Blutiger Schneevaterabend

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von Obergefreiter Ruppert von Himmelfleck (SUSI)
Online seit 26. 12. 2006
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Der Schauplatz dieser Geschichte ist wiederum Ankh-Morpork. Diese Erzählung schildert die Ereignisse am trübseligen Abend eines trübseligen Jahres. In den früheren von Ruppert von Himmelfleck gelösten Fällen hatten sich seine Theorien am Ende immer als richtig erwiesen. Hier jedoch wird der Leser feststellen, dass er zwei große Fehler beging. Aber dieses Mal und wider alle Regel führen zwei Irrtümer zum Recht!

Für diese Mission wurde keine Note vergeben.

Als Ruppert von Himmelfleck die letzte Akte weggelegt und seine Schreibtischschublade abgeschlossen hatte, fröstelte ihn plötzlich. Er stand auf und zog seinen langen Wolfsfellmantel enger um sich; dann durchquerte er sein kaltes Arbeitszimmer und trat ans Fenster. Er öffnete es, doch nach einem kurzen Blick hinaus auf den dunklen Pseudopolisplatz schloss er es rasch wieder. Es schneite nicht mehr, aber ein eisiger Windstoß hätte beinahe die Kerzen auf seinem Schreibtisch ausgeblasen.
Der Obergefreite ging zu der Matte hinüber, die an der Wand lag. Seufzend begann er, die Steppdecken zurückzuschlagen. In dieser Nacht des beschwerlichen Jahres, das nun bald vorüber war, dem zweiten seines Aufenthalts in Ankh-Morpork, würde er in seinem Büro schlafen. Denn seine eigene Wohnung in der Teekuchenstraße war ihm an diesem Abend zu leer und kalt erschienen.
Ruppert von Himmelfleck hob die Teekanne hoch, um sich eine letzte Tasse einzuschenken. Bestürzt stellte er fest, dass der Tee kalt geworden war. Ärgerlich stand er wieder auf und machte sich auf den Weg in die Kantine, wo er hoffte heißes Wasser für frischen Tee zu bekommen. Nur die Rekruten, die am Tresen Wache hielten, würden noch da sein.
Er zog sich seine Mütze über die Ohren, nahm die Kerze und ging über die dunklen, verlassenen Treppen hinunter ins Erdgeschoss.
Die beiden Rekruten, die hinter dem Tresen in der Mitte der Eingangshalle herum hockten, sprangen auf, als sie Ruppert von Himmelfleck eintreten sahen und zogen hastig ihre Helme gerade. Vom dritten Rekruten konnte der Obergefreite nur den breiten Rücken erkennen. Dieser beugte sich zur Tür hinaus und fluchte auf irgendjemanden.
"Heda!" fuhr Ruppert von Himmelfleck ihn an. Als der Rekrut sich umdrehte und andeutungsweise verneigte, sagte er kurz: "Geben Sie auf Ihre Worte acht, am Schneevaterabend!"
Der Rekrut murmelte etwas von einem frechen Gassenjungen, der es wagte, so spät in der Nacht die Wache zu belästigen. "Der kleine Affe will, dass ich seine Mutter für ihn suche!" fügte er entrüstet hinzu. "Halten die mich für ein Kindermädchen?"
"Wohl kaum!" sagte Ruppert von Himmelfleck trocken. "Aber worum geht es überhaupt?" Er trat an die Tür und sah hinaus.
Auf dem Platz davor kauerte ein winziger Junge auf der obersten Stufe, um sich vor dem eisigen Wind zu schützen. Das Mondlicht fiel auf sein tränenüberströmtes Gesicht das einen unübersehbar achatenen Schnitt hatte. Er jammerte: "Es ist... überall auf dem Fußboden! Ich rutschte aus und fiel hinein ... Und Mutter ist verschwunden!"
Er starrte auf seine kleinen Hände, dann versuchte er sie an seiner dünnen Flickenjacke sauber zu reiben. Ruppert von Himmelfleck sah die roten Flecken. Rasch wandte er sich um und befahl dem Rekruten: "Holen Sie den Eselkarren, und kommen Sie mit!"
