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Es gibt Dinge auf der Scheibe, welche märchenhaft und schier unglaublich auf uns wirken. Aber gibt es das Wort unglaublich auf der Scheibe überhaupt?
Dafür vergebene Note: 13
Der Schmied vom Ankh
Anmerkung des Autors:
Dies ist keine sehr lustige oder fröhliche Geschichte. Ich möchte Euch auch vorher darauf aufmerksam machen, dass einige Stellen möglicherweise als grausam oder makaber empfunden werden könnten.
Meiner Meinung nach wäre es nicht verkehrt, diese Geschichte an einem trüben und grauen Samstagabend zu lesen. Ich persönlich empfehle dazu einen heißen Tee und ein paar Kerzen. Macht es Euch gemütlich und lasst die Geschichte auf Euch wirken.
Ich schaue aus dem Fenster meines Büros auf die graue Stadt, die sich mit ihren Gassen und Häusern vor mir ausbreitet. Langsam und unaufhaltsam fallen die dicken Schneeflocken sanft darnieder. Sie fallen überall, und kein Fleck dieser Stadt bleibt von ihnen unberührt. Kein Dach, kein Platz und kein Straßenpflaster, das nicht bald vom Schnee bedeckt sein wird. Ich erwarte nicht, dass dieser Schnee lange halten wird. Bisher war er in der Stadt nie länger als ein paar Stunden liegen geblieben. Es ist fast so, als dulde die Stadt die weiße und schöne Pracht nicht und wehre sich erfolgreich dagegen, dass dieser versucht, ihr wahres und dreckiges Antlitz zu kaschieren. Dabei ist es doch eigentlich nicht die Stadt, sondern ihre Bewohner, die immer wieder dafür sorgen, dass besonders die böse und negative Seite dieses Ortes zum Vorschein treten.
Trotzdem glaube ich nicht, dass diese Stadt ein böses oder kriminelles Naturell besitzt. Wahrscheinlich fördert die große Ansammlung von den Bewohnern und die Armut der unteren Schichten jenes unmoralische Verhalten.
Ich frage mich ob es in jeder anderen Stadt auch so ist wie hier. Ob es woanders ebenso trist und düster ist wie hier oder ob es nur der Februar in Ankh-Morpork ist, der meine Stimmung dermaßen beeinflusst. Aber diese Frage kann ich mir sofort beantworten. Natürlich war es mehr als nur die übliche trübe Stimmung des Winters. Ein Frösteln lief mir über den Rücken, wenn ich aus meinen Fenster heraus auf die Straße mit all den Menschen und anderen Spezies sah, die über das Pflaster der Springstraße liefen. Jetzt wünsche ich mir, ich hätte von alle dem, was ich die letzten Tage an jenem merkwürdigen Ort erlebt hatte, nie etwas bemerkt oder gesehen. Ich wünsche mich in die Zeit meiner Ausbildung zurück, als ich noch mit einem unerschütterlichen Glauben an die Ehrlichkeit und die Gerechtigkeit gesegnet war. Als ich von den Grausamkeiten und der Machtlosigkeit noch nichts ahnte, die sich mir aber in jener Nacht an jenem Ort offenbarten. Es ist absurd und bizarr, aber ich habe es erlebt, gesehen und daran teilgenommen.
Ich schaue hinaus über die Dächer dieser furchtbaren Stadt. Die Schneeflocken fallen immer noch. Dicke, weiße und reine Schneeflocken fallen auf diese dunkle und besudelte Stadt.
Damals als ich noch als junge Zwergin in Überwald lebte erzählte mir meine Mutter oft Geschichten und Sagen. Eine davon handelte von Schneeflocken. Es hieß, dass jede Schneeflocke die Seele eines unserer verstorbenen Brüder und Schwestern enthält, die versuchen zu uns auf die Erde zurückzukehren. Damals war ich naiv und hatte mir nicht vorstellen können, dass es so viele tote Zwerge geben könnte.
Wie ich hinaus schaue, frage ich mich, welche Schneeflocke wohl meine eigene Seele in sich trägt.
Die Stille kehrte zurück an diesen merkwürdigen Ort. Langsam fielen die Schneeflocken und schmolzen alsbald wieder auf dem Pflaster, wenige Sekunden nachdem sie dieses berührt hatten. Ein kaltes und tristes Bild der Traurigkeit und des Grauens hatte sich von diesem Ort mitten in den Gewimmel und Gewirr der Gassen und Straßen Ankh-Morporks tief in mir eingeprägt. Unentschlossen stand ich an die Holzwand eines Schuppens gelehnt und rang mit mir selbst. Ich spürte plötzlich eine Angst, wie ich sie nie zuvor gespürt hatte. Die Furcht hatte sich während der letzten Stunde tief in mir eingenistet. Ich konnte mir nicht erklären, warum und weshalb ich dieses Gefühl empfand. Vielleicht war es gerade diese merkwürdige Stille, die diese kleine Gasse zu beherrschen schien, die mich so sehr beunruhigte. Ich stand seit mehreren Stunden zwischen allerlei Gerätschaften, Kisten und Kübeln, die in einem alten morschen Holzverschlag abgestellt waren. Es roch nach altem morschen Holz und dem Unrat und Müll der Straße.
Ich hatte mich mit Einbruch der Dunkelheit hier eingeschlichen und beobachtete seitdem die kleine Gasse. Und vielleicht stammte daher mein flaues Gefühl im Magen. Denn aus irgendeinem unbestimmten Grund hatte ich nicht das Gefühl hier jemanden zu beobachten, sondern vielmehr das Gefühl selbst das Objekt der Blicke hinter den dunklen Gardinen und Fenstern zu sein. Fröstelnd zog ich mich weiter hinter die löchrige Holzwand zurück. Wie schon ein zweimal heute Abend glitten meine Hände erneut in eine meiner Gürteltaschen und umschlossen den kalten metallischen Gegenstand. Ich zog ihn hervor, schraubte den kleinen silbrig glänzenden Verschluss ab und nahm einen tiefen Schluck der klaren braunen Flüssigkeit, die sich darin befand. Sie war ein so genanntes Geschenk von Breguyar gewesen. Jenes merkwürdig verschlossenen Kerls, der unsere Abteilung seit einem halben Jahr anführte. Ich traute ihm nicht. Kerle wie dieser stahlen und mordeten kleine Kinder. Er schien geradezu ein Inbegriff des Finsteren und Verachtenswerten zu sein. Gerade als wäre er einem meiner Hefte entstiegen, die ich früher so gerne gelesen hatte.
"Nimm das Leben nicht so ernst, Kleinaxt" waren seine Worte gewesen. Ich kann mich an den genauen Zusammenhang nur noch grob erinnern. Er öffnete eine der Schubladen seines großen Schreibtisches und zog eben jenes kleine metallische Objekt hervor, in welchem sich diese starke alkoholische Flüssigkeit befand. "Hier, Kleinaxt. Sieh es als Anerkennung!" Schwungvoll ließ er die kleine Flasche über die Oberfläche des Tisches in meine Richtung rutschen, so dass ich sie mit einer Hand lässig auffangen konnte, bevor sie über die Tischkante gerutscht wäre.
Und nun stand ich hier und labte mich an jenem Getränk, was ich vor Wochen noch verachtet und gemieden hatte, wie der Teufel das Weihwasser. An Bier war ja nichts auszusetzen, aber dieses Zeug hier machte selbst den kräftigsten Zwergen weiche Knie. Aber der Umstand, dass ich anfing während der Dienstzeit und während einer Ermittlung mich an Alkohol zu stärken, störte mich im Augenblick eher wenig.
Mein Blick wanderte zum wiederholten Mal am heutigen Abend über das alte matschige Pflaster. Der Dreck und der Schlamm der Jahre hatten sich zu einer Masse vereinigt, die genau wie überall in dieser Stadt, auch hier das ursprüngliche Pflaster der Gasse fast vollkommen bedeckte. Nur hier und da sah man die kleinen Steine in ihrem typischen Muster hervorschauen wie kleine Inseln im Meer des Drecks und des halb zähen Schlamms.
