SEALS findet eine bizarr drapierte Leiche und Oberleutnant Pismire den Weg zurück zur Wache. So weit - so gut. Aber wird er es diesmal schaffen, RUM die Ermittlung zu überlassen?
Dafür vergebene Note: 12
"Immer ran! Immer ran!! Immer ran, meine Damen!!!
Nur heute und nur hier auf diesem Markt:
Madame LaMandas wundersamer Stärkungsbalsam!!!
Meine Damen: Immer ran! Immer ran!! Immer ran!!!
Nur ein Teelöffel in den Schlummertrunk ihres Gatten,
und das gibt garantiert neue Spannkraft auf den Klöppel!!!"
Die Stimme des Händlers schallte über den Marktplatz. Den letzten Teil seiner Anpreisungen untermalte er durch eine halbwegs obszön und dennoch kraftlos wirkende Geste des linken Unterarms, während das Wort "Klöppel" von einem kräftigen Läuten seiner Glocke unterstrichen wurde.
Allerdings blieben seine Bemühungen erfolglos, was nicht nur am Wetter lag. Dieses tat seinerseits sein Bestes zum Misslingen des gesamten Markttages. Eine mächtige Gruppe gut gelaunter und prall gefüllter Regenwolken, die vom Meer aufgestiegen war, hatte beschlossen, in Ankh-Morpork ihr erstes und einziges Konzert der beginnenden Herbstsaison zu geben. Weniger blumig gesprochen: Es war windig, lausig kalt und goss wie aus Kübeln.
In wollene Kapuzenmäntel gehüllte Frauen hasteten mit ihren schweren Körben an den Marktständen vorbei, wobei ihnen der Spruch des Balsamhändlers nicht einmal ein müdes Lächeln entlockte. Anders eine Gruppe äußerst schmutziger, bleich und ungesund wirkender Gossenkinder, die sich mit einem versauten Ringelrein, in dessen Text das Wort 'Klöppel' sowie dessen Fehlen bei einer Reihe von Personen - in aller erster Linie aber bei dem Verkäufer selber - das zentrale Motiv bildeten, die Zeit vertrieben. Mehrfach versuchte der Mann, die Kinder zu verscheuchen; ein erfolgloses Vorhaben, das diese in der nächsten Runde mit einem noch lauteren und wüsteren Reim quittierten. Während er hinter einigen von ihnen her lief, ließ einer der Übrigen spöttisch sein Wasser am Verkaufsstand ab, während die anderen das mit einem alliterativen Reim über Pisspottpidders Gewohnheiten des Wasserlassens im Zusammenhang mit Klöppeln goutierten, den sie sich schnell aus den schmutzigen Fingern sogen.
Der Verkäufer beschloss, die Gören zu ignorieren und zog sich hinter seinen Verkaufsstand zurück. Er zog eine Taschenflasche aus seinem Umhang und spendierte sich erst einmal einen kräftigen Schluck gegen die Kälte, zündete sich missmutig eine Zigarette an, stützte sich auf den Verkaufstisch und betrachtete die trostlose Szenerie vor ihm. Dort stand er und starrte in den Regen: eine wenig imponierende Figur, vielleicht um die fünfzig Jahre alt, farbloses, schütteres Haar, das eine veritable Glatze bildete, ein farbloses, nichtssagendes Gesicht, hängende Gesichtszüge, ein vor Nässe hängender Schnauzbart, hängende Schultern.
*
Die Rekruten Zurelia und Nier Enstein vertrieben sich die Nacht hinter dem Wachetresen mit einer Partie "Leg Herrn Zwiebel rein", als die Tür des Wachhauses langsam aufschwang. Der gleißende Regenvorhang, der von den Fackeln rechts und links neben der Tür beleuchtet wurde, bildete einen malerischen Hintergrund für die hochgewachsene, hagere Gestalt im weißen Kapuzenmantel, die nun das Gebäude betrat. Mit schweren Schritten näherte sie sich dem Wachetresen.
"Tür zu, es zieht", maulte Rekrut Enstein, und Rekrutin Zurelia pflichtete ihm bei.
Der Fremde baute sich nun vor den beiden auf. Ein Bündel auf dem Rücken schien im Wesentlichen eine durchnässte Decke zu enthalten, ein fremdartig aussehender Schwertgriff ragte über die linke Schulter. Im Licht des Raumes warf die Kapuze einen undurchdringlichen Schatten, so dass die beiden das Gesicht nicht erkennen konnten.
"Sie wünschen?", fragte Zurelia, sich an ihre Aufgabe erinnernd.
Eine hagere Hand strich die Kapuze zurück. Die beiden Rekruten blickten in das wettergegerbte Gesicht eines alten Mannes mit langen Haaren und stoppeligem Kinn, einer langen, schmalen und krummen Nase und grünen Augen.
Nier machte eine aufmunternde Geste, um das Schweigen gar nicht erst zu lang werden zu lassen. "Nun sag schon, Alter."
"Oberleutnant Pismire meldet sich zum Dienst zurück", sprachs, schaute sie an und schien von den beiden eine Reaktion zu erwarten.
"Ober? Leutnant wer? Pis-wie-bitte? Nie gehört. Du willst uns wohl auf den Arm nehmen, Alterchen?", rutschte es Zurelia heraus.
Ihr Gegenüber zeigte keine Regung sondern entgegnete: "Ich glaube, ich würde es unter diesen Umständen vorziehen, mit dem wachhabenden Offizier sprechen zu können."
Diese Wendung leuchtete beiden Rekruten sofort ein. Es schien sich hier um ein eindeutiges Problem für einen Vorgesetzten zu handeln - langwierig, potenziell problematisch und im Ernstfall Ärger verheißend. Nichts also, was sie sich wünschten.
"Eine hervorragende Idee, guter Mann. Kommandeur Rascaal Ohnedurst wird sicherlich entzückt sein, deine Bekanntschaft zu machen." Enstein kam hinter dem Wachetresen vor. "Komm einfach mit, ich bringe dich hin."
"Nicht nötig, Rekrut, ich kenne den Weg."
Zielsicher wandte sich der Alte den Treppen zu.
An Rascaals Bürotür klopfte es deutlich. Der hochgewachsene Vampir legte mit einem Seufzen das
Papier, das er gerade mit pflichtschuldiger Langeweile zu Kenntnis genommen hatte, auf den "erledigt"-Stapel und rief: "Herein!"
Der Fremde schritt schweren Herzens in den Raum und trat ins Licht der Lampe. Für einen Moment verschlug es seinem Gegenüber die Sprache. "Oberleutnant Pismire! Dass du dich das traust! Wo kommst du her? Was hast du die ganze Zeit über getrieben?", brach es aus dem Kommandeur der Wache heraus.
"Nun, du hast doch sicher die Nachricht bekommen?", fragte der alte Mann in möglichst beiläufig-unschuldigen Tonfall.
"Nachricht!? Nachricht!!??", fauchte sein Gegenüber wütend. "Du tätest gut daran, den Bogen nicht zu überspannen. Wenn ich dich erinnern darf, Oberleutnant, dann bist du vor über zwei Jahren eines Abends durch die Tür dieses Gebäudes gegangen mit dem festen Vorsatz, am nächsten Morgen wieder zum Dienst zu erscheinen. Auf jeden Fall erinnere ich mich nicht an ein entsprechendes Urlaubsgesuch oder etwas Ähnliches von dir. Das nächste Lebenszeichen von dir ist ein ominöser Herr Hong, der mir ein achatenes Essen spendiert, mitsamt diesem komischen Keks, in dem ich eine versteckte Botschaft finden, dass du in einer - und ich zitiere aus dem Gedächtnis -
"wichtigen und dringenden familiären Angelegenheit um Urlaub für Jahr und Tag" nachsuchst. Ich meine: nicht dass wir beide nicht ganz genau wüssten, dass deine einzigen möglichen, dringenden, familiären Angelegenheiten in einem Teppich auf dem Dachboden des Wachegebäudes bestehen, Pismire. Also: Was sollte das Ganze?"
"Vielleicht hat Herr Hong - ähm, Hong ist übrigens auch das achatene Wort für
'Mann, der seltsame Sachen zum Essen an Arglose verkauft' - sich nicht präzise ausgedrückt. Es ging um seine familiären Angelegenheiten. Ich hatte mir nach dem Dienst in dem besagten Imbiss was zu Essen erworben und verzehrte es gerade in Gegenwart von Herrn Hong, als ich auf einmal von hinten einen Schlag auf den Schädel bekam. Die übliche Entführung halt, nur das die Entführer der festen Ansicht waren, es handele sich bei mir um den Vater von Herrn Hong." Der Oberleutnant deutete auf den Zopf, zu dem seine langen Haare gebunden waren: "Die Täter haben mich nur von hinten gesehen. Offenbar hatte Herr Hong - oder die Familie von Herrn Hong - in seinem achatenen Heimatdorf irgendwelche Probleme mit einer anderen Familie, die unter Zuhilfenahme dieser Entführung geklärt werden sollte."