Sobald er draußen war, hob der Obergefreite den Jungen hoch und setzte ihn in den Karren. Dann stieg er langsam hinter ihm auf. Ein Schmerz durchzuckte ihn und erinnerte ihn daran, dass er noch vor nicht allzu langer Zeit auf sein Pferd springen konnte. Aber unlängst machte ihm ein leichter Anfall von Rheuma zu schaffen. Er fühlte sich plötzlich müde und alt. Zwei Jahre in Ankh-Morpork ... Er bewahrte mühsam seine Haltung. Aufmunternd sagte er zu dem schluchzenden Jungen: "Jetzt gehen wir zusammen deine Mutter suchen! Wo ist dein Vater, und wo wohnst du?"
"Mein Vater ist der Hausierer Wang", antwortete der Junge. "Wir wohnen in der zweiten Gasse randwärts vom Tempel des Großen Io, nicht weit vom Wassertor."
"Das ist einfach!" sagte Ruppert von Himmelfleck. Vorsichtig lenkte er den Esel durch die schneebedeckte Straße. Der Rekrut saß schweigend hinter ihm. Eine heftige Windbö blies den Schnee von den Dächern, und die feinen Partikel trafen ihre Gesichter wie Nadelspitzen. Der Obergefreite wischte sich die Augen trocken und fragte wieder: "Wie heißt du, Kleiner?"
"Ich werde Hsiao-pao gerufen, Herr, das bedeutet Kleiner Schatz", antwortete er mit zitternder Stimme.
"Kleiner Schatz", sagte Ruppert von Himmelfleck. "Was für ein hübscher Name! Wo ist denn dein Vater?"
"Ich weiß es nicht, Herr!" rief der Junge unglücklich aus. "Als Vater nach Hause kam, hat er sich so heftig mit Mutter gestritten. Mutter hatte nichts zu essen fertig, sie sagte, es seien nicht einmal Nudeln im Haus. Dann ... dann begann Vater sie auszuschimpfen, er schrie sie an, sie habe den Nachmittag mit Herrn Shen, dem alten Pfandleiher, verbracht. Mutter begann zu weinen, und ich lief hinaus. Ich dachte, ich könnte vielleicht ein Päckchen Nudeln bei dem Lebensmittelhändler borgen, um Vater wieder glücklich zu machen. Aber im Laden waren so viele Menschen, dass ich nicht durchkam, und ich ging nach Hause zurück. Aber da waren Vater und Mutter nicht mehr da, überall war Blut, auf dem ganzen Fußboden. Ich rutschte aus, und ich..."
Er brach in ein Schluchzen aus, das seinen kleinen Rücken schüttelte. Der Obergefreite zog den Jungen näher zu sich heran und hüllte ihn in seinen Wolfsfellmantel. Schweigend ritten sie weiter.
Als Ruppert von Himmelfleck das große Tor zum Tempel des Großen Io vor dem Winterhimmel auftauchen sah, stieg er von dem Karren. Er hob den Jungen herunter und sagte zum Rekruten: "Wir sind fast da. Wir werden den Esel hier am Tor lassen, damit niemand unser Kommen bemerkt."
Sie betraten eine schmale Gasse, die auf beiden Seiten von baufälligen Holzhäusern gesäumt wurde. Der Junge deutete auf eine Eingangstür, die halb offen stand. Ein schwaches Licht schien hinter dem Fenster, aber das erste Stockwerk war hell erleuchtet, und wirres Geschrei und Singen ertönten von dort.
"Wer wohnt da oben?" fragte Ruppert von Himmelfleck, als er vor der Tür stehenblieb.
"Schneider Liu", erwiderte der Junge. "Sie haben ein paar Freunde für das Fest heute Abend eingeladen."
"Du zeigst dem Rekruten den Weg hinauf, Hsiao-pao", sagte der Obergefreite. Und zum diesem gewandt, fügte er leise hinzu: "Lassen Sie den Jungen bei den Leuten im ersten Stock, aber bringen Sie den Burschen Liu mit herunter, damit ich ihn befragen kann."
Dann betrat er das Haus und die Wohnung des Hausierers.