Und wieder bemerkte ich diese Stille um mich herum. Diese widernatürliche Abwesenheit von Geräuschen, die einem zuerst gar nicht auffiel, aber dann wenn man ihrer gewahr wurde, einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Die einzigen Geräusche die gedämpft und wie aus weiter Ferne in mein dunkles Versteck vordrangen, kamen von jenseits der Gasse aus den anderen Straßen, Märkten und Plätzen der Stadt, die auch zu später Stunde noch lebhaft gefüllt waren. Aber diese Geräusche erschienen mir hier an diesem merkwürdigen Ort inmitten des Trubels und des Treiben der großen Stadt fast fehl am Platz. Es war gerade so als hätte die düstere und nekrophile Stimmung auch meine eigene Wahrnehmung beeinflusst und betäubt, so dass ich laute fröhliche Geräusche als deplaziert empfand.
Mehr zufällig als absichtlich fiel mein Blick auf jenes alte kleine Haus am Eingang der Gasse, mit dem diese schier unglaubliche und unfassbare Geschichte ihren Anfang gefunden hatte. Ich musste kurz über mich selbst schmunzeln, anbetracht der Skepsis und der Ungläubigkeit, mit der ich den merkwürdigen Geschehnissen in dieser Gasse anfangs begegnet bin. Vielleicht war es der Alkohol, der langsam meine Sinne benebelte und mir Dinge vorgaukelte die nicht real sein konnten. Vielleicht hatte ich auch zulange auf das kleine Haus gegenüber gestarrt und meine Phantasie spielte mir einen grausamen Streich. Egal wie, ich hatte zumindest für einen kurzen Moment, zwei oder vier Sekunden nur, die Gestalt einer jungen Frau vor mir. Ich konnte sie klar und deutlich erkennen, obwohl sie mehr ein Schemen aus dunklen Schatten in einer nur vom Mondlicht erhellten Straße war. Aber dennoch konnte ich die Konturen ihres Gesichtes und ihres Körpers halbtransparent erkennen. Ein kalter Schauer erfasste mich, denn ich ahnte, wer diese geisterhafte Gestalt einmal gewesen war. Ihre fließenden Bewegungen und ihre schönen sinnlichen Rundungen erinnerten mich an das tote Mädchen, welches ich freilich niemals wirklich gesehen hatte. Ich konnte ihre Augen nicht erkennen, aber ich spürte den Blick schwer und kalt auf mir lasten. Dann verschwand das geisterhafte Schemen und hinterließ in mir ein noch flaueres und unsichereres Gefühl, als ich es eh schon hatte. Auch das eisige Gefühl in meiner Magengrube verflüchtigte sich nur sehr langsam. Nach dem was ich die letzten Jahre in dieser Stadt erlebt hatte, konnte ich nicht ehrlich behaupten, an etwas nicht glauben zu können. Daher hatte ich nicht den geringsten Zweifel, dass es sich bei der Erscheinung um etwas wie einen Geist oder eine Vision handelte. Oder war es doch der Alkohol und die düstere Stimmung, die mir da einen Streich spielte?
Wie schon zuvor beim Betrachten des alten kleinen Hauses am Eingang zur Straße, glitt ich in Gedanken wieder zu dem Tag, an dem ich diese kleine Gasse zum ersten Mal bewusst bemerkte. Ich dachte an den Geruch, an Hatscha, an Sillybos und an die merkwürdige Stille, die mir damals schon aufgefallen war.
Es war irgendwann im Dezember gewesen. An das genaue Datum konnte ich mich nicht mehr so recht erinnern. Es war mir damals auch nicht wichtig gewesen, denn dass dieser Ort und dieser Fall später noch einmal wichtig werden würden, konnte ich damals nicht erahnen. Irgendwo hatte ich das Datum aber in den Akten notiert. Was sich tiefer in mein Gedächtnis eingeprägt hatte waren die Umstände und die Eindrücke dieses Tages.
Wir bogen um die Ecke in die kleine Straße, die uns Araghast in der Besprechung genannt hatte. Neben mir lief Hatscha, die diesen Fall von DOG-Seite aus leitete. Eigentlich hätte sie der Abteilungsleiter auch alleine hinaus schicken können, aber offensichtlich hatte er seine Gründe, weswegen er darauf bestanden hatte, dass ich seine Stellvertreterin begleiten sollte. Es war ein schöner Tag. Zumindest für den Dezember herrschten milde Temperaturen und die Sonne schien warm und herzlich in die schmalen Straßen und Gassen Ankh-Morporks. Wir waren von Araghast nur sehr grob über das instruiert, was uns dort erwarten würde.
"Der Alte meinte, dass die Leute von SUSI schon auf uns warten!"
Hatscha und ich bogen gerade um die Ecke, als uns genau in dem Moment wie sie es ausgesprochen hatte, ein bleichgesichtiger Wächter auffiel, der vor einem Eingang gleich auf der rechten Seite der Straße stand. Manche Wächter blieben in meinen Augen gesichtslos. Das lag daran, dass wir in der Boucherie nur wenig Kontakt zu den anderen Kollegen hatten und so kam es, dass mir das Gesicht dieses einen Wächters beispielsweise völlig unbekannt war. Er stand mit bleichem und fahlem Gesicht an die alte Mauer des kleinen Hauses gelehnt, dem wir uns näherten. Dem ungeschulten Auge eines vorübergehenden Passanten wäre in dieser Person vielleicht noch nicht mal ein Mitglied der Stadtwache aufgefallen. Sein Abzeichen am Mantel wies ihn für uns jedoch als Wächter der Abteilung SUSI aus. Wir gingen ungezwungen auf ihn und die Tür neben der er offenbar Wache stand zu. Er nickte uns freundlich zu, woraus ich schloss, dass wir bereits erwartet würden. Wir verloren keine Worte mit dieser Person und ich folgte Hatscha, die zielstrebig durch die kleine und niedrige Tür in das Haus eintrat. Wir hatten auf dem Weg hierher kaum Worte verloren. Ich war bemüht gewesen, mit der groß gewachsenen Abteilungsleiterstellvertreterin Schritt zu halten. Wir hatten uns im Büro kurz über das unterhalten, was auf uns zu kommen würde, aber keiner von uns beiden hatte etwas derartig grauenvolles erwartet. Je mehr wir uns dem Raum näherten, in dem jenes arg zugerichtete Mädchen gefunden wurde, desto genauer konnte ich mich an die Details erinnern, die dort auf uns gewartet hatten. Der Rest, wie ich und Hatscha in diese Gasse gingen oder die weiteren Ermittlungen, entzog sich mehr und mehr meinen Erinnerungen im Gegensatz zu jenen Szenen, die sich geradezu in meinem Kopf eingebrannt zu haben schienen. So klar wie an die folgenden Szenen konnte ich mich an kaum etwas in den vergangenen 2 Monaten erinnern.
Wir betraten das Innere des alten Hauses und ich folgte Hatscha, die mit zügigen Schritten voranging. Das Haus war schmal und klein, wie die meisten Häuser in der alten Gasse. Mir war bewusst, dass dies hier eine derjenigen Strassen und Gassen war, in denen die ärmeren Schichten der Stadt wohnten. Das Haus roch muffig und streng, nach einem Geruch, den ich zu dem Zeitpunkt noch nicht weiter einordnen konnte. Die hölzernen Bodenbretter im Flur quietschten unter unseren Schritten. Es war hier drinnen düster, was wohl der Grund dafür war, dass ich die Gestalt, die in einem der Türrahmen stand, erst spät als diejenige des SUSI-Abteilungsleiters erkannte. Sillybos erschien mir in diesem grauen und düsteren Licht, des Flures fast bleich und weiß. Zumindest seine Haut, der Rest bot uns den gewohnten Eindruck. Er begrüßte uns mit einem knappen Nicken und wies uns mit einer Handbewegung und ohne viel Worte zu verlieren in den Raum, in dessen Türrahmen er gestanden hatte. Hatscha, die vor mir stand, erwiderte seinen Gruß, blieb jedoch wie angewurzelt in Tür stehen, noch bevor ich etwas aus dem Inneren des Raumes erspähen konnte. Neugierig drängte ich meine Kollegin zur Seite um auch einen Blick auf das zu werfen, was sie so erschrocken hatte und gleichzeitig sagte mir eine leise Stimme aus meinem Inneren - vielleicht die Vernunft - das ich das aber eigentlich gar nicht sehen wollte. Hatscha ließ sich mühelos bei Seite schieben und nun war auch ich an der Reihe den Blick entsetzt, schockiert und angeekelt abzuwenden.
