Omega

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von Stabsspieß Atera (SEALS)
Online seit 01. 08. 2006
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Es steht geschrieben, wir haben mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht mit uns.

Dafür vergebene Note: 13


Es war nicht das gleichmäßige monotone Tropfen des Regens, der langsam durchs undichte Dach sickerte, um plitschend in einem der vielen aufgestellten Töpfe zu landen, der sie weckte. Auch nicht das leise verhaltene Quaken, das aus mehreren jener Töpfe erscholl. Es war ein markantes Klopfen an der windschiefen Türe.
Atera öffnete die Augen und starrte zur Decke über ihr. Sie hatte nicht wirklich geschlafen, nur so dagelegen auf ihrem Bett und sich treiben lassen, vergessen... es war das einzige, was noch annähernd einem Schlaf gleichkam, alles andere hatte sie verlernt.
"Atera." Das Klopfen wollte nicht abnehmen, durch das morsche Eichenholz drang dumpf die Stimme des Abteilungsleiters von SEALS. Früher hatte sie diesen Posten gehabt, doch es verging ja so vieles und die Zeiten änderten sich. Und sie ebenfalls, ob sie wollte oder nicht.
"Moment, moment." Sie setzte sich wacklig auf und begann erst einmal ihren halb abgerissen Fuß umständlich anzunähen. Cim bollerte nun heftiger gegen die Türe, was diese mit einem ächzenden Knarzen quittierte.
"Falls du es noch nicht bemerkt hast, es regnet draußen. Komm schon, Tery, du kannst dich nicht ewig in deiner Wohnung verkriechen. Du bist Wächterin."
Atera schlurfte zur Türe und riss sie schwungvoll auf, wobei ihre Nähte protestierend knirschten. "Erzähl du mir nicht, was ein Wächter zu sein hat oder nicht", blaffte sie ihn an. "Warum bist du hier?"
Cim zog einen Helm mit breiter Krempe ab, Regen prasselte von dem rostigen Eisen. Er warf einen kritischen Blick an der Untoten vorbei in ihre düstere Wohnung. "Es geht um einen Fall."
"Aha! Du brauchst also meine Hilfe." Atera ließ die Türe offen stehen und ging wieder nach drinnen. Mittlerweile hasste sie den Regen, er war einfach nicht gut für ihre Haut und sie brauchte immer mehrere Tage bis sie wieder getrocknet war.
"Naja... nicht direkt." Cim folgte ihr zögernd. "Dein Dach ist undicht", bemerkte er.
Der Stabsspieß winkte ab. "Ich weiß." Sie ließ sich vor dem alten blechernen Ofen in die Knie sinken und entzündete ein Streichholz an der Wand daneben. Zahlreiche rußige Striche daran bewiesen, dass sie das nicht zum ersten Mal so tat. "Gib mir mal die Puppen dort hinten."
"Puppen?" Der Wächter drehte sich mehrmals um die eigene Achse bis er eine Kiste entdeckte, wo kreuz und quer einige Stoffpuppen ihr kümmerliches Dasein fristeten. Kaum hatte er Atera zwei gereicht, warf sie diese mit Schwung in den Ofen, wo sie bald in Flammen aufgingen.
"Hab ich von nem Puppenhändler um die Ecke. Ist viel billiger als Holz und brennt genauso gut. Gib mir noch mehr." Gemeinsam verfeuerten sie noch weitere Puppen bis eine heimelige Wärme in der kleinen Wohnung einzog. Ein kurzes Schweigen breitete sich aus, als beide Wächter sich unschlüssig gegenüber standen und sich gegenseitig musterten.
"Du bist Fähnrich geworden", stellte Atera fest. "Das letzte Mal warst du doch noch Feldwebel..."
Cim wischte unbehaglich ein paar Regentropfen von seinen Schulterklappen. Dann hob er einen Bottich mit Wasser und einigen Fröschen darin vom Stuhl, um sich darauf niederzulassen, nur um festzustellen, dass das Wasser nun stetig auf seinen glattgeschorenen Kopf fiel.
"Ich bin hier wegen des Gildenstreik Falles", brachte er schließlich hervor. Atera kratzte sich mit ihrem Haken am Kinn und dachte eine Weile darüber nach.
"Sagt mir nichts", entschied sie sich schließlich.
"Komm schon, du hast den vor einem Jahr bearbeitet. Die Gilden haben gestreikt wegen dieser neu eingeführten Steuer, alles ging drunter und drüber, du warst damals Abteilungsleiterin", erinnerte er sie.
"Sagt mir nichts", beharrte die Untote. Cim strich sich über den regennassen Kopf.
"Ich will ja auch nur die Akte. In deinem alten Aktenschrank war sie nicht. Ich dachte, du wüßtest vielleicht wo sie ist. Womöglich bei dir zuhause."
Atera war erfahren genug nicht zu dem wackligen Tisch zu blicken dessen vorderes rechtes Stuhlbein von einer dicken Mappe gestützt wurde.
