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Normalerweise werden auf Friedhöfen Leute begraben. Aber was ist, wenn offensichtlich das Gegenteil passiert?
Dafür vergebene Note: 11
Emil Kranik betrat den Friedhof der Geringen Götter. Er hatte eine angenehme Nacht tief in den Schatten verbracht, wozu hauptsächlich einige Pillen Lava[1] beigetragen hatten, deren Überreste er gerade hervorholte und begierig anstarrte. Da meinte er plötzlich ein Knurren einige Schritt abseits des Weges zu vernehmen. Angespannt und mit klopfendem Herzen blieb er stehen. Er spähte in die Dunkelheit, ohne etwas erkennen zu können und sein Körper begann zu zittern, was nicht ausschließlich auf die Kälte zurückzuführen war. Einen Moment später setzte er sich schulterzuckend wieder in Bewegung, als ein Rascheln an seine Ohren drang. Besorgt sah er sich um und beschleunigte seinen Gang.
Normalerweise nahm Emil den Weg über den Friedhof des Nachts gerne, weil von ihm eine so düstere Stimmung ausging, aber derzeit hätte er auch eine etwas weniger beklemmende Atmosphäre als überaus angenehm empfunden. Vielleicht lag es ja nur an den Pillen, die er mit einer Hand krampfhaft umklammert hielt, dass seine Nerven im Moment etwas gereizt waren und er bildete sich die Geräusche nur ein, aber vielleicht... Emil erstarrte und blieb in der Biegung des Weges stehen, während er entsetzt auf das vor ihm liegende Grab blickte.
Eine sinistre Kreatur mit einer Höhe von mehr als drei Fuß offenbarte sich seinen Augen. Die Kreatur verfügte über vier Tentakel, mit denen sie im Boden herum wühlte, dass die Erde nur so davon stob. Ihr Kopf schien aufs scheußlichste entstellt und auf ihrem Rücken erhoben sich abscheuliche Auswülste, die den Körper gespenstisch verzerrten.
Mit einem dumpfen Knurren wandte sich die Kreatur zu Emil um, der einen erstickten Schrei ausstieß und davon rannte.
"Meinst du wirklich, das ist der richtige Ort und die richtige Zeit, eine Pause zu machen?" fragte der Obergefreite Yogi Schulterbreit vorsichtig seinen Kollegen Damien G. Bleicht. Der Hauptgefreite hatte sich mitten in der Dreilampengasse zu Boden fallen lassen und lehnte sich nun mit dem Rücken gegen eine Hauswand.
"Aber sicher. Oder meinst du, wir sollten noch ein paar Straßen weiter gehen und der Trommel einen Besuch abstatten?", entgegnete Damien unschuldig und machte schon Anstalten wieder aufzustehen.
"Bist du verrückt? Entschuldige..." Yogi stockte kurz. "Wir sind immerhin im Dienst."
"Na, hör mal, wir sind immerhin schon ein paar Stunden durch die Stadt gelaufen, da wird eine kleine Verschnaufpause doch noch erlaubt sein." Damien legte den Kopf zurück, schloss die Augen und atmete tief durch.
Yogi schüttelte den Kopf. Er kannte Damien zwar schon einige Zeit, aber er war doch erstaunt über sein Verhalten, war er doch noch nie mit ihm auf Streife unterwegs gewesen. Es war nur eine Ausnahme, dass Damien mit Rea getauscht hatte - die stellvertretende Abteilungsleiterin hatte irgendwelche wichtigen Dinge zu erledigen, die auch nur der Abteilungsleitung passieren konnten.
Nach einer kurzen Zeit der Stille meldete sich Damien wieder zu Wort. "Hast du Lust auf eine Partie Leg-Herrn-Zwiebel-rein?", fragte er mit noch immer geschlossenen Augen.
Yogi blickte ihn entgeistert an. "Wir können doch jetzt nicht auch noch etwas spielen. Außerdem ist Kannich gar nicht da, wir können ihn gar nicht reinlegen, was sowieso fernab allen guten Geschmacks wäre. Auf was für Ideen du immer kommst..."
Ein leichtes Lächeln schlich sich auf Damiens Gesicht, das schlagartig wieder verschwand, als ein Rufen und das Stampfen schnell näher kommender Füße an seine Ohren drang.