Ich verdrängte das Bild, das mir als nächstes durch den Kopf ging. Ich hatte es damals gesehen und das was ich gesehen hatte, hatte sich als eines der schlimmsten und kränksten Dinge ins Gedächtnis gebrannt, die jemand einem Menschen antun kann. Und dabei war es meiner Meinung nach egal, ob die Person bereits tot war oder nicht. Ich versuchte mich dazu zu zwingen, an etwas schönes zu denken, aber meine Gedanken kreisten um das grauenvoll verstümmelte Mädchen, welches in jenem Raum gelegen hatte. Vielleicht ist es deswegen, weil ich besonders darauf fokussiert war oder weil mich diese schemenhafte Gestalt von eben so sehr an sie erinnert hatte. Mühsam versuchte ich diese grausamen Bilder abzuschütteln, die mich seit jenem Tag immer wieder heimsuchten. Mehr aus Verzweiflung als aus Kälte nahm ich einen erneuten tiefen Schluck aus der kleinen metallenen Flasche, die mir Araghast gegeben hatte. Die Wärme die mich durchströmte, als die dunkle klare Flüssigkeit meine Kehle hinunter rann, erinnerte mich daran, dass eben jener Araghast mich davor gewarnt hatte, mich an das Getränk zu gewöhnen. Für mich bedarf es keines deutlicheren Beweises für die innere Verderbtheit der Wache als ihn, der mich offensichtlich versuchte in eine Sucht zu treiben. Oder war es vielleicht doch nur eine nette Geste meines Abteilungsleiters? Zumindest half es mir dabei, meine hochstrapazierten Nerven zu beruhigen. Mit immer noch zittrigen Händen steckte ich die kleine metallene Flasche wieder in meinen Gürtel. Und alles was ich in der Dunkelheit spürte war die immer noch präsente und alles umfassende Stille, die mir bereits aufgefallen war, als wir von der Grausamkeit entsetzt bei unserem ersten Besuch aus dem Haus gestürmt sind.
Genau genommen war es damals Hatscha gewesen, die kreidebleich und mit der Hand vor dem Mund aus dem Haus gerannt war. Auch mir war ausgesprochen unwohl zumute gewesen und ich nutzte den Vorwand nach ihr zu sehen, um ebenfalls das Haus verlassen zu können. Draußen angekommen holte ich zuerst tief Luft, bevor ich überhaupt meine Kollegin wahrnahm, die sich mit Inbrunst auf das Pflaster neben der Straße erbrach.
"Ist alles in Ordnung?" erkundigte ich mich mit einem schlechten Gewissen, denn ich wusste ganz genau, weshalb es ihr schlecht ging. Den Tod sehen wir öfters als uns lieb ist, aber daran gewöhnen sich im Grunde alle Wächter nach kurzer Zeit. Aber den Tod, wie wir ihn hier in diesem Haus gesehen hatten, in einer derartig bestialischen und abartigen Form, sahen auch wir nicht alle Tage. Aber offensichtlich schien ich in dieser Hinsicht abgebrühter als Hatscha, worauf ich aber nicht unbedingt stolz war, denn meine Kollegin tat mir leid. Ich wendete mich von ihr ab und bemerkte, dass Sillybos ebenfalls mit nach draußen getreten war. Auch er schien nicht länger als notwendig in diesem traurigen und schaurigen Haus verweilen zu wollen. Er gab eine kurze Bemerkung oder Anweisung an den SUSI-Wächter, der vor der Tür stand, weiter, die ich aber nicht verstand. So aus der Distanz wahrte der Abteilungsleiter der Spurensicherung eine bemerkenswerte Gelassenheit. Vielleicht war derartiges für ihn schon zur Routine geworden, was ich aber bezweifelte. Derartig bestialische Taten sprachen sich in unseren Kreisen schnell herum und mir war noch nichts von ähnlichen Fällen in der Vergangenheit zu Ohren gekommen. Ich gesellte mich zu ihm, denn der Geruch von Hatschas Erbrochenen war genau das, was ich im Augenblick nicht riechen wollte, kämpfte ich doch selbst gegen ein flaues Gefühl im Magen an. Sie schien sowieso keiner Hilfe zu bedürfen. Er nickte mir zu und in seinen Zügen las ich etwas zwischen Anerkennung, Mitleid und Erleichterung.
"Wir hatten lange niemanden in so vielen Einzelteilen. Ein Igor hätte seine wahre Freude daran." Ein gewisser Sarkasmus war unüberhörbar. Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und hustete plötzlich, gerade wie ein kleiner Junge, der das erste Mal raucht. "Hab früher mal richtig viel geraucht. Aber dann nicht mehr. Seit Ewigkeiten schon nicht mehr" Er machte eine kurze Pause und fügte "Bis heute!" an.
Ich sah den SUSI-Abteilungsleiter verständnislos an. Diese kleine charakterliche Schwäche hatte ich von ihm nicht erwartet, aber vielmehr interessierte mich der Fall.
"Wieso?" sagte ich. "Wieso wir?"
"Du meinst warum DOG den Fall bekommen hat?" er schaute mich unschlüssig an "Soweit wir wissen, hat das Mädchen im Boucherie gearbeitet."
"Im Boucherie? Du meinst bei uns?"
"Ja, aber nicht als .. na ja du weißt schon, als Näherin, sondern einfach nur so."
Ich sah ihn verständnislos an.
"Was meinst du mit einfach nur so?"
"Was weiß ich, was die dort gemacht hat. Geputzt, ausgeschenkt, oder sonst etwas. Ist mir im Grunde auch egal. Wir schicken euch den Bericht, aber viel wird dabei nicht rauskommen, dass kann ich dir jetzt schon sagen! Das Tuch was du vielleicht links neben ihr gesehen hast, wird wahrscheinlich das einzige sein, was irgendetwas über sie und ihren Mörder aussagen könnte."
Ich frage nicht weiter nach, warum, denn ich konnte es mir schon denken. Was soll sich an Spuren finden lassen, bei einer jungen Frau, die so übel zugerichtet war, dass ihre eigene Mutter sie nicht mehr erkennen würde. Selten war mir etwas derart grauenvolles begegnet.
Mein Atem ging langsam und schwer. Im Grunde stimmte das, was später im Bericht von SUSI stand. Wir wussten bis dahin nicht einmal, ob es sich überhaupt um das vermisste Mädchen aus der Boucherie handelte. Außer dem Geschlecht hatten sie nichts feststellen können, was nicht offensichtlich gewesen war. Und dabei machte ich den Kollegen der anderen Abteilung auch keine Vorwürfe. Alles was ich damals gesehen hatte, war blutiges rotes Fleisch, ein Torso mit gebrochenen und merkwürdig abgewinkelten Gliedern. Gehäutet! Was für eine Bestie häutet einen Menschen? Welche Beweggründe trieben jemand an, eine junge Frau so grausam zu verstümmeln? Ich konnte und wollte es mir nicht vorstellen. Die letzten Zeilen des SUSI-Berichtes schwebten mir noch in den Gedanken herum. Von Haut, Kopf und Herz fehlte jede Spur.
Mein Herz schlug schwerer seit jenem Tag, denn bisher hatte ich das Böse, wie es in den Romanen und Büchern immer und immer wieder beschrieben wird, nie so nah gespürt.