"Womöglich unter dem Tisch dort", fuhr Cim fort. Der Stabsspieß erinnerte sie sich wieder daran, dass der Junge zu viel von ihr gelernt hatte.
"Ach das? Das ist nur... nur Kram." Sie winkte ab. Schweigen fiel auf sie herab. Das Schweigen von zwei Personen, die genau wußten, dass der andere ihnen nicht die volle Wahrheit erzählte, aber es trotzdem akzeptieren mußten. "Warum kommst du deswegen überhaupt an?"
"Erinnerst du dich noch an den Anwalt, der die Steuer damals entworfen hatte?" Während Atera noch überlegte, ob sie bejahen oder verneinen sollte, hatte Cim bereits weiter gesprochen. "Er ist tot."
"Na, wer hätte das gedacht." Die untote Wächterin schüttelte den Kopf. Geschichten wie diese fingen immer so an. Sie hasste so etwas. "Was ist das unser Problem? Gilden... Mord... sollen sich RUM oder DOG um den Fall streiten."
"Dein Name ist auf seiner Hand eingeritzt."
Atera beugte sich leicht vor, ihre milchig toten Augen musterten Cim scharf. "Willst du damit irgendetwas andeuten?"
Um sie herum fielen weitere Wassertropfen leise platschend dem schmutz starrendem Boden entgegen. Cim schwieg und erhob sich nur langsam. "Ich will damit gar nichts andeuten, ich will nur sagen, dass es etwas bedeuten muss." Er musterte Atera schräg von der Seite, dessen Miene unergründlich blieb. "Was auch immer das sein mag..." Der Wächter drehte die Eisenkrempe des Helmes in seinen Händen hin und her. "Du kennst nicht zufällig die Antwort?"
"Nein", presste Atera sofort hervor. Sie hielt weiterhin den Blick abgewandt und starrte zu der langsam nach unten tropfenden Dunkelheit ihrer Wohnung. "Es ist besser, du gehst jetzt, Cim."
"Ich habe den Fall Rea Dubiata übertragen. Sie könnte ein wenig Hilfe gebrauchen. Sie könnte diese Akte gebrauchen", entgegnete der Fähnrich stattdessen.
"Ist das ein Befehl?", fragte sie zurück. Wieder entstand jenes lange Schweigen zwischen ihnen.
"Wenn es anders nicht geht..." Cim ging langsam zur Türe und öffnete sie. Draußen zog der Regen in grauen Fäden dahin und die Welt war dunkel geworden. Kurz bevor der Wächter die Türe hinter sich schloß, drehte er sich noch einmal zu Atera um.
"Früher warst du zu jeder Tag- und Nachtzeit im Wachhaus anzutreffen."
"Früher wußte ich auch noch, wo mein eigenes Büro war. Bevor sie alles umgestellt haben und sich niemand mehr auskennt. Alles hat sich verändert. Und die Gesichter denen ich dort über den Weg laufe, kenne ich nicht", gab Atera zurück.
"Mein Gesicht ist das alte geblieben." Er schloß die Türe hinter sich. Atera blickte zu den in den Flammen schmelzenden und vergehenden Puppen, ihre Gesichter zerfielen allmählich zu Asche.

***


Der Regen hatte aufgehört, doch es war immer noch dunkel geblieben, als Atera die wenigen Stufen hoch zur alten Eichentür überwand. Ein eiserner mit grüner Patina belegter Löwenkopf blickte sie stumm an, doch statt zu klopfen, zog die Untote einen ebenso abgegriffenen Schlüssel aus ihrer Manteltasche und schloß auf, das rote Absperrband der Stadtwache ignorierend. Der alte Holzboden knarrte unter ihren langsamen Schritten, achtlos stieg sie über ein paar Kreidemarkierungen hinweg bis sie in das Arbeitszimmer kam. Die schweren dunklen Möbel waren die alten, nur das Blut war neu. Ateras ausgelatschte Stiefel wischten über den Kreideumriss des Anwalts, der ausgestreckt vor seinem Schreibtisch gelegen haben musste. Sie zog eine Schublade des Sekretärs auf und hebelte mit der Spitze ihres Hakens eine Platte hinter einigen Papieren auf, um dann ein kleines speckiges Lederbuch an sich zu ziehen.
In diesem Moment hörte sie das Knarren einer der Holzbohlen im Flur. Sie stopfte rasch das Buch in eine Innentasche des Mantels und griff dann nach ihrem Schwert an der Seite. Kaum hatten ihre vertrockneten Finger es umschlossen, ertönte hinter ihr eine laute Stimme.
"Im Namen der Stadtwache, stehen bleiben und Hände hinter den Kopf!", rief eine Frauenstimme, die sich bemühte fest und befehlsgewohnt zu klingen, obwohl sie alles andere als das war. Atera drehte sich seelenruhig um, die Hand immer noch am Schwertgriff.
