Rib verhält sich seltsam. Er will niemanden verhauen.
Dafür vergebene Note: 12
PROLOG
Wo beginnt man am besten eine Geschichte? Wo beendet man sie? Ist es zum Beispiel wichtig, wenn nur Wochen nach ihrem Abenteuer mit einer Hexe Hänsel und Gretel von ihrem Vater erschlagen wurden? Denn, aller heimkehrfreude zum Trotz, der Vater konnte noch immer nicht die Familie ernähren. Da diese "verdammten Drecksblagen", wie er sie liebevoll nannte, so blöde gewesen waren, tatsächlich nach Hause zu kommen, nachdem er sie ordnungsgemäß ausgesetzt hatte, hungerte wieder die ganze Familie. Und das, obwohl sie an dem Haus der Hexe Essen satt hatten. Aber nein, die Mistviecher waren zu dämlich, sich an den Weg zu erinnern.
Wie in aller Welt, so fragte er sich, während er sie vergrub, sollte man solchen Leuten erklären, das sie zuhause nicht erwünscht waren? Auch später wusste niemand Antwort. Sein schwitzender, muskelbepackter und sexuell nicht uninteressierter Zellenbewohner hatte jedenfalls auch keinen Rat. Aber wie auch: Immerhin hatte dieser freundlich Mitbürger seine Nachbarn aus ähnlichen Gründen umgebracht. Aber für alle anderen Belange zeigte er reges Interesse: Man könnte also sagen, Gretels Vater (Hänsel war das Produkt eines Seitensprungs der Mutter gewesen) ging spannenden Zeiten entgegen...
Sie sehen, verehrter Leser, hier könnte eine Geschichte enden oder beginnen: Eine Geschichte um eine Männerfreundschaft, die über die rein körperliche Anziehungskraft hinausgeht und durchwoben ist von dem Schatten des Todes. Eines Todes, der zugleich Akt der Gerechtigkeit und der Reinigung ist. Aber wissen Sie was? Dem Autor schwebt heute eine ganz andere Erzählung vor Augen. Darum vergessen sie also alles über den Vater, den Zellennachbar, Hänsel oder dessen Liebhaberin und Mordgefährtin Gretel. Es spielt ohnehin keine Rolle, wer verhaftet wurde. Oder warum. Denn jede Zeile bisher sollte sie nur verwirren.
KAPITEL EINS: Mortalprügler
Man konnte definitiv behaupten, die beiden Wächter waren im Eimer. Physisch, versteht sich. In beiderlei physischer Hinsicht. Also das heißt, sie waren körperlich in besagter Kneipe anwesend und ebenfalls vom Promillegehalt gut dabei. Und sie hatten gerade beschlossen, die Kneipe wechseln. Soweit sie einander noch verstanden.
Ihr Zustand kannte nur einen Trost: Immerhin war der Mond auch voll.
Eine tolle Party war es gewesen, wirklich. Mit wirklich netten Leuten. Und eine Lokalrunde hatte die nächste gejagt. Es hatte länger gedauert, bis Jack und Tut'Wee, begriffen hatten, das diese ganzen Runden von ihnen selbst bezahlt wurden.
Pleite wie sie nun waren beschlossen sie, in die Nacht hinaus zu taumeln.
"Wau, was'n für ein Abend." murmelte Feldwebel Tut'Wee, kurz 'Tut' oder 'Rib' genannt. Letzteres nur von Leuten, die kein Risiko scheuten.
[1] Für heute hatte selbst sie genug: Die dezimetergroße Mumie hatte ihren Kontakt zu ihrer Muttersprache noch nicht ganz verloren, aber sie war, wie man so sagt, dicht dran. Das kleine Geschöpf steckte das leere Geldsäckchen zurück in Jacks Manteltasche in der auch es selber saß. Traurig wog sie das Säckchen dabei ein letztes Mal ab.
"Ich brauch' dringend eine Beförderung. Vielleicht sollte ich mal mit dem alten Beißer darüber reden."
"Hmm." murmelte Jack zurück. Alkoholisch gesehen war er einen Schritt weiter als der in seiner Tasche hockende Laborant. Mit Untoten Wettsaufen zu spielen war halt einfach unfair. Aber es tat gut, einen Abend lang nicht nur Karinas Vater oder Lance-Korporal Narrator zu sein... sondern einfach mal nur jemand ziemlich Unvernünftiges.
"Destilliertes angefaultes Getreide." unterbrach Tut seinen Gedankengang. Die Luft hier draußen fing an, den Exkobold zu ernüchtern. Kurz überlegte der Untote umzukehren. Oder in einer Kirche am Wege nach Messwein zu fragen.
"Hmm?"
"Glaub einem Laboranten. Habs mal an... anallü... du weißt schon. Mit 'ner Lupe und so. Hab nie die Sonne im Rücken, sach ich immer. Der Trick beim Hartalk ist, das Zeug ordentlich faulen zu lassen. Das eine oder andere, was auch kein Schwein fressen will, dazu und dann steh'nlasssen. Das Ganze läßte dann kochen und fängst die Schwaden wieder auf. Und tata! Der Dreck ist plötzlich Zaster wert. Wenn man ein Labor hätte, könnte man echt reich werden..."
Der kleine Untote stutzte. Eilig tastete er seine Kleidung nach seinem Notizblock ab.
"Hmm." Jacks Kommentar überraschte niemanden. Noch nicht einmal Zorn, seinen personifizierten Dauerbegleiter. Dann schwamm eine Erinnerung den Wacholderstrom aufwärts und gelangte bis zur Startlinie. Auf dem Weg hielt sie ein- oder zweimal an, um Teile der Zunge Jacks wiederzubeleben.
"Sam'mal, Rib..."
"Tut'Wee."
"Von mir aus. Tut's auch. Hehe." Das Problem an Witzen war, das sie nur scheinbar besser wurden.
Tut hob kurz die abwehrend die Hand, verschwand kurz hinter dem nächsten Bordstein und gab würgende Geräusche von sich.
"Jut, was'is?" Tut blickte Jack fragend an, nachdem er im Zickzackkurs zu dem Knöchel seines Kollegen angekommen war, an dem er sich nun krampfhaft festhielt. Schwerkraft, befand der Untote, war ein tückisches Biest. Vielleicht sollte er noch mal kurz mit deren Personifizierung um die Ecke verschwinden. Und das gemeine: Jack, fand Tut jedenfalls, war in den letzten Sekunden schlagartig nüchtern geworden. Unartig nüchtern geradezu. Der Laborant trauerte etwas seinem Monatslohn hinterher.