Und wieder diese Stille. Mir war fast, als könnte ich mein Herz schlagen hören und ich bemühte mich möglichst leise und ruhig zu atmen. Ich fühlte mich beobachtet, obwohl ich mir sicher war, dass mich hier in meinem Versteck niemand gesehen hatte. Ich spürte die Last von vielen Blicken auf mir lasten, die aus den kleinen Fenstern dieser alten Häuser auf mich herab sahen. Aus diesen verfluchten alten Häusern. Sie wirkten plötzlich so kalt und einsam, diese alten morschen Hütten und Fassaden. Nie hatte ich darin ein Licht gesehen, die ganze Nacht nicht. Sie kamen mir wie ausgestorben vor. Wie aus einer anderen Welt, zumindest nicht aus unserer. Was immer man über Ankh-Morpork sagen mochte, es war eine ausgesprochen laute und lebhafte Stadt voller Trubel und Aufregung. Ich kam mir vor, als hätte ich eine geheime und unsichtbare Grenze inmitten dieser Stadt überschritten. Ich schüttelte den Gedanken an jenes Ammenmärchen ab. Wahrscheinlich wäre ich nie auf die Idee gekommen mich hier zu verstecken und zu warten, hätte mir Breda nicht jene Geschichten zu lesen gegeben. Ein Buch voller Märchen und sagen aus den Urzeiten der Stadt. Wobei der Begriff Märchen noch eher schmeichelhaft war, für diese Geschichten, mit denen man kleine Kinder erschrecken konnte. Zumindest war das meine Meinung vor den merkwürdigen Ereignissen der letzten Wochen gewesen.
Mit einem Male kam ich mir kindisch und absurd vor, wie ich da in einem alten Holzverschlag versteckt, auf jedes noch so kleine Geräusch wartete. Ich hätte mich wie ein erwachsener Zwerg verhalten sollen und nicht wie ein verängstigtes Kind. Innerlich verfluchte ich das Buch, das mir diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte. Eigentlich hatte alles im Büro im Boucherie seinen Anfang genommen. Ich erinnerte mich noch recht genau an jene tolle Sitzung bei der ich wieder einmal zum Narren der ganzen Abteilung gekürt wurde. Es gab Tage an denen hasste ich meine Kollegen bei DOG. Diese Narren!
Es war ein paar Tage nach dem Fund der Leiche in der kleinen Gasse gewesen. Eine Teambesprechung im Boucherie. Nichts Ungewöhnliches an sich. Hatscha hatte sich wieder gefangen und schien wieder ganz die Alte. Dennoch schien sie ein wenig widerwillig und stumm in die Luft zu starren. Auch unser Abteilungsleiter schien nicht gewillt, auch nur im geringsten auf unser Vieraugengespräch und seinen Rat, öfters mal was zu trinken, eingehen zu wollen. Mir schien, dass ich hier wohl mal wieder die Einzige war, die Interesse an dem Fall zu haben schien.
"Und? Mehr nicht?" Die Frage des Abteilungsleiters schwebte wie ein drohender riesiger Hammer über uns im Raum.
Ich antwortete ihm mit einem genervten Blick und auch Hatscha schien den unausgesprochenen Vorwurf nicht auf sich sitzen lassen zu wollen.
"Was hätten wir denn machen sollen?" In ihrer Stimme schwang ein wenig Ratlosigkeit und Verzweiflung mit. "Sollen wir ihnen etwa die Türen eintreten?!"
Ein verschmitztes Lächeln huschte über die sonst ausdruckslose Miene von Araghast. Plötzlich verhärtete sich sein Gesichtsausdruck und er stand ruckartig auf. In der Hand hielt er den SUSI-Bericht. Sogar Patrick, Breda und Laudes, die ebenfalls im Raum waren, sich aber bisher noch mehr zurückgehalten hatten als ich und Hatscha, zuckten erschrocken zusammen. Mit einer gering schätzenden Handbewegung warf der Abteilungsleiter den Bericht auf den Tisch an dem wir alle saßen.
"Na wunderbar! Großartig!" Seine Stimme tropfte förmlich vor Zynismus. "Da schicke ich Euch dorthin und ihr kommt zurück, um mir zu erzählen, wie fürchterlich alles gewesen ist!?"
Hatscha starrte betreten den Fußboden an. Ich spürte förmlich die Spannung die im Raum lag. Niemand sagte auch nur ein Wort.
"Das Mädchen hat da unten gearbeitet!" Er zeigte mit dem Finger auf den Fußboden, aber allen Beteiligten war offensichtlich klar, dass er die unter uns gelegenen Räumlichkeiten des Boucherie meinte. Mit einem Wink auf den nun auf dem Tisch liegenden Bericht fuhr er fort.
"Ihr wurde das Herz herausgeschnitten? Als sie noch lebte? Habe ich das richtig verstanden?" Sein Blick richtete sich bohrend auf Laudes, der rechts von mir saß.
"Ja, ähm Sir!" presste dieser heraus.
"Dann wurden ihr Arme und Beine gebrochen, Krulock?"
"Ja Sir, aber aus dem Bericht geht nicht eindeutig hervor, dass .." Ein kalter Blick ihres Abteilungsleiters brachte sie zum Schweigen.
"Hauptgefreite Krulock! Eigentlich ist es mir ja egal, zu welchem Zeitpunkt genau ihr sämtliche Knochen gebrochen wurden. Gehen wir mal aus reiner Menschlichkeit davon aus, dass sie zu diesem Zeitpunkt schon tot war."
Ich konnte am Gesichtsausdruck meiner Kollegin ablesen, daß sie sich regelrecht auf die Zunge beißen musste, um eine Erwiderung hinunterzuschlucken. Auch Araghast schien einen Augenblick innezuhalten, gewisser Weise eine künstlerische Pause einzulegen. Er nahm sich die Zeit seinen Blick langsam von der Hauptgefreiten Krulock über Hatscha al Nasa bis zu Patrick Nichts schweifen zu lassen. Mir fiel dabei auf, daß er nur mich dabei übersah. Vielleicht war es auch ein bewusstes Ignorieren. Bei Menschen wie dieser Breguyar einer war, mußte man schließlich mit allen Tricks rechnen. Die Stille und Ruhe im Raum wirkte schier erdrückend auf mich. Plötzlich ging mir ein Wort durch den Kopf. Blitzdings. Ich hatte keine Ahnung was es bedeutete und wie ich darauf kam, aber es schwirrte mir im Kopf herum, so das ich eine Sekunde vergaß, mich auf die Rede meines Abteilungsleiters zu konzentrieren.
"Tod und Verwesung! Die Häutung einer jungen Frau und das halbe Haus starrt vor getrocknetem Blut!" Araghast setzte seine Standpredigt mit einer kalten und trockenen Stimme fort. "Und ihr kommt hier zu mir und erklärt den Fall für beendet, weil euch keiner der verdammten Leute dieser Stadt die Tür aufgemacht hat? Dann klopft halt lauter oder wartet und kommt später wieder."
Erneut wanderte sein Blick prüfend von einem DOG zum nächsten. Auch in mir begann das schlechte Gewissen aufzusteigen bis ich begriff, dass es genau das war, was der Abteilungsleiter damit beabsichtigte.
Urplötzlich sprang Hatscha al Nasa von ihrem Stuhl auf. Ich wirbelte herum, als ich ein würgende Geräusch aus ihrer Richtung vernahm und sah der bleichen jungen Frau ins Gesicht, die panisch die Hand vor den Mund haltend in Richtung Tür stürzte. Ich saß wie erstarrt auf meinem eigenen Stuhl und sah ihr nach, wie sie geradezu fluchtartig und vorne übergebeugt den Raum verließ. Ich überlegte ob ich ihr folgen sollte, denn schließlich hatte auch ich jenen ausgeweideten Körper immer noch vor Augen und glaubte ihre Probleme durchaus verstehen zu können. Und zu meiner Schande stellte ich fest, dass ich immer noch fest auf dem Stuhl saß und auch nicht den Mut aufbringen würde, meiner Kollegin zu helfen. Ich tröstete mein Gewissen damit, dass ich in solchen püschologischen Belangen sowieso nicht die Richtige gewesen wäre. Ironischerweise galt gerade Breyugar in solchen Dingen als besonders kompetente Person. Ich empfand diese Gerüchte im Augenblick als bittere Ironie, denn der Abteilungsleiter kommentierte ihren Abgang nur durch einen geringschätzenden sarkastischen Blick seines einen verbliebenen Auges.