"Hörst du das? Ich glaube, unsere Pause ist gleich wieder vorbei. Schade..."
Yogi war indes einige Schritte zur nächsten Straßenecke gegangen und sah nun einen Mann die Buchhalterstraße hinunter auf sich zueilen. Dieser kam erst zum Stehen, als er in Yogi hineinrannte.
"Ist es hinter mir her?", rief er atemlos. "Ist es... verfolgt es mich?"
Der Obergefreite war verwirrt. "Wovon sprichst du?"
"Wo ist es? Ist es hier?"
"Was? Nein, nein." Yogi sah sich etwas beunruhigt um. "Hier ist niemand außer uns."
Er sah den Mann aufmerksam an.
Sein halblanges braunes Haar stand wild zerzaust von seinem Kopf ab und sein Blick vermittelte eine gehetzte Unruhe. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn und sein Atem rasselte hektisch, nahezu panisch.
"Was ist denn geschehen?", erkundigte sich Yogi, aber der fremde Mann gab keine Antwort und murmelte nur einige unverständliche Wörter.
"Was ist denn mit dem Kerl?", brummte der hinzugetretene Damien.
"Ich weiß nicht." Der Vektor zuckte mit seinen breiten Schultern. "Es scheint, als ob ihn irgendjemand - irgendetwas, besser gesagt - verfolgt hätte. Er scheint ein wenig unter Schock zu stehen."
"Und was machen wir jetzt mit ihm?"
"Vielleicht sollten wir ihn zur Wache bringen, dort kann er die Nacht verbringen, bis es ihm besser geht und er uns sagen kann, was geschehen ist."
Damien nickte und sie machten sich auf den Weg.
Zusammen mit dem Gefreiten Kannichgut Zwiebel betrat Damien den Friedhof der Geringen Götter. Es war früher Nachmittag und die Sonne schickte von Zeit zu Zeit vereinzelte Strahlen durch die graue Wolkendecke.
"Hier will er irgendwo diese finstre Kreatur gesehen haben. An einer Wegbiegung... Wahrscheinlich meint er die da vorne." Als der Szenekenner sie erreicht hatte, blieb er einen Moment überrascht stehen. An Stelle einer ordentlich gepflegten Grabstätte war vor ihm nur aufgewühlter Boden zu sehen. Unmittelbar vor dem schräg nach vorn geneigten Grabstein erstreckte sich ein Loch von knapp zwei Fuß Tiefe, die daher stammende Erde lag wild verteilt daneben. Behutsam ging Damien einige Schritte näher heran, Kannichgut hielt sich dicht neben ihm.
"Was hat das Wesen in dem Grab gesucht?", fragte der Kommunikationsexperte schaudernd.
"Was findet man wohl normalerweise in einem Grab?", entgegnete Damien. "Auf jeden Fall war es kein kleines Wesen, sieh dir nur die Fußspuren dort vorne an."
Kannichgut tat es. Ein erneutes Schaudern durchfuhr ihn. "Schrecklich. So groß... was ist das?" Der Gefreite ging auf den Weg zurück und beugte sich zu Boden, während Damien sich dem Grabstein zuwandte und etwas Schmutz davon abwischte.
"Hast du eine Ahnung, was das hier ist?"
"Hmm?", entgegnete Damien.
"Das hier. Diese Pillen oder was das für ein Zeug ist."
Damien ging zu seinem Kollegen hinüber und besah sich die kleinen gelblich-weißen Kugeln in dessen Hand. Er zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung. Sehen nicht sonderlich spannend aus. Steck sie mal ein, wir können sie in der Wache untersuchen lassen. Vielleicht hat der Mann sie gestern hier verloren. Und dann komm mit, wir statten dem Totengräber einen Besuch ab. Ich möchte wissen, was es mit diesem Grab auf sich hat. Scheinbar wurde dort ein Herr Fred von Kleinkram begraben. Seltsamer Name..."
"Ein Grab? Verwüstet?", rief Erster Ehelicher, Totengräber des Friedhofs, zornig und machte Anstalten, an den beiden Wächtern vorbei nach draußen zu eilen. "Wer auch immer das war, es wird ihm leid tun."