Rascaal schnaubte nur und bemerkte abfällig: "Ich hab mir immer gedacht, dass das mit dem Zopf seltsam aussieht. Aber warum hast du nicht die Wache verständigt, wenn es dir offensichtlich möglich war, Herrn Hong zum Überbringer dieser Botschaft zu machen?"
"Er hatte eine panische Angst, was ich sofort registrierte, als ich in seinen Geist eintauchte, um mit ihm Verbindung aufzunehmen. Wenn ich die Entführung in der Botschaft für die Wache erwähnt hätte, dann hätte er vermutlich gar keine Nachricht überbracht."
"Genau. Und wir hätten die Ermittlungen aufgenommen."
"Eben. Das genau wollte ich ja vermeiden. Wie dem auch sei: Es ist eine lange Geschichte. Die könnte Stunden dauern. Die willst du doch nicht wirklich ... ?"
"Aber ja, Pismire, Oberleutnant, ich wüsste nichts, was ich jetzt dringender hören möchte", kam ohne Zögern die Antwort.
Als der Morgen dämmerte, stand fest, dass SUSI einen weiteren aktiven Gerichtsmediziner sein - beziehungsweise: ihr - Eigen nennen konnte, dass der Oberleutnant über seine Entführung ins achatene Reich einen ausführlichen Bericht zu schreiben hatte, und dass in der Abteilungsleitung von SUSI zu Pismires großer Erleichterung alles beim Alten blieb und somit Oberfeldwebel Sillybos sich weiter mit der Verwaltungsarbeit herumplagen konnte. Dieser war mitten in der Nacht vom Kommandeur eilends in das Wachhaus gerufen und über den überraschenden Wiederzuwachs in seiner Abteilung unterrichtet worden und sollte nun Gelegenheit haben, die Neuigkeit zu verdauen.
"Und da du schon einmal hier bist", meinte Rascaal mit einem Grinsen, "kannst du deinen Dienst ja auch gleich aufnehmen, Oberfeldwebel. Ich schicke dir dann Pismire später nach."
Mit einem Nicken zog Sillybos sich zurück.
"Nun weiter zu dir, Oberleutnant."
Zu den weniger angenehmen Neuigkeiten, die Pismire zu erfahren hatte, gehörte auch die Tatsache, dass seine Wohnung, die er gemietet hatte, nicht mehr sein Eigen war. In der Tat hatte seine Vermieterin, nachdem er über ein Jahr nicht erschienen war und seine Ziege Chrystobella erhebliche Verwüstungen angerichtet hatten, kurzerhand das Wertvolle - oder das, was sie dafür hielt - von seinen Sachen verhökert und den Rest in eine zugenagelte Kiste gestopft und diese bei der Wache abgegeben, mit dem Hinweis, dass der sogenannte Oberleutnant, solle er auch nur noch ein einziges Mal seine ungewaschenen Füße über ihre Schwelle zu setzten versuchen mit schwerstem Ärger zu rechnen habe. Rascaal hatte die Sachen in einer Ecke des Wachearchivs unterbringen lassen und erlaubte es Pismire für die Übergangszeit auch, zur Not in der Pathologie, auf jeden Fall aber in der Wache hausen zu können.
Das Gespräch der beiden fand einige Zeit später ein abruptes Ende, als eine Meldung von SEALS, die besagte, dass auf dem Entenplatz im Stadtteil Grausensen eine Leiche gefunden worden war, eintrudelte. Pismire wurde mit der Nachricht, dass die Spezialisten von SUSI gebraucht würden, zu seinem neuen Vorgesetzten geschickt.
**
Hauptgefreiter Damien G. Bleicht klappte seinen Notizblock auf und lieferte der Gruppe aufmerksam lauschender Gerichtsmediziner seinen Bericht. Kurz zuvor hatte Sillybos in einer improvisierten Abteilungsbesprechung sowohl das Wiedererscheinen von Oberleutnant Pismire als auch das Auftauchen einer Leiche vermeldet. Charlie Holm wurde zum Sichern eventueller Spuren nach Grausensen geschickt. Die Frage, welcher der anwesenden Gerichtsmediziner mit der der Obduktion betraut werden sollte, blieb erst einmal offen. Da Sillybos noch keine Entscheidung hatte treffen wollen und keiner der Gerichtsmediziner auf die Obduktion verzichten wollte, sah er sich einem ernsten Führungsproblem gegenüber. Weise hatte er daraufhin beschlossen, erst nach dem Bericht von SEALS eine Entscheidung zu treffen. Daher umringten sechs Experten einen Wächter, der sich ein wenig vorkam, wie der sprichwörtliche Leichnam unter Aasgeiern - wozu seine Hautfarbe noch ein Erhebliches beitrug. Dennoch blieb er ruhig, als er berichtete. Seiner Stimme merkte man an, dass er eine gewisse Routine im Vortragen hatte, auch und gerade dann, wenn das zu Berichtende als ungewöhnlich gelten konnte.
"Eine Streife von SEALS wurde heute Morgen gegen fünf Uhr zu den Marktständen auf dem Entenplatz gerufen. Das ist im Stadtteil Grausensen, wo wir eine tote Leiche vorfanden. Bei dem bisher noch nicht identifizierten Toten handelt es sich dem Augenschein nach um einen vollständig und unwiderruflich toten männlichen Menschen. Alter: zwischen 40 und 50 Jahren; keine besonderen Kennzeichen und Auffälligkeiten, keine Inhumierungsquittung."
Er blätterte um und fuhr fort: "Die Leiche lag bäuchlings auf dem Verkaufstische eines Marktstandes" - der Hauptgefreite reichte eine Ikonographie in die Runde - "und zwar im Großen und Ganzen vollständig entkleidet. Lediglich um die Hüfte war eine rosa Federboa zu einer großen Schleife auf dem Rücken gebunden." Ein weiteres Ikono wurde herumgereicht. "Er trug hochhackige, rote Frauenschuhe", ein drittes Ikono kam in den Kreis, "im Mund steckte ein schwarzer Lederknebel" - dargestellt auf Ikonographie Nummer vier - "und neben seinem Gesäß lag eine Marktglocke" - sechs Hände streckten sich gleichzeitig nach dem fünften Ikono aus.
"Nur mal so gefragt: Wie sähen dann eigentlich in deinen Augen Auffälligkeiten aus?", fragte Pismire Damien. Dieser sah den Oberleutnant nur an, verzichtete aber auf eine Antwort.
"Wer hat eigentlich die Leiche gefunden?", versuchte Jack, auf das Wesentliche zurückzukommen.
"Eine alte Dame - Gertrude Putzunter, 81 Jahre alt, wohnhaft in der Kohlschrubbergasse 7a fand ihn. Sie dachte im ersten Moment an - ich zitiere -
"eine dieser widerlichen Maskeraden". Sie reagierte prompt und entsprechen und zog der (in ihren Worten)
"perversen Sau, die sich da präsentierte, ordentlich eins mit dem Regenschirm über". Sie wunderte sich lediglich, warum er ruhig liegen blieb."
Pismire betrachte noch einmal die zweite und fünfte Ikonographie, auf der neben anderem auch das Gesäß des Toten zu sehen war.
"Bemerkenswerter Schlagarm für das Alter", kommentierte er. "Wenn ich da ohne Hose rumlungern täte, würde ich auf jeden Fall für einen ordentlichen
Sicherheitsabstand zu der Dame sorgen. A pro pos: wieso kam sie so schnell darauf, es könne sich um eine - wie sagte sie doch? -
"perverse Maskerade" handeln?"
"Tja, direkt unmittelbar hinter dem Markt ist ein Klub, genannt "kRullZ". Dort geht es oft recht - äh - munter zu, und manchmal, wenn es zu munter wird, dann rufen die Nachbarn auch schon einmal die Wache", klärte Hauptgefreiter Bleicht den Oberleutnant auf.
"Ein Klub, in dem ein Mann mit Frauenschuhen, Federboa und Lederknebel nicht weiter auffallen würde?"
Damien G. Bleicht klappte seinen Notizblock zu. "Genau so ein Klub, Oberleutnant. Du hast es erfasst."
Da dem Bericht von Hauptgefreitem Bleicht erst einmal nichts hinzuzufügen war, blieb nun an Oberfeldwebel Sillybos die undankbare Aufgabe hängen, gleichzeitig einem Gerichtsmediziner Genüge zu tun und fünf andere Mitglieder seiner Abteilung dafür zu verstimmen. Das Argument, es könne weder angehen, dass sechs Experten gleichzeitig ("Das gibt doch nur ein sinnloses Gedränge!", argumentierte Jack) oder nacheinander ("Und was kriegt dann der Letzte? Die Reste? Das ist ungerecht!", empörte sich Avalania) an dem Toten arbeiten konnten, war schlüssig.
