Es ist auch nicht wichtig." wechselte Raistan schnell das Thema. "Was ich Sie eigentlich fragen wollte - Hätten Sie vielleicht Lust, wenn es Sie nicht zu sehr schmerzt, eine Runde Klonk mit mir zu spielen?"


ARAGHAST


"Fragst du dich eigentlich oft, was sie zu unserer Hochzeit sagen würden?"
Araghast trat neben seine Braut und legte seinen Arm um ihre Taille. Die Grabmale auf dem Zentralfriedhof ragten dunkel in den dämmrigen Himmel und die letzte Ruhestätte von Henning und Tricia Eule lag in tiefem Schatten. Rote und gelbe Blätter tanzten im kalten Herbstwind.
"Manchmal." antwortete Leonata leise. "Und ich versuche mich zu überzeugen, dass sie sich für mich gefreut hätten. Aber wer weiß? Vielleicht wären sie auch entsetzt gewesen, dass sich ihre Tochter ausgerechnet einen Stadtwächter ausgesucht hat. Eigentlich habe ich sie nie gut genug kennengelernt um zu wissen, was sie über diverse Sachen dachten. Eigentlich weiß ich nur, dass mein Vater ein Gegner Lord Schnappübers gewesen ist."
"Das waren wahrscheinlich die meisten Morporkianer." bemerkte Araghast. "Wenn man bedenkt, dass er seinem Namen wirklich alle Ehre gemacht hat. Jemand der sein Pferd in den Stadtrat beruft, gehört eher in ein Sanatorium als in den Patrizierpalast. Da ist mir Vetinari noch lieber. Er hat zwar die ganze Stadt in den Händen und spielt mit ihren Bürgern wie mit den Figuren einer Partie Klonk, aber wenigstens weiß er auf seine ganz eigene Weise, was er tut. Der Mann weiß mehr über Püschologie als ich in meinem ganzen Leben je lernen könnte."
"Er soll ein sehr guter Klonk-Spieler sein." antwortete Lea nur.
Araghast zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung, womit er sich die Zeit vertreibt wenn er mal nicht Akten wälzt oder dafür sorgen lässt, dass er mehr weiß als die Wache und sämtliche Gilden zusammen. Im Moment scheint er sehr damit beschäftigt zu sein, die Wache zu nerven, damit sie endlich diesen Dach-Mörder findet."
"Und du spielst dein ganz eigenes Spiel in diesem Fall, Bregs." Leonata versetzte ihm einen leichten Rippenstoß.
Der Hauptfeldwebel lachte nur.
"Was bleibt mir anderes übrig, wenn ich wirklich Ergebnisse haben will? Außerdem, du weißt ja, eine Hand wäscht die andere und zwei die Füße. Morgen Vormittag wird sich Ivonne Kolumbini als Rekrutin verkleiden und wir beiden werden uns das Palastarchiv vornehmen. Das scheint mir immer noch der wahrscheinlichste Ort zu sein, wo alte Gefangenenlisten noch überlebt haben könnten."
"Ignatius Merino, nicht wahr?" hakte Leonata nach.
Araghast nickte.
"Irgendwer muss sich mit um den Fall kümmern, während ganz RUM auf Befehl des Patriziers dem Dach-Mörder auf der Straße zur Verdammnis oder was auch immer hinterherläuft." Er sah seine Verlobte an. "Noch eine Sache, die Romulus und seinen Trupp brennend interessiert. Wo hast du eigentlich diese Postkarte hergehabt?"
"Aus irgendeinem Laden. Die wurden vor ein paar Monaten zusammen mit einigen anderen Theaterzitaten an jeder Ecke verkauft, weil irgendein Jubiläum stattfand. Ich habe sie gesehen und dachte, dass es eine gute Idee wäre, sie dir unterzuschieben um dich ein wenig wegen der Näherinnen zu ärgern. Woher hätte ich wissen sollen, dass später ein Verrückter darauf kommt, gerade diesen Spruch in die Taschen seiner Mordopfer zu schieben?"
"Na dann wird RUM ja eine Menge Spaß dabei haben, diverse Postkartenläden abzuklappern." bemerkte Araghast. "Es soll ja Wächter geben, die auf solche Weise tatsächlich geschafft haben, einen Fall zu lösen. Bloß sind es halt immer andere Wächter, die die dummen Täter erwischen."
"Vielleicht wissen die Täter ja im Vorraus, wer den Fall bekommt, und geben sich dann besondere Mühe." neckte Leonata ihn. "Ich sehe es schon. Ah, mein Verbrechen wird ein Fall für Breguyar. Also hinterlasse ich mal keine verräterischen Fußspuren oder Streichholzbriefchen meiner Stammkneipe."
"Sondern nur Postkarten mit Theaterzitaten." brummte der Hauptfeldwebel. "Wollen wir dann mal los? Ich glaube nicht, dass deine Eltern an Blödeleien über Wachearbeit besonders interessiert sind."