"Das kann warten", sagte Damien ruhig. "Laut einer Zeugenaussage handelt es sich sowieso um eine wahnsinnig schreckliche Kreatur, gegen die du bestimmt nichts ausrichten kannst. Also beantworte erstmal unsere Fragen, dann kannst du immer noch tun, was dir Spaß macht."
Erster beruhigte sich etwas und nahm an einem kleinen wurmstichigen Tisch Platz. "Von Kleinkram sagtet ihr? Fred von Kleinkram?" Er zog die Stirn kraus und überlegte einen Moment. "Irgendetwas war mit dem Kerl. Was Besonderes. Wisst ihr es noch?" Er wandte sich um zu einem Regal, aus dem ihn eine Menge ordentlich nebeneinander aufgereihter Schädel beharrlich anschwiegen. Der Totengräber stand auf und schlurfte zu einem anderen Regal hinüber, aus dem er eine zerfledderte Mappe herauszog.
"Mal sehen... von Kleinkram. Unter K wie Kieferknochen... Da ist er. Kleinkram Komma Fred von. Begraben im Jahr der Gebeutelten Ratte. Oh, was steht hier? Wichtiger Hinweis: Darf niemals in Gruft verlagert werden. Genau, das war's. Hab mich immer schon gefragt, wieso."
"Müsstest du das denn nicht wissen? Ich meine, du bist doch hier irgendwie... zuständig." Kannichgut, der sich bisher skeptisch in der nur schwach erhellten Gruft umgesehen hatte, blickte nun Erster fragend an.
"Weißt du, wann das Jahr der Gebeutelten Ratte war? Siehst du, ich auch nicht. Das ist schon ewig her, da war ich weder hier noch sonst irgendwo. Ich hab nur eine schriftliche Information von meinem Vorgänger erhalten und der hat sie wahrscheinlich auch von seinem Vorgänger." Erster schüttelte den Kopf. "Ich habe keine Ahnung, was es damit auf sich hat."
"Damit sei es besiegelt", sagte Walther Apien, Totengräber des Friedhofs der Geringen Götter, und setzte einen aus einer Kartoffel gefertigten Stempel neben seine Unterschrift. Er schob das Dokument dem vor ihm sitzenden Mann hinüber. "Niemand wird befugt sein, Eure Gebeine jemals an einen anderen Ort zu schaffen, wenn Ihr einmal aus dem Leben geschieden seid, Herr von Kleinkram. Und wenn Ihr noch eine Kleinigkeit erledigt, könnt Ihr gewiss sein, dass Ihr weder durch neugierige Fragerei meinerseits belästigt werdet, noch dass sonst jemand von diesem Abkommen überhaupt erfährt."
Fred von Kleinkram nickte und holte mit seiner bandagierten Hand einen kleinen Samtbeutel hervor, in dem es sanft klirrte, als er ihn auf den Tisch legte. Walther Apien steckte ihn mit glänzenden Augen rasch ein und erhob sich.
"Ich wünsche noch einen guten Tag und möget Ihr in Frieden ruhen, wenn es an der Zeit ist."
Damien und Kannichgut waren zurück im Wachhaus und saßen nun ihrer Abteilungsleiterin Rogi Feinstich an deren Schreibtisch gegenüber.
"Und dann haben wir auch noch diese Dinger hier gefunden", schloss Kannichgut den Bericht ab, holte die Pillen hervor und legte sie auf den Tisch. "Wir wissen nicht, was es ist, Ma'am, aber möglicherweise hat es der Herr... Wieauchimmer verloren. Den Yogi und Damien hergebracht haben."
Rogi nickte.
"Ich werde fie FUFI fur Unterfuchung inf Labor bringen laffen. Ihr befafft weitere Informationen über diefen Kleinkram. Ich will wiffen, wer er war und warum ihm diefe Fonderbehandlung auf dem Friedhof fuftand. Faut euch in der Bibliothek der Univerfität um, ich schicke[2] noch..." Die Igorina warf einen Blick auf den Schichtplan. "... Rea und Oldaf fum Palaftarchiv. Und vielleicht follte fich jemand bei dem Teil der Bevölkerung umhören, der damalf fon hier war..."
Scoglio mochte das Wetter. Es war kühl und seichter Regen wirbelte sanft um ihn herum. Dabei ließ es sich einfach viel klarer denken, als bei dieser trägen Hitze, von der die Stadt sonst ganz gerne mal heimgesucht wurde.