Wir saßen alle nur da und starrten auf die offene Tür, als ich beschloss, Hatscha nachzueilen. Als ich schon aufgestanden war, wurde ich jäh von Araghast angefahren.
"Schon wieder Sargrudern? He Kleinaxt - wo willst du hin?!" Seine Stimme zerriss jäh die Stille im Raum. "Nichts! Schau nach Al Nasa! Kleinaxt, dich will ich noch hier haben, oder glaubt ihr, dass ich schon fertig mit euch bin?"
Patrick Nichts stand auf, nickte dem Feldwebel kurz zu und schien meiner Meinung nach sogar froh und erleichtert zu sein, den Raum verlassen zu können. Ich lauschte noch kurz dem Geräusch seiner Stiefel bevor ich erneut in die Wirklichkeit zurückgerissen wurde.
"Und was ist nun mit diesem Mädchen?" Der Abteilungsleiter hatte sich an mich gewandt und ich spürte seinen stechenden Blick. Ich sammelte kurz meine Gedanken und begann ihm meinen Teil des Berichtes erneut vorzutragen.
"Es lässt sich nur wenig über das Mädchen ermitteln. Sie hieß Marianne Grünbruch. Zumindest arbeitete sie unter diesem Namen hier im Boucherie als Putzmädchen. Wo sie genau wohnte darüber gibt es keine genaue Auskunft, aber eine der Frauen unten glaubte sich daran zu erinnern, dass das Mädchen angeblich eine "Stille Gasse" erwähnt hatte."
"Das Haus befindet sich aber in der "Hafenstraße!" warf Araghast ein, der sich dem Tonfall seiner Stimme nach wieder in angenehmeren Gemütslagen befand.
"Ja das stimmt," bestätigte ich, "Ich habe auch noch nie etwas von einer Straße, die so heißt, gehört. Aber wie gesagt, wir wissen nicht einmal, ob es sich bei der Toten überhaupt um die Vermisste aus unserem Haus hier unten handelt. Ohne das Tuch würde wohl überhaupt keine Verbindung zu unserem Mädchen von unten bestehen."
Ich zeigte auf das Tuch, welches zur Hälfte vom Bericht verdeckt auf dem Tisch lag. Breguyar griff danach und hielt es nachdenklich in der Hand, während unserer aller Augen erneut erwartungsvoll auf ihm ruhten. Es war ein kleines ursprünglich weißes Tuch, welches von SUSI im Blut der Toten gefunden wurde. Bei genauerer Betrachtung würde man selbst im angetrockneten Blut die Stickereien mit dem Schriftzug und dem Emblem des Boucherie erkennen können. Das wusste ich daher, da ich dieses Tuch selbst schon in der Hand hatte, als ich mich näher mit dem Mädchen befasst hatte. Dieses Tuch war der einzige Grund, warum unser Abteilungsleiter geglaubt hatte, wir müssten bei diesem Fall mitwirken und daher auch der Grund warum wir uns immer noch damit beschäftigten.
"Seid ihr bei den Näherinnen gewesen und habt euch dort erkundigt, ob sonst eines ihrer Mädchen in der Hafengasse gewohnt hatte?"
"Ja Sir!" Natürlich war uns diese Idee schon viel eher gekommen. "Niemand von den Mädchen wohnt dort auch nur in der Nähe."
Araghast zog in einer für mich undeutbaren Gestik die Augenbrauen hoch. "Und vielleicht einer der Freier? Die schlimmsten sind doch in den Kreisen der Damen bekannt."
"Auch das nicht, Sir!"
"Weiter suchen!"
Ebenso wie ich schauten ihn auch meine Kollegen staunend an. Er schien dies zu spüren - vielleicht hatte er das auch erwartet und beabsichtigt.
"Ja .. Weiter suchen habe ich gesagt!"
Er ließ seinen Blick ein weiteres Mal in die nun noch kleiner gewordene Runde schweifen, und verließ kommentarlos den Raum. Mir fiel auf, dass er sehr viel leiser ging, als Nichts und Al Nasa. Er machte kaum ein Geräusch beim Gehen.
Daran konnte ich mich noch genau erinnern. Es erschien mir natürlich banal und sinnlos, aber ich erinnere mich noch genau daran, dass kaum eine Diele unter seinen Füßen knarrte, als er den Raum verlassen hatte.
In jenem Moment wünschte ich mich wieder ins Boucherie zurück. Selbst den merkwürdigen und manchmal unheimlichen Breguyar würde ich dieser Kälte und Stille vorziehen, die immer noch in dieser Gasse herrschte. Der Grund, warum ich dort ausharrte, war so absurd, dass ich mir selbst vollkommen lächerlich vorkam. Dennoch gestand ich mir ein, dass ich insgeheim an die Geschichten glaubte, die man sich von dieser Gasse erzählte. Denn soviel war mir klar, wenn ich nicht daran glauben würde, wäre ich in jener Nacht nicht dort gewesen und würde nicht auf etwas warten, wovon ich selbst nicht die geringsten Vorstellungen hatte. Ich wünschte mir, dass wir einen kompetenten Moloss in unserer Abteilung gehabt hätten, der mir einen sinnvollen Rat hätte geben können.
Der Schnee hatte aufgehört und eine dünne weiß schimmernde Fläche auf der Straße hinterlassen. Ich wusste, dass die weiße Pracht morgen schon geschmolzen oder von dem Staub und dem Schmutz der Stadt grau gefärbt worden war. Nur noch hier und da würden einzelne weisse Flächen, wie Silberzungen an die Pracht erinnern. Vielleicht hatte ich mich bereits vom Zynismus meines Abteilungsleiters anstecken lassen, aber mir war klar, dass solche Szenen der Reinheit und der Unschuld nicht zu der Stadt passten. Es wäre trügerisch, gerade in dieser Gasse mit ihren unscheinbaren und zurückgezogen lebenden Bewohnern so etwas wie Schönheit oder Friede zu vermuten.
Ich schaute zum Himmel. Die Wolken hatten sich verzogen und die Sterne und der Mond waren zum Vorschein gekommen. Die Nacht würde es kalt werden, weshalb ich meinen Mantel enger um mich zog. Merkwürdig und fast unglaublich kam mir derzeit der Umstand vor, dass ich mich in einem der ältesten Teile der Stadt befand. Über Jahrhunderte fast unverändert und von den großen Bränden wie durch ein Wunder verschont geblieben. Die Stille Gasse.
Ich schreckte förmlich zusammen, als hinter einem kleinen Fenster in einem der Häuser, die meinem Versteck genau gegenüber lagen, plötzlich das Licht einer kleinen Laterne erstrahlte. Ich kniff die Augen zusammen und zog mich noch weiter in die Dunkelheit meines Versteckes zurück, so dass ich gerade noch jenes Haus und das Licht hinter der kleinen Fensterscheibe erkennen konnte. Es war ein altes kleines Haus gewesen mit einem Anstrich, welcher nur noch hier und da als gelb zu erkennen war. Ich kann mich noch ziemlich genau daran erinnern, denn ich selbst war dabei gewesen, als wir vor ein paar Tagen systematisch jedes Haus dieser Gasse durchsucht hatten. Man konnte die Silhouetten der beiden alten Leute erkennen. Sie schienen genauso gebeugt und gedrückt zu sein, wie wir sie bei der Durchsuchung in ihrem Kellerversteck gefunden hatten.
Ich hatte keinerlei Vorstellung was es bringen sollte, jedes dieser verdammten Häuser auseinander zunehmen. Breguyar schien sich in der Sache mit dem toten Mädchen aber regelrecht verbissen zu haben. Warum, war mir nicht ganz klar, aber es würde schon irgendeinen triftigen Grund haben, denn als Gutmenschen schätzte ich unseren Abteilungsleiter am wenigsten ein.