Jack schien auf etwas zu starren.
"Da drüben, die Person da, mit dem roten Umhang und dem Einkaufskorb... haben die nicht Ähnlichkeiten mit dem Steckbrief heute morgen?" Jack deutete vor sich.
Die kleine Mumie versuchte mit ihren Brilliantenaugen in die angedeutete Richtung zu blinzeln: "Jau. Alle beide. Verhaften wir s'e?"
Jack zog die Augenbrauen zusammen, kniete sich nieder und blickte seinen Freund und Vorgesetzten an: "Ri... Tut, die Person ist allein. Du siehst doppelt."
"Chwei gegen einen is abba nicht sehr sportlich, oder?"
"Nun, sie ist bewaffnet. Ein
Totschläger, Marke "Fies&Schmutzig", aus dem Hause Starkimarm."
"Hassu auch."
"Ach ja?"
"Jau. Mich. Und stark im Arm bin ich auch."
Jack überlegte kurz, ging kurz die Liste von Tuts Disziplinarstrafen durch, fügte noch jene hinzu, die er schon, aber Ras nicht wusste und musste als Resultat nicken. Tut sah Polizeibrutalität als sein liebstes Hobby an. Das und seit neuester Zeit auch noch Briefmarkensammeln.
Der Gerichtsmediziner nickte, ergriff daher den Exgnom und ging auf die verdächtige Person zu. Dann holte er mit seinem mumifizierten Freund weit aus. Jeder Wächter wusste, wie eine Verhaftung zu übernehmen war. Das gehörte zur GRUND-Ausbildung.
KAPITEL ZWEI: Psss!
Kaum zwanzig Sekunden später lag der Verdächtige gefesselt am Boden und diente Jack als Sitzgelegenheit. Eine Beule zierte den Hinterkopf. Tut blickte seinen Kollegen ernst an. Ernst und mit einem seltsam-gemischten Gefühlsausdruck.
"Was? Hat es keinen Spaß gemacht? He, es war dein Vorschlag." fragte Jack ihn. Doch die Minimumie starrte schweigend weiter, trat aber nun zwei Schritte zurück.
"Sir?" fragte sie.
Tut's Stimme schien irgendwie weicher, heller und quiekiger, fand Jack.
"Sir?" begann die Mumie erneut. "Was machen sie dort auf dem armen Mann? Sie tun ihm weh."
"Rib? Hast du gerade 'Armer Mann' gesagt?" Jack stand verdattert auf und benutzte aus Versehen Tut's alten Namen. Im Moment war es ihm egal, ob die Gnumie gereizt reagierte.
Etwas stimmte hier nicht. Und das war mehr als ein Gefühl, das durch Jacks Adern raßte. Diese Form von Leisetreter war einfach nicht Tut's Art.
Jack bemerkte, dass der Atem des Laboranten stoßweise ging.
'Ein aus der Puste geratener Untoter?' tauchte die Frage in seinem Gehirn auf. Was auch immer es war, etwas stimmte definitiv nicht. Jack ging einen Schritt auf seinen Kollegen zu.
Die Gnumie schien in sich eingesackt. Die Schultern hingen herunter, die Hände leicht abwehrend vor dem Körper. Die Brillantenaugen waren auf die Sohlen von Jacks Füßen gerichtet.
Tut konnte nur eins sehen: Schuhe kamen näher, riesige Profile, geradezu ideal, jemanden zu zerquetschen.
Die Gnumie schrie auf, drehte sich um und rannte eine Hausmauer entlang, bis zu etwas, was sie für eine Höhle hielt. Doch bevor Jack reagieren konnte, war sie Gnumie in einem Loch, durch das eine Maus passen würde, verschwunden. Der Schrei der folgte, dauerte Minuten.
Der Pathologe seufzte. Tut war durch das Griffloch eines Schachteinganges gesprungen. Zum Glück machten auch die abstrusesten Höhen kleinen Geschöpfen nichts.
[2]Eingänge wie diesen gab es in Ankh-Morpork zuhauf, sie machten das tiefe und ewig verzweigte ehemalige Kanalsystem für Schmuggler benutzbar. Und genau das war das Problem: Tiefverzweigt. Jack brauchte jetzt ein Hilfe, oder besser gesagt: Professionelle Hilfe.
Mitten in der Nacht wurde Charlie Holm geweckt. Schon wieder einmal war der Tatortwächter über den Berichten eingenickt, eine Folge all jener endlosen aufeinander folgenden Tag- und Nachtschichten, die kräftezehrend an der Substanz knabberten. Und jetzt schmiss jemand halbe Felsbrocken an die Fensterscheibe.
Vorsichtig zog Charlie den Riegel zurück und schob das Fenster ein Stück weit auf.
"Was ist?" rief er leise herunter.
"Charlie?"
Holm erkannte die Stimme. Es war Jack... und wie es schien nicht ganz nüchtern. Und etwas verzweifelt. Immer wieder führ die Hand des Gerichtsmediziners hoch und kratzte in seinem roten Haar.
"Ja? Jack, was machst du hier...? Wenn Ras sieht, dass du im Dienst..."
"Nicht jetzt. Ich brauche deine Hilfe. Rib braucht deine Hilfe."
Charlie nickte, griff nach seinem STAUB-Beutel und sprang aus dem Fenster.
Ein paar Minuten später standen die beiden Wächter vor einer Hausmauer und rollten einen Verdächtigen zur Seite, dessen Hintern eine gewisse Eingangsklappe verstopfte.
"Da ist er drin?" merkte Charlie zweifeln an. "Ich kann mir bessere Ziele für eine Sauftour denken. Und was ist, wenn er einfach sich an einem anderen Eingang eine Öffnung geschlagen hat?"
Jack zuckte mit den Achseln, eine Geste, die Charlie im Dunkeln kaum wahrnehmen konnte. Es spielte auch kaum eine Rolle. Es gab halt Situationen, da musste auf das Beste hoffen.
"Meinst du, du bekommst das hin? Findest du ihn?" murmelte er.
"Ich bin Tatortwächter." ermunterte Charlie seinen Kollegen. Er drückte Jack ein Seil in die Hand und band sich am anderen Ende fest. "Wer flieht, achtet nicht auf seine Spuren. Und Spuren führen mich immer zum Ziel."
Und mit diesen Worten nahm er die Verfolgung eines Wesens auf, das weder tot war, noch sterben konnte. Er krabbelte in das Loch und deutete Jack ein letztes Mal an, ihn langsam herab zu lassen. Der Leichenbeschauer nickte.