Der kalte, nackte Raum wurde nur von einer zischenden Öllampe auf einem wackligen Eckgestell erleuchtet. In der Mitte auf einem grob gefertigten Tisch standen drei Schalen aus gesprungenem Ton, und am einen Ende lag ein blutbespritztes Hackmesser. Auf dem mit Steinfliesen belegten Fußboden war eine große Blutlache.
Ruppert sah auf das Hackmesser und murmelte: "Irgend jemand hat sauber jemandes Kehle damit durchgeschnitten!"
Er befühlte das Blut auf dem Hackmesser mit seinem Zeigefinger und stellte fest, dass es noch feucht war. Rasch nahm er den Rest des düsteren Zimmers in Augenschein. An der Rückwand stand ein großes Bett mit verblichenen blauen Vorhängen, und ein kleineres Bett ohne Vorhänge, offenbar das des Jungen, befand sich an der linken Wand. Die Gipswände waren kahl und hier und da notdürftig ausgebessert worden. Ruppert von Himmelfleck ging zu der geschlossenen Tür neben dem Bett des Jungen. Sie führte in eine kleine Küche. Die Asche im Herd war kalt.
Als der Obergefreite ins Zimmer zurückkam, war der Rekrut wieder da und bemerkte spöttisch: "Kein Ort, für den sich Räuber interessieren würden! Ich habe von dem Hausierer Wang schon gehört; er ist arm wie eine Ratte!"
"Das Motiv war Leidenschaft", sagte Himmelfleck kurz. Er deutete auf ein seidenes Taschentuch, das neben dem Vorhangbett auf dem Boden lag. Das flackernde Licht der Öllampe schien auf ein großes Schriftzeichen, das mit Goldfaden in das Tuch gestickt war. "Nachdem der Junge aus dem Haus gelaufen war, um die Nudeln zu borgen", fuhr Ruppert von Himmelfleck fort, "fand der Hausierer das Taschentuch, das der Geliebte seiner Frau zurückgelassen hatte. Das war zu viel für ihn. Noch erregt von dem Streit, nahm er das Hackmesser und tötete sie. Die uralte Geschichte." Er zuckte die Achseln. "Er muss fortgegangen sein, um die Leiche zu verstecken. Ist der Hausierer ein kräftiger Bursche?"
"Stark wie ein Ochse, Herr!" antwortete der Rekrut. "Ich habe ihn oft auf der Straße umherlaufen sehen, er trägt von morgens bis abends diese schwere Kiste da auf seinem Rücken."
Ruppert von Himmelfleck warf einen Blick auf die große quadratische Kiste, die mit Öltuch bedeckt neben der Tür stand. Er nickte langsam.
Ein hagerer Mann trat ein. Er schien sehr betrunken zu sein. Auf seinen Füßen schwankend, warf er dem Obergefreiten aus kleinen unsteten Augen einen verschwommenen Blick zu. Der Rekrut packte ihn am Kragen und schob ihn vor Ruppert, der seine Arme verschränkte und kurz angebunden sagte: "Ein Mord wurde hier begangen. Erklären Sie genau, was Sie gehört und gesehen haben!"
"Es muss die Schuld dieser Frau gewesen sein!" murmelte der Schneider mit schwerer Zunge. "Treibt sich immer herum, aber einen netten, tüchtigen Burschen wie mich sieht sie nicht einmal an!" Er hickste. "Ich bin zu arm für sie, genau wie ihr Mann! Sie ist hinter dem Geld des Pfandleihers her, diese Schlampe!"
"Keine Unhöflichkeiten bitte!" wies ihn von Himmelfleck ärgerlich zurecht. "Und beantworten Sie meine Fragen! Die Decke hier besteht nur aus dünnen Brettern; Sie müssen den Streit gehört haben!"
Der Rekrut gab ihm einen Tritt vors Schienbein und bellte: "Reden Sie schon!"
"Ich habe nichts gehört, Exzellenz!" winselte der erschrockene Schneider. "Die Kerle da oben sind alle betrunken, sie schreien und singen die ganze Zeit! Und meine dumme Frau hat die Schüssel umgeworfen, und sie war zu betrunken, um das Zeug aufzuwischen. Ich musste sie eine ganze Weile schütteln, bevor ich sie dazu bringen konnte, sich an die Arbeit zu machen."