"Anette Knödel." Die Untote starrte die junge großgewachsene Frau an, deren dunkelbraune Haare ihr in Strähnen ins Gesicht fielen und die sie eilig versuchte zurück zu pusten. Die Gefreite senkte langsam ihre Armbrust und entspannte sich merklich, obwohl auf ihrem Gesicht immer noch Erstaunen lag. "Du fragst dich sicher, was ich hier mache", kam Atera der Frage zuvor. Sie machte mit ihrem Haken eine Geste in den Raum hinein. "Hab ich kein Recht, mir den Tatort anzusehen?"
"Doch... sicher. Ich sah nur, dass das Absperrband zerrissen war und die Türe offen...", setzte Anette an, wurde aber sofort wieder von Atera unterbrochen.
"Die Türe war nicht abgeschlossen! Ich frage mich, wer dafür verantwortlich war. Soll hier etwa jeder reinspazieren wie er will? Das hier ist doch ein Tatort oder etwa nicht?", fragte sie barsch. Es war mehr eine rhetorische Antwort, einzig dazu da, Anette nicht selbst auf Gedanken zu bringen. Atera schloss rasch den Sekretär wieder. "Hat Rea Dubiata heute Nachtdienst?"
"Ich glaube, sie ist im Wachhaus... Soll ich mitkommen?", bot die Gefreite an. Die Untote blickte sie aus ihren bleichen Augen an in denen noch ansatzweise ihre alte blaue Augenfarbe schimmerte. Sie war nach und nach verschwunden, wie so vieles.
"Meinst du, ich find den Weg zum Wachhaus nicht mehr selbst?", schnappte Atera zurück und rauschte an Anette vorbei, die aber rasch hinter dem Stabsspieß herkam. Die untote Wächterin hätte liebend gerne mit langen Schritten ausgeholt, was ihrer momentanen Gemütsverfassung viel eher entsprach, doch ihr Körper ließ nur noch langsame schlurfende Schritte zu, wollte sie nicht sofort ein Bein oder einen Fuß verlieren. Ihr Körper ächzte und knarrte bei jedem Schritt, als sich das extra starke Nähgarn unter der Belastung spannte. Der dunkle Mantel strich um ihre Beine, sie trug ihre alte SEALS Uniform, doch die Farben waren weit ausgeblichener als jene auf der Uniform von Anette, die jetzt neben ihr herging.
"Ich hab gehört, dein Name soll auf der Hand von Karmesin Dhalasenos stehen, diesem Anwalt", merkte die Gefreite an und blickte schräg zu Atera, die jedoch stur geradeaus sah.
"Hab ich auch gehört."
Anette versuchte derweil die unhandliche große Armbrust während des Gehens zu kontrollieren. Vor ihnen schälten sich die spitzen Giebel und die mit Lampen erleuchteten Fenster des Wachhauses aus der Nacht. "Und, weißt du-"
"Nein."
"Hast du einen-"
"Nein", erwiderte Atera knapp. Ihre Schritte hallten auf dem Pseudopolisplatz wieder, als sie langsam auf das Wachhaus zusteuerten.
"Aber damals hast du den alten Fall bearbeitet und jetzt kommst du wieder und findest den Mörder und stellst deine Ehre wieder her, nicht wahr?", fragte die Gefreite in einem fröhlichen Plauderton. Atera jedoch blieb abrupt stehen.
"Ist es denn notwendig meine Ehre wieder herzustellen?", fragte die Untote scharf zurück. Anette druckste plötzlich herum und sah zu Boden. "Wer wäre denn so dämlich und ließe seine Unterschrift beim Opfer zurück?"
"Assassinen machen das auch", wand Anette leise ein, aber da war Atera bereits ins Wachhaus getreten.

***


"Da ist der Gute." Rea zog mit Schwung das Laken zurück und enthüllte so den Toten, der auf der Liege im SUSI Labor aufgebahrt war. Ateras Blick ging über den bleichen Leichnam, man hatte ihn vorne aufgeschnitten und sorgfältig wieder zusammengenäht. Die Augen waren geschlossen, der faltige Mund dafür leicht geöffnet. Die grauen Wangen hingen herab, die vergilbten Finger waren steif und verkrümmt. Atera hob die linke Hand des Toten und betrachtete ihren eingeritzten Namen in der Handfläche.
"Wie ist er gestorben?", fragte sie, nachdem sie die Hand wieder hatte sinken lassen.
"Tja, der gab mir einige Rätsel auf. Drehen wir ihn mal um. Anette." Die Gerichtsmedizinerin und die Informantenkontakterin wälzten den toten Anwalt auf den Bauch. Der Rücken war frei und so konnten sie unzählige Messerstiche erkennen, die sich über die gesamte Rückenpartie zogen. Der arme Mann war regelrecht zerschnitten worden.
"Sieht doch eindeutig aus", kommentierte Atera. Rea strich sich ihren blonden Zopf nach hinten und ging dann zu einem der Labortische.