Charlie rieb sich die müden Augen. Einen Trost gab es: Tut, dieser kleine Mistkerl, war immerhin kleiner als er.
'Deduktion', dachte Charlie bei sich. 'Deduktion. Fakt eins: Tut war seltsam geworden, selbst für seine Verhältnisse. Fakt zwei: Er liebt es, Leute zu verletzen. Fakt drei: Der Untote war kaum umzubringen, schlecht zu sehen, sah selber umso besser und, was mir am besten gefällt: Das Wesen, das ich verfolge, kann eine Kuh einen Dezimeter hochheben, ohne sich anstrengen zu müssen. Na gut, für jeden weiteren Zentimeter mehr wäre eine Strickleiter hilfreich. Wenn ich alle diese Fakten zusammen nehme, komm ich zu folgendem Schluss: Nicht... darüber... nachdenken.'
Schon nach ein paar Metern berührten Charlies Füße den Boden. Ein Kanalraum, kreisrund und mit 7a Öffnungen versehen. Es roch nach Staub und abgestandener Luft. Dem Hall nach fingen die Gänge an sich zu verzweigen, kurz nachdem sie im absoluten Dunkel verschwanden. Soweit Charlies erster Eindruck; Mehr war, seiner Meinung nach, bei dem wenigen, von oben herabfallendem Licht eher eine Vermutung.
Charlie zündete eine Kerze an und bückte sich. Ratten- und Marderkot, zum Teil dick wie ein Koboldoberschenkel, gemahnten den Wächter ruhig zu bleiben und nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu erregen. Denn wo Ratten und Marder sich aufhielten, waren auch ihre menschlichen Gegenstücke nicht weit. Charlie band sich Filzeinlagen, so genannte
Leisetreter, unter die Schuhe und atmete tief einmal ein und aus. Täglich wurde er als Tatortwächter an solch dunkle Orte gerufen. Nur in den seltensten Fällen sah eine erstochene Person glücklich aus.
Charlie kniete sich hin und nahm ein relativ frisch aussehendes Stuck Rattenkot hoch und fing an es zwischen seinen Fingern zu zerreiben. Es sah aus wie ein schwarzes Reiskorn und zerbrach mehr, als es zerbröselte. Der Kot war alt, ein gutes Zeichen dafür, das schon lange niemand hier gewesen war. Der Tatortwächter besah sich den Boden noch genauer.
Hier war ein Korn verschoben und
da war ein winziger Fußabdruck im Boden. Charlie schüttelte den Kopf. Etwas schwerer hatte er sich das Problem schon vorgestellt. Langsam aber sicher verfolgte er die Mumie. Seltsamerweise hielt sie sich an jeder Abzweigung links.
Es dauerte Minuten, bis Charlie seinem Offizier näher gekommen war, doch für den Tatortermittler erschien es wie Stunden. Dann nahm er plötzlich rechts von sich eine Bewegung war.
"Tut? Sir?" fragte Charlie. Tatsächlich schien der Umriss im Halbdunkel die passende Masse zu haben. Nur verkroch sich dieses Ding und wimmerte.
"Geh weg." flüsterte es. "Bitte. Ich habe Angst."
Charlie stutzte. Tut hatte Angst? Tut? Der als lebender Kobold versucht hatte, sich einem durchgehenden Ochsenkarren in den Weg zu stellen? Charlie hoffte, dass die Mumie eine Art Neurose durchmachte. Oder noch besser, unter Wahnvorstellungen litt. Ansonsten befanden sie beide sich wirklich in Schwierigkeiten.
"Was immer du auch denkst", sagte Charlie so freundlich wie möglich, "komm mit mir. Ich bringe dich in Sicherheit."
KAPITEL DREI: Krankheitsbilder in Pastell
Rascaal Ohnedurst, Kommandeur der Stadtwache der größten Stadt der Scheibenwelt, blickte ernst in die Runde. Er analysierte Augenpaar um Augenpaar, versuchte Eindrücke zu sammeln, was die anwesenden SUSIs dachten. Jeder von ihnen war mindestens für eine Unterabteilung ihrer Einheit verantwortlich.
Und im Hintergrund saß die kleine Gnumie, um die es ging, auf dem Boden und malte zur Entspannung Blumen. Dafür hatte sie sich extra nur die Pastellfarben vom Schreibtisch ihres Dienstherren genommen. Ihr bandagierter Mund, auf einmal kein kleines Loch, sondern eine richtige Linie mit angedeuteter Ober- und Unterlippe, lächelte glücklich.
"Gut, Rib hat also seine Erinnerung verloren. Soweit ich informiert worden bin, passierte an Katastrophen folgendes: Nichts ist explodiert, niemand wurde bedroht und keiner belästigt." Der Vampir räusperte sich. "Ich warte immer noch auf die schlechten Nachrichten. Oder irgendein anderer Grund, warum ich das Ganze nicht gutheißen soll. Oberfeldwebel Sillybos?"
"Das sind die schlechten Nachrichten." antwortete der Abteilungsleiter. "SUSI hat nicht nur mit einem Ausfall an Neuzugängen zu kämpfen, jeder weiß, auch an den Führungsspitzen sieht es rar aus."
Rascaals Augenbrauen zogen sich zusammen. Laiza, Sillys Stellvertreterin ahnte, das sich der Kommandeur den hier so eifrig malenden Exkobold in einer Führungsrolle zu vorstellen begann. Sie wechselte schnell das Thema: "Das größte Problem betrifft das Labor." "Wie meinen Sie das, Chief-Korporal?"
Die Stellvertreterin nickte beruhigend der zweiten kleinen Person in dem Raum, der Gnomin Lady Rattenklein, zu.
"Tatsache ist, das unser Labor mehr unter Personalmangel zu kämpfen hatte als sonst eine Abteilung der Wache. Alle suchen nach den Tätern, finden Spuren und Fingerabdrücke, und das Labor soll sie auswerten. Und nebenbei Brandtatorte begutachten. Ich bin jetzt allein." zählte die Laborantin auf. Sie war wirklich genervt. Unter so viel Arbeit kam die private Kriminalistik zu kurz. Ganz SUSI und besonders das Labor (leider sahen das viele Bewerber von GRUND einfach nicht) war wie eine Randnarbe der ganzen Wache. Hier liefen alle Fälle zusammen und hier ermittelte man auf eigene Faust, wenn man der Meinung war, dass andere Ermittler bestimmte Beweise nicht genug beachteten.