Der Troll stapfte durch einige enge Gassen und blieb schließlich vor einem bestimmten Haus stehen, das sich unscheinbar zwischen zwei andere Artgenossen zwängte. Er öffnete die Tür und trat gebückt ein.
Ein langer, dunkler Raum erstreckte sich vor ihm und die Blicke der einzeln an den Tischen Sitzenden richteten sich kurz auf den Neuankömmling, aber niemand zeigte großes Interesse an ihm.
Die Bahre war kein Ort, an dem ein etwas außergewöhnliches Erscheinungsbild einer Person großes Aufsehen erregte. Zwar waren Trolle keine häufigen Gäste in der Bahre, aber die dortigen Werwölfe, Vampire, Zombies, Schwarze Männer und sonstigen Wesenheiten schienen sich an ihnen auch nicht groß zu stören.
Scoglio ging zur Theke hinüber. Er holte etwas aus seiner Hosentasche hervor und zeigte es dem Wirt Igor, der bei genauerem Hinsehen eine Dienstmarke der Stadtwache erkannte.
"Ich jemanden suche, der im Jahr der Gebeutelten Ratte schon hier gelebt hat. Oder sich zumindest hat aufgehalten", sagte der Szenekenner mit einem Seitenblick auf einen in der Nähe sitzenden Zombie und steckte die Marke wieder ein.
"Wann war denn das Jahr?", fragte Igor.
Scoglio zuckte mit knirschenden Schultern. "Vor über 100 Jahren, mir gesagt wurde. Genauer ich es auch nicht weiß."
"Versuch es bei Herrn Gerber dort drüben. Ich weiß, dass er schon ewig hier in der Stadt ist."
"Wieso müssen die denn unbedingt mitkommen?", murmelte Oldas mürrisch unter seinem langen Bart.
Rea zuckte nur mit den Schultern und blickte die beiden Palastwachen an, die sie zum Archiv geleiteten. Wahrscheinlich konnten sie sich noch glücklich schätzen, dass sie an zwei so reizende Vertreter der Palastwache geraten waren und überhaupt das Archiv aufsuchen konnten, dachte Rea und ein verbitterter Ausdruck stahl sich auf ihr Gesicht.
"Viel Vergnügen. Aber beeilt euch ein wenig, wir werden so lange hier bleiben und aufpassen, dass ihr keinen Mist macht", sagte eine der Wachen und schloss die massive Eisentür zum Archiv auf.
"Ich kann nicht davon ausgehen, dass ihr uns etwas zur Hand geht, was?", fragte Rea in bissigem Tonfall. "Ich meine, ihr seid ja irgendwie auch Wächter und dann könnt ihr schneller wieder weg."
Die Palastwachen lachten auf, aber es klang nicht besonders freundlich.
"Nein nein, zusehen reicht völlig", sagte einer von ihnen und grinste Rea blödsinnig an. Der Chief-Korporal wandte sich ab und begann seufzend mit der Arbeit.
Auf dem Hier-Gibt's-Alles-Platz vor der Unsichtbaren Universität blieb Kannichgut plötzlich stehen.
"Warte kurz hier", sagte er zu Damien und verschwand in der Menge. Einige Zeit später kam er mit einem Korb voller Bananen zurück. "Die werden wir sicher noch brauchen."
Damien nickte und zusammen suchten sie die Bibliothek auf.
Zögernd traten sie die ersten Schritte in den Raum hinein. Sie sahen sich suchend um und Kannichgut hielt den Bananenkorb beinahe schützend vor sich. Schließlich zuckte Damien mit den Schultern.
"Warum stellen wir uns überhaupt so an? Nur weil man... Dinge über ihn gehört hat? Das ist doch lachhaft." Der Hauptgefreite ließ ein verächtliches Schnauben hören und sein Blick streifte durch Zufall ein Regal, auf dem der Bibliothekar hockte und auf sie hinunter grinste. Zumindest hoffte Damien, dass es ein Grinsen war, während er erstarrte.
Es herrschte ein Moment der Stille, während sich der Orang-Utan und die beiden Wächter gegenseitig beobachteten. Dann hob Kannichgut langsam den Korb empor.