"Niemand verließ das Zimmer?" fragte Ruppert von Himmelfleck.
"Ach was!" murmelte der Schneider. "Die sind doch viel zu sehr damit beschäftigt, sich über das Schwein herzumachen, das Fleischer Li für uns geschlachtet hat! Und wer muss es braten? Ich natürlich! Die Kerle saufen nur meinen Wein, sie sind sogar zu faul, das Kohlefeuer richtig in Gang zu halten! Das Zimmer ist voller Rauch, ich musste das Fenster öffnen. Und in dem Moment sah ich die Schlampe wegrennen!"
Ruppert von Himmelfleck runzelte die Stirn. Er dachte einen Augenblick nach, dann fragte er: "War ihr Mann bei ihr?"
"Würde sie ihn dabeihaben wollen?" sagte der Schneider höhnisch. "Sie kommt besser ohne ihn zurecht!"
Der Obergefreite drehte sich rasch um. Er bückte sich und untersuchte den Fußboden. Unter den durcheinander laufenden blutigen Fußabdrücken bemerkte er solche von kleinen spitzen Schuhen, die zur Tür führten. Mit gespannter Stimme fragte er den Schneider: "In welche Richtung ist sie gegangen?"
"Zum Wassertor!" antwortete der Mann verdrossen.
Ruppert von Himmelfleck zog seinen Mantel enger um sich. "Bring den Burschen nach oben!" befahl er dem Rekruten. Während er zur Tür ging, flüsterte er ihm noch eilig zu: "Warten Sie hier auf mich! Wenn Wang zurückkehrt, verhaften Sie ihn! Der Pfandleiher muss gerade in dem Moment hereingeschaut haben, um sein Taschentuch zu holen, als Wang, der sich mit seiner Frau stritt, das Tuch entdeckte. Wang tötete ihn, und seine Frau floh."
Der Obergefreite verließ das Haus und stapfte durch den Schnee zur nächsten Straße. Er lief zum Wassertor, so schnell er konnte. Ein Toter war genug, dachte er.
Als er die Treppe erreichte, die in den Torturm hinaufführte, sprang er ab und hastete die steilen, schneeglatten Steinstufen empor. Oben auf dem Turm sah er eine Frau an der am weitesten entfernten Brustwehr stehen. Sie hatte ihr Gewand um sich gezogen und blickte mit vorgebeugtem Körper auf das Wasser des Stadtgrabens tief unter sich hinab.
Ruppert lief zu ihr und legte seine Hand auf ihren Arm. "Das sollten Sie nicht tun, Frau Wang!" sagte er ernst. "Ihr Selbstmord macht den Toten auch nicht wieder lebendig!"
Die Frau wich von der Brüstung zurück und blickte den Obergefreite mit erschrockenen Augen und furchtsam geöffnetem Mund an. Er sah, dass sie trotz ihres abgehärmten und verstörten Gesichts immer noch auf eine alltägliche Art hübsch war.
"Sie müssen von der Wache sein!" stammelte sie. "Das bedeutet, dass der Mord, den mein armer Mann begangen hat, bereits entdeckt worden ist! Und es ist alles meine Schuld!" Sie brach in ein herzzerreißendes Schluchzen aus.
"Ist es der Pfandleiher Shen, den er ermordet hat?" fragte Ruppert von Himmelfleck.
Sie nickte verloren mit dem Kopf. Dann rief sie aus: "Ich bin ein solcher Dummkopf! Ich schwöre, dass zwischen Shen und mir nichts war; ich wollte meinen Mann nur ein wenig necken ..." Sie schob eine feuchte Haarsträhne aus ihrer Stirn. "Shen hatte einen Satz bestickter Taschentücher bei mir bestellt, die er seiner Frau als Schneevatergeschenk überreichen wollte. Ich hatte meinem Mann nichts davon erzählt, ich wollte ihn mit dem Geld überraschen. Als mein Mann heute Abend das letzte Taschentuch entdeckte, an dem ich arbeitete, holte er das Küchenmesser und brüllte, dass er Shen und mich umbringen würde. Ich floh nach draußen; ich wollte zu meiner Schwester in der nächsten Straße, aber das Haus war verschlossen. Und als ich zurückkam, war mein Mann verschwunden und ... überall war das Blut." Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, dann fügte sie schluchzend hinzu: "Shen ... er muss gekommen sein, um die Taschentücher abzuholen und ... Wang tötete ihn. Es ist alles meine Schuld, wie kann ich weiterleben, wenn mein Mann ...?"