"Wer weiß." sagte Leonata und schubste mit ihrem Gehstock einen Kieselstein beiseite.
"Und deine Mutter?" fragte sie, als die Arm in Arm den Weg zum Friedhofstor beschritten. "Hast du dich mal gefragt, was sie wohl von dir halten würde?"
"Vermutlich wäre sie froh, dass überhaupt etwas aus mir geworden ist." antwortete Araghast nach kurzem Überlegen. "Aber ehrlich gesagt, meine Mutter ist so weit weg. Im Gegensatz zu dir habe ich nicht einmal ein Grab das ich besuchen kann. Alles woran ich mich erinnern kann ist eine dunkelhaarige magere Frau die tagsüber wenn ich wach war die meiste Zeit geschlafen hat. Ich kenne sie eigentlich nur müde. Wer weiß, wenn es damals schon eine Näherinnengilde gegeben hätte, vielleicht wäre sie noch am Leben. Eigentlich ist das einzige was ich von ihr habe mein Aussehen. Zumindest sehe ich ihrem Bruder sehr ähnlich. Der wiederum von meiner Tante umgebracht wurde, als wir uns gerade mal zwei Tage kannten. Und meine Tante Beatrice, dieses speziesistische Schwein - Onkel Idians Tochter hat ihr die Kehle durchgebissen. Was aus Ny geworden ist, weiß ich auch nicht. Sie starb in der großen Verschwörerprügelei in der Rumpelkammer der Unsichtbaren Universität, die ich selbst auch nur dank Der Hexer von Ankh Band 36 in meiner Brusttasche überlebt habe. Und dann lag Tante Beatrice eine gute Woche später mit rausgerissener Kehle in der Pathologie, das Familienanwesen wurde abgefackelt und ich bekam einen Brief von einer Toten in dem stand, dass es ihr Leid tut." Er öffnete das Friedhofstor und Leonata und er traten hinaus in die Chrononhotonthologosstraße. "Ich schätze, ihr Patenonkel muss sie irgendwann mal mit dem Lykanthropievirus infiziert haben."
"Und wo ist sie jetzt?" fragte Leonata.
"Ich weiß es nicht. Nach dem einen kurzen Brief habe ich nie wieder etwas von ihr gehört." Araghast musterte eingehend das Straßenpflaster. "Auch wenn ich kaum Zeit hatte, sie kennenzulernen - sie war eine der wenigen Leute die ich sofort gemocht habe. Ny war jemand, der sich schon durch harte Zeiten geschlagen und sich nie etwas vormachen lassen hat. Auch schon mit siebzehn, so alt war sie damals. Ich weiß noch genau, wie sie in meinem Büro auftauchte. Kurzes Haar, Männerklamotten und ein Degen an der Seite, mit dem sie, wie ich später gesehen habe, auch gut umgehen konnte. Dazu kam ein freches Mundwerk, das, wie ich fürchte in der Familie liegt." Er lächelte schief.
"Ich hätte sie gern kennengelernt." Leonata drückte seinen Arm. "Sie klingt wie jemand, der mir gefallen würde."
"Ich würde sie auch gern wiedersehen. Aber so ist das verdammte Leben leider nun mal. Verwandte, Freunde... Sie kommen und gehen. Siehe auch Valdimier van Varwald. Er war einer meiner besten Freunde, bis zu der Geschichte mit dem Dreimal Glücklichen Fischimbiss. Seitdem verdächtigt er mich, dass ich nicht die ganze Wahrheit gesagt habe, und da hat er leider auch verflucht recht." Araghast biss die Zähne zusammen. Die drei Tage in seinem Leben nachdem ein Expeditionstrupp der Unsichtbaren Universität herauszufinden versucht hatte, was wirklich mit Herrn Hong geschehen war, gehörten zu den Dingen, die er am liebsten wirklich vergessen hätte.
"Aber die ganze Sache wäre ganz anders abgelaufen, wenn er mir zumindest vertraut hätte." Er wandte sich um und sah in der Ferne die Fenster des Wohnzimmers der Hausnummer 72 hell erleuchtet. "Vielleicht wären wir niemals diesem Turisas Linistar dermaßen auf den Leim gegangen. Und vielleicht wäre Kamerun Quetschkorn auch noch am Leben. Und so weiter. Vielleicht und wäre. Lauter Wörter die einem eine püschische Endlosschleife verpassen."
Leonata blieb stehen.
"Wer braucht schon Vielleicht und Wäre." sagte sie und legte ihre Hände auf Araghasts Schultern. "Jetzt ist. Und nichts anderes. Bald sind wir verheiratet, dein Ärger mit Picardo hat sich quasi selbst erledigt und irgendwann kriegen wir Farrux auch noch inhumiert."
"Warum bin ich nicht Sillybos?" murmelte Araghast und sein Gesicht näherte sich dem seiner Braut. "Dann fiele mir garantiert irgendeine tiefsinnige philosophische Antwort ein."