Der Bibliothekar schnüffelte kurz und schwang sich dann mit einer Behändigkeit - die man jemandem, der verblüffende Ähnlichkeit mit einem Kartoffelsack hatte, gar nicht zutraute - vom Regal herunter. Er landete direkt vor Kannichgut und nahm dem verdutzten Wächter den Korb aus den Händen.
"Ähm..." Damien räusperte sich. "Wir suchen Informationen über Herrn Fred von Kleinkram, gestorben im Jahr der Gebeutelten Ratte. Wir sind von der Stadtwache", fügte er hinzu. Er zeigte seine Dienstmarke und versuchte, nicht darüber nachzudenken, ob er sich gerade unglaublich blöd vorkam.
"Ugh", sagte der Bibliothekar und legte den Kopf schief.
Damien warf einen mit Zweifel gefüllten Blick zu Kannichgut hinüber. "Ich weiß nicht wirklich, ob wir hier weiterkommen."
"Ugh", kommentierte der Bibliothekar und verschlang zufrieden eine Banane. Dann griff er mit einer ledrigen Hand nach Damiens Arm und zog ihn mit sich. Kannichgut folgte den beiden, bis sie nach einem Weg von ein paar Minuten vor einem schlichten Regal stehen blieben. Der Bibliothekar ließ Damien los und nahm eine neue Banane aus dem Korb, den er sich unter den Arm geklemmt hatte. Kauend suchte er das Regal ab und zog schließlich ein dickes in Leder gebundenes Buch heraus, das er Damien in die Hand drückte.
"Die Enzyklopädie der Vielen Dinge", las Damien den Titel des Buches. "Ber - Bru. Sieht so aus, als bestünde die Enzyklopädie aus einigen Bänden." Er blickte auf und blinzelte. "Sieht so aus, als bestünde das ganze Regal nur aus dieser Enzyklopädie."
Kannichgut nahm seinem Kollegen das Buch aus der Hand und schlug es auf.
"Wie sollen wir denn hier drin etwas finden?", fragte der Kommunikationsexperte und blätterte lustlos in dem Buch herum.
"Gibt es denn nicht ein Inhaltsverzeichnis oder so etwas?"
"Sieht nicht so aus. Nur ganz viele nette Zeichnungen." Kannichgut blickte auf. "Hee, Bibliothekar. Weißt du nicht..." Verwirrt brach der Gefreite ab. Der Orang-Utan war nirgends zu sehen.
"Na, großartig", brummte Damien mürrisch.
Kannichgut blätterte ein paar Seiten weiter.
"Das sieht mal interessant aus", sagte er plötzlich und zeigte auf eine Zeichnung.
Damien sah sie sich an.
Eine große Kugel, an einer Achse in einem Ring hängend. Ein Blitz zuckt von oben herab auf die Kugel hernieder und leichtes Flammenspiel umgibt das Gebilde.
Der Szenekenner warf einen Blick auf den dazugehörigen Text, aber bevor er ihn genauer lesen konnte, blätterte Kannichgut langsam weiter um.
"Warte kurz!" Damien klang aufgeregt. "Mir war, als..."
Sein Kollege schlug die vorherige Seite wieder auf und Damien suchte den Text nach etwas ab, das ihm ins Auge gesprungen war.
"Ha! Hier ist es", rief er nach kurzer Zeit triumphierend aus. "Fred von Kleinkram. Hier steht sein Name."
Blitzdings, das (latat. Res Fulgurita): Erbaut von dem früheren Seefahrer Fred von Kleinkram im Jahr des Lustigen Molches. Das Blitzdings (siehe Abbildung rechts) zieht Blitze an und speichert sie in sich. Wer es dann mit seinen beiden Händen berührt, dem widerfahren ungeahnte Kräfte, die seinem Erbauer den Verlust des linken Daumens erbracht haben. Der derzeitige Standort des Blitzdings ist unbekannt, ebenso der eigentliche Sinn des Geräts.