"Mit dem kleinen feinen Unterschied, dass die Stiche postmortem sind. Er ist an was ganz anderem gestorben." Mit einem beinahe triumphierenden Ausdruck in den grünen Augen, hob Rea eine purpurfarbene Sauerkirsche am Stiel mit einer Pinzette an. "War in seiner Luftröhre, daran ist er erstickt."
"Also er verschluckt sich an ner Kirsche, stirbt daran, dann kommt jemand und verpasst ihm noch ein paar Messerstiche", schlussfolgerte Atera, obwohl das alles noch nicht sehr sinnreich klang. "Woher kommt dann das Blut in seinem Haus?"
Statt zu antworten fischte Rea ein paar Ikonographien aus einer Mappe und breitete sie auf eine der freien Bahren aus. Die Bilder zeigten alle Blutschlieren, an Möbeln und Türrahmen, bei manchen konnte man einzelne blutige Fingerabdrücke erkennen. "Sind alle vom Opfer selbst und müssen wohl von der Wunde in der Hand stammen. Die ist nämlich nicht postmortem. Und noch etwas ist interessant. Sind dir die Kreidespuren hinter der Türschwelle aufgefallen?"
"Ich dachte, die wären von euch." Atera betrachtete eine Ikonographie mit den Kreidemarkierungen. Das Bild war von oben aufgenommen und jetzt erkannte man auch, dass es ein kompliziertes verschlängeltes Muster ergab.
"Das ist eine Schutzsigil gegen Zauberei, muss er wohl selbst aufgezeichnet haben. Will hat das herausgefunden, es soll dagegen helfen, dass niemand Magie an dem Ort anwenden kann", erklärte Rea, "Sein Famulus, Nathan, hat uns gesagt, der Anwalt hätte im Verlauf der letzten Zeit immer mehr eine Zaubereiphobie entwickelt. Der Famulus war es auch, der den Toten entdeckt hat."
"Er ist unser Tatzeuge", fügte Anette hinzu. Als Atera sie irritiert anblickte, sprach die Gefreite rasch weiter. "Er hat nichts gesehen, es war Nacht, als er von einem dumpfen Geräusch geweckt wurde. Da es stockfinster war und er vergessen hatte in der Eile Licht zu machen, hat er den Täter zwar nicht gesehen, aber er hatte ihn kurz gepackt und zwischen den Fingern gehabt", erklärte die Gefreite, während sie von einem Notizblock ablas.
Atera seufzte. Ihr Blick ging noch einmal zu dem Toten. Natürlich kannte sie ihn, aber ihn jetzt so leblos und bleich dort liegen zu sehen, erinnerte sie noch mehr an ihren eigenen toten Körper. "Also haben wir einen Stofffetzen?"
"Nein", widersprach Anette, "Aber der Lehrling hat uns versichert, dass er, wenn wir einen Stofffetzen hätten, er jederzeit wieder ertasten könnte, ob es zur Kleidung des Mörders gehört."
"Des vermeintlichen Mörders. Der Anwalt ist doch an dieser Kirsche erstickt", erwiderte Atera und zog dann das Tuch wieder über die Leiche, "Warum ermittelt ihr überhaupt daran? Oder soll sich RUM doch um den Fall kümmern. Da gibt's doch sicher eine passende Spezialisierung dafür. Der Ermittler für verhinderte Mordfälle." Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Tonfall leicht abschätzig wurde. Atera machte einige Schritte auf die Türe zu, als sie die laute Stimme von Rea zurückhielt.
"Weil es Nacht war, als er starb, weil dein Name auf seiner Hand steht und weil ein Seals den anderen nicht im Stich lässt." Als die Untote daraufhin schwieg, sprach Rea weiter. "Amalarie hat das ganze Archiv durchackert nach dieser Akte, aber sie ist nicht auffindbar. Du warst vor einem Jahr die Verantwortliche. Es liegt doch buchstäblich auf der Hand, dass es etwas mit diesem alten Fall zu tun hat. Was ist damals passiert? Wer hat einen Grund dazu, dass zu tun?"
Atera wandte den Kopf leicht, sah noch einmal zu dem verhüllten Leichnam, gelbe Lichtflecken der Öllampen im Raum flossen über die Falten. "Karmesin Dhalasenos hatte damals mehrere neue Gesetze entworfen, die er dem Patrizier und den Gilden vorlegte. Es hätte die Gilden neu strukturiert und höhere Abgaben gebracht, aber es hätte auch einiges gestrichen. Alle Dokumente, Belege über Abgaben, Löhne und so fort wären an einer zentralen Stelle gewesen. Die Gilden hätten nur noch die nötigste Verwaltung behalten. Natürlich hatte ihnen das nicht geschmeckt, die Gilden lassen sich nicht gerne in die Karten schauen und noch bevor die Steuer und die Änderungen umgesetzt waren, haben sie gestreikt. Ich war es, die damals mit dem Anwalt geredet hatte und ihn davon überzeugte, dass es besser wäre, alles beim Alten zu belassen." Der Stabsspieß verschränkte Hand und Haken hinter dem Rücken. "Es war zum Wohle der Stadt. Er war der Meinung, die neue Ordnung wäre zum Wohl der Stadt, aber er hat nie richtig verstanden wie Ankh-Morpork funktioniert."
