Niemand ist perfekt. Und es sollte auch niemand perfekt sein wollen. Was nützt einem das schon, immer alles richtig zu machen. Ist doch langweilig, dieses Richtig-Gemache. Wen soll man denn dann als schlechtes Vorbild nehmen, wenn die Welt aus einer Elite-Bevölkerung besteht? Und was würde aus dem Wort "Schadenfreude", wenn man über nichts und niemanden mehr lachen könnte?, dachte Sayadia Trovloff und seufzte halbherzig.
Ihr Blick wanderte über das Geschehen zu ihren Füßen. Erst jetzt erinnerte sie sich wieder daran, dass sie auf einem Dach saß, genauer gesagt, auf dem Dach eines Wohnhauses in der Ulmenstraße. Doch ihr Gedächtnis ließ es einfach nicht zu, ihr zu sagen, wie und vor allem
warum sie sich auf diesem Dach befand. Seit ihrem Gedächtnisschwund vor zehn Jahren
[1], als sie von der Familie Trovloff adoptiert wurde, hatte sie einfach einen "Kopf wie ein Sieb". Bis heute kannte sie ihre wahren Eltern nicht, und auch nicht den Grund ihrer Adoption.
Erinnerungsfetzen von großem Lärm und einem zerbrochenen Teller kamen auf, doch Sayadia hatte gelernt, nicht darauf zu achten. Es hatte schon zu viele zerbrochene Teller in ihrem Leben gegeben.
Langsam schwang sie sich von dem Dach, dabei lösten sich einige Dachziegel und kamen krachend am Boden an, Sayadia ignorierte sie. Sie war sogar zu sehr damit beschäftigt sich zu erinnern, dass sie nicht einmal bemerkte, wie hoch sie noch über dem Boden schwebte, bevor sie losließ.
Wenige Sekunden später meldete ihr Rücken eine Bruchlandung.
"Autsch"
"Hast dir was getan, Mädchen?", fragte ein Passant, der das Geschehen zufällig beobachtete.
"Ähm...ich glaube nicht. Danke!", antwortete Sayadia und massierte sich das schmerzende Genick.
"Solltest vorsichtiger sein. Man kann sich schnell den Hals brechen, wenn man auf Häusern turnt.", der Mann beschloss, dass das braunhaarige, zierliche Mädchen noch lebte.
"Ja, ich weiß.", sagte es, doch der Mann drehte sich um und wollte gehen, "Oh...ähm, warten Sie. Welcher Tag ist heute, Sir?"
"Montag. Muss jetzt zur Arbeit. Pass auf dich auf."
"Danke", murmelte Sayadia.
Montag. Das bedeutete es war ein Arbeitstag. Sie hatte Arbeit. Sayadia freute sich, dass sie das noch wusste, aber die Freude hielt nicht lange an - so doof war sie doch noch nicht.
Es war noch nicht einmal acht Uhr, doch der Tag nahm schon einen beunruhigenden Lauf an. Trotzdem machte sich die zierliche, junge Frau mit den brauen Haaren auf den Weg in die Kröselstraße, zum Wachhaus der Abteilung GRUND.
Das Wachhaus war ziemlich leer. Sayadia begegnete nur wenigen Wächtern. Sie nickten ihnen kurz zu, obwohl sie nicht einmal die Hälfte von ihnen kannte.
"Es wird Zeit, dass wir versuchen jemanden kennen zu lernen, Piep!", murmelte das Mädchen zu einem kleinen, grünen Fleck auf ihrer Schulter.
"Pieps."
Das kleine grüne Etwas bewegte sich und streckte die Flügelchen aus. Es war ein Vogel, beziehungsweise ein Vögelchen, denn es war nur so groß wie ein Ohr. Er gehörte zur Rasse der Kohlpicker
[2] Sayadia hatte ihn als Mädchen verletzt in einem Hinterhof gefunden und ihn aufgepäppelt. Wie sich herausstellte konnte er nicht mehr fliegen, doch das hinderte ihn nicht daran, sich umher tragen zu lassen und den Schnabel weit aufzureißen.