Stille war es in dem Haus am Ankh. Fred von Kleinkram stand vor seinem Blitzdings und sah ehrfurchtsvoll auf die von einer leicht schimmernden Aura umgebene Kugel hinab. Er atmete mehrere Male tief durch und blickte ernst zu seinem jungen Diener Ben Nohaus. Dann presste er krampfartig seine Hände an die Kugel. Einen Moment geschah nichts, doch dann sah Ben seinen Meister von einem blauen Glühen umgeben und Funken knisterten in von Kleinkrams Haaren. Seine Augen begannen von innen heraus zu leuchten und die Hände wurden von der Kugel bis auf die Knochen von Licht durchströmt. Plötzlich brach ein furchtbarer Schrei aus Fred von Kleinkram heraus und er mühte sich mit aller Kraft, die Hände von dem Blitzdings zu lösen, die daran festzukleben schienen. Das Schreien wurde lauter und Ben sah vor Schreck erstarrt zu, wie seinem Meister der Daumen der linken Hand abgerissen wurde, als es ihm endlich gelang, die Hände von der Kugel zu lösen.
Wimmernd fiel von Kleinkram rückwärts zu Boden und sein Diener stürzte mit leichenblassem Gesicht auf ihn zu. Als der Junge die klaffende Wunde an seines Meisters Hand sah, wendete er sich voll Grauen ab. Dabei sah er, dass der abgerissene Daumen zu Boden gefallen war und er eilte zu ihm hin.
"Sieh, Meister, vielleicht können wir ihn wieder irgendwie... befestigen? Es rückgängig machen?" Von Kleinkrams Proteste waren zu schwach, als dass Ben sie in seiner Verzweiflung gehört hätte.
Mit vor Ekel verzerrtem Gesicht bückte sich der junge Diener nach dem einzelnen Finger. Ihm blieb keine Zeit mehr, einen Schrei auszustoßen, als er nach vorne kippte und regungslos liegen blieb.
Als Fred von Kleinkram das sah, fing er bitterlich an zu weinen, seinen körperlichen Schmerz einen Augenblick lang verdrängend.
"Oh weh, sein junger Eifer hat ihn dahingerafft", rief er aus, "und es ist meine Schuld. Ich hätte diese Gefahr nicht eingehen dürfen, nicht in seiner Gegenwart. Ich wusste doch nicht, was geschehen würde."
Der Meister kroch zu seinem toten Diener herüber. Aus der Faust des Jungen blickte sein eigener Daumen hervor, der von innen, vom Knochen heraus glühte. Er sah an sich herab - sein ganzer Körper leuchtete von innen heraus.
Fred von Kleinkram fasste einen Entschluss.
Feldwebel Rogi Feinstich stapfte die Stufen zum Keller hinunter. Lava-Pillen waren es also. Die Leute im SUSI-Labor hatten nicht lange gebraucht, um das herauszufinden.
Vor einer Zelle blieb Rogi stehen. Sie verzichtete darauf, sie zu öffnen.
"Kennft du die hier?", fragte sie mit erhobener Stimme.
Emil Kranik schlurfte ans Zellengitter. Dann erkannte er endlich, was Rogi in ihrer Hand hielt. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen und er ballte seine Hände zu Fäusten. Schweiß trat auf seine Stirn.
"Gib sie mir!", rief er, sprang an das Gitter und versuchte, nach den Pillen zu greifen.
Rogi war schneller und schüttelte verständnislos den Kopf. Dann ging sie, ohne ein weiteres Wort zu sagen, wieder in ihr Büro.
Herr Gerber war ein Zombie, wie Scoglio feststellte, als er sich zu ihm setzte.
"Stadtwache, ich einige Fragen an Euch habe. Keine Sorge, nichts passiert ist", kam der Troll ohne Umschweife zur Sache. "Ich bloß wissen möchte, ob Euch der Name Fred von Kleinkram etwas sagt."
Der Zombie starrte ihn durchdringend an, was an Scoglio abprallte, als wäre er aus Stein. Geduldig wartete der Szenekenner, bis sein Gegenüber zu sprechen anfing.
"Jaaa... der gute alte Fred 'Silberzunge' von Kleinkram. An ihn erinnere ich mich noch. Verrückter Kerl." Herr Gerber nahm einen Schluck aus seinem Becher. "Hat lange auf 'nem Handelsschiff gelebt, aber irgendwann hat er sich hier in Ankh-Morpork zur Ruhe gesetzt. Meine Güte, damals war die Stadt ja noch so anders. Er hat sich hier zur Ruhe gesetzt und das Leben genossen. Hat immer an irgendwelchen Sachen rumgebastelt. Faszinierende Dinge, aber niemand hat's verstanden."