Die schwarzgekleidete Gestalt auf dem Hausdach beobachtete das sich küssende Paar unten auf dem Gehsteig genau. Und als die beiden sich schließlich voneinander lösten und in Richtung Götterinsel davonmaschierten folgte sie ihnen mit professioneller Unauffälligkeit.


ROBIN


Es war stockdunkel in der kleinen Küche. Frustriert spuckte Robin Picardo die Spitze einer Möhre in das Spülbecken. Um ihn herum verstreut lagen die Spitzen und grünen Enden zahlreicher weiterer Möhren. Der ehemalige Fähnrich hatte die Warterei und das Versteckspiel gründlich satt. Je schneller er diesem Mistkerl Breguyar seine wohlverdiente Abreibung verpassen konnte, desto besser.
Endlich. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Wenig später stand Drei Hungrige Mäuler vor ihm und reichte ihm einen frischen Bund Mohrrüben.
"Wie geht es dil, Lobin?" fragte sie.
"Beschissen." motzte der ehemalige Wächter. "Am liebsten würde ich diesem Schwein jeden Zahn einzeln ausschlagen und ihm sein heiles Auge auch noch kräftig polieren. Und danach langsam und schmerzhaft umlegen. Aber das ist keine Lösung. Er soll leben, damit er den ganzen langen Rest seines Lebens immer wieder sehen muss, was er verloren hat. Hast du schon was gefunden, was sich gegen ihn verwenden lässt?"
Die Achatenerin entzündete eine Öllampe und ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken.
"Ich habe im Alchiv im Hauptwachhaus gestöbelt. El wal immel mal wiedel ein wenig... eigenwillig in seinen Methoden. Abel etwas, was ihn wilklich gloß vol Intölnal Affäls blingt, ist schwielig zu finden. Da gibt es den Fall Dleimal glücklichen Fischimbiss, in dem immel noch einige Flagen nicht geklält sind, abel Bleguyal wulde von einem Püschologen attestielt, dass el sich untel dem Einfluss eines Zaubels befand und sich an nichts elinneln konnte."
"Zu schwammig." brummte Robin unzufrieden. "Ich brauche etwas, was ihn wirklich seinen Platz in der Wache kostet."
"Soweit ich in Elfahlung habe blingen können, gibt es mehlele Wächtel, die ihm seinen augenscheinlichen Gedächtnisvellust nicht abnehmen. Valdimiel von Valwald zum Beispiel. Ich habe heute in del Kantine mit ihm gesplochen und das Gespläch auf Bleguyal gelenkt. El ist del Meinung, dass del Kell nicht die ganze Wahlheit gesagt hat."
"Können wir ihn für meine Sache gewinnen?" warf Robin ein.
Bedauernd schüttelte Drei den Kopf.
"El ist nicht wie Goldie, del man nul elklälen musste, dass unsel Plan im Sinne del Gelechtigkeit ist. Van Valwald wal lange Zweit ein gutel Fleund von Bleguyal."
"Mist." Robin griff sich eine neue Möhre. "Aber Gedächtnisverlust. Das klingt schon einmal gut. Drei, kannst du mir einen Gefallen tun und bei Zündende Ideen vorbeischauen? Ich habe da so eine gewisse Idee, was wir machen können. Und dieses Mal wird dieser einäugige Hund seinen Kopf nicht aus der Schlinge ziehen können!"
Und kauend begann der ehemalige Fähnrich, seiner Mitverschwörerin die groben Umrisse des Planes zu erklären, der ihm urplötzlich in den Kopf gekommen war.