"Rekrutin Trovloff!", rief jemand aus dem Hintergrund.
Sayadia drehte sich um und erkannte die sprechende Person. Vor ihr stand ihre Ausbilderin Korporal Rogi Feinstich.
"Ja, Mä'äm?", fragte Sayadia und versuchte zu salutieren - es klappte nicht.
"Waf war daf?"
"Entschuldigen Sie, Mä'äm. Ich habe mein Auge getroffen."
"Und womit, wenn ich fragen darf?", Feinstich schaute ihre neue Rekrutin ein wenig seltsam an und fragte sich, wann Rekruten es endlich lernen würden, sich von alleine auszubilden.
"Ähm...mit meiner Hand, Mä'äm."
"Muff ich daf verftehen?" Rogi Feinstich schaute noch ungläubiger.
Sayadia schüttelte den Kopf. Sie ärgerte sich über ihre eigene Tollpatschigkeit.
"Egal, heute fteht ein wichtiger Punkt für deine Aufbildung an, die Fpurenficherung. Ich bitte dich mir fu folgen."
"Natürlich, Mä'äm!"
Ein leises Gefühl der Angst breitete sich in Sayadia aus. Spurensicherung. Das war ein harter Brocken. Da konnte man so unendlich viel falsch machen! Und Sayadia war so etwas wie berühmt dafür etwas falsch zu machen.
Tapfer folgte sie ihrer Ausbilderin in einen Raum, der weit entfernt vom Hauptgeschehen des Wachhauses lag. Es klebte ein Zettel an der Tür: "Nicht betreten - Tatortsicherung".
Sayadia schluckte, und verschluckte sich, sodass sie husten musste.
"Ift allef in Ordnung?", fragte Feinstich.
"Ja, Mä'äm.", antwortete die Rekrutin und räusperte sich.
"Dort drinnen ift ein Tatort. Ich möchte, daff du ihn gründlich durchfuchft, und dir fon mal Gedanken machft, waf paffiert fein könnte. Du wirft genügend Feit haben, ich komme dich fpäter holen - und wehe ich fehe keine Ergebniffe!"
Sie schob ihren Schüler in den dunklen Raum und schloss die Tür hinter ihr ab.
Da sie nichts weiter machen konnte, als ihren Befehlen zu gehorchen, begann Sayadia mit der Arbeit.
Zuerst schaute sie sich aufmerksam im Zimmer um. Von Sekunde zu Sekunde wurde ihr immer mulmiger im Bauch, denn sie sah absolut nichts.
Alles sah aus wie ein gewohntes Zimmer.
Ein Bett, ein Tisch mit einem Stuhl, ein Kleiderschrank und eine kleine Kommode mit sehr vielen Schubfächern. Außerdem sah sie eine Lampe.
Da es ziemlich dunkel war, wollte Sayadia die Lampe einschalten. Sie ging also los und betätigte den Schalter.
Nichts passierte. Immer noch herrschte tiefschwarze Dunkelheit in dem kleinen Raum.
Sayadia überlegte, ob sie eventuell etwas falsch gemacht hatte und begann dabei laut mit sich selbst zu sprechen, ab und zu erinnerte sie sich an Piep auf ihrer Schulter, doch der hörte ihr nicht zu, weil er tief und fest schlief.
" ... Vielleicht ist es ein Test, Piep! ... Ja, ich glaube es ist ein Test. das kann ja schlecht ein richtiger Tatort sein, nicht hier im Wachhaus. Aber wenn es ein Test ist, dann muss es doch auch eine Lösung geben. Aber ... wie soll ich das Rätsel lösen, wenn ich überhaupt nichts weiß? Es muss doch irgendwo etwas geben ..."
Sie schaute sich noch mal in dem Zimmer um. Alles sah so aus wie vorher. Wegen der Dunkelheit ein wenig verschwommen, aber absolut normal.