Es war ein grauer wolkenbedeckter Vormittag. Ich nickte meinen Kollegen kurz zu. Wir hatten uns vor zehn Minuten zwei Straßen entfernt mit ein paar kräftigen Kerlen von SEALs und ein paar SUSIs getroffen. Es sollte unauffällig beginnen, war die Anordnung Breguyars gewesen. Zumindest am Anfang, denn nach den ersten paar Häusern würde es sowieso die ganze Gasse gemerkt haben. Aber im Grunde war mir das alles egal gewesen. Ich glaube nicht an die Theorien des Abteilungsleiters, dass der Täter meist im sozialen Umfeld zu finden wäre. Gerade bei solch bestialischen Taten wie dieser. Er schien sich regelrecht daran zu klammern, dass wir bei unserer Durchsuchung etwas finden würden. Wie bereits gesagt, ich glaubte nicht daran. Diese Straße war tot und leer. Keine Menschenseele hatten wir gesehen, als wir damals hier eine Ermittlung starten wollten. Niemand war zu sehen oder zu hören. Niemand war auf der Straße gewesen und niemand hatte uns die Türen geöffnet, als wir an jeder einzelnen Tür geklopft hatten. Es schien als hätten sich die Bewohner, die es unzweifelhaft zu geben schien, in ihren Häusern verbarrikadiert und versteckt.
Wir waren um die Ecke in die Hafenstraße eingebogen. Ich hatte mich im Archiv nach dem Gässchen hier erkundigt. Es hatte wenig gebracht, außer der Tatsache, dass es sich um eine der ältesten erhaltenen Gassen der Stadt handelte. Wo anderorts neue Häuser über alten Ruinen und Kellern erbaut wurden, waren die Häuser dieser Straße durch die Jahrzehnte und Jahrhunderte erhalten und immer nur notdürftig repariert worden. Das entscheidende für uns jedoch war die Tatsache, dass die Straße hier ehemals "Stille Gasse" geheißen hatte. Ein sehr bezeichnender Name für eine derart triste und verlassene Ecke der Stadt, wie ich fand. Ich dachte an unsere Abteilungsbesprechung vor ein paar Tagen zurück und war insgeheim stolz auf meine Recherche, denn wenigstens war hiermit klar, dass es sich bei der Toten um das Dienstmädchen aus dem Boucherie handelte. Es war zwar nicht grad besonders erheiternd, dass jemand, der mit uns gewissermaßen unter einem Dach gearbeitet hatte, Opfer eines derartigen Verbrechens wurde, aber es war so ziemlich der einzige kleine Ermittlungserfolg den wir bisher überhaupt für uns verbuchen konnten.
Und wenn ich es mir so recht überlege, ist die Identität des Opfers auch das einzige geblieben, was wir mit Sicherheit hatten feststellen können. Alles andere verlief aus meiner Sicht völlig im Sand.
Ich musste innerlich meinen anderen Kollegen von DOG zustimmen - diese Straße war seltsam und merkwürdig. Und darin hatte uns die Durchsuchung der einzelnen Häuser nur noch bestärkt. Es war mehr als das Offensichtliche, dass hatten wir alle gespürt. Aber wir hatten es eben nur gespürt und konnten es nicht genau beschreiben oder eine Ursache dafür finden.
Die Häuser waren zumeist leer gewesen. Hatten wir damals am Anfang unserer Ermittlungen noch geglaubt, die Bewohner würden sich weigern uns zu öffnen, wurde uns jetzt klar, warum die Straße so still und ruhig war. Keine Menschenseele war darin, außer vielleicht ein paar Tauben auf dem Dachboden. Wir gingen durch Zimmer voller Möbel und Dinge die einst jemanden gehört hatten und nun schon seit Jahren zustaubten. Hier und da sahen wir ein paar Fußspuren im Staub, aber nichts deutete darauf hin, dass hier noch jemand wohnen würde. Die merkwürdige Stille, die diesem Ort so gemein war, legte sich wie ein dunkles Tuch über unsere Stimmung. Wir gingen von Haus zu Haus, klopften an jeder Tür und brachen sie auf, nachdem niemand von drinnen antwortete. Und in jedem Haus dasselbe Bild, wobei in zwei Häusern bis vor kurzen noch jemand gewohnt haben musste, denn dort waren die Spuren des Staubes noch nicht so deutlich wie andernorts. Eine Rose, die vertrocknet und ergraut in einer Vase mit verdunsteten Wasser stand, hatte sich besonders in mein Gedächtnis eingebrannt. Mit ein wenig Befriedigung malte ich mir das Gesicht meines Vorgesetzten aus, der sicher nicht erwartet hatte, dass das Umfeld des Opfers aus ein paar leer stehenden Häusern und Hütten bestand.
Eine einzige Tristesse. Auch die größte Überraschung auf die wir bei unserer Durchsuchung stießen, konnte dieses Bild nicht mehr relativieren, sondern fügte sich nahtlos in diese ein. In dreien der Häuser stießen wir zu unserer eigenen Überraschung auf Bewohner. Nach den ersten Häusern waren wir schon so sehr auf den Staub und die Bilder einer ausgestorbenen Welt gewöhnt, dass uns der Anblick der alten Bewohner der Häuser wie ein unwirklicher Kontrast erschien. Mit leeren Blicken saßen sie hinter einer alten kleinen Kellertür, die unseren Blicken fast entgangen war. Es waren offenbar ganz normale Menschen, die in jener Straße hausten. Den Eindruck hatten sie zumindest auf den ersten Blick vermittelt. Ohne Widerstand kamen sie aus ihrem Keller heraus. Zwei alte gebückte Menschen. Die Haare der beiden waren bereits seit langem ergraut. Mit nach unten gerichteten Blicken und ohne ein Wort zu sagen verließen sie ihr dunkles Versteck. Offenbar lebten sie beide in diesem Haus, aber weshalb sie vor uns in den Keller geflüchtet waren, blieb uns unklar. Zumindest waren wir froh, überhaupt jemanden in dieser Straße anzutreffen.
Ich konnte mich noch ganz genau an die beiden Alten erinnern. Kein Wort hatten sie gesagt. Ich hätte sie gar nicht erst auf die Wache mitgenommen, aber da sie nichts von sich gaben und sich offensichtlich vor uns versteckt hatten, blieb uns im Grunde genommen gar nichts anderes übrig, als sie zu verhören.
Erneut beobachte ich die Schemen der beiden Alten durch die erblindeten kleinen Fenster ihres alten gelbgrauen Hauses.
Erst auf der Wache beim Verhör durch Breguyar hatten die beiden angefangen zu reden. Wirres Zeug. Ich hatte mir keinen Reim darauf machen können, aber offenbar kannten sie den Täter und deckten ihn. Vielleicht aus Angst vor Rache? Wir Dobermänner hatten im Boucherie zusammen das Protokoll des Verhöres gelesen und darüber diskutiert. Über die Entscheidung unseres Abteilungsleiters, die beiden wieder nach Hause zu schicken, herrschte ein sehr geteiltes Echo bei uns DOGs. Die Frau hatte die ganze Zeit nur geweint oder wirres unverständliches Zeug geschwafelt. Ihr Mann hatte gefasst und ruhig gewirkt, so gab es zumindest das Protokoll wieder, welches uns zur Verfügung gestellt worden war. Araghast hatte mit keinem von uns mehr darüber gesprochen und auch sonst nicht den Eindruck erweckt, dass er weiterhin Interesse an dem Fall hatte. Intern vermuteten wir, dass er mit der mehr oder weniger völlig erfolglosen Durchsuchung der Häuser unsere Abteilung und auch sich selbst blamiert hatte und die Sache so ruhig wie möglich beerdigen wollte.
Und bis vor einigen Wochen hätte ich ihm in seiner Einschätzung auch noch zugestimmt. Nur in zwei weiteren Häusern waren wir auf Bewohner gestoßen. In einem hatte ein weiteres altes Paar gewohnt und in einem anderen eine junge Frau, die aber erst vor wenigen Tagen in jene Gasse gezogen war. Wir waren fast erleichtert darüber gewesen, dass wenigstens diese Bewohner der Häuser sich uns gegenüber normal und kooperativ verhalten hatten. Ergraute zittrige Greise und junge Frauen gehörten laut unserem Abteilungsleiter nicht in das von ihm angefertigte Täterprofil. Er schien wirklich viel auf seine eigene Püschologie zu setzen und in manchen Dingen klang er dabei auch recht einleuchtend. Wie absurd wäre es mir damals vorgekommen, den bizarren Theorien der beiden alten Leute glauben zu schenken. Damals erschienen sie mir noch wie Hirngespinste und Märchengeschichten.