FORTSETZUNG FOLGT...




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Feedback:

Von Kanndra

14.11.2007 18:24

</b><br><br>Ich bin immer wieder beeindruckt davon, wie es dir gelingt, nicht nur einen (oder mehrere) spannende Fälle, sondern auch noch das ganze berufliche und persönliche Umfeld der handelnden Personen zu schildern. Als wärst du dabei gewesen ;). Bleibt nur noch die volle Punktzahl zu geben und sich auf den zweiten Teil zu freuen.<br><br><b>

Von Ophelia Ziegenberger

14.11.2007 18:24

</b><br><br>Vorweg: ja, ich gestehe. Ich habe die volle mögliche Punktzahl für diese Single vergeben. Und: nein, ich habe das nicht getan, weil es einfach eine schöne, lange Bregs-Single war. *g* Um der Wahrheit Genüge zu tun: ich habe mir dieses Mal sehr, sehr, sehr, sehr lange Zeit gelassen mit der Wertung, um die Geschichte sozusagen absacken zu lassen und sie besonders kritisch betrachten zu können. Offensichtlich konnte mich aber selbst diese selbst verhangene Bedenkzeit nicht zu einem abweichenden Verhalten verführen und das hat den einfachen Grund, dass die Geschichte toll ist! Es stimmt einfach alles an ihr, es gäbe nichts, was geändert werden müsste oder sollte, und ich denke nicht, dass ich die diversen Kriterien einzeln auflisten muss, um das anschaulich zu begründen. Natürlich möchte ich Dich, Bregs, nun auch nicht mit einem kurzen "Toll!" abspeisen und enttäuschen, daher zumindest ein oder zwei Schlüsselgedanken dazu. Ich liebe die von Dir entworfenen Nebencharaktere (und das betrifft jetzt nicht nur den Kleinen ;)). Sie sprühen vor Leben, sie haben jeder eine so dermaßen überzeugende eigene Geschichte mit allem Drum und Dran, dass man sie aus ihren Aussagen nebenbei heraushören kann, als wenn es völlig selbstverständlich wäre, dass diese Hintergründe voll ausgereift und bunt gemalt bei Romanfiguren existieren würden. Dann die Komplexität des Plot-Aufbaus; jede beschriebene Szene liest sich, als wenn man in ein großes Wandgemälde hineinblickt! So viele Zusammenhänge tun sich mit jedem Ereignis auf, dass sofort das Gefühl entsteht, ich müsse nur um die sprichwörtliche Ecke blicken, um den Rest der lauernden Intrigen und Fallen zu entdecken. Dementsprechend kann ich es auch kaum noch erwarten, die Fortsetzung zu lesen. Ich fiebere mit den Figuren mit, wobei ich besonders davon beeindruckt bin, wie Du eine im Grunde so langweilige Person wie die Hauptfigur Valentina dermaßen glaubwürdig und fesselnd nahe zu bringen imstande bist. Denn es fällt in all den mit traumwandlerischer Sicherheit gesetzten Dialogen kaum mehr auf, dass sie nichts weiter als eine behütete junge Dame ist, die noch nichts Aufregendes in ihrem Leben vorzuweisen hat. Den zweiten Teil auf ein gleich hohes Niveau zu bekommen, wird zwar schwierig werden, zugleich habe ich aber kaum Zweifel daran, dass es Dir auch dieses Mal wieder gelingen wird. Die Vorgaben, die Du dir selber geschrieben hast sind dafür zu gut! *g* Oder wie ich bei Rekruten-Kritiken gerne schreibe: Ich werde deine Wache-Karriere im Blick behalten und freue mich schon auf deine weiteren Geschichten! *grins*

Von Romulus von Grauhaar

20.11.2007 18:04

Ich kann mich nur anschließen: Von mir gabs auch die volle Punktzahl für eine geniale Single in typischer Bregs-Qualität. Negativ aufgestoßen ist mir nur eines: Leider eine untypisch große Häufung an Schreibfehlern (ziemlich oft merkt man, wo du Stellen umgeschrieben hast, weil ein Wort nicht ersetzt wurde und dadurch grammatikalisch fehl am Platz ist). Ist halt auch ne schwierige Sache für einen Erstkorrektor, eine Hundert-Seiten-Single schnell reinzustellen und dabei trotzdem alle eventuellen Fehlerchen auszumärzen ^^



Genial finde ich, wie du meinen Wachecharakter darstellst. Ich weiß schon, warum ich dir bei deinen Fragen, ob das so OK ist, gesagt hab: Mach du nur, ich vertrau dir voll und ganz dass du den Char absolut überzeugend rüberbringst. So wie du es mit allen Chars tust.