"Vergessen Sie nicht, dass Sie Ihren Sohn zu versorgen haben", unterbrach sie Ruppert von Himmelfleck. Er ergriff fest ihren Arm und führte sie zur Treppe.
Ins Haus zurückgekehrt, befahl er dem Rekruten, die Frau nach oben zu bringen. Nachdem dieser dies erledigt hatte, sagte der Himmelfleck zu ihm: "Wir stellen uns dicht neben der Tür an die Wand. Wir brauchen nur auf die Rückkehr des Mörders zu warten. Wang hat Shen hier drin getötet und ist dann fortgegangen, um die Leiche seines Opfers zu verstecken. Er wird zurückkommen wollen, um das Blut aufzuwischen, aber sein Sohn brachte uns hierher und hat seinen Plan durchkreuzt." Nach einer Weile fügte er seufzend hinzu: "Es tut mir leid um den Jungen, er ist ein liebenswerter kleiner Bursche!"
Die beiden Männer nahmen ihre Plätze an der Wand ein, einer auf jeder Seite der Tür. Oben ertönten laute, raue Stimmen, die sich zu streiten schienen.
Plötzlich öffnete sich die Tür, und ein großer, breitschultriger Mann trat ein. Die beiden Wächter stürzten sich auf ihn und überrumpelten ihn. Bevor Wang wusste, wie ihm geschah, hatten sie ihm die Arme auf den Rücken gefesselt und ihn auf die Knie gezwungen. Ein in Ölpapier eingewickeltes Päckchen fiel aus seinem Ärmel, Nudeln ergossen sich überall auf den Boden. Der Rekrut stieß das Päckchen mit dem Fuß in eine Ecke.
Oben wurde getanzt. Die dünnen Bretter der Decke ächzten und knarrten.
"Man wirft keine guten Lebensmittel fort!" schnauzte Ruppert von Himmelfleck verärgert den Rekruten an. "Heb das auf!"
Solchermaßen zurechtgewiesen, beeilte der sich, die Nudeln aufzusammeln. Als er sie auf den Tisch legte, murmelte er: "Sie sind nicht mehr gut, der Schmutz, der von der Decke gefallen ist, hat sie verdorben."
"Der Kerl hat Blut an der rechten Hand, Euer Ehren!" rief er dann, als er Wangs Ketten überprüft hatte, aufgeregt aus.
Wang hatte mit aufgerissenen Augen das Blut auf dem Fußboden vor sich angestarrt. Seine Lippen bewegten sich, aber kein Laut war zu hören. Jetzt sah er zum Obergefreite auf und brachte hervor: "Wo ist meine Frau? Was ist mit ihr geschehen?"
Ruppert von Himmelfleck setzte sich auf die Kiste und verschränkte seine Hände in den weiten Ärmeln. Kalt sagte er: "Ich bin es, der Obergefreite, der hier die Fragen stellt! Erzählen Sie mir..."
"Wo ist meine Frau?" schrie Wang außer sich. Er wollte aufstehen, aber der Rekrut schlug ihm den schweren Griff seines Kurzschwertes auf den Schädel. Wang schüttelte benommen den Kopf und stammelte: "Meine Frau... und mein Sohn..."
"Heraus mit der Sprache! Was ist heute Abend hier passiert?" fragte der Obergefreite.
"Heute Abend..." sagte Wang mit tonloser Stimme, dann stockte er.
Der Rekrut gab ihm einen Tritt. "Antworte und sag die Wahrheit!" knurrte er.