Draußen setzte der Regen wieder ein.
"Und wer wollte ihn dann tot sehen?", fragte Rea.
"Es gab damals viele Parteien, die entweder wollten, dass dieser Plan wieder in der Versenkung verschwinden oder umgesetzt werden sollte. Vielleicht wars eine von denen", gab Atera lahm zurück. Sie trat zum Fenster und sah nach draußen in den Innenhof. Vor dem Milchglas baumelten die Stricke des Flaschenzuges, über dem Sims quietschte das Rad.
"Eher zwei von denen. In seinem Magen waren keine Kirschkerne oder Reste von Kirschen. Und in seiner Wohnung war ebenfalls nichts davon zu finden. Also ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich kaufe keine einzelne Kirsche und verschlucke mich dann dran", erklärte die Vektorin und Gerichtsmedizinerin.
"Vielleicht ist er nicht in seiner Wohnung gestorben."
"Und die Blutspuren von der Handverletzung überall? Es ergibt einfach alles keinen Sinn. Ich hatte gehofft, du hättest ein paar Antworten darauf, Atera." Rea nickte Anette zu, die daraufhin einen Karton aus einem Regal nahm und neben die Ikonographien stellte. "Das war alles, was er am Körper trug." Der Chief-Korporal öffnete den Karton und entnahm ihm einen Anzug und eine Schachtel mit dem Inhalt aus seinen Taschen. Es war Geld, eine silberne Taschenuhr, ein Disorganizer, ein Ring, ein Schnupftuch, eine Quittung der Diebesgilde und weiterer Kleinkram. Die untote Wächterin betrachtete gerade den Ring, der ein Siegel in Form eines seltsamen Zeichens besaß, als ihr Rea ein Kärtchen unter die Nase hielt. Es war eine edle Visitenkarte mit verschnörkelten goldenen Buchstaben. Der Ring in Ateras Hand glitt zu Boden und rollte davon.
"Das Hotel Savoy...", murmelte sie.
"Vielleicht war er da vorher. Ich hab Damien und Will dorthin geschickt, das zu überprüfen. Der Disorganizer ist nämlich kaputt, aus dem Dämon kriegt man nichts mehr raus und der Lehrling wusste auch nicht-", erklärte Rea und sprach noch weiter, aber Atera hörte es bereits nicht mehr. Das Savoy...
Sie strich mit ihren Fingern wieder und wieder über die Karte, ertastete die Wölbungen und Erhebungen der Buchstaben. "Was weißt du über das Savoy?", fragte sie dann leise. Rea bückte sich derweil und hob den Ring wieder auf.
"Nichts, deswegen hab ich sie ja hingeschickt. Im Archiv war jedenfalls nichts zu finden."
Atera dachte daran zurück wie sie die Akte in den Kamin geworfen hatte, wie jeder einzelne Schnipsel von den Flammen verzehrt worden war bis nichts mehr davon übrig geblieben war außer Asche, die sie draußen über dem Ankh verweht hatte. Jetzt existierte die Akte nur noch in Erinnerung, hatte es solang getan bis sie beinahe dem Glauben verfallen war, es hätte diesen Fall nie gegeben. Und diejenigen, die ihre Erinnerung hätten teilen können, waren lange verschwunden...
Bis jetzt.
Atera schnürte langsam ihren Mantel vorne zu, Knopf für Knopf glitt in die abgetragenen Schlaufen zurück. Dann zog sie die Kapuze tief ins Gesicht und streifte zuletzt einen schwarzen Handschuh über ihre verbliebene Hand. "Das Hotel Savoy ist kein gewöhnliches Hotel. Es wandert so wie die wandernden Läden. Und wenn wir Damien und Will zurückhaben wollen, sollte ich mich vielleicht beeilen", erklärte sie knapp auf die fragenden Blicke von Rea und Anette hin.
"Du meinst wir." Atera drehte sich daraufhin langsam um und starrte Cim missmutig an, der das Labor betreten hatte. Er hielt bereits eine Laterne in der Hand. "He, es geht immerhin um zwei andere Seals. Und ich würd gern sehen, was dran ist an einem wandernden Hotel."
Atera brummte etwas undefinierbares und riss dann Cim die Laterne aus der Hand. "Na schön, ich hatte nur gehofft, ich könnte mal zehn Schritte gehen ohne gleich über irgendein Tentakelding oder einen deiner unzähligen Erzfeinde zu stolpern, was offen gesagt, nicht sehr einfach ist in deiner Gegenwart. Und ich bin eindeutig zu alt dafür."