Und wie oft fand ein SUSI heraus, es war Gefahr im Verzug, aber keine Zeit mehr, die Spezialeinheit FROG zu rufen? Innerlich machte diese Missachtung sie wütend. Aber das konnte sie dem Kommandeur nicht sagen. Das würde sie nur auch noch den letzten Rest Freizeit kosten. "Das zweite Problem ist die Luft, Sir. Atemluft. Langsam geht sie uns im Labor aus. Der Überschuss an Leichen aus der Gerichtsmedizin, der bei uns..." Ratti stockte kurz, blickte zu Tut und verbesserte sich. "... bei mir zwischengelagert wird, stinkt. Und mit der Luft geht der auch Platz aus. Schlimmer noch, neben dem Fäulnisgas gibt es ja auch noch die Dünste, die wir... ich selber in Experimenten produziere. Und wir haben nicht mal ein Fenster, das wir öffnen könnten."
Ras schaute die Laborantin ernst an: "Und was hat der Feldwebel damit zu tun? Ist es, weil er nicht atmen muss?"
Die Lady schüttelte den Kopf: "Es hat sich gezeigt, das die regelmäßigen Explosionen im Labor notwendig sind. Dringend notwendig. Druckentlüftung ist das Zauberwort. Im Moment sickern die Gase mehr oder minder durch das ganze Haus. Sie fließen durch die Rohre der Kommdämonen, eine Öffnung für jeden Raum. Jeder von uns wird individuell vergiftet. Es fehlt einfach die Druckwelle, die Wucht dahinter, die in den Räumen die Fenster aufreißt und rausspült, was raus muss. Wenn das so weitergeht, sind wir alle bald sterbenskrank oder tot."
Sie schaute noch einmal kurz zu Tut und danach wieder zu ihrem Kommandeur: "Jedenfalls die, die das noch vor sich haben."
Ratti beschloss nicht zu erwähnen, dass die Explosionen auch das Platzproblem meist zeitgleich lösten. Der Vampir war zum Glück aber auch gerade mit einem anderen Gedankengang beschäftigt: "Heißt das, wir brauchen diese Unfälle?"
Ratti nickte: "Ja, Sir. Es sieht so aus. Und niemand baut besser Unfälle als unser Leitender Laborant."
Alle Anwesenden schauten zu Tut'Wee. Der bandagierte Miniuntote war gerade dabei, ein paar Schäfchenwolken seinem Bild hinzuzufügen und hoffte nun, dass er damit nicht auch noch die Blumen ängstigte. Schließlich waren Schafe ja Todfeinde der Blumen. Tut bemerkte die Stille in dem Raum und hob den Kopf. Alle schauten ihn an.
[3] Sicherheitshalber lächelte er in die Runde.
"Kann ich helfen?" fragte er. Vielleicht war ja jetzt mal endlich eine Gelegenheit mal endlich nett zueinander zu sein.
Stille herrschte im Raum.
Ras seufzte: "Na gut. Das ist ja nicht zum Aushalten. Ich warte auf Vorschläge?"
Charlie schüttelte den Kopf: "Ich habe nichts am Tatort gefunden, was Aufschluss darüber gibt, warum das hier passiert ist. Kein Gift, keine Runen... nichts."
"Ich würde organische Ursachen für dieses
Krankheitsbild lieber erst einmal nicht annehmen." warf Jack ein.
"Warum?" fragte Silly.
"Tut ist eine Mumie. Weiß irgendjemand, wo seine Organe sind?"
"Vielleicht", ergriff Laiza das Wort, "ist es ja ein mystisches Problem. Ich kenne da ein paar Leute, die mir noch einen Gefallen schuldig sind."
Als langjährige und beste Freundin des kleinen Exkobolds wollte sie nichts unversucht lassen.
"Und ich könnte ihm ja noch einmal das Labor zeigen." bot sich Ratti an. "Vielleicht kommt da ja etwas an Erinnerung wieder."
"Versuchen wir's." nickte der Kommandeur. "An die Arbeit."
KAPITEL VIER: Auf der Nadel Spitze
Es waren vier Stunden vergangen und die Gnumie malte, inzwischen allein gelassen, immer noch ihre Zeichnungen. Längst schon hatte es aufgehört, Spaß zu machen, aber der kleine Künstler-wider-Willen wollte niemanden von diesen Leuten verärgern. Denn sie schienen
gefährlich zu sein.
Tut, wenn dies wirklich sein Name war, machte sich Sorgen. Er wusste nicht, wer er war, was er konnte und am Schlimmsten von allem, was diese Irren von ihm wollten.
"Fassen wir einmal zusammen." murmelte er zu sich selbst. "Soweit ich das draußen erkennen konnte, bin ich in einer größeren Stadt. Die Leute die mich aufgegriffen haben, betreiben hier ein Labor und sie sind bewaffnet. Sie schlagen Leute auf offener Straße zusammen und kidnappen andere wiederum. Letztere, von ihnen selbst Zeugen genannt, werden in dieses Haus gebracht, in dem sich die Leichen in manchen Zimmern angeblich nur so stapeln. Auch von mir wird behauptet, ich sei so gut wie tot. Allem Anschein nach scheine ich so ein Zeuge zu sein - Schlimmer noch, ich soll in ihrem Labor gearbeitet haben. OH NEIN! BEI DEN GÖTTERN! Ich stelle Drogen her!"
Tut zuckte zusammen. Er konnte nur hoffen, dass niemand diesen Ausruf gehört hatte. Die Gnumie kletterte auf den Fenstersims und blickte hinaus ins Freie. Soviel Leben war dort, ein Chaos, das nur auf sich selber zu achten schien.
"Nie ist ein Wächter da, wenn man ihn braucht." fuhr er fort und verharrte kurz an diesem Gedanken. So spontan wie dieser Satz gekommen war, mussten diese Worte aus seiner eigenen Vergangenheit kommen. Verständlich, denn als Drogendealer arbeitete man ja im rechtsfreien Raum.
Die Gnumie spann ihren Gedankengang weiter: "Gut, ich kann mich also an Wächter erinnern. Hüter der Ordnung. Fakt ist, das nutzt mir hier derzeit gar nichts, denn die Halunken haben mich ja eingeschlossen. Und was ihre Beschäftigungstherapie angeht: Meine Malstifte sind alle, die improvisierte Fingerfarbe ebenfalls und keine Wand ist unverziert mehr frei. Also: Wenn diese Mörder und Schurken kommen, sollte ich lieber hier weg sein."