Wang runzelte die Stirn. Wieder sah er auf das Blut. Schließlich begann er: "Heute Abend, als ich nach Hause ging, erzählte mir der Lebensmittelhändler, dass der Pfandleiher Shen bei mir gewesen sei. Und als ich hierher kam, war nichts zu essen da, nicht einmal unsere Neujahrsnudeln. Ich sagte zu meiner Frau, dass ich sie nicht mehr wolle, dass sie zu diesem Shen gehen und dort bleiben könne. Ich sagte, die ganze Nachbarschaft wüsste, dass er sie besucht, wenn ich weg bin. Sie erwiderte nichts darauf. Dann fand ich das Taschentuch dort neben dem Bett. Ich ging in die Küche, um das Hackmesser zu holen. Zuerst wollte ich sie töten und dann diesen Kerl Shen erledigen. Doch als ich mit dem Messer aus der Küche zurückkam, war meine Frau fortgelaufen. Ich ergriff das Taschentuch, das ich Shen ins Gesicht werfen wollte, bevor ich ihm die Kehle durchschnitt. Aber ich kratzte mir die Hand an der Nadel auf, die darin steckte."
Wang hielt inne. Er biss sich auf die Lippe und schluckte. "Da wusste ich, was für ein ausgemachter Dummkopf ich gewesen war. Shen hatte das Taschentuch dort nicht verloren; es war eins, das er bei ihr bestellt hatte und an dem sie noch arbeitete ... Ich ging meine Frau suchen. Ich ging zum Haus ihrer Schwester, aber da war niemand. Dann ging ich zu Shens Laden; ich wollte meine Jacke verpfänden und etwas Hübsches für meine Frau kaufen. Aber Shen sagte, er schulde mir einen Strang Kupfermünzen für einen Satz Taschentücher, den er bei ihr bestellt hätte. Das letzte sei noch nicht ganz fertig gewesen, als er am Nachmittag in unserem Haus vorbeischaute, aber die, die er seiner Frau gegeben habe, hätten ihr sehr gefallen. Und da Schneevaterabend sei, sagte er, würde er mich auf jeden Fall bezahlen. Ich kaufte ein Päckchen Nudeln und eine Papierblume für meine Frau und kam hierher." Er starrte den Obergefreite an und stieß hervor: "Sagen Sie mir, was ist mit ihr passiert? Wo ist sie?"
Der Rekrut brach in schallendes Gelächter aus. Er rief: "Was für dumme Lügenmärchen der Hund erzählt! Der Kerl hofft, Zeit zu gewinnen!" Er hob den Griff seines Schwertes und fragte den Obergefreite: "Soll ich ihm die Zähne einschlagen damit die Wahrheit ein bisschen leichter herauskommt?"
Ruppert von Himmelfleck schüttelte den Kopf. Langsam strich er sich über seinen Schnurrbart und blickte unverwandt das verzerrte Gesicht des vor ihm knienden Hausierers an. Dann befahl er dem Rekruten: "Sehen Sie nach, ob er eine Papierblume bei sich hat!"
Der Rekrut fasste dem Hausierer in den Ausschnitt seines Gewandes und brachte eine rote Papierblume zum Vorschein. Er hielt sie hoch, damit der Obergefreite sie sehen konnte, dann warf er sie verächtlich auf den Boden und setzte seinen Fuß darauf.
Ruppert von Himmelfleck erhob sich. Er ging zu dem großen Bett hinüber, hob das Taschentuch auf und musterte es eingehend. Dann trat er an den Tisch und blieb eine Weile dort stehen, während er die schmutzigen Nudeln auf dem Stück Ölpapier anstarrte. Das einzige Geräusch, das zu hören war, war der schwere Atem des knienden Mannes.
Plötzlich begannen die Stimmen im ersten Stock wieder zu lärmen. Ruppert von Himmelfleck sah zur Decke hinauf. Dann wandte er sich an den Rekruten und befahl: "Bringen Sie die beiden herunter!"
Als der Hausierer seine Frau und seinen Sohn erblickte, öffnete sich sein Mund in entzücktem Erstaunen. Er rief aus: "Dem Himmel sei Dank, ihr seid gesund!" Er wäre aufgesprungen, wenn ihn der Rekrut nicht grob wieder nach unten gedrückt hätte.