Zum wiederholten Male heute Nacht schaute ich auf den Mond, der leuchtend über der dunklen und ruhigen Stadt schwebte. Es war kalt geworden während der letzten Stunden und ich merkte wie die Kälte langsam durch meine Kleider drang. Eine plötzliche Unsicherheit erfasste mich. Was wenn ich mich doch völlig in dieser Welt der Märchen und Geschichten verrannt hatte? Und selbst wenn nicht. Wie sollte ich das, was ich getan hatte jemals Breguyar erklären?
Ich bemerkte, wie links von dem Haus der beiden Alten auch in dem des anderen alten Pärchens ein Licht entzündet wurde. Auch dort waren ebenso nur die Schatten und Schemen der beiden Alten im flackernden Licht zu erkennen. Fast war ich froh über das flackernde schwache Licht, was nun auf das Pflaster der Straße fiel und ihr ein wenig von ihrer unheimlichen Ausstrahlung nahm.
Ich fühlte mich in dem, was ich erwartet hatte bestätigt, auch wenn ich alles andere als glücklich darüber war. Ein noch mulmigeres Gefühl als ich es bisher sowieso schon gespürt hatte manifestierte sich in meiner Magengrube. Was wenn das was ich vermutete wahr war? Konnte ich dann etwas dagegen unternehmen? Ich sah erneut zum Himmel. Ich hatte es nie wirklich verstanden, wie andere anhand des Mondes und der Sterne die Zeit bestimmen konnten, aber ich ahnte, dass bald etwas beginnen würde, was mich mit Grauen erfüllte. Ich dachte erneut an die geisterhafte Gestalt, die mir erschienen war. Vielleicht war dies auch eines seiner Opfer gewesen. Möglicherweise sogar die junge Frau aus dem Haus ganz rechts. Ich konnte und wollte es nicht sagen. Ich hatte zwar die leicht durchscheinenden Gesichtszüge der Gestalt erkennen können, weigerte mich aber innerlich die ehemals sehr schöne und schlanke Gestalt nicht mit dem geköpften und gehäuteten Körper in Verbindung bringen, den wir in jenem Haus gefunden hatten. Eine seltsame Traurigkeit erfasste mich. Wie viele Tote hatte es in dieser merkwürdigen Straße bereits gegeben? Wie viele junge Frauen und Kinder waren ihm wohl schon zum Opfer gefallen? Und was war mit ihren Körpern geschehen? Es musste seit mehreren hundert Jahren schon so sein. Und heute würde es wieder passieren. Ich glaubte es kaum, dass ich tatsächlich hier auf etwas wartete, was so abseits dessen war, was ich bisher zu glauben und zu erkennen bereit gewesen war.
In dem rechten Haus öffnete sich mit einem hölzernen Quietschen die Tür zur Straße. Ich hielt den Atem an und bemühte mich kein Geräusch zu verursachen, während ich mich tiefer hinter die Bretter meines Verschlages zurückzog. Gebückt und vom Alter gezeichnet kamen die beiden Alten heraus auf die Straße, genauso wie ich sie von der Wache her in Erinnerung hatte. Sie waren in ärmliche alte und graue Kleider gehüllt und der Mann hielt eine kleine Laterne in der rechten Hand. Sie gingen auf das Haus zu, in dem seit kurzem die junge Frau wohnte. Es war gleich das links neben dem alten Schuppen, in dem ich mich im Schatten versteckt hatte.
Just zu diesem Zeitpunkt öffnete sich auch die Tür des zweiten alten Paares, welches wir bei unserer Durchsuchung angetroffen hatten. Der zweite alte Greis trat zittrig auf die Straße, während seine Frau mit einem Kerzenleuchter in der Haus im Türeingang stehen blieb.
"Was habt ihr beiden vor?" rief der Alte den greisen Pärchen mit gedämpfter Stimme zu.
Die beiden schienen einen Moment zu zögern, bevor sie antworteten.
"Das was wir schon seit langem hätten tun sollen." Antwortete der Mann mit zittriger gebrochener Stimme. "Entweder du hilfst uns, oder du gehst besser wieder schlafen."
"Was glaubst du was es bringt? Glaubst du, dass du damit irgend etwas beenden kannst? Bald seid ihr tot und dann werden hier wieder andere Leute wohnen und dann beginnt alles wieder von vorne. Du weißt es ganz genau!"
Die Frau hinter dem Mann auf der Straße fing wieder zu weinen an. Ihr Schluchzen drang bis in mein Versteck hinein.
"Wir haben doch genug Mädchen sterben sehen? Ich kann einfach nicht mehr mit ansehen, wie sie daliegen!" Trotz und Verbittertheit klangen in seiner Stimme mit. "Und alles was wir seit Jahren machen ist sie verscharren und ihr Blut aufwischen! Ich kann das nicht mehr, Alfred!"
"Macht doch was ihr wollt, ihr Narren! Am Ende landet ihr noch im Kerker und wem habt ihr dann geholfen? Niemand!"
Der Alte mit dem Namen Alfred drehte um, schlurfte wieder in sein Haus und schloss die knarrende Tür hinter sich.
Die beiden traten nun bis an die Tür des Hauses in dem das junge Mädchen seit kurzem wohnte. Ich bedauerte, dass ich mein Versteck nicht auf der anderen Straßenseite gewählt hatte, denn die Tür lag außerhalb meines Sichtwinkels. Ich hörte ein dumpfes Klopfen auf Holz. Nach einer Pause hörte ich erneut ein Klopfen, diesmal lauter und kräftiger als das vorherige. In dem Haus selbst schien allerdings Stille zu herrschen, wie auch im Rest der Straße sonst kein Laut zu vernehmen war. Es folgte ein erneutes noch lauteres Klopfen an der Tür, fast schon ein Hämmern. Es hallte regelrecht durch die Straße. Nachdem es wieder fast eine Minute lang ruhig war, hörte ich die flüsternden Stimmen der beiden Alten.
"Offenbar ist niemand da! Erleichterung schien in der Stimme des Alten mitzuschwingen.
"Vielleicht ist sie ja heut Nacht woanders. Ich denke es ist besser so. Gehen wir wieder. Es wird Zeit, er wird bald kommen."
Zuerst hörte ich ihre Schritte und dann sah ich die beiden Alten wieder über die Straße gehen und in ihrem Haus verschwinden. Bald darauf erlosch auch das Licht und es herrschte wieder Stille und Dunkelheit in der Stillen Gasse. Kalte und bittere Dunkelheit. Ein kurzer Anflug von Panik erfasste mich und ich verspürte den Wunsch, so schnell wie möglich von diesem verfluchten Ort zu verschwinden, aber meine Neugier war stärker. Vielleicht hatte ich aber auch einfach Angst davor mein sicheres Versteck zu verlassen, was mich bisher offenbar vor allem geschützt hatte.
Meine Magengrube verkrampfte sich, denn meine schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten. Ich zog mich erneut tiefer in mein Versteck zurück bis ich mit dem Rücken gegen die Wand des Schuppens stieß. Meine Hand schloss sich um den Griff meiner Axt, die in meinem Gürtel hing, wobei ich allerdings bezweifelte, dass mir diese Waffe etwas nutzen würde.
Ich bemerkte einen leichten kalten Wind, der durch die Gasse wehte und einen merkwürdigen Geruch mit sich trug. Moder und Verwesung glaubte ich in ihm zu erkennen, aber ich redete mir ein, dass meine Phantasie mir da einen Streich spielte. Aus der Richtung des Ankh erklang plötzlich gedämpft der Klang eines Schmiedehammers, der auf Eisen schlägt.