Die Gnumie seufzte kurz: "Auch wenn dieses kleine Gnomenmädchen recht süß aussah."
Tut sah sich um. Auf dem nun mit kleinen Gänsen bemaltem Schreibtisch hatten Zettel gelegen, in denen es um Korruption in den Gilden, erlaubte Diebstähle und Prostitution ging. Sogar mit Preisliste und Quittung.
Nun, als bandagierter Künstler hatte er versucht, die Zettel nun möglichst unbrauchbar zu machen, ein großer Fehler, den er inzwischen bereute. Sicherlich hätten sie einen guten Beweiß abgegeben.
Die kleine Gnumie hatte erkannt, das diese Verbrecher ihr nur eine Wahl ließen: Ausbrechen aus diesem Raum, ja aus diesem Haus, diese 'Wächter' suchen und ihnen alles erzählen. Tuts Leben bedeutete ihm nichts, zumal es ja (in seiner Erinnerung) auch noch nicht sooo viel zu vermissen gab. Wichtig war es nur, diese Organisation der Schattenwelt zu stoppen. Doch was machte er, wenn er auf Wächter traf, die NICHT wirklich dem Gesetz dienten? Mord, Prostitution, Entführung, Drogen und Bestechung. Und ein riesiges Gebäude inmitten der Stadt. Alles sprach dafür, das diese Organisation mehr Fäden in der Hand hielt, als Tut lieb sein konnte.
"Und dennoch", murmelte er, "hab ich kaum eine andere Wahl."
Tut sah sich im Raum um. Er brauchte eine Waffe, am besten etwas, womit er das Fenster öffnen konnte. Wenn man so klein war wie er, konnte man unmöglich ohne Hilfmittel einen so großen Fensterrahmen heben. Die Gnumie brauchte also einen Hebel. Möglichst eine scharfe, lange
Nadel noch dazu...
Während er noch die Härtegrade einzelner Buntstifte gegeneinander abwog, wurden seine Überlegungen durch das Geräusch eines drehenden Schlüssels unterbrochen. Tut drehte sich auf dem metaphorischen Absatz herum und rannte unter die nahe stehende Kommode.
"Bitte", flüsterte er. "noch nicht."
Füße betraten den Raum, riesige Füße, groß genug, dass die Gnumie ausgestreckt immer noch unter der Sohle verschwinden würde. Es waren Frauenfüße.
"Was zum...???" Rib erkannte in diesem Satz die Stimme Laiza Harmonies. Die Gnumie drückte sich selbst die Daumen, dass diese Menschin einen Schritt tiefer in den Raum treten würde. Das gäbe Tut die Möglichkeit, durch die Eingangstür ungesehen zu huschen.
'Komischer Name für eine Verbrecherin.' dachte er bei sich. 'Wäre Britta Brutalo nicht passender? Obwohl... wenn sie die Drogen unter das Volk bringt...'
Tut kicherte leise und hielt sich schnell die Hand vor den Mund. Doch es war zu spät, das rechte Knie wurde neben dem linken Fuß aufgesetzt. Hände folgten und dann war auch schon Laizas linke Gesichtshälfte zu sehen.
"Da bist du ja." flüsterte sie. So schnell wie ihre Hand kam, konnte Tut es nicht verhindern, ergriffen zu werden. Eine so große Person war bestimmt stärker als er, deshalb versuchte er lieber nicht, sich zu wehren.
"Wir sollten jetzt gehen, bevor Ras kommt." sprach Laiza bestimmend.
Dem pflichtete Tut aus vollem Herzen bei. Dem Paten dieses Syndikates wollte er auch nicht noch mal begegnen. Tut ließ zu, das diese Menschenfrau ihn aus dem Raum trug. Sie überquerten einen Flur und betraten einen neuen Raum, von ähnlicher, ebenso sparsamer Einrichtungsqualität. Wenn dieser Ras bei den florierenden Verbrechen seine Kumpanen so sparsam hielt, dann musste der Boss unglaublich reich sein.
Die Gnumie bemerkte nun einen Mann ganz in Weiß, augenscheinlich ein Arzt. Nach Laborkleidung sah das jedenfalls nicht aus. Rib fragte sich, woher er das wusste. Hinter dem Mann in Weiß stand eine Art Assistent, in der rechten Hand einen Gong. Tut wurde vor ihm abgestellt.
"Vater?" Laiza schien die Aufmerksamkeit des Besuches lockend zu fordern. "Das hier ist Feldwebel Tut'Wee, früher unter Rib bekannt gewesen. Tut, dies ist seine Eminenz...Heilig... nein, Göttllichkeit Vater..."
"Wir kennen uns." murmelte der Mann im weißen Gewand. Schallend ertönte der Gong neben seinem Ohr. Die 'Göttlichkeit' zuckte zusammen.
"HÖRET!" schrie der zweite Mann. "ER ERKENNT UNS AUF ALL UNSEREN WEGEN!"
"Göttlichkeit?" fragte Tut. Der Mann in weiß sah eher unglücklich, ja
hoffnungslos aus.
"Du kennst das ja."
"HÖRET! WO ER WEILT, IST WISSEN!" Der Gong dröhnte wieder.
Tut nickte. Natürlich hatte er aufgrund seines Krankheitsbildes keine Ahnung, wovon der Mann sprach. Aber wenn hier Einer mit einem Gong rumlief und ein Zweiter sich als Gott ansprechen ließ, war die Schlussfolgerung klar: Hier waren zwei Konsumenten der Kartellware und Tut wünschte sich in ein Labor, um herauszufinden, was da durch die Blutbahn kroch. Doch vorerst hieß es still sein... und schauen, wozu diese Verbrecherin nun auch noch Schergen brauchte.
Laiza erklärte es ihm: "Ich bin durch die ganze Stadt gereist, um Phrenologen zu finden, die Dir helfen können. Oder Pendler, Heilsprecher, was weiß ich. Was immer ich finden würde. Ich dachte, ich als Okkultismusexperte muss doch etwas Passendes kennen." "Phrenologen?"
"Nun ja... Phrenologen glauben, dass man an der Kopfform den Charakter erkennen mag. Bei Leuten mit
Gedächnisschwund, so sagen sie, ist Phrenologie die einzige Erklärung für die Verhaltensveränderung. Immerhin: Warum sonst bekommt ein Kopf Beulen, wenn ein Ziegelstein drauf fällt?"
Tut nickte, wenn auch mehr aus Höflichkeitsgründen.