Frustriert sank die Rekrutin auf den Boden. Sie malte sich schon ihre Kündigung aus, als sie doch noch etwas bemerkte.
In der Dunkelheit unter dem Bett bemerkte sie eine Stelle, die nicht ganz verschwommen war. Da Sayadia gerade auf dem Boden saß, beschloss sie kurzerhand zum Bett zu robben. Dabei stießen ihre Hände auf eine kleine Erhebung im Teppich. Sie tastete den Huckel mit den Fingern ab. Darunter schien nur Luft zu sein. Angefacht von ihrer Mini-Entdeckung stellte sie einen Fuß auf die Erhebung und streckte den Arm soweit aus, bis sie unter das Bett fassen konnte. Ihre Fingerspitzen ertasteten einen Kasten. Sie zog ihn hervor und untersuchte ihn.
Bald stellte sie fest, dass es ein einfacher Holzkasten war, der schwarz gestrichen worden war. Vorsichtig hob das Mädchen den Deckel an und machte sich innerlich auf alles Mögliche gefasst.
Doch es gab keine Explosionen oder sonstige Schreckmomente.
In dem Kasten befanden sich lediglich ein paar Kerzen und Streichhölzer.
Sayadia zündete eine Kerze an und sofort tauchte sie den Raum in ein sanftes Licht. Jetzt bemerkte sie auch Bilder an der Wand. Alle zeigten unterschiedliche Motive, doch eines schien eine Landkarte zu sein. Sayadia trat näher an die Karte heran
[3]. Ihre Topographiekenntnisse hielten sich zwar in Grenzen, aber sie war der Meinung, dass dies eine Karte von Ankh-Morpork sein sollte. Doch etwas stimmte damit nicht. Sie hielt die Kerze noch näher an das Bild und hätte es beinahe in Asche verwandelt, wenn es nicht bedrohlich geknistert hätte. Nun gab es zwar einen winzigen grauen Fleck am Rand der Karte, doch immerhin
hing die Karte noch. Doch irgendwie zog der kleine Fleck auf der vergilbten Karte ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie betrachtete ihn, bis ihr ein weiteres kleines Zeichen auffiel. Es schien eine alte Schrift zu sein, doch Sayadia konnte sie nicht lesen.
Aus Gewohnheit legte sie den Kopf beim Denken schief und auf einmal kamen ihr die Zeichen bekannter vor. Erst dachte sie es wäre ein Wunder geschehen, doch die Worte standen nur verkehrt herum auf der Karte.
"Ankh-Morpork", las Sayadia, "... Ankh-Morpork! Also ist es doch ein Stadtplan. Er ist nur verkehrt herum aufgehängt worden!"
Ihr Hand klatschte an ihre Stirn: "Wie kann man nur so blöd sein?"
Vorsichtig nahm sie das Bild ab und stellte es an die Wand. Dahinter fand sie überraschenderweise einen Teil des Mauerwerks und nicht Tapete, wie sie an den üblichen Wänden hing. Sie klopfte probeweise einmal dagegen und tatsächlich, es klang hohl. Sie untersuchte die Ränder der Mauer und fand einen winzigen Spalt, der sich um das gesamte Viereck zog. Anscheinend gab es dahinter einen kleinen Raum.
Sie kramte in ihren Taschen nach irgendetwas Brauchbaren um in den Spalt zu kommen und fand ein kleines Messer. Damit bohrte sie in dem Spalt, bis die angebliche Mauer beiseite schwang. Jemand hatte die Steine auf ein Brett geklebt und somit eine stabile Mauer vorgetäuscht.
Dahinter lag eine Kiste aus Metall. Das Schloss, das die Kiste verschlossen halten sollte, war aufgebrochen.
Sayadia erinnerte sich daran, dass Spurensicherer verdächtige Gegenstände immer einsammeln sollten, doch sie hatte keine Tüten dabei. Sie durchwühlte die Schubfächer der Kommode und fand einen kleinen Weidenkorb, in dem ein Tintenfass stand. Sie stellte es beiseite und legte das aufgebrochene Schloss hinein.