Schade finde ich dass diejenigen, die anscheinend wirklich was zu kritisieren haben (wenn es die nicht gäbe, hätte die Single wohl auch volle Punktzahl erreicht), nichts schreiben. Denn ich frage mich echt, was man da noch besser machen soll/kann...

Von Breda Krulock

20.11.2007 18:20

Vllt ist der Bregsche Massstab einfach durch den Hexer zu hoch gerutscht...? *spekulier*

Von Romulus von Grauhaar

21.11.2007 18:37

Heißt das, das ab sofort keine andere Single, die nicht an den Hexer ranreicht (was einfach unmöglich ist, das war einfach ein schreiberisches Meisterwerk), mehr 15 Punkte kriegen darf?

Von Breda Krulock

21.11.2007 22:37

Ohje, wollen wir einen extra Thread aufmachen, wie jeder bewertet nach welchen Kriterien?

In meinen Augen hat Bregs die Super Schreibe schlecht hin. Ich glaube ihr jedes_einzelne Wort und alle Details stimmen bis auf das kleinste i-Tüpfelchen über rein.

Und ja, ich meine das keine Single an den Hexer heran kommen wird und somit keine 15 erreichen kann.

Was ich allerdings als Bewertung abgebe, ist eine ganz andere Sache ;)

Von Rogi Feinstich

21.11.2007 22:43

So ich habe nicht mit 15 gewertet sondern mit 14.

1. Mir sind eben auch die Rechtschreibfehler aufgefallen

2. Die passagen mit Valentina waren mir zu Langatmig

3. Du hörst einfach da auf *argh irgendwo gegenhau*



Ansonsten stimme ich allen zu das man da nix besser machen kann, aber ich kam durch die 3 genannten punkte eben zu einer 14 ;)

*hat sich nun als "niedrig werter" gemeldet*

Von Ophelia Ziegenberger

21.11.2007 22:54

:D Dito @ Breda: An den Hexer kommt nie mehr irgendwas ran! Was mich aber trotzdem nicht daran hindert, auch darunter noch etwas Spielraum für andere 15er-Kandidaten zu lassen. ;)

Von Magane

22.11.2007 10:17

Der Hexer ist sowas wie eine 15+ mit Sternchen und ich würde nie alle Singles von Bregs (ganz zu schweigen von anderen Wächtern) an dieser genialen Trilogie messen.



Ich habe es nicht geschafft zu bewerten (mir fehlte die Zeit für so viel Text), aber bei mir wäre es wahrscheinlich leider auch [i]nur[/i] eine 14 geworden. Irgendwie fehlte was, ein besonders fesselndes Element, dieses Etwas was mich die Uni vergessen lässt und an die Geschichte fesselt, normalerweise gehören deine Singles zu denen die man nicht weglegen kann, das war diesmal anders.

Und die Fehler waren sicherlich auch ein entscheidender Faktor, grade im hochpunktigen Sektor fällt sowas schon mal schnell ins Gewicht.

Von Araghast Breguyar

22.11.2007 16:58

Erst mal Danke an alle die diesen Wust an Text gelesen, gelobt und kritisiert haben!



Und was die Tippfehler und Co betrifft, da gelobe ich Besserung für Teil 2 :) Letztendlich wollte ich die Sache irgendwann auch einfach nur noch vom Tisch haben und habe mir den Akt mit der Word-Autokorrektur gespart, ich fauler Sack. Aber offensichtlich übersehe ich beim rein manuellen Korrekturlesen doch einiges.



Übrigens, keiner braucht hier über irgendwelche Noten zu meckern ;) Ich bin mit der 14 voll und ganz zufrieden, und so viel wirklich Aufregendes passiert objektiv gesehen in dem Teil der Geschichte ja auch nicht. Eigentlich ist es eher ein 'Die Figuren auf dem Spielbrett werden aufgestellt'.



Bis zum nächsten Teil :-D



Bregs

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