Was dann folgte, war ein wildes Gestreite, das Sillybos schließlich mit einem Lauten: "Aber ich bitte euch, was soll denn das für ein Durcheinander werden", zu beenden versuchte. "Ich glaube, ich weiß nun, wie wir den- oder diejenige ermitteln, die mit der Obduktion betraut werden soll", sagte er und er warf einfach eine Münze in die Luft.
Pismire schnappte sie sich mit einer Mischung aus Dreistigkeit ("Stillgestanden!"), Altersschläue und ein wenig magischer Nachhilfe und hastet mit dem Ausruf "Meiner - hähähä - und außerdem habe ich den höheren Rang!", in den Seziersaal, wo er sich erst umkleidete und dann damit begann, die Leiche eingehend zu untersuchen.
Nachdem er einige Stunden später die Obduktion abgeschlossen und sich wieder umgezogen hatte, machte Pismire sich auf den Weg zu Sillybos, um seinen Bericht abzuliefern. Dort traf er auf einen großen Teil der Mitglieder von SUSI, da auch Charlie Holm mittlerweile mit seinen Ergebnissen in die Wache zurückgekehrt war. Die Identität des Toten war mit Hilfe einer Ikonographie des Gesichtes, die man verschiedenen Bewohnern des Viertes gezeigt hatte, geklärt, so berichtete Holm.
"Der Mann hieß Petersil Hüppauf, er war 54 Jahre alt und wohnte im Haus eines gewissen Markus Wehschläger am Fetten Bogen 12. Er hat auf Märkten und bei anderen Gelegenheiten einen Stärkungsbalsam verkauft. Er war kein Mitglied einer Gilde - soweit wir wissen - und auch sonst recht unauffällig."
"Was für ein Balsam ist das?", fragte Jack neugierig.
Der Tatortwächter blickte in seine Notizen. "Das Zeug heißt
"Madame LaMandas wundersamer Stärkungsbalsam" und ist für Männer, die nun, gewisse Schwierigkeiten haben."
"Ein Aphrodisiakum also?", fragte Jack.
Charlie nickt.
"Wo ist dieser Marktplatz eigentlich genau?", fragte Pismire und schaute orientierungslos auf einen Stadtplan, der an der Wand hing.
"Hier, das ist das Viertel." Holm deutete auf den Plan und dort auf einen Abschnitt im Südosten von Morpork. "Der Teil zwischen Zehntes-Ei-Straße, dem Hinkenden Tor und dem Zwiebeltor. Früher verlief die Stadtmauer noch an der Zehntes-Ei-Straße und der Bereich südöstlich davon war das Dorf Grausensen." Er deutete auf einen u-förmigen Bereich. "Da stand früher das Gutshaus der Familie Tachyerii. Heute stehen dort eine Reihe kleiner Häuser, und auf dem Platz in der Mitte davon, dem Entenplatz, findet alle drei Tage ein Wochenmarkt statt. Da wurde die Leiche von Hüppauf gefunden. Und gewohnt hat er dort." Der Stift wanderte weiter und zeigte auf ein Häuserkarree direkt an der Stadtmauer nahe dem Hinkenden Tor. "Genau auf der Ecke Fetter Bogen und Kickelburststraße. Das "kRullZ" ist exakt", er deutete auf einen Bereich rechts neben der u-förmigen Bebauung, "dort, wo die Kohlschrubbergasse beginnt."
"Das ist doch da, wo die Frau wohnt, die den Toten gefunden hat", fragte Jack nach. "Genau. Im Prinzip bleibt alles im selben Viertel."
"Und, was wissen wir nun vom Ableben dieses Herrn Hüppauf?", fragte Sillybos mit einem Blick auf Pismire.
"Sein Hals war gebrochen - dem Tod unmittelbar vorangegangen könnte ein Sturz gewesen sein, der ihm das Genick gebrochen hat. Die Verletzung liegt am Hinterkopf und zwar so unmittelbar am Nacken gelegen, dass ein Schlag mit einem stumpfen Gegenstand fast unmöglich ist. Der Täter - oder die Täterin - hätte von unten nach oben schlagen müssen."
"Oder einen bäuchlings liegenden Mann?", fragte Tut'Wee.
"Nicht sehr plausibel", meinte Pismire. "Der Winkel stimmt nicht. Wenn er über Kopf gehangen hätte, dann vielleicht. Aber so vermute ich doch eher, dass er eine Treppe runtergefallen ist. Spuren eine Angriffs oder einer Abwehr kann ich nicht finden. Vielleicht ein heftiger Stoß in den Rücken."
"Vielleicht konnte er, äh, ich meine, diese Schuhe ... Wer sich da nicht auskennt, der kann da ganz bös' aufs Knie fallen - oder sonst wohin", ließ sich Gefreite von Gilgory vernehmen und setzte noch - mit einer leichten Rötung unter dem Backenbart hinzu - "zumal, wenn es ein männlicher Me..., äh, ein Mann ist."
"Ich bin mir nur nicht sicher", zweifelte Pismire, "ob der Mann wirklich in dieser Aufmachung gestorben ist. Wenn er wirklich in den Schuhen gestolpert wäre, dann würde ich zumindest eine Verstauchung an einem der Knöchel erwarten. Aber an beiden Knöcheln nichts - keine Blutergüsse, keine anderen Verletzungen, nichts. Und Knochendeformationen, Hühneraugen oder Hornhautwucherungen, die darauf schließen lassen, dass der Mann andauern in solchen Schuhen unterwegs war, gab es auch nicht."
"Und außerdem", ließ sich Lady Rattenklein vernehmen, "waren ihm die Schuhe mindestens eine Nummer zu groß."
"Wie - zu groß?", frage Jack, der ebenfalls einen längeren Blick auf den Toten hatte werfen können, bevor Pismire ihn nach dem Umkleiden aus dem Raum gescheucht hatte. "Ich fand, die saßen ganz bequem, so wie es aussah."
"E-he-ben", sagte Lady Rattenklein in spöttisch-singenden Ton. "Glaubst du, dass Schuhe dieser Art 'ganz bequem' sitzen können? Ich meine: Hast du jemals eine Frau - so ganz bequem - in solchen Schuhen durch die Gegend schlurfen sehen? Nein. Die funktionieren nämlich nur, wenn sie ganz stramm sitzen. Wenn nicht, dann legst du dich recht schnell hin. Zehenquetscher ist - sozusagen - ihr zweiter Vorname."
"Dann waren das vielleicht gar nicht seine Schuhe?", fragte Oberfeldwebel Sillybos.
"Ich denke, nein!", ließ sich die Gnomin vernehmen.
"Gibt es eigentlich noch weitere Hinweise darauf, dass mit der Leiche Schindluder getrieben wurde?", fragte Sillybos seinen Gerichtsmediziner.
"Du erinnerst dich an den Lederknebel?", fragte der alte Schamane. Der Abteilungsleiter von SUSI nickte.
"Im Hals des Toten - also hinter dem Knebel - habe ich ein Stück Papier gefunden, in das mindestens zwanzig Kürbiskerne gewickelt waren. Das hatte ihm jemand in den Schlund gestopft, und der Knebel hat verhindert, dass das Ganze wieder rausgerutscht ist. Damit hätte er keine Luft bekommen. Ich habe das alles an Lady Rattenklein gegeben. Mal hören, was sie sagt."
"Ich arbeite noch dran, Pismire. O. K.!?", entgegnete die Gnomin. "Ich sag dir schon früh genug, was ich weiß. Bisher kann ich nur sagen, dass es 21 Kerne waren und ein Stück unbedrucktes Papier."
"Wie dem auch sei - diese Sache wurde mit ziemlicher Sicherheit auch erst nach seinem Tode mit ihm veranstaltet", kam Pismire auf das Thema zurück.
"Vielleicht ist er ja daran erstickt, und dann wollte ihn jemand loswerden!?", spekulierte Tut'Wee.
"Nein", entgegnete Pismire bestimmt, "er ist definitiv nicht erstickt. Jack, du hast ihn gesehen."
Jack Narrator nickte langsam und bestätigend. "Du hast recht. Für das Ersticken fehlten die äußeren Anzeichen wie die Rötung der Haut."
"Genau, wie du es sagst", stimmte der Oberleutnant zu. "Ich bin mir fast sicher, dass er erst nach seinem Tod auf diese groteske Art und Weise herausgeputzt wurde, was gegen einen Unfall spricht."
"Dazu passt auch, dass der Fundort definitiv nicht der Tatort ist," warf Charlie Holm in die Runde. "Er wurde nach seinem Tod dort abgelegt."