"Na ja, der Theorie nach soll das auch absichtlich funktionieren. Deshalb haben behandelnde Phrenologen immer einen Hammer dabei." Laiza rausperte sich. "Seltsamerweise waren die Spezialisten zu einem Hausbesuch zu bis zu dem Zeitpunkt bereit, bis deinen Namen fiel. Danach murmelten etwas davon, das ihnen ihr eigenes Selbst derzeit gefallen würde und sagten dankend ab."
Laiza seufzte und schüttelte den Kopf, wie um ihre Gedanken zu ordnen: "Aber ich grübelte und dann erinnerte ich mich an den kleinen Tempel, an dem du früher gewohnt hast. Und an seine Göttlichkeit hier. Er ist ein Experte in..."
Die Verbrecherin wartete wie auf Applaus: "Akupunktur!"
Zu ihrem Leidwesen kannte Tut den Begriff nicht mehr.
[4]Und mit diesem Wort legte seine Heiligkeit ein zusammengerolltes Tuch auf den Tisch. Mit eleganter Bewegung entfaltete er es und brachte Hunderte von kleinen Nadeln zum Vorschein.
Tut stutzte. So hatte er Laiza nicht eingeschätzt. Hatte sie damit sagen wollen, dass sie ihn nicht einfach nur zusammenschlagen ließ, sondern gleich mit Folter begann? Er wollte zwar eine Nadel in die Finger bekommen, aber
doch nicht so! Irgendwie musste Tut Laiza deutlich machen, dass er als Zeuge keine Gefahr für das Syndikat darstellte.
"Ich weiß doch von nichts." flehte er.
Die anwesenden Verbrecher schauten sich bestätigend an.
"Das", erwiderte seine Göttlichkeit und nahm ein Werkzeug zum Stricken in die Hand, "soll sich ja ändern."
Und damit kamen die Schmerzen...
[5]KAPITEL FÜNF: Bis das Salz kocht
Als Tut nach der Behandlung auf dem Labortisch abgesetzt wurde, war er am Ende seiner Kräfte. Lady Rattenklein war jedenfalls ziemlich erschrocken, als sie ihn bei ihrer Antwort sah. Und so richtig konnte Tut sich auch nicht an ihrem Anblick ergötzen, im Moment jedenfalls. Obwohl Laiza und ihre Folterknechte gegangen waren.
"Tut?" fragte sie ihn. "Was ist denn mit dir passiert?"
"Akupunktur nannten sie das." Die Gnumie deutete auf ihren zerstochenen Körper. "Immer fragte sie mich Dinge wie nach dem Erlkönigkolben oder der Petri-Heil-Scheibe. Und ich konnte doch nichts, gar nichts darüber sagen."
Die Laborantin (an diesen Fakt musste sich Tut immer wieder erinnern) sah jetzt noch entsetzter aus. Und etwas reumütig.
"Oh... Na gut. Dafür bin ich ja da."
Tut wich einen Schritt zurück und stolperte über die eigenen Beine.
"Was kommt jetzt? Zehenamputation?" die Gnumie war der Hysterie nahe.
Langsam kam die Lady näher. Neben Tut ging sie in die Hocke und hob vorsichtig ihren Arm, um die Gnumie zärtlich, ja liebevoll über den Kopf zu streicheln. Er kam ihr vor wie ein kleines ängstliches Tier.
Tut zuckte zusammen, ließ es aber geschehen. Irgendwie beruhigte es ihn sogar. Er konnte nur vertrauen, dass Sie keine
Verrenkungsmethode vorhatte. Er vermeinte sich plötzlich an Dinge mit dem Namen "Genickbrüche" erinnern zu können, aber dies fühlte sich anders an. Besser. Freundlicher.
"Oh, Rib." flüsterte sie leise, fast als ob sie ein Kind beruhigen wollte. "Was haben sie nur aus dir gemacht?"
Tut zuckte nur mit den Schultern: "Ich weiß es nicht. Ich will nur, dass es aufhört."
Das schien ein Stichwort zu sein. Ratti stand auf und klopfte sich die Beine gewohnheitsmäßig ab, Sie hatte sich immer noch nicht an die Rußlosigkeit des Labors gewöhnt. Sie hielt ihrem Kollegen die Hand hin.
"In Ordnung. Na, was ist?" fragte sie in gespielter Fröhlichkeit. "Wollen wir gleich anfangen und das ändern?"
Tut ergriff ihre Hand und wurde hochgezogen. Ganz nah standen sie beieinander, schweigend.
Nach etlichen Sekunden, der Gnumie kam es wie eine Ewigkeit vor, war es die Lady, die diesmal einen Schritt zurücktrat. Sie ging zu einem kleinen Regal und zog eine Kiste hervor, eine Art Seemanntruhe in Gnomengröße. "Mac'Laut" stand oben auf dem Deckel. Ein weiblicher Tritt an Seite öffnete den Deckel, Ratti holte ein paar kleine Lappen und eine für sie schon beachtlich große Flasche hervor.
"Hier." sagte sie. "Stopfmaterial und Gummimilch. Damit behandelst du so etwas meistens."
Sie reichte Lappen und Flasche herüber.
"Ich hoffe, du weißt noch wie das geht. Ich weiß es nämlich nicht." fügte sie hinzu.
Die Gnumie nickte, stellte aber die Flaschen zur Seite und baute sich vor einem Regal in der Nähe auf. Hunderte von Flaschen und anderen Glasbehältern, so erschien es ihm, türmen sich darin auf.
"Wofür ist das Ganze?" fragte er und bekam aus den Winkeln seiner Edelsteinaugen mit, dass die Gnomin sich doch Flaschen und Lumpen geschnappt hatte und sich jetzt links von ihm aufstellte.
"Das", erklärte sie lächelnd, "ist dein Reich. Tiegel und Töpfe und Kriminalfälle, die niemand übernehmen will. Siehst du das dahinten? Der riesige Topf? Wo Nummer eins darauf steht? Das ist dein Lieblingspulver gewesen."
"Warum?"
"Na, weil es knallt, wenn du es anzündest."
"Knallt?"
"Ja, du hattest einen Lieblingssatz dazu. Warte mal... Nein, fällt mir gerade nicht ein." Ratti lachte und warf den Kopf dabei nach hinten. Tuts Augen lagen fasziniert auf dem Kehlkopf, der beim Sprechen auf und abhüpfte. "Siehst du, du bist nicht der einzige, der manchmal Probleme mit dem Denken hat. Na, wollen wir anfangen?"