"Warum man ihn Silberzunge nannte?", warf Scoglio ein.
"Oh, das. Er hatte eine Entzündung. Sehr seltsam. Eine ganz schlimme Entzündung, durch die seine Zunge silber angelaufen ist. Keine Ahnung, wie er daran gekommen ist. Bestimmt durch seine ganzen Basteleien."
Fred von Kleinkram saß erwartungsvoll an seinem Schreibtisch. Vor ihm stand ein Krug, in den ein Schlauch hineinführte. Das andere Ende des Schlauches war an einer Apparatur befestigt, die aus einem kleinen Fass bestand, das in einem Gestell über einer Kerzenflamme hing.
Von Kleinkram nahm den Deckel vom Fass und legte ihn neben sich auf den Tisch.
"Ben, reich mir die Sachen dort auf dem Tisch an. Wenn ich sie hineingegeben habe, rühre vorsichtig um. Es soll nichts verloren gehen."
Sein Diener Ben tat, wie ihm geheißen. Von Kleinkram gab die Zutaten eine nach der anderen in das Fass und als er fertig war, rührte Ben um. Nach kurzer Zeit öffnete Von Kleinkram einen Hahn am unteren Ende des Fasses und eine Flüssigkeit ergoss sich durch den Schlauch in den Krug, den er bis zum Rand befüllte. Die Flüssigkeit dampfte verheißungsvoll.
"Dann werde ich es nun versuchen. Nach meinen Berechnungen müsste es hervorragend schmecken." Von Kleinkram nahm den Krug und trank einen Schluck. Seine Gesichtszüge entspannten sich und er seufzte. "Einfach himmlisch!" Er nahm einen weiteren Schluck und stellte den Krug wieder zurück. "Da ist mir ein wahres Meisterwerk gelungen."
"Oh, Meister, was ist das?" Ben starrte seinen Herrn verschreckt an. "Eure Zunge..."
Von Kleinkram erschrak und streckte seine Zunge heraus, dass er sie sich ansehen konnte.
Sie hatte eine silberne Farbe angenommen.
"Wir haben jetzt bestimmt schon zwei Stunden gesucht", klagte Oldas. "Und das ohne zu wissen, wo genau wir überhaupt suchen sollen."
Rea schloss ein Buch und legte es zu dem Stapel von den vielen Büchern, die über die Zeit vor dem Jahr der Gebeutelten Ratte berichteten. All diese hatten sie schon durchgesehen, ohne einen Vermerk über Fred von Kleinkram gefunden zu haben.
"Wie ist es denn hier mit? Da haben wir noch gar nicht reingesehen", sagte sie und nahm ein Buch zur Hand mit dem Titel 'Anklagen und Verurteilungen unter Lord Iieeh - Teil 2'.
"Aber war der Kleinkram denn ein Verbrecher?", fragte Oldas zweifelnd.
"Wer weiß? Außerdem haben wir bisher auch nicht viel mehr gemacht, außer Bücher durchgeforstet, in denen er nicht drin stand." Rea sah sich um. "Irgendwo muss auch noch Teil 1 liegen, den kannst du dir vornehmen."
Oldas grummelte und griff sich das Buch, das er bisher als Stuhlkissen benutzt hatte.
Es dauerte noch einige Zeit, bis Rea ein kleiner Aufschrei entfuhr.
"Hier ist er tatsächlich. Fred von Kleinkram, angeklagt wegen Ankhpiraterie im Jahr des Gemeinen Kartoffelkäfers. Aufgrund mangelnder Beweise nicht verurteilt." Rea überflog ein paar Zeilen. "Es scheint, als wäre unser netter Herr auf einem Handelsschiff gewesen und ein paar seiner Leute hätten ihn der Piraterie bezichtigt. Ihm wurde aber nichts bewiesen. Interessant, aber mehr steht hier auch nicht."
"Das kannst du doch nicht machen", jammerte Chris Anteme. "Dass du mein Schiff mitten auf dem Ankh plünderst, dagegen kann ich ja schlecht was sagen. Aber du kannst mich doch nicht in diesem verdammt unbequemen Sarg mitten im Runden Meer aussetzen."
"Oh doch, das kann ich." Fred von Kleinkram überreichte ihm diabolisch lächelnd zwei Holzscheite. "Du wirst sehen, Sargrudern macht richtig Spaß. Und wenn dir die Lust vergehen sollte, legst du dich einfach zur Ruhe, da drin bist du gut aufgehoben."