Der Metallkasten zeigte eindeutig Spuren vom gewaltsamen Eindringen. Überall waren Kratzer und Beulen zu sehen. Doch er enthielt nichts weiter als ein leeres, verstaubtes Blatt Papier. Trotzdem konnte man noch Abdrücke erkennen von einem Gegenstand, der bis kurzen auf diesem Blatt gestanden hatte.
Anscheinend war hier etwas gestohlen worden. Sayadia war froh, dass sie das herausgefunden hatte. Vorsichtshalber durchsuchte sie noch den Schrank, doch auch er war leer. Es schien halt doch nur ein improvisierter Tatort zu sein. Auch unter dem Bett lag nichts weiter.
Sayadia schaute sich gerade all die anderen Bilder an, als die Tür geöffnet wurde. Rogi Feinstich trat ein.
"Und Rekrutin Trovloff, waf hast du entdeckt?"
"Hier ist etwas aus diesem Metallkasten gestohlen worden, Mä'äm. Ich fand das Schloss aufgebrochen vor und auf der weißen Unterlage sieht man noch Abdrücke von einem Gegenstand, der sich dort nun nicht mehr befindet."
"Gut gemacht. Aber wie bift du auf den Kaften gekommen?"
"Die Karte, Mä'äm. Sie hing falsch rum an der Wand."
"Und waf ift daf?", fragt Feinstich und deutete auf den verkohlten Fleck.
"Ähm...nur ein kleines Missgeschick, Mä'äm.", antwortete Sayadia verlegen.
"Ok, du haft fwar die Fpuren deuten können, aber dabei ein Indif befädigt. Trotfdem, gut gemacht! Du kannft jetft gehen."
"Dankesehr, Mä'äm! Auf wiedersehen!", Sayadia salutierte, diesmal richtig.
Sayadia ging nach Hause. Eigentlich war der Tag gar nicht so schlecht gewesen. Er hatte zwar auf einem fremden Dach begonnen und sie hatte sich beim Salutieren fast ein Auge ausgestochen, aber sie hatte ihre Aufgabe gelöst und das war doch viel wert. Noch besser war, dass sie heute fast nichts vergessen hatte und sie hatte sich verhältnismäßig wenig wehgetan.
Freudestrahlend erreichte sie ihren Wohnort. Solange sie sich erinnern konnte, hatte sie hier gelebt. Vielleicht war sie woanders geboren worden, doch Ankh-Morpork war und ist ihre einzige Heimat.
Sayadia öffnete die Tür, die so breit war, dass zwei Menschen durchgehen könnten.
"Ich bin zu Hause!", rief sie und rammte trotz der breiten Tür mit der Schulter gegen den Türrahmen.
Sie war nun einmal nicht perfekt.
[1] damals war sie acht
[2] Kohlpicker sind sehr gesellige Vögel, die nur in großen Schwärmen auftreten. Wie der Name schon sagt, ernähren sie sich von Kohl, den es im Umland von Ankh-Morpork reichlich gibt. Ihr Gefieder zeigt eine grüne Färbung, damit sie sich in den Kohlfeldern besser tarnen können. Ansonsten ähneln sie einfachen Spatzen, nur das sie ein wenig kleiner sind. Sie werden zwischen 3-5 cm groß, wobei die Männchen größer sind als die Weibchen.
In Freiheit verhalten sie sich Menschen gegenüber sehr zurückhaltend, hat man sie allerdings von Geburt an, oder erweist ihnen einen besonderen Dienst, werden sie zu treuen Freunden. Trotz ihrer geringen Größe können sie Feinden gegenüber größenwahnsinnig werden.
[3] Dass ihr Fuß bis eben eine Entdeckung markiert hatte, hatte sie schon wieder vergessen
Für die Inhalte dieses Textes ist/sind alleine der/die Autor/en verantwortlich. Webmaster
und Co-Webmaster behalten sich das Recht vor, inhaltlich fragwürdige Texte ersatzlos von der Homepage zu entfernen.