Ich wusste ganz genau, woher diese Geräusche kamen. Aus den Tiefen des Ankh! Und ich wusste genau, auf was der Hammer geschlagen hatte. Ein Zittern durchfuhr mich und ich spürte eine Gänsehaut auf meinem Körper. Der Schmied hatte seine Ketten durchschlagen und würde erneut diesen Ort heimsuchen.
Der Wind wurde noch einmal stärker und erneut wäre ich am liebsten weggelaufen. Ich wünschte ich könnte nicht nur aus dieser Gasse, sondern auch vor dieser ganzen Stadt weglaufen. Aber dafür war es bereits zu spät, denn ich vernahm ein leises Schlurfen und das Rasseln von Ketten. Genau in diesem Moment wurde ich eines Schemens gewahr, der langsam durch die Straße zog. Mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen starrte ich die Gestalt an, die sich langsam und mühevoll über das Pflaster der Straße zu schleppen schien. Sie hinkte, zog ein Bein nach und zog Ketten hinter sich her, die jeweils an seinen Beinen und Armen zu hängen schienen. Eine merkwürdige Aura schien ihn zu umgeben. Grau, dunkel und böse. Und alt! Sie schien fast spürbar, wenn man die toten und geschundenen Züge im Gesicht des Schmiedes betrachtete. Am meisten erschütterte mich, dass er ein Mensch gewesen war und auch heute noch wie einer aussah. Ich wusste nicht warum, aber wäre statt dieser bösen Gestalt ein Monster wie aus einer SEALS-Ermittlung dem Ankh entstiegen, hätte ich mich wohler gefühlt. Fasziniert starrte ich dieser geschunden Gestalt nach, die auf der Suche nach jungem frischem Fleisch durch die Straße schlurfte. Unweigerlich verglich ich dieses Monster mit meinem Abteilungsleiter, der mir dagegen fast freundlich und fröhlich erschien. Aber vielleicht waren solche düsteren Personen wie er der Ausgang für derlei Sagen und Märchen, ob sie nun wahr sein sollten oder auch nicht. Es schien wie eine bösartige und furchtbare Entzündung inmitten der realen Welt, an die ich bisher geglaubt hatte.
Ich wagte erst auszuatmen, als der Schmied aus meinem Sichtfeld verschwunden war und auch seine Schritte und das Rasseln der Ketten leiser wurden. Beim Stollen meiner Eltern, was tat ich hier eigentlich? Was lauerte ich diesem unwirklichen Monster auf, das geradewegs einer kranken Drogenphantasie entsprungen zu sein schien. Nie zuvor hatte ich eine derartige Angst und solch lähmendes Entsetzen verspürt wie in diesen bitteren und fürchterlichen Minuten meines Lebens.
An den Rest konnte ich mich kaum noch erinnern, nur dass ich sicher noch eine Stunde in meinem Versteck hockte und mich nicht herausgetraute. Schließlich als ich es endlich wagte, mein Versteck zu verlassen, verließ ich die Gasse fast im Laufschritt. Ich ging erst wieder langsamer als ich drei oder vier Straßen weit gelaufen war und hielt kurz inne.
Was sollte ich jetzt machen? Innerlich war ich froh, dass ich dafür gesorgt hatte, dass die junge Frau, die seit kurzen in der Stillen Gasse wohnte, die Nacht in einer Zelle der Wache auf dem Pseudopolisplatz verbrachte. Aber ich würde nicht jedes Mal, wenn die Sterne wieder ungünstig standen und der Schmied erwachte, alle jungen Frauen und Kinder in der Stillen Gasse verhaften lassen können. Unentschlossen, mut- und ratlos ging ich zurück in Richtung der Boucherie. Meine Hand griff wie schon so oft in dieser langen Nacht zu der Metallflasche in meiner Tasche. Ich hob sie an meine Lippen und während ich den letzten Tropfen der Flüssigkeit in ihr trank, gingen meine Gedanken zu der alten Sage, auf die ich mehr durch Zufall als durch Recherche gestoßen war. Ich hatte sie mehrmals gelesen. Immer wieder. Anfangs fand ich die alten Sagen der Stadt amüsant und hatte dem Zufall, dass eine der Sagen in einer Straße handelte, in der wir zu dem Zeitpunkt ermittelt hatten, keine Aufmerksamkeit geschenkt. In dieser Nacht in der ich vor Angst, Entsetzen und Kälte zitternd in mein Büro im Boucherie zurückkehrte, war mir nicht mehr zum Lachen. Hatte ich damals gelächelt, wie ich in dem Buch gelesen hatte, welches mir Breda geliehen hatte, spürte ich jetzt eine seltsame Leere in mir als ich die Seiten mit der Geschichte des alten Schmiedes vom Ankh aufschlug.
Der Schmied vom Ankh
Es war einst in den Tagen in denen der König Bertrand zu Ankh über die Stadt geherrscht hatte. Es war zu jenen Zeiten in denen die Ankhpiraterie noch ein ehrenwerter Beruf in Ankh-Morpork war.
Es begab sich in dieser Stadt zu jener Zeit, dass ein junger Mann beim alten Schmied in der Stillen Gasse seine Lehre begann. Er war ein fleißiger Bursche. Der ganze Stolz seines Vaters und seines Meisters. Kein Hammer ward ihm zu schwer und kein Eisen zu heiß und schon bald merkte der alte Schmied, dass er einen würdigen Lehrling und Gesellen gefunden hatte.
Der junge Schmied war jedoch nicht nur schön, stark und schlau. An ihm war von Geburt an ein Makel zu finden, welches ihn sein ganzes Leben lang und vielen anderen auch zum Verhängnis wurde. Getrieben von Ehrgeiz und Gier, von Neid und Perfektion suchte er ein Schwert zu schmieden, das seinen Namen nicht nur in der Stadt, sondern auf der ganzen Scheibe bekannt machen würde. Bald schon verschwand der alte Meister spurlos und der junge Lehrling trat als Schmied in der Stillen Gasse sein Erbe an. Man sagte, dass er Tag und Nacht geschmiedet haben soll. Keine Pause hatte er gemacht und das Tageslicht seit Wochen nicht mehr gesehen. Danach verschwanden die ersten Kinder aus den Straßen der Stadt. Erst eines, dann zwei und als dann zehn Kinder aus dem armen Viertel verschwunden waren, suchten die Wachen des Königs in der ganzen Stadt nach ihnen. Ohne Erfolg, denn der Schmied schmiedete weiter in seiner düsteren und finsteren Werkstatt. Bis es sich eines Tages ergab, dass sich ein kleiner Dieb in die Schmiede des Mannes flüchtete, dem die Wachen arg auf den Fersen waren. Als diese die Schmiede betraten und im Keller nach dem Meister und dem Dieb suchten, entdeckten sie gar grauslichen Fund. Den Berichten nach waren 20 Kinder und junge Frauen dem Schmied zum Opfer gefallen, der mit ihrem Blut seine Klingen beträufelte und die Köpfe in die Glut legte. Ein gar fürchterliches Monster war er gewesen, der Schmied vom Ankh! Und grausam seine Strafe. Mit gebrochenen Gliedern und geschundenem Körper wurde er von der Messingbrücke aus in den Ankh geworfen. Mit Ketten und Steinen an seinen Armen und Beinen. Mit einem fürchterlichen Fluch ging der Schmied in den Fluten des Ankh unter und auch sein blutbeflecktes Werkzeug wurde zusammen mit ihm in den Fluten des Stromes versenkt. Man sagt an bestimmten Nächten, in denen die Pferde scheuen und die Hunde den Schwanz einziehen, kann man die Schläge seines Hammers am Grunde des Ankh hören, denn der alte Schmied schmiedet weiter. Nacht um Nacht am Grunde des Ankh und spukend zieht er durch die Stadt, die Ketten hinter sich her schleifend. Und wehe dem jungen Mädchen und dem kleinen Kind, das ihm nachts die Türe öffnet, denn der Hammer des Schmiedes dürstet auch nach all den hunderten von Jahren noch nach dem Blut der Unschuldigen. Heute jedoch ist sein Name längst vergessen. Alle nennen ihn nur den Schmied vom Ankh!
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