Die Mannschaft lachte boshaft und ließ den Sarg mit seinem Passagier langsam zu Wasser.
"Gute Reise und viel Vergnügen!", rief von Kleinkram ihm hinterher. "Und jetzt wieder Kurs Richtung Ankh, dort warten einige Schiffe auf mich."
Der Kapitän dachte voll Freude an den großen Fluss, der ihm wesentlich besser als das offene Meer gefiel. Hier musste er nur hinsegeln, um sich unwillkommener Gäste zu entledigen. Auf dem Ankh dagegen konnte er seine... Geschäfte mit anderen Schiffen führen. Außerdem bot das zäh fließende Wasser des Ankhs beste Voraussetzungen dafür, ohne Probleme gegen den Strom zu segeln, wenn man denn von so einem überhaupt sprechen konnte. Also konnte er überall hingelangen.
Rogi hatte die zurückgekehrten SEALS-Wächter in ihr Büro rufen lassen und bat sie nun nacheinander um einen Bericht.
"Fred von Kleinkram", begann Damien, "war scheinbar ein großer Erfinder. Zumindest ein Erfinder, von Größe kann man wohl nicht sprechen, wenn niemand weiß, wozu seine Erfindung gut ist. Auf jeden Fall hat er etwas gebaut, was große Kräfte frei setzen kann. Hat ihn einen Finger gekostet."
Scoglio rumpelte, was einem Räuspern gleich kam. "Er früher mal zur See gefahren ist, bevor er gekommen nach Ankh-Morpork. Irgendwie er eine Entzündung an der Zunge bekommen hat, die dadurch Silber ist angelaufen. Nichts wirklich wichtiges also."
"Er wurde einmal wegen Piraterie angeklagt", erzählte Rea. "Aber es mangelte an Beweisen und er wurde nicht verurteilt."
"Um es zusammenzufassen, wir haben also herausgefunden, dass Kleinkram kein besonderer Mann war? Ein wenig seltsam zwar, aber niemand, wegen dem es sich eigentlich nachzuforschen gelohnt hat?" Damien blickte in die Runde.
"Aber was war das für eine Kreatur, die in dem Grab herumgewühlt hat?", fragte Kannichgut.
"Ich hatte noch Michael Machwaf beauftragt, herauffufinden, ob fonft jemandem folch ein Wefen aufgefallen ift. Aber er kam ohne weitere Informationen furück." Rogi machte eine kurze Pause. "Aber möglicherweife habe ich da eine Löfung. Die Pillen, die ihr gefunden habt, Kannich, find Lava-Pillen. Eine mächtige Droge alfo. Fie kann mitunter Wahnvorftellungen auflöfen."
"Du meinst, es war bloß eine Drogenfantasie?", warf Oldas ein. "Deswegen haben wir stundenlang in diesem Archiv gehockt?"
"Ef ift zumindeft eine Möglichkeit", sagte Rogi schulterzuckend.
In den Katakomben unter der Stadt Ankh-Morpork saß ein... Etwas, dessen Gesichtszüge durchaus menschlich waren, das aber sonst entfernte Ähnlichkeit mit einem Hund hatte, auch wenn der ganze Körper schrecklich entstellt war. In seinen klauenartigen Händen hielt das Wesen ein Buch mit der Aufschrift 'Das Leben nach dem Tod - und wie man es erreicht'. Es schlug das Buch auf der ersten Seite auf und blickte eine Zeit lang auf die dort geschriebene Notiz.
Für meinen getreuen Diener Ben Nohaus, dass er seine Aufgabe erfülle.
Fred von Kleinkram
Die Kreatur schloss das Buch und legte es zur Seite. Sie drehte sich um und ließ ihren Blick über eine große bronzene Kugel zu einigen fein säuberlich aufgeschichteten Knochen schweifen. Das Wesen stieß mehrere Laute aus, die der menschlichen Sprache nicht unähnlich war. Es war ein Wort, dass es immer wiederholte.
"Meister."
[1] Eine mächtige aus Krull stammende Droge - Archiv
[2] Rogi wusste genau, bei welchen Worten sie das Lispeln lieber unterließ.
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