Die Mitglieder von SUSI spekulierten noch eine Weile über Sinn und Zweck dieser Art, die Leiche zu deponieren, bis Sillybos mit Blick auf die verrinnende Zeit den Spekulationen ein Ende bereitete: "Wie dem auch sei, dieser Teil des Berichtes ist also - was SUSI angeht - im Großen und Ganzen doch wohl abgeschlossen. Wir können ihn sofort an RUM weiterleiten", beendete Sillybos die Runde.
Pismire nickte und fragte voller Neugier nach: "Und wer bearbeitet den Fall dort?"
Der Abteilungsleiter räusperte sich, zog einen Zettel hervor, strich ihn umständlich glatt und begann vorzutragen: "Äh, genau zu diesem Punkt soll ich dir von Ableitungsleiter - und ich betone das Wort jetzt mit voller Absicht - Romulus von Grauhaar ausrichten, dass dich das a) einen feuchten Kehrrichthaufen angeht, weil du b) deine Nase - wie lang, spitz oder gebogen sie auch immer sein mag, und wie sehr sie dich auch juckt - nicht in diese Angelegenheit zu stecken hast, und zwar aus eben jenem Grund, dass du c) nicht bei RUM sondern bei SUSI arbeitest und er, Romulus, d) keineswegs vorhat, den Weg der Langmut und Nachsichtigkeit seiner geschätzten Vorgängerin Leutnant Tricia - möge sie in Frieden ruhen - McMillan, die einem gewissen Gerichtsmediziner und ehemaligen - und er bat mich ebenfalls, das Wort 'ehemaligen' noch einmal besonders zu betonen - Abteilungsleiter jegliche Formen von Wilderei im Revier anderer Abteilungen durchgehen ließ, zu beschreiten. Punkt."
"Nun, ich hatte keineswegs vor, zu - wie man es auszudrücken beliebt - 'wildern', ich wollte lediglich mein Interesse an dem Fall im - äh - Allgemeinen und so ausdrücken", versuchte Pismire sich rauszureden. "Im Übrigen habe ich Wichtigeres zu tun."
"Und was, wenn man fragen darf?", kam es von Lady Rattenlein mit einem wissenden Grinsen.
"Mich um ein Dach über dem Kopf kümmern. So ehrenwert Kommandeur Ohnedursts Angebot, hier in der Wache zu nächtigen, ist, so will ich doch daraus keinen Dauerzustand machen. Also sollte ich nach einer Wohnung oder einem Zimmer suchen."
"Nun, bei mir in der Nachbarschaft ist ein Zimmer frei", schaltete sich Laiza hilfsbereit ein.
"Oh, vielen Dank, Chief-Korporal, aber ich hatte an eine eher ruhige Gegend gedacht", wehrte der Oberleutnant ab. "Wenn du mich nun entschuldigen würdest, Sillybos. Ich würde mich jetzt gerne ein paar Stunden um meine Angelegenheiten kümmern. Meine Kiste lasse ich einfach noch ein wenig im Wachearchiv." Mit diesen Worten verschwand der alte Schamane.
"Er kann doch gar nicht wissen, ob ich in einer ruhigen Gegend wohne," wunderte sich Laiza. "Ich meine, er kennt mich doch gar nicht - oder?"
***
Pismire verließ das Wachhaus und machte sich zielstrebig in Richtung Grausensen, wobei der den Weg über die Ponsbrücke, die Sirupmienenstraße und Fünfwege nahm, auf den Weg.
Es war mittlerweile nahezu drei Uhr, als er nach einer guten Stunde das gesuchte Viertel erreichte. In aller Ruhe schlenderte Pismire durch sämtliche Wege zwischen der Verlierenden Straße, der Kickelburststraße und der Zehntes-Ei-Straße; er registrierte den Marktplatz, auf dem der Tote gefunden worden war, fand sich einige Zeit später vor einem schlichten, aber mit einer stählernen Tür gesicherten Eingang wieder, in dem eine dick vergitterten Kontrollklappe für den Einlass war, und über dem ein Schild mit magisch leuchtenden Buchstaben dem Wissenden von der Existenz der "kRullZ" kündete und ging dann weiter in Richtung Zwiebeltor. Von dem ehemaligen Dorf vor den Toren der Stadt war nicht mehr viel zu erkennen, vermutlich waren die Straßenverläufe zwar noch erhalten, aber die Art der Bebauung hatte längst städtischen Charakter angenommen. Ausgenommen das letzte Karree vor dem Tor: Hier drängte sich noch eine kleine Gruppe ländlich anmutende Häuser in einer letzten Enklave. Eines entpuppte sich als das Haus von Markus Wehschläger, und Pismire musterte argwöhnisch die Umgebung auf der Suche nach offenen oder verdeckten Ermittlern, die er nicht brauchen konnte. Was er hier dringend gebraucht hätte, war ein Schild, das von dem Vorhandensein eines mietbaren Raumes kündete. Aber so sehr er in den umliegenden Gassen auch suchte, er konnte keins entdecken. Das letzte Schild dieser Art, das er gesehen hatte, war in der Kohlschrubbergasse in der Nähe des "kRullZ" gewesen, die er jetzt wieder ansteuerte. Dort vor Nummer 12 - immerhin in der Straße, wo auch die Frau wohnte, die den Toten post mortem verdroschen hatte - hing ein Schild, wie er es suchte.
"Zimmer an sehriösigen Mieter sofort zu vermietigen. Keine Frauen mit (lauten) Kindern. Keine Nicht-Menschen. Nur ruhige, alleinstehende Menschen erwünschigt!!"
Darunter stand der Name einer Emerenzia Hüppunter, bei der man sich erkundigen sollte. Das war also die Beute, nach der der Schamane seinen Köder auslegen wollte.
Seine Berechnung älterer Damen funktionierte noch immer. Pünktlich um 16 Uhr begann Frau Hüppunter mit der nachmittäglichen Kontrolle ihres sozialen Umfeldes, die sie mühsam kaschiert durch einen Besen als 'Bürgersteigfegen' tarnte. Und Pismire gab den zu beobachtenden Fremden, der an den spärlichen Straßenbäumen Zettel aufhängte, auf denen das Folgende zu lesen stand:
"Seriöser Mitarbeiter der Stadtwache - Gerichtsmediziner, keine Uniformträgerei, kein wirklicher Schichtdienst, keine nächtliche Ruhestörung oder Gefährdung von Zivilisten sucht Wohnmöglichkeit mit Gartenanschluss in besserem Viertel der Stadt; eigenes kleines Vermögen vorhanden, Mietzahlung somit nicht vom Sold abhängig".
Kurze Zeit später wurde er erwartungsgemäß von Frau Hüppunter angesprochen: "Hallo!? Sind das Ihre Zettel? Die dürfen sie hier aber nicht so einfach an die Bäume hängen. Wissen Sie nicht, dass das nicht gut für die Pflanzen ist?"
Schon entspann sich ein Dialog, der 'zufällig' auf das Thema vermietbare Zimmer in ruhiger Umgebung zusteuerte.
Zehn Minuten später saß er in einem zugestellten Zimmer, das die Witwe Emerenzia Hüppunter euphorisch "ihren kleinen Salon" nannte, hatte eine Teetasse in die Hand gedrückt bekommen, sowie eine kurze Einweisung in Lebensgeschichten, Familiengeschichte und sonstige Details aller wesentlichen Bewohner von Grausensen. Vor allem, nachdem Frau Hüppunter registriert hatte, dass der vor ihr sitzende Oberleutnant keinerlei Verbindung zu diesem "schrecklichen Durcheinander bei Mäddi Wehschläger" - wie sie es nannte - hatte, konnte sie - in eigenen Worten - frei sprechen, ohne Angst zu haben, in die Ermittlungen einzugreifen. Eine Vorstellung, die sie vor Erregung geradezu zittern ließ.