***


Blätter wirbelten leicht über einen ausgeblichenen, verdreckten Teppich, der früher einmal vielleicht ein leuchtendes Gold besessen hatte. Wind heulte in den leeren Hallen, er fegte die braunen, trockenen Blätter weiter.
Staub, fingerdick, bedeckte die Empfangstheke. Dahinter lag das Gästebuch. Der Wind schlug es auf, blätterte darin und längst vergessene Namen tauchten wieder auf.
Die Kanten des Buches waren angenagt, kleine Beißspuren zeigten sich. Flecken hatten sich in den Seiten ausgebreitet, die Abdrücke von Teetassen waren zu erkennen. Die Tinte, längst verblasst bei vielen Namen. Die Schrift zum Ende hin immer verzerrter. Von dem Lesezeichen, das früher einmal aus einzelnen dünnen roten Fäden bestanden hatte, war nichts weiter geblieben als der abgefressene Stummel am oberen Teil des Gästebuchs.
Die Jahre hatten auch Spuren beim Savoy hinterlassen. Atera hob die Laterne höher und fahles Licht streifte durch die Eingangshalle, die breiten Treppen zu den Seitenflügeln blieben verborgen im Halbdunkeln.
"Sieht ziemlich verlassen aus", hallte Cims Stimme durch den Raum. Er schritt zu der Theke.
"Es war früher... anders." Ateras Tonfall war so verloren wie sie sich momentan fühlte. Regen tropfte von ihrem Mantel herab, aber im Savoy selbst war es trocken und staubig. Sie blickte hoch zum Kronleuchter, schwach glitzerte ein einzelner Kristall auf, der nicht völlig vom Staub der Jahre bedeckt war.
"He, hier steht ja dein Name drin." Der Fähnrich blätterte vorsichtig in dem Buch, das die Buchungen enthielt. "Gab es damals einen Fall?"
Atera trat zu dem Schlüsselbrett, wo die rostigen Schlüssel wohl schon seit Jahren auf ihre neuen Besitzer warteten. "Es gibt immer einen Fall...", erwiderte sie selbstvergessen und sah zum Schlüsselfach für den Raum 214. Es war als einziges leer.
"Der letzte Eintrag trägt den Namen des Anwalts. Er hatte ein Zimmer gemietet... Nummer..." Cim sah auf und stockte kurz als er das leere Fach sah. "Nummer 214."
"Will und Damien werden den Schlüssel genommen haben." Atera beleuchtete einige Fußspuren, welche eine der Treppen hinauf führten. Aber es gab noch andere Fußspuren auf dem Teppich, einige führten zu einer schweren hohen Eichentüre an der Seite der Halle. Noch immer war ein goldenes "Bitte nicht stören" Schild dort befestigt, so als hätte sich nie einer die Mühe gemacht es je abzunehmen. Ateras Blicke verweilten lange dort ehe sie Cim in den ersten Stock folgte. Der Flur war lang und dunkel, von den Wänden starrten Portraits längst verstorbener Gäste auf sie herab.
"Du schuldest mir mehr als nur eine Erklärung, Atera", sagte Cim in die Stille. Sie gingen die Zimmernummern ab bis sich langsam die Nummer 214 näherte.
"Ich weiß nicht, wie viel Zeit uns bleibt. Später", verschob der Stabsspieß das Gespräch. "Damien? Will?" Die Türe war offen, doch niemand antwortete. Das ganze Hotel schien wie ausgestorben. Vorsichtig leuchtete Atera mit der Lampe in den Raum hinein. Das Licht kroch über den Holzboden, ein Teppich war beiseite gerollt und nun konnte man ein auf den Boden gezeichnetes rötliches Oktogramm erkennen.
"Blut?", fragte Atera leise. Cim ging in die Hocke und roch an einer der roten Linien. Dann schüttelte er schließlich den Kopf.
"Riecht sauer... wie..." Er hob den Blick langsam und starrte zu einer Schale in der Mitte des Symbols. Ein Berg voller frischer purpurn leuchtender Sauerkirschen war darin platziert. Langsam betrat Atera den Raum und ging um das Pentagramm herum. Teilweise war die Einrichtung des Zimmers an die Wände gerückt. Die Tapeten waren abgerissen und als Atera die Laterne näher daran hob, konnte man lauter mit schwarzer Kohle gezeichnete Symbole auf den nackten Ziegeln erkennen.
"Sieht aus wie ein bauchiges umgedrehtes U oder... ein unten offenes O...", sagte sie laut, "Ist das nicht das gleiche Symbol wie auf Karmesins Ring?"