Tut nickte. Immer noch hatte er Angst, immer noch traute er dem Syndikat wenig. Aber er vertraute dieser Frau.
'Im Grunde", dachte er bei sich, 'waren es immer die Frauen gewesen, denen ich vertraut hatte. Männer mussten immer erst eine Art Rangfolge abstecken, versuchen zu beweisen, dass sie besser waren.'
Tut stockte und der Erinnerungsfaden riss ab. Aber immerhin, er war da gewesen, wie vorhin, als er, der ehemalige Laborant, das Blut 'seiner Göttlichkeit' untersuchen wollte. (Laiza hatte es als ein gutes Zeichen der Genesung angesehen, wie die Akupunkturstunde am Ende ausgegangen war.)
"Hmmm..." sagte er und versuchte eine Frage zu formulieren. "Laborieren wir auch..."
"'Untersuchen' nennen wir das."
"Gut, untersuchen wir auch Blut?"
Tut fühlte den Blick der Gnomin jetzt ernster auf sich ruhen. Jetzt war sie mehr Lehrerin als Freundin, das spürte er. Die Lady war jetzt mit den Löchern auf dem Rücken fertig und nahm sich eines an der Seite vor. Tut hob den Arm, damit sie besser herankam.
'Das ist zu früh. Ich will das nicht.' dachte er bei sich. 'Ich brauche jetzt eher einen Freund als eine Lehrerin.'
"Das hatten wir schon mal, oder?" fragte er deshalb.
"Dies Gespräch? Ja. Ich war auch damals deine Ausbilderin. Auch damals schon haben wir über Blutuntersuchungen geredet. Das ist eine unserer Hauptaufgaben weißt du, diese Art von Untersuchung. Im Sinne von: 'Findet heraus, wem das Blut gehört.'"
Tut wünschte sich, er würde sich erinnern. An so vieles. Und gleichzeitig konnte die Unwissenheit ein Segen sein, eine Art Neubeginn. Er wollte gar nicht wissen, warum ein Syndikat so etwas über Blut wissen wollte.
"Wie war ich damals?" fragte er, um vom Thema abzulenken.
"Laut. Wie dein früherer Nachname halt. Aber unsicher. Was dich irritierte war nur, das du mein Vorgesetzter warst. Also befehlen und gehorchen gleichzeitig musstest. So. Fertig. Du bist so gut wie neu, wenn die Milch trocken ist." Sie grinste. "Aber genug davon. Keine Ablenkung mehr. Ich hab' schon mitbekommen, was du tust. Möchtest du wissen, woran wir zuletzt gearbeitet haben?"
Die Gnumie nickte wieder. Im Moment wollte sie alles wissen, was nicht mit Blut oder Folter, besonders der eigenen, zu tun hatte.
Ratti ging auf einen riesigen, bestimmt einen Menschenspann hohen Kasten zu, auf dem eine metallene Schale stand.
"Wenn man Pulver Nummer eins, du erinnerst dich, dein Lieblingspulver, in Salzwasser badet und trocknen lässt, wird es stärker. Das hat dich damals interessiert, nein fasziniert. Es reicht nicht, einfach nur trockenes Salz zu nehmen und unter das Pulver zu mischen, um Nummer eins zu stärken. Nein, das Salz muss in Wasser aufgelöst werden und dann am Ende muss Nummer eins das Wasser wieder verlieren. Und dann, als du darüber nachdachtest, fiel dir auf, dass, wenn man Blut verbrennt, auch dann Salz überblieb. Zwar auch Kupfer und Eisen, aber vor allem Salz. Wofür das im Blut auch alles gut war, so deine Theorie, Salz machte es mächtiger. Als Drittes benanntest du gutes Essen in dieser Reihe. Salz gibt mächtigeren Geschmack. Durchdringender. Du wolltest wissen, ob das immer so ist, egal wo man Salz verwendet. Und wenn möglich, noch eine Stufe darüber hinaus gehen."
Rib schaute irritiert: "Darüber hinaus?"
"Ja. Du wolltest das Über-Salz für das Pulver erfinden. 'Gute Effekte schafft man nur, wenn man viel von dem Zeug nimmt. Egal was man untersucht.' Sagtest du immer. Aber säckeweise Salz in den zweiten Stock zu tragen, war dir zu umständlich. Also bauten wir den Apparat hier: Den Salzsieder."
"Sieder?"
Ratti nickte und trat einen Schritt zur Seite, damit Tut den Kasten als ganzes im Blick hatte: "Sieden ist das Laborantenwort für Kochen. Aber wenn wir Kochen sagen würden, dächte jeder: 'Das kann ich auch, wozu brauche ich da Laboranten.'"
[6]"Und warum koche ich Salz? Glaubte ich daran, das Kochen etwas besser macht?"
"Das etwas durch den Akt des Kochens besser würde? Frauen schon, deiner Meinung nach. Aber wir wollten nicht kochen, sondern, destillieren."
"Des..was?" Langsam bekam Tut Kopfschmerzen.
"Destillieren. Ich erklär' das später. So eine Art Kochen und Nebeleinfangen."
"Das können wir?"
"Ja. Und sollte uns das gelingen, machen wir dadurch das Salz besser. So eine Art: Wir werfen weg, was wir nicht brauchen und behalten dann das Wichtige am Salz."
"Das Über-Salz." staunte Tut. "Aber das hörte sich so an, als hätte es nicht geklappt."
Ratti zuckte mit den Schultern und klopfte an den Kasten. Eine kleine Tür, die den Gnomen bis an das Knie reichte, öffnete sich und ein noch kleineres Wesen mit Hörnern schaute heraus.
"Ja?" krächzte es. Dann erblickte es die Gnumie. "Oh, hallo Boss."
"Das ist Hrrfghe. Arbeitsdämon. Oben in dem Kasten ist ein Loch, Hrrfghe und seine Jungs schichten Brennholz unter diesem Loch auf. Kleine Streichhölzer, die schnell und heiß brennen. Und oben drüber..."
"Kocht dann das Salz." Die Gnumie klatschte in die Hände. So langsam bekamen sie beide den Bogen heraus.
"Fast." meinte die Laborantin bedauernd. "Leider schmolz immer das Metall. Auch Eisen verträgt nur eine bestimmte Hitze."
Tut fing an zu grübeln. Immer mehr Ideen strömten auf ihn ein: "Und wenn wir dem Metall das Salz hinzutun? Vielleicht macht es ja auch das Eisen stärker."