Nachdem er genug Klatsch und Tratsch für eine ganze Woche geliefert bekommen hatte, zog er sich - nach einer Besichtigung des Zimmers - mit dem Hinweis zurück, dass er es sich überlegen und sich wieder melden wollte. Von dem Redefluss schwirrte ihm der Kopf, vor allem da Frau Hüppunter die Angewohnheit hatte, so über die erwähnten Leute zu sprechen, als würde Pismire hier ebenfalls sei hundert Jahren wohnen. Was er erfahren hatte, war, dass sich die Leute mitten in einer großen Stadt wie Ankh-Morpork immer noch so zu verhalten schienen, als ob es Grausensen als Dorf noch gäbe. Sie sprachen von 'der Stadt', wenn sie sich auf etwas bezogen, was sich eine Viertelstunde zu Fuß zugetragen hatte. Auch schienen die Einwohner dieses Viertes sich selbst genug zu sein. Die sechs wichtigen Familien (Hüppauf, Hüppunter, Wehschläger, Putzunter, Abbelhabbel und Müller) heirateten offenbar sein Jahrhunderten munter bei einander ein, jedes Jahr entspannen sich heftige Intrigen und Rangeleien darüber, wer im Komitee für die Auswahl für den schönsten Garten - genannt:
"Grausensens schönste Oase" - einen Platz haben sollte, ganz zu schweigen davon, dass der Gewinner dieses weltbewegenden Ereignisses zugleich - zumindest hier - wichtiger zu seien schien, als der Patrizier. Nur selten schafften es Neuankömmlinge, in die Gemeinschaft integriert zu werden. Lobenswertes Beispiel für Frau Hüppunter war der vor 38 Jahren in diese Gegend gezogene und mittlerweile pensionierte Bibliothekar Heribert Rauring, der - wenn auch erfolglos, wie sie voller Schadenfreude registrierte - jedes Jahr artig sich am Wettbewerb beteiligte, während andere - ein verächtliches Schnauben folgte - wie die Müllers, viel zu viele schmutzige und verwahrloste Kinder hätten, um überhaupt das nötige Kleingeld auch nur für eine Kartoffelpflanze zu haben.
Der Name Hüppauf hatte den Oberleutnant stutzen lassen: "Dann stammt der Tote auch aus Grausensen?"
"Ach, wo denkst du hin, Oberleutnant", kam als Antwort. "Das sollten alle glauben. Das war alles auf Betreiben von der Wehschlägerschen, damit die Leute denken, dass er auch was respektables sei. Die alte Amalena Hüppauf, was die Großtante von ihr war, die hat ihm den Namen vererbt. Das Haus hat aber dann doch die Wehschläger bekommen. Ha! Blut ist doch dicker als Wasser! Der ist vor über vierzig Jahren einfach aus dem Nichts hier aufgetaucht und hat sich auf den Märkten durchgeschlagen, kam angeblich aus Lancre und aus einer so großen Familie, dass es nicht einmal für einen Familiennamen gereicht haben soll."
Wieder an der frischen Luft schlenderte Pismire unauffällig zum Haus der Wehschlägers. Als er sich sicher war, dass außer ihm kein Wächter in der Nähe war, kramte er aus einer Tasche seines Umhangs sein Abzeichen hervor, polierte es und befestigte es gut sichtbar auf seiner Brust und klopfte dann an das Tor. Da er die Tür nicht verschlossen fand, trat er ein und rief: "Hallo, ist jemand daheim?"
Er stand in einer Art Einganghalle, in der an der linken Wand eine Treppe in das obere Stockwerk führte. Von dort aus hörte er auch Schritte.
Am oberen Rand der Treppe zeigte sich eine Frau in einem schwarzen Kleid, eng anliegend und mit glitzernden Dingen bestickt, und mit einem riesigen, schwarzen, Hut, dessen Schleier ihr Gesicht bedeckt. Mit wiegenden Hüften schritt sie die Treppe hinunter und kam auf den Oberleutnant zu.
"Du bist sicher von der Wache, nicht wahr?", gurrte eine dunkle und rauchige Stimme, während eine schmale und knochige Hand den Schleier sanft über den Hutrand schlug. Pismire blickte in ein ausgesprochen längliches Gesicht, dessen markanteste Punkte die weitflügelige, vorstehende Stupsnase und da mächtig vorspringende, knochige und gekerbte Kinn waren. Sein geschulter Blick registrierte eine hohe, eckige Stirn, glattes, dünnes und hellbraunes Haar in Schulterlänge, hoch stehende und hervorstechende Wangenknochen, sowie hellgraue, weit auseinander stehende Augen unter fein gezeichneten, geschwungenen Augenbrauen. Es folgten ein überlanger, schlanker Hals, ein deutlicher Adamsapfel und die Überreste einer eindeutig zu flüchtigen Rasur. Die Stimme war erneut zu vernehmen: "Ist es immer noch wegen Pete, nicht wahr? Nenn mich doch einfach Madeleine und stell deine Fragen."
In der folgenden Stille formulierte Pismires Mund den Satz, den er im Nachhinein lieber nicht gesagt hätte: "Nach meinen Informationen ist das das Haus von Markus Wehschläger. Ich hätte ihn gerne gesprochen."
Mit dem nun folgenden theatralischen Ausbruch, einer echten Diva würdig, hatte er nicht gerechnet.
"Habt ihr Scheiß-pingeligen-Wächter eigentlich keine Augen im Kopf", keifte Wehschläger los. "Es gibt keinen Markus Wehschläger. Es hat ihn nie gegeben. Ich bin Madeleine Wehschläger, genannt Madame LaManda. Und anstatt mich dämlich anzuglotzen, könntet ihr euch nützlich machen und endlich den Scheißkerl finden, der meinen Mann ermordet hat!"
"Entschuldigung, Madame", brachte Pismire hervor und hoffte nur, dass er einigermaßen zerknirscht genug klang. "Ich hatte keineswegs vor, dir zu nahe zu treten, ich wusste nur nicht, äh, ich meine ... ", vorsichtshalber brach er den Satz ab.
Sein Gegenüber hatte sich mittlerweile offenbar wieder in der Gewalt und meinte mit einem koketten Augenaufschlag: "Schon gut, schon gut, mein Bester. Kleine Fehler können ja jedem mal passieren. Wer bist du denn eigentlich?"
"Ich bin einer der Wächter, die sich mit dem Tod von Petersil Hüppauf beschäftigen", beantwortete er die Frage. "Mein Name ist Pismire, Oberleutnant der Stadtwache und Mitarbeiter der Abteilung Suchen und Sichern, kurz: SUSI genannt." Sorgfältig vermied er es, auf seine Tätigkeit als Gerichtsmediziner hinzuweisen, da er sich sicher war, dass ein derartiges Thema sein Gegenüber zu sehr aufbringen würde.
"Ich habe noch einige Fragen zu Herrn Hüppauf. Ich bin mir sicher, dass Sie das Thema schmerzlich berührt, Madame," fügte er behutsam hinzu, "aber glauben Sie mir, ich bin nicht aus leichtfertiger Neugier hier."
Er schaffte es im folgenden Gespräch Madeleine nicht allzu sehr aufzuregen; der Preis war allerdings auch der, dass er sämtlich heiklen Themen, die zu erneuten Ausfällen, dramatischen Gesten und Ausrufen, kurz: emotionalen Ausnahmezuständen, hätten führen können, sorgsam vermied. Hüppauf und Wehschläger hatten über zwanzig Jahre harmonisch mit sich und allen Nachbarn gelebt, der einzige Streit, den es jemals gegeben habe, sei der mit einem Nachbarn wegen des Gartens gewesen - "aber deswegen, Oberleutnant, wird doch niemand ermordet, gell?", gurrte es - das Geschäft mit dem Balsam lief nicht wirklich gut aber auch nicht schlecht, was allerdings nicht so sehr von Bedeutung gewesen sei, da sie, Madeleine, von Hause aus nicht arm sei, "Sehen Sie, Oberleutnant, eigentlich hätte Pete diese Sache gar nicht nötig gehabt; aber sie wissen ja, wie Männer so sind.", sprachs mit einem Wimpernklimpern. "Ein echter Mann möchte einfach nicht vom Geld seiner Frau leben. Er braucht eine Aufgabe, eine Mission in dieser Welt. Pete war da keine Ausnahme." Madeleine kam ins Schwärmen: "Ach mein Pete", seufzte sie. "Mein rosenscharfes Täubchen, so hat er mich immer genannt."
"Heißt das nicht rattenscharf statt
rosenscharf?", rutsche es Pismire ohne sein Wollen raus.
"Siehst du", schluchzte Mäddi Wehschläger, "er war romantisch. Du hingegen bist nur ordinär."
Da Pismire sich sicher war, dass er zur Zeit hier nichts mehr erreichen würde, verabschiedete er sich hastig und begab sich zurück zur Wache.
Am Ende diese überlangen und ereignisreichen Tages war Pismire froh, dass er im Seziersaal alleine war. Zwar hatte Sillybos ihm angeboten, die Bequemlichkeiten des Abteilungsleiterbüros zu nutzen, aber Pismire stand der Sinn nicht nach einem Bad und außerdem erklärte er, dass die Pathologie mit Sicherheit ruhiger sei, als sein Büro. Darüber hinaus mache es seinem Rücken nichts aus, auf einem der Tische zu schlafen, im Gegenteil, denn je härter eine Unterlage sei, desto besser für das Kreuz. Damit machte er sich davon.
Als vorsichtiger Mann beschriftete er dennoch ein Schild mit dem Satz: "Ich bin nicht tot", kletterte auf den Tisch, hüllte sich in seine Decke, hängte sich das Schild um und war im Handumdrehen eingeschlafen.