"Omega." Cim war neben sie getreten und starrte düster auf die geschwärzten Schriftzeichen. "Der letzte Buchstabe im alten ephebianischen Alphabet. Er bedeutet das Ende." Er drehte sich im Kreis und betrachtete noch einmal den gesamten Raum. "Hör mal... das hier sieht alles aus wie nach einem Ritual und wenn du irgendetwas darüber weißt, wäre jetzt der richtige-"
Von unten hörten sie das laute Donnern einer Tür, dann Schritte, schwach einen Ruf von Will und irgendetwas über die Stadtwache. Das Knurren, was darauf folgte, war selbst bis in den ersten Stock zu hören. Atera und Cim wechselten nur kurz einen Blick und stürmten dann aus dem Raum. Die Laterne baumelte an Ateras Haken hin und her, warf ein Muster aus bizarren Schatten gegen die Wände. Staub wirbelte auf, als ihre Stiefel auf dem dichten Flurteppich aufkamen. Noch im Rennen versuchte Atera ihr Schwert zu ziehen, Staub füllte ihre Lunge, die Nähte ächzten unter der Bewegung, ihr Fuß begann sich zu lockern. Cim war bereits weiter voraus, verschwand in der Dunkelheit. Sie hörte weiteres Knurren und das Poltern eines schweren Gegenstandes, dann Cim, der nach Will und Damien rief, Ateras Fuß riss und sie fiel der Länge nach hin. In diesem Moment verfluchte Atera ihren Körper, verfluchte seine Unzulänglichkeit und dass er sie immer dann im Stich ließ, wenn sie ihn am meisten benötigte. Die Laterne war vom Haken geglitten, rollte noch einige Schritt weiter über den Teppich und warf ihr Licht über die Galerie, wo gerade Damien und Will die Treppe hinaufgehechtet kamen.
"Werwolf!", schrie Will.
Steh auf, steh verdammt noch mal auf. Atera konnte nur weiterhin über den Boden hinweg blicken zu den Beinpaaren in der Ferne. Ihre Hand war ausgestreckt wie als wolle sie nach der Szenerie greifen, doch die Untote blickte nur ihre Finger an und konnte sich nicht mehr erinnern wie es war sie zu bewegen. Sie hatte schon öfters solche Aussetzer gehabt, doch noch nie war es so sehr darauf angekommen. Ihre Augen glimmten auf, das Licht um sie herum wurde zusehends schwächer. Sie hörte mehr, als dass sie sah wie der Werwolf mit einem riesigen Satz über das Geländer der Galerie sprang und den drei anderen Wächtern den Weg abschnitt. Beweg die Finger, komm schon, flüsterte sie sich selbst in Gedanken zu.
Der Werwolf grollte, setzte zum Sprung an, Cim duckte sich rasch darunter weg, wich gleichzeitig zur Seite aus. Sein Schwert warf einen schmalen Lichtstrahl auf Ateras Gesicht, sie blinzelte dagegen an, hörte das Grollen des Werwolfes, der mehr wütend, als verletzt klang, nachdem die Klinge seine Flanke gestreift hatte. Die Finger der Untoten zuckten kurz auf, krallten sich dann fester in sich zusammen. Sie reckte ihren Arm zum Schwert hin. Aber es war erst das Aufschreien von Damien, das sie aus der Lethargie riss. Eine klaffende Fleischwunde zog sich über seinen Oberkörper, der Hauptgefreite taumelte nach hinten und stürzte gegen die nächste Wand. Atera raffte sich auf, quälend langsam kam sie dem Kampfgeschehen näher, ihren halb abgerissenen Fuß hinter sich herziehend, die Schultern leicht nach vorn geneigt. Der Bolzen von Wills Armbrust schoss sirrend durch die Luft und bohrte sich in das dunkle zottige Fell des Wertieres.
Als Atera endlich neben den anderen SEALS stand, war der Werwolf bereits zu Boden gegangen, schwer schnaufend und atmend. Blut sickerte aus dem dichten Fell und rann zu Boden. Langsam steckte die Untote ihr Schwert wieder weg, als offensichtlich war, dass von dem Werwolf keine Gefahr mehr drohte.
"Wir sollten ihn ins Wachhaus schaffen. Schätze, er kann uns einiges beantworten", sagte Cim und sah dann zu Damien. "Schaffst du's bis zurück?" Der Hauptgefreite nickte mit zusammengebissenen Zähnen, die Schmerzen, die er hatte, waren unübersehbar, obwohl Atera diese selbst nicht mehr nach empfinden konnte. Es war ihr so fern geworden wie einem Vampir die Sonne.
Sie fesselten dem Werwolf die Pfoten, doch da sie keine Fesseln aus Silber dabei hatten, war ihnen allen klar wie sicher diese Methode war. "Wo habt ihr ihn überhaupt aufgetrieben?", fragte Atera.
"Eine Art Klubraum weiter unten. Das solltet ihr euch wirklich mal ansehen", erwiderte Will. "Dort war eine Bibliothek angeschlossen mit allerlei Büchern über Werwölfe, wie man sie kontrollieren und für sich gewinnen kann, irgendwas von Herdentrieb, Alphatier und anderen Sachen." Sie deutete auf den Werwolf. "Ihn haben wir in einem Käfig gefunden, da war er noch ein Mensch... wir haben ihn befreit, wir dachten, das wäre das richtige, da hat er sich verwandelt..."