Seine Frau warf sich vor dem knienden Mann zu Boden. Sie stöhnte: "Vergib mir, vergib mir! Ich war ein solcher Narr, ich wollte dich nur ein wenig necken! Was habe ich getan, was habe ich getan! Jetzt hast du... Sie werden dich fortbringen und..."
"Steht auf, ihr beiden!" unterbrach die ernste Stimme des Obergefreites sie. Auf seine gebieterische Geste hin ließ der Rekrut Wangs Schultern los.
"Nimm ihm die Ketten ab!" befahl Ruppert von Himmelfleck. Während der verblüffte Rekrut diesen Befehl ausführte, fuhr der Obergefreite zu Wang gewandt fort: "Heute Abend hätten Sie durch Ihre dumme Eifersucht beinahe Ihre Frau verloren. Es war Ihr Sohn, der eine schreckliche Tragödie verhütete, er hat mich rechtzeitig benachrichtigt. Lassen Sie sich den heutigen Abend eine Lehre sein - Sie beide, Mann und Frau. Der Schneevaterabend ist eine Zeit des Erinnerns. Des Erinnerns an die Segnungen, die der Himmel uns gewährt hat, an die Gaben, die wir zu gern als selbstverständlich hinnehmen und allzu leicht vergessen. Sie lieben einander, Sie sind gesund, und Sie haben einen prächtigen Sohn. Das ist mehr, als viele von uns sagen können! Seien Sie von nun an entschlossen darum bemüht, sich dieser Segnungen wert zu erweisen!" Er tätschelte dem kleinen Jungen den Kopf und fügte hinzu: "Damit Sie es nie vergessen, befehle ich Ihnen, den Namen dieses Jungen in "Großer Schatz" zu ändern!"
Er gab dem Rekruten ein Zeichen und ging zur Tür.
"Aber ... Herr, der Mord..." stammelte die Frau.
Der Obergefreite blieb in der offenen Tür stehen und sagte mit einem düsteren Lächeln: "Es gab keinen Mord. Nachdem die Leute oben ein Schwein geschlachtet hatten, warf die Frau des Schneiders die Schüssel mit dem aufgefangenen Blut um, und sie war zu betrunken, es gleich aufzuwischen. Es sickerte durch die Ritzen in der Decke und tropfte auf den Tisch und den Fußboden in diesem Zimmer. Auf Wiedersehen!"
Die Frau legte ihre Hand auf den Mund, um einen Freudenschrei zu unterdrücken. Ihr Mann lächelte ihr ein wenig töricht zu, dann bückte er sich und hob die Papierblume auf. Nachdem er unbeholfen die Blütenblätter glattgestrichen hatte, ging er zu ihr und steckte ihr die Blume ins Haar. Der Junge sah zu seinen Eltern auf, ein breites Lächeln auf dem kleinen runden Gesicht.
Der Rekrut hatte den Eselkarren vor den Eingang geführt. Erst nachdem der Obergefreite hinein gesprungen war, bemerkte er plötzlich, dass sein Rheuma verschwunden war.
Die Glocke der Nachtwache verkündete Mitternacht. Knallfrösche begannen einen Höllenlärm auf dem Pseudopolisplatz zu verbreiten. Während der Obergefreite den Esel antrieb, drehte er sich im Sattel um und rief: "Glückliches Schneevaterfest!"
Er bezweifelte, dass die drei Menschen in der Haustür ihn gehört hatten. Es spielte auch keine Rolle.

Nachbemerkung:
Diese Geschichte ist ein Plagiat. Sie stammt eigentlich von Robert H. van Gulik und ist die letzte Geschichte im Sammelband "Richter Di bei der Arbeit". Als ich sie gestern gelesen habe kam mir die Idee sie auf "Ankh-Morpork" umzuschreiben. Ich habe im Großen und ganzen den Text übernommen, deshalb auch manch ungewöhnliches für eine Wachegeschichte ...
Ich sehe sie als kleine Hommage an van Gulik und an Richter Di, des größten aller chinesischen Detektive!



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