****
Am nächsten Morgen erwachte Pismire so früh, dass er den Seziersaal verlassen konnte, ohne auf seltsam Fragen wegen seiner Schlafgewohnheiten reagieren zu müssen. In der Kantine holte er sich erst einmal eine Tasse Tee, wo er auf Lady Rattenklein, die immer noch mit den Kürbiskernen beschäftigt war und eine kurze Pause machen wollte, traf.
"Denn", so die Gnomin "so eine Sorte ist mir noch nicht untergekommen."
"Dann waren es also besondere Kürbisse?", fragte Pismire.
"Allem Anschein nach. Warum fragst du?", wollte die Lady wissen. "Ich habe ein wenig die Kerne untersucht und einige Experimente mit ihnen veranstaltet. Sie unterscheiden sich von den mir bekannten Sorten. Deswegen werde ich noch Erkundigungen einziehen. Genaues kann ich noch nicht sagen - gesicherte Ergebnisse nicht vor heute nachmittag, ja, Oberleutnant? Dann weiß ich mehr."
"Du solltest weniger dem Oberleutnant irgendetwas sagen, als vielmehr einen ausführlichen Bericht an RUM fertig machen", murrte Gefreite Namida, die zufällig den letzten Teil des Gesprächs gehört hatte.
"Ja, ja", winkte die kleine Dame genervt ab. "Sobald das Labor was weiß, wird das Labor berichten. Aber nun geh schön ermitteln und lass die Fachleute ihre Arbeit machen." Dabei zwinkerte sie Pismire zu und verschwand in Richtung Labor.
Der Oberleutnant hingegen begab sich zu seinem Abteilungsleiter, der ihn freundlich begrüßte.
"Ah, Pismire. Alles soweit in Ordnung? Was macht die Wohnungssuche?", fragte er.
"Danke, bestens. Ich habe mir gestern ein Zimmer angesehen - keine Ahnung mehr wo", versuchte Pismire seinen Vorgesetzten in Sicherheit zu wiegen. "Ich hab nur noch einen Nachtrag zu meinem Bericht an RUM zu machen. Es geht um diese Glocke bei dem Toten. Meinst du, es stört irgendjemanden, wenn ich mich kurz mit dieser Frau unterhalte, die den Toten verhauen hat?"
Sillybos schaute in das Gesicht des Gerichtsmediziners, der diesen Blick mit der größten ihm zur Verfügung stehenden Harmlosigkeit erwiderte.
Sillybos überlegte kurz, dann meinte er: "Wenn es wirklich nur um ein paar Fragen an die alte Frau geht - wer sollte da was dagegen haben?"Mit diesem Satz war Pismire entlassen.
In Grausensen hatte er Glück und fand Frau Putzunter in Plauderlaune an. Nachdem er pro forma seine Frage nach der Glocke, die die alte Dame nicht einmal bemerkt hatte, losgeworden war, brauchte es nur wenige Sätze und schon erzählte die Alte drauf los. Ihr Hauptthema war - auch das war Pismire recht - Markus Wehschläger, auch bekannt als Madame Madeleine.
"Och, Mäddi, also ich meine Madeleine ist eigentlich ganz harmlos. Eine nette Nachbarin - und das schon, seit ich sie kenne. Sie ist nämlich hier aufgewachsen in der Nachbarstraße. Und außerdem ist sie eine Großnichte von mir. Man sollte sich nicht davon täuschen lassen, dass sie ein wenig exzentrisch ist. Hin und wieder kann einem ihr Getue ganz schön auf die Nerven gehen - ich meine: das Gespreizte und Gezierte und Affektierte. Aber im Grunde ist sie gar nicht so schlimm. Sie tut nur manchmal des Guten zu viel - trägt zu dick auf, wenn du so willst."
Sie unterbrach kurz und gab Pismire so die Gelegenheit zu einem verständnisvollen Nicken. Dann fuhr sie fort: "Wollte immer Kleider anziehen, hat geweint, wenn sie keine Puppe bekam, hat den lieben langen Tag Seilchenspringen mit den anderen Mädchen gespielt. Ihre Mutter wusste sie zu nehmen. Wenn sie mal wieder ihre Trotzphasen gehabt hat, dann brauchte die alte Frau Wehschläger nur zu sagen: 'Mäddi benimmt sich so ein braves Mädchen?' - und schon war sie wieder artig und lieb." Sie seufzte in Gedanken versunken.
"Mit ihrem Vater hingeben war es eine einzige Katastrophe. Wenn der sie im Kleid erwischt hat, dann hat er getobt und sie verprügelt. Nach Strich und Faden. Und als Maddy sich mal von ihrem eigenen Taschengeld eine Puppe gekauft hat und damit freudestrahlend nach Hause kam, da hat er sie nicht in den Mülleimer geworfen, nein, er hat sie regelrecht reingestampft. Mäddi hat sich dann eine Weile in eine Art Spiel geflüchtet, bei dem sie sich vorstellte, sie sei eine verschollene Prinzessin, die sich als Junge verkleiden müsse, damit ihre Feinde (in Gestalt ihres Vaters, möchte ich wetten) sie nicht finden konnten. Das hat ihr die Sache ein wenig leichter gemacht. Schließlich aber musste Mäddis Mutter sich entscheiden und sie hat den Alten rausgeworfen. Das Beste, was sie tun konnte, wenn du mich fragst, und das sage ich, obwohl ich seine Tante bin. Huppert war der Sohn meiner Schwester Felicitas, die Paul Unterwech geheiratet hat. Als er endlich weg war, hatten die beiden ihre Ruhe und Mäddi war seitdem eine gute Tochter."
Die beiden alten Leute schwiegen eine Weile, jeder in Gedanken versunken.
"Warum hat sie nicht versucht, mit Magie etwas zu verändern? Ihr Aussehen korrigieren, zum Beispiel?", fragte Pismire neugierig. Gertrude Putzunters Stimme senkte sich und sie umfasste Pismires Arm sacht, während sie sich zu ihm vorbeugte. "Erwähne nie die Unsichtbare Universität, wenn Mäddi dabei ist. Nie. Vergiss das nicht."
Sie machte eine bedeutungsvolle Pause, die dem Oberleutnant die Möglichkeit zur Nachfrage gab: "Was haben die Zauberer ihr gegenüber denn verbrochen?"
"Sie abgelehnt. Rundheraus und glatterdings. In ihrer Jugend hatte Mäddi es sich in den Kopf gesetzt, die erste Erzkanzlerin der Unsichtbaren Universität zu werden. Also hat sie versucht, aufgenommen zu werden. Sie hat auch das Tor gefunden und konnte es beinahe öffnen. Aber der damalige Erzkanzler war so ein richtiger Stieselkopp. Er hat sich gesträubt, wo er nur konnte und stattdessen vorgeschlagen, Mäddi könne ja in Männerkleidern auf die Universität gehen. Ich meine - was für eine bescheuerte Idee. Denn die tragen ja gar keine Männerkleider dort. Aber Mäddi hat das ebenso deutlich abgelehnt. Dabei schwört sie bis heute, sie wäre mit Sicherheit die begabteste junge Hexe auf der Universität geworden."
"Und was hat sie dann mit sich angefangen?"
"Sie hat dann erst mal nichts gemacht. Sich einfach treiben lassen. Um ihren Vater zu ärgern, ist sie in zwielichtigen Klubs und Bars aufgetreten, auch im "kRullZ", und hat sich "Huppert Unterwech, das bärtige Sangeswunder" genannt. Ist eine Weile getingelt, aber dann hat sie diesen Petersil Hüppauf gefunden und die beiden haben das Geschäft mit dem Balsam aufgezogen."
Als Pismire in die Wache zurückkehrte, war Lady Rattenklein nicht müßig gewesen: "Weißt du, Pismire, diese Kürbisse sind schon grandios. Hüppauf scheint mehr als nur ein Händchen für das Kürbiszüchten gehabt zu haben. In interessierten Kreisen in der Stadt waren seine Züchtungen legendär."
"In welchen Kreisen?", wollte Pismire wissen.
"In den Kürbiszüchter, -händler und -liebhaber-Kreisen. Mein Gewährsmann bei den Gemüsehändlern ist geradezu ins Schwärmen gekommen. Hüppauf hat in jahrelangen Experimenten eine Sorte geschaffen, die nicht nur doppelt so schnell wächst wie der Königliche Hintern, sondern auch viel geräumigere Samenkapseln hat als selbst die Glocke von Quirm."
"Moment, Lady, der schneller wächst als - was bitte?" fragte Pismire mit ungläubigem Gesichtsausdruck.