Ratti lachte wieder, diesmal glücklich: "Das hast du damals auch gesagt. Und daher die neue Schale. Gesalzenes Eisen. Wie wäre es, wenn wir..."
Plötzlich unterbrach ein Klopfen an der Labortür die freudige Erregung.
"OH NEIN!" fauchte Ratti. "ALLES, NUR NICHT JETZT!"
Es war Jack, der den Kopf zur Tür hineinsteckte. Er zwinkerte Tut so freundlich zu, dass dieser vergaß, sauer zu werden.
"Ras will euch sehen. Hat irgendwas mit seinem Büro zu tun."
"Oh..." meinte die Gnumie. "OH!"
Die Lady schaute ihn lange an. Und schüttelte den Kopf: "Es ist wohl besser, ich gehe erst mal allein, nicht wahr? Die Wogen glätten?"
Tut schluckte und nickte. Ratti beugte sich vor und küsste die kleine Mumie auf die Stirnbandage.
"Gut, dann lass ich dich mal kurz hier allein. Kommst du so lange klar?"
Die Gnumie lächelte zur Antwort.
Lady Rattenklein, wiederholte Ausbilderin von Feldwebel Tut'Wee sprang von Tisch herunter und verließ den Raum. Jack folgte ihr. Und Tut musste innerlich zugeben, das er nur einer von beiden wirklich hinterher sah.
Tut war verwirrt: Was auch immer dieses Syndikat war: Er hatte hier Freunde. Leute, die ihn mochten. Und dann gab es ja noch die Lady. Der Laborant stellte fest, er wollte gar nicht hier weg. Hier fühlte er sich zuhause. Aber das würde sich wahrscheinlich ändern, falls die Lady die Wogen nicht glätten konnte.
Es sei denn...
Die kleine Mumie grinste unverschämt. Es sei denn, sie würde etwas vollbringen, was sie vor dem Gedächnisschwund nicht geschafft hatte. Sie sah Hrrfsghe an und meinte fröhlich: "Schmeiß den Salzsieder an. Wir machen weiter."
Der winzige Dämon nickte und griff zur Peitsche, die neben der Tür hing, die er geräuschvoll hinter sich schloss. Leben kam in den Kasten.
'Hitze und Nebel einfangen. Was ich eigentlich wollte, war nicht besseres Salz, sondern besseres Pulver. Also, warum destillier ich nicht das einfach?"
Tut schleppte den Topf heran, den die Lady ihm gezeigt hatte.
"'Gute Effekte schafft man nur, wenn man viel von dem Zeug nimmt. Egal was man untersucht.'" wiederholte die Gnumie ihre eigenen Worte. "Ich kann mich zwar nicht daran erinnern, das gesagt zu haben, aber da muss ich dir wohl vertrauen, alter Laborant. Immerhin hast du die Ausbildung, nicht ich."
Tut kippte in die Schüssel.
"So, und jetzt mal ranklotzen!" kam die Stimme des kleinen Dämons aus dem
Salzsieder. "Ich will sehen, das das Ding da oben glüht."
Tut lächelte. Die Theorie war stimmig. Was sollte jetzt noch schief gehen?
EPILOG
Es war Abend. Jack fand Tut am Tresen des Eimers vor, oder besser gesagt, oben auf dem Tresen.
"Kann ich mich setzen?" fragte er.
Die Gnumie deutete auf den Stuhl. Jack setzte sich und musterte sie deutlich.
"Du bist wieder der Alte, oder?" fragte er.
Tut nickte und deutete dem Barmann, Jack auch ein Bier zu bringen.
"Ja." sagte der Exkobold. "Feldwebel Tut'Wee. Der Laborzerstörer. Aber ich muss zugeben, der Knall hat einiges wieder gerade gerückt."
"Und wie war es so?"
"Was?"
"Jemand anderes zu sein. Danke." Jack nickte dem Barkeeper kurz zu, als das Glas abgestellt wurde. "Nicht alles mit sich herumtragen zu müssen."
"Erschreckend. Nichts was einem Halt gibt. Wir sind was wir sind und wie wir uns verhalten... nichts anderes als die Reaktion auf das, wie die andern uns sehen wollen. Doch ohne Erinnerung, wie willst du wissen, was sie wirklich wollen?"
"Das klingt ziemlich düster."
"Was erwartest du? Seit vier Stunden bin ich wieder Witwer."
Jack antwortete nicht sofort, sondern nahm einen Schluck zu sich.
"Weißt du, nach der Explosion haben alle nach dir gesucht." erläuterte er. "Aber ich wusste, dass es dir gut ging und du wieder der Alte warst. Du hast nur Zeit zum Nachdenken gebraucht und wenn du damit fertig wärest, so war mir klar, würde ich dich hier finden. Die Andern kommen auch gleich um das zu feiern. Nur so, falls du fliehen willst."
Tut schüttelte den Kopf: "Irgendwann muss ich das hinter mich bringen. Woher wusstest du? Ich mein, als ich den Krach produzierte, war ich ja noch nicht klar im Kopf?"
"Wegen dem was du immer wieder zitierst: Dein Lieblingsspruch."
"'Tu mir den Gefallen, Verbrecher, und versuch zu fliehen'?"
"Nein, der andere!"
"'Polizeibrutalität. Kein Hobby, sondern eine Lebenseinstellung'?"
"Tut, ich mein' deinen Laborspruch."
Die Gnumie schüttelte mit dem Kopf: "Ich weiß nicht was du meinst. Gedächtnisschwund, erinnerst dich?"
Tut grinste.
Und Jack lächelte aufrichtig zurück: "Es gibt nur einen Spruch der passen könnte."
"Und welchen?"
"COGNITO ERGO BUMM!"
[1] Rib ist die Kurzform von "Ruhe im Boden"... ein Spottname, wie Rib nach Jahren reiflicher Überlegung herausgefunden hatte.
[7][2] Physik der Scheibenwelt: Je kleiner man ist, desto langsamer fällt man. Die intelligente Ameise von heute füllt im vorhinein einen Rentenansprüch aus, bevor sie vom Baum springt.
[3] Jacks personifizierter Begleiter sah deprimiert aus.
[4] Oder zu seinem, wie man's nimmt.
[5] Nur zur Beruhigung: Akupunktur ist keinesfalls schmerzhaft. Aber üblicherweise wehrt man sich ja auch nicht.
[6] Anerkannte Wissenschaftspraxis. Verhindert Teeren und Federn.
[7] Gut, manchmal war er nicht der Schnellste.
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