"Der Königliche Hintern. Eine Kürbissorte. Ursprünglich eine Kreuzung aus der Orangenen Schönheit und dem Herzoginnengesäß. Und wenn du glaubst, dass das komische Namen sind, dann solltest du dich dringend mal mit einem echten Kürbiszüchter unterhalten. Das waren jetzt noch harmlose Namen. Kürbisgewächse gibt es nicht nur in orange und rund. Es gibt jede Menge längliche Sorten. Da brauch ich dir ja nicht auf die Sprünge zu helfen, wie die wohl heißen, oder?", fuhr die Gnomin mit einem anzüglichen Grinsen fort. "Auf jeden Fall hat Hüppauf eine neue Sorte gezüchtet und sie sogar ins Zuchtbuch des ankh-morporkianischen Kürbiszüchterverbandes "Dicke Glocken" aufnehmen lassen. Die Sorte heißt "Königin Madeleine" - irgendwie romantisch, nicht?", seufzte die Lady. Dann fuhr sie fort: "Sie wachsen unglaublich schnell - doppelt so schnell wie der Blasse Doppelschießer - und sie haben Kerne, die keine Schale haben; mit anderen Worten, die Ölgewinnung wird erheblich vereinfacht. Oh, und die Königin Madeleine produziert fast dreimal so viele Samen wie die Stoglocke. Also sehr ergiebig. Einziger Nachteil: die Kerne schießen aus der Frucht, sobald sie angestochen oder auf andere Weise geöffnet wird. Man muss also ein Tuch drum herum binden, sonst gehen die Samen verloren. Denn wenn sie zur Erde fallen, dann bohren sie sich binnen von knapp zwei Stunden in den Boden und beginnen keine 24 Stunden später zu keimen. Die Ranken selber wachsen mit einer Geschwindigkeit von über einem Meter am Tag - in der ersten Woche. Mit anderen Worten: wenn du dich nicht täglich darum kümmerst, dann wohnst du ganz schnell mitten in einem Kürbisbeet." schloss sie ihre Erzählung.
Aus purer Neugier und weil er mittlerweile vage in seinem Kopf eine Idee hatte, machte Pismire sich daran, mehr in Erfahrung zu bringen.
"In welche Richtung ermittelt RUM eigentlich?", erkundigte sich Pismire bei Kathiopeia, von der er zu Recht annahm, dass sie immer noch gute Beziehungen zu ihrer ehemaligen Abteilung hatte.
"Soweit ich gehört habe, haben sie sich zum einen die Kundenkartei von Hüppauf vorgenommen und versuchen zu ermitteln, wo zumindest seine Stammkunden zum fraglichen Zeitpunkt waren. Eine der Vermutungen ist nämlich, dass ein enttäuschter Kunde - oder auch Kundin - Hüppauf getötet haben könnte. Immerhin sprechen die Kürbiskerne und die deutlich platzierte Marktglocke dafür; so als symbolischer Hinweis, ihm endlich das Maul gestopft zu haben. Außerdem versuchen sie auch herauszubekommen, wann Hüppauf oder Wehschläger das letzte Mal im "kRullZ" waren - für diese Ermittlungsrichtung sprechen die Aufmachung, die der Leiche verpasst wurde. Sie lassen natürlich auch nicht aus den Augen, dass sich eventuell Leute hinter der Tat verstecken könnten, die ganz allgemein was gegen das "kRullZ" habe. Es soll allerdings sehr schwierig sein, dort zu ermitteln - zum Klub haben eigentlich nur Mitglieder und ihre Gäste Zutritt. Und es scheint auch noch niemand zu wissen, ob Madeleine und Petersil dort überhaupt Mitglieder waren oder häufiger verkehrt haben. Dass Madeleine dort in ihrer Zeit als bärtiges Sangeswunder aufgetreten ist, wissen ja alle, aber was das andere angeht ... ", sie machte ein wage Bewegung mit den Schultern. "Aus begreiflichen Gründen sind sowohl der Betreiber des Klubs als auch seine Gäste äußerst verschwiegen. Natürlich verdächtigen sie auch Madeleine - wie ich meine zu Recht, denn in ganz vielen Fällen gibt es eine enge Beziehung zwischen Täter und Opfer. Aber die Verhöre - oder sagen wir besser, Unterhaltungen - sollen sich als ausgesprochen schwierig erweisen. Die Dame - oder was auch immer - hat Haare auf den Zähnen."
Eine gute Stunde später saß war Pismire wieder bei Madeleine und befragte sie (er nannte das 'Unterhaltung') über ihr Leben, vor allem aber üebr das "kRullZ".
"Ach, das "kRullZ", du meine Güte, das war in meiner wilden, wilden Jugendzeit, Oberleutnant. Was für aufregende Feste, rauschende Ballnächte, einzigartige Triumphe. Der Champagner floss in Strömen, und junge, gut aussehende Männer lagen in Rudeln zu meinen Füßen. Doch als ich dann mit Pete zusammen kam, habe ich das alles aufgegeben - was mit leicht gefallen ist. Für ihn war ich eine treue und ergebene Frau. Und heute - schau mich an: Wer würde schon für eine langweilige und sittsame Witwe wie mich in schierer Leidenschaft entflammen?" Theatralisch drückte sie das - mit schwarzer Spitze besetztes - Taschentuch an ihre Augen.
"Ach, Madame", meinte Pismire galant, "eine Dame von ihrem Format und ihren Reizen - dafür muss ein Mann lange suche, um so etwas zu finden."
Ein Wimpernklimpern und ein tiefer Seufzer belohnten ihn. "Danke, mein Lieber, es ist doch immer wieder ein Vergnügen, einen wahren Mann von Welt kennen zu lernen."
Viel mehr erfuhr er für heute nicht.
*****
Zurück in der Wache zog er sich unauffällig in die Pathologie zurück und legte sich früh aufs Ohr, um einige Stunden später unsanft vom Obergefreiten Yogi Schulterbreit aus dem Schlaf geholt zu werden.
"Sir, meine Streife hat heute Nacht einen Mann auf dem Entenplatz wegen ruhestörenden Lärms und Gesangs, der einer Katze das Ohrenschmalz hätte wegbraten können, festgenommen. Es ist einer dieser Beteiligten im Mordfall Hüppauf, Markus Wehschläger, oder auch genannt Madeleine LaManda. Voll wie eine Strandhaubitze stand er - eine fast geleerte Magnumflasche Jim Bärdrückers Extrastark in der einen und eine total zerraufte rosa Federboa in der anderen Hand - auf dem ehemaligen Marktstand von Hüppauf und hat gegrölt: "Duuuuu sollst mein
Glückskeks sein, duuuu bist es ganz allein", wobei der Gefreite Schulterbreit eine recht brauchbare Parodie auf einen älteren Schlager aus Gennua vortrug.
"Heißt es nicht eigentlich "Glücksstern" in dem Lied?", fragte Lady Rattenklein, die ob des Lärms aus dem Labor gekommen war, wo sie noch an einem weiteren Experiment mit den Kürbissamen gearbeitet hatte.
"Tja, die Bemerkung hat den Gefreiten de Morgue fast die Vorderzähne gekostet. Als er nämlich genau das zu dem Besoffenen gesagt hat, ist dieser wie eine Furie auf ihn los, hat gekeift, ob uns - ich zitiere mal - Scheißtypen in unseren Scheißuniformen das was anginge, was sie hier singe, ob wir von der Musikergilde kämen, ob wir irgendwelche Musikinstrumente wohin gesteckt bekommen wollten, und so weiter. Hat sich gar nicht wieder einbekommen. Gejammert, dass das Licht ihres Lebens von ihr gegangen, ihr Petersilchen ermordet worden sei und diese Scheißwache sich keinen Deut darum scherte, wie es ihr dabei ginge, sondern lediglich mit pöbelhaften Unterstellungen ehrbaren Frauen hinterher schnüffeln könnte und sie belästigen täte. Dann hat sie wieder angefangen zu singen und wir haben gedacht, dass es besser ist, wenn sie mitkommt, vor allem als sie versucht hat, sich kopfüber vom Marktstand zu stürzen, als sie mit dem Lied zu Ende war. War nicht einfach, aber als wir ihr versprochen haben, dass wir schon eine erste Spur hätten, die wir ihr in der Wache präsentieren könnten, ist sie ganz artig mitgekommen. Und jetzt will er diesen netten Oberleutnant sehen, der sich so häufig mit ihm unterhalten hat. Ich schätze mal, dass du das bist, nicht? Auf jeden Fall ist er unten in einer der Ausnüchterungszellen."
Dort traf er auf Madeleine, wie Pismire sie auch in Gedanke mittlerweile nannte, die schluchzend und vollbetrunken auf einer Pritsche saß. An die Brust drückte sie ein zerzaustes und altes Stofftier, das SEALS nicht erwähnt hatte.
"Oh, Oberleunan'", lallte sie. "Deine Midarbei - hicks - ha'mmich mitgenomm, weil ich hier sicherer bin. Dach'n doch, ich wolle mich umbring'n. Was wiss'n diese jung'n Schnös'l - hicks - schon vom Leh'm." Sie brütete eine Weile, dann fuhr sie fort: "Was wiss'n die schon von Triumpfen, Kämpfen und der ganzen Welt!?"
Pismire erschrak, als sie aufstand und die nächsten Sätze herausbrüllte: "Ich habe gelebt, meine Herren! Geliebt!! Gelitten!!! Und das, was ich am'meißen brauche in mei'm Leben wurde brutal vo'mmir gerissen! Und da sprecht ihr mir" (sie hämmerte auf ihre Brust ein, als wollte sie dort ein Loch schlagen) "das Recht auf
Todessehnsucht ab? Die Sehnsucht auf den Ort, wo mein Geliebter weilt, und wohin ich ihm folgen will?" Sie brach ab und sank erschöpft auf die Liege. "Bleib bei mir, alter Mann", flüsterte sie heiser, als sie sich zur Ruhe bettete. "Vielleicht kann ich dann besser schlafen."
Pismire streichelte ihr beruhigend die Hand, als sie sich in die Decke rollte und das Stofftier fest in die Arme schloss. "Nur du bis'ss, der mir blieb." Mit diesen Worten sank sie geräuschvoll in Schlaf.
Am nächsten Morgen war Madeleine lichtscheu (wegen der Kopfschmerzen), heiser (wegen der Monologe) und deprimiert (wegen der Umstände) und gestattete es Pismire, sie sicher nach Hause zu bringen. Unterwegs sprachen sie nicht viel.
Beim Haus der Wehklägers angekommen, rannte eine große und athletische Frau mit einem auffälligen Pferdegebiss und der Ausstrahlung unverwüstlicher Lebensfreude auf Madeleine zu.
"Mäddi, du meine Güte, wo hast du gesteckt!? Gertrude hatte keine ruhige Minute nach gestern abend und hat mich sofort hinterhergeschicht, aber du warst schon nicht mehr zu Hause."
"Meine Großcousine, Prenania Abbelhabbl, Vorsitzende des Kommitees "Gründe Oase", und das ist Oberleutnant Pismire, Stadtwache", erledigte Madeleine müde die Vorstellung. "Lass uns doch ins Haus gehen. Am besten aufs Dach, da haben wir frische Luft."
Die drei stiegen auf das zweigeschossige Flachdach, wo Frau Abbelhabbel keine Gelegenheit verstreichen ließ, die Zeit mit Geplauder zu füllen. Pismire nutzte den Blick vom Dach, um sich einen Überblick über die Nachbarnschaft zu verschaffen. Besonders ein großer Garten auf der gegenüberliegenden Straßenseite weckte sein Interesse.
"Wer wohnt da?", fragte er. "Was für ein schöner Garten", fügte er mit dem Blick auf das große umzäunte Grundstück hinzu.
"Ach, der gute Heribert. Der hat aber auch ein Pech. Seit über fünfundzwanzig Jahren nimmt er nun schon an dem Wettbewerb teil und gibt sich solche Mühe - aber", Frau Abbelhabbel zuckte spöttisch mit den Schultern, "irgendwas hat nie funktioniert. In einem Jahr hatte seine Stauden Mehltau, dann waren die Schnecken in seine Salatbeete eingefallen und letztes Jahr - erinnerst du dich noch Mäddi?" Frau Abbelhabbel stupste Mäddi in die Seite. "Was haben wir gelacht auf deiner Dachterrasse. Wissen Sie, Oberleutnant, die Kürbisse von Petersil sind so was von rasant gewachsen, wir haben schon Witze darüber gemacht, dass, wenn die auch nur halb soviel in den Balsam wirken, wie sie in der Natur ... äh", mit einem Blick auf Mäddi, die vernehmlich schniefte, hustete sie und brach ab. "Aber zurück zum letzten Jahr. Rauhring war zwei Wochen bei seiner Schwester in Quirm, und irgendwie muss einer der Kürbisse angestoßen worden sein, auf jeden Fall sind hunderte von Samen überall rumgeflogen. Hier", sie deutete auf den üppigen Kürbisbewuchs im unter ihr liegenden Garten, "macht das natürlich nichts aus. Aber sein Garten sah aus wie ein Kürbisbeet. Vom Rest war nichts mehr zu sehen. Selbst seinen Kastanienbaum musste er hinterher frei schneiden. Wir haben das von oben gesehen - natürlich rein zufällig - wie er die Straße runterkam, dann ins Haus, dann in den Garten ging. Und dann hat er getobt - wir dachten, ihn trifft der Schlag. Geflucht, dass du ihn noch eine halbe Meile stadteinwärts hören konntest. Er hat wochenlang kein Wort mehr mit euch gesprochen, nicht, meine Liebe", sie knuffte Mäddi spielerisch in die Seite.
"Ja, aber letztendlich hat sich das wieder eingerenkt. Pete hat ihm hoch und heilig geschworen, dass er nie wieder einen einzigen Kürbissamen zu sehen bekommt in seinen Garten."
So schnell wie möglich verabschiedete sich Pismire von den beiden und machte sich auf, Herrn Heribert Rauhring kennen zu lernen.
Er traf ihn in seinem Garten an. Der pensionierte Bibliothekar war von kleiner, magerer Statur. Mausgraues Haar, glatt gekämmt, so dass jedes einzelne Härchen wie eigens gerichtet wirkte, fiel vom Scheitelpunkt bis zur Kinnlinie. Ein sorgfältig gestutzter Kinnbart schloss das Gesicht ab. Die Kleidung war schlicht und unauffällig. Er saß gebäugt auf einer kleinen Bank, wo er einen grünen Spross missmutig beäugte.
"Ich bin von der Wache. Mein Name ist Pismire. Oberleutnant Pismire", stellte dieser sich vor. Rauring schaute auf und Pismire blickte in das Gesicht eines alten Mannes, dessen gerötete Augenlider von häufigem Weinen zeugten. "Es war ein Unfall, nicht wahr?"
"Ja und nein, Oberleutnant. Ich habe ihn gehasst. Seit der Sache im letzten Jahr. Und dann - kannst du dir vorstellen, was ich vorgestern feststellen musste? Nach all dem Ärger im letzten Jahr waren schon wieder zwanzig Kerne in meinem Garten. Als ich ihn holte und zur Rede stellte, hat er nur gemeint, ich solle mich nicht so anstellen und mir lässig einen Kürbiskern vor die Füße geschnippt. Wir standen da oben", er deutete zu einer Treppe, die zu einem Balkon im ersten Stock führte. "In meiner Wut habe ich nach ihm geschlagen und er wich rückwärts aus, fiel die Treppe runter und hat sich den Hals gebrochen. Ich hab versucht, es zu vertuschen." Der Alte verstummte.
******
Ohne sich lange mit Förmlichkeiten wie Anklopfen und Abwarten aufzuhalten stürmte Pismire in das Büro seines Abteilungsleiters. Ein hastiges Planschen und der Aufschrei: "Oh verflixt, jetzt hast du mich so erschreckt, dass ich die Seife verloren habe!", wiesen Pismire darauf hin, dass das unangemeldete Betreten des Büros seines Abteilungsleiters nicht die beste Idee des heutigen Tages gewesen war. Sillybos schaute verlegen auf die Wasseroberfläche, während er darunter offensichtlich hektisch versuchte, der glitschigen Seife habhaft zu werden, und der alte Schamane registrierte mit einer gewissen Schadenfreude, dass sein neuer Vorgesetzter seine Figur nicht wirklich hatte halten können. Mit einem kurzen Bericht und der Nachricht, dass Heribert Rauhring ihn zur Wache begleitet hatte, brachte er seinen Vorgesetzten auf den aktuellen Stand.
"Dann war es dieser Nachbar?", fragte Sillybos erstaunt aus der Badewanne heraus. "Nur wegen des Gartens?"
"Ja, und er wird sein Geständnis wiederholen. Er schien sogar ein wenig erleichtert zu sein, das von der Seele zu haben - so mein Eindruck", entgegnete Pismire, wobei er sich bemühte, angesichts der respektlosen Umstände, die auch er dadurch verursacht hatte, dass er nicht angeklopft hatte, größtmögliche Neutralität an den Tag zu legen.
"Wie überaus nichtig doch die Anlässe sind, die einen Menschen vom Leben zum Tode bringen können." Sillybos dachte einen kurzen Moment nach, bevor er sich zurück ins warme Wasser lehnte. "Man kann also sagen, dass Petersil Hüppauf an einem einzelnen
Kürbiskern starb."
"Ja, das kann man so sagten", stimmte Pismire ihm zu.
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