Cim klopfte der Kommunikationsexpertin auf die Schulter. "Es war sicher das richtige." Er warf Atera einen undeutbaren Seitenblick zu. "Gehen wir bevor das Hotel wirklich noch verschwindet."

***


"Du glaubst mir nicht!", wetterte Atera und ging im Stechschritt vor Cims Schreibtisch hin und her.
"Wie soll ich dir denn irgendwas glauben, wenn du nichts sagst!", gab der Fähnrich ebenso laut zurück. Draußen donnerte der Regen immer lauter nieder, die Tropfen klatschten gegen die dreckige Fensterscheibe. "Was hat dein Name in seiner Hand suchen? Warum mietet der Kerl sich ein Zimmer in einem Hotel in dem du vor Jahren gewesen bist?"
Atera wollte schon ansetzen zu sagen, dass sie absolut keine Ahnung hatte, aber Cims Gesichtsausdruck machte deutlich, dass er ihr keine der Ausreden weder abkaufen noch sie hinnehmen würde. Früher war sie auch so gewesen. Sie hatte Antworten auf ihre Fragen gewollt, sie hatte die Bösen zur Strecke bringen wollen. Jetzt war alles grau und wenn sie manchmal in einer Gasse in Ankh-Morpork stand und sich fragte aus welcher Richtung sie gekommen war, weil sie sich schlichtweg nicht mehr erinnerte, wie sollte sie da wissen, wer die Bösen und die Guten waren, wen man helfen und wen man bestrafen sollte.
Die Untote seufzte resigniert und blickte aus dem Fenster hinaus, alles war milchig verschwommen, die Häuser in der Dunkelheit undeutliche Umrisse. "Ich verliere, Cim.... ich verliere diesen Körper." Als der Omianer daraufhin schwieg, sprach Atera nach einer Weile weiter. "Zombies sind nicht unsterblich. Unser Körper verfällt, unser Geist verblasst. Wir sind nur hier, weil uns etwas hier hält. Seit meinem Tod bin ich Wächterin, ich schütze die Stadt und ihre Bewohner. Ich war Wächterin noch bevor die Nachtwache ins Leben gerufen wurde. Aber jetzt bin ich müde geworden... und vielleicht auch ein wenig sentimental." Sie drehte sich wieder zum Fähnrich um. "Was ein Fehler war."
Cim blickte sie nur stirnrunzelnd an. "Was willst du damit sagen?"
Atera zögerte lange, schließlich sprach sie doch weiter. "Karmesin Dhalasenos war nicht nur irgendein einfacher Anwalt, er war-"
Die Türe platzte auf und Rea stürmte hinein. "Er ist tot!" Sie holte kurz Luft und starrte in die perplexen Gesichter von Cim und Atera. "Den verletzten Werwolf, den ihr mitgebracht habt. Er ist grad eben erstickt. Bis ich die Zellentüre offen hatte, war er schon tot!"
Cim fluchte laut und stand dann auf, um rasch das Büro zu verlassen. Gemeinsam gingen sie zum Zellentrakt, wo sie den Mann untergebracht hatten, nachdem Michael ihn verbunden hatte. Der Werwolf war wieder zurück verwandelt und lag verkrümmt in der kleinen Zelle, an einer seiner Hände prangte ein Siegelring mit dem Omega Zeichen.
"Lasst mich raten... Sauerkirsche", sagte Atera, als sie zu dem Toten blickte. Rea meinte, dass sie das noch überprüfen müsste, doch es war offensichtlich was sie alle dachten. "Araghast Breguyar ist nicht zufällig im Haus oder?"
"Der ist doch jetzt Leiter bei DOG, vielleicht ist er im Boucherie. Was willst du denn von dem?", fragte Cim. Atera begann bereits wieder ihren Mantel zuzuknöpfen.
"Wissen wie groß die Ähnlichkeit zwischen Avocados und Kirschen ist." Sie schnappte sich eine Laterne und war bereits auf dem Weg nach draußen.
"Du schuldest mir immer noch die Erklärungen", beharrte er, aber da war Atera auch schon hinaus in den Regen geflüchtet, einen fluchenden und wütenden Abteilungsleiter der SEALS zurücklassend. Sie wußte, dass sie ihm früher oder später die Erklärungen liefern musste, er leitete jetzt SEALS und nicht mehr sie. Atera schlurfte durch den Regen, dachte an Cim und wie sie ihn das erste Mal als Rekrut gesehen und wie wenig sie da von ihm gehalten hatte. Aber er hatte bewiesen, dass er zäher und willensstärker war als so manch anderer. Und er war ein SEALS, das ohne Zweifel. Und dennoch... es war seltsam einen Nachfolger zu haben und trotzdem immer noch dabei zu sein. Nur was hatte sie erwartet? Dass sie sterben und ihr Amt damit vererben würde? Vielleicht war ihre Zeit auch einfach abgelaufen und sie war zu stur, es zu bemerken.
Noch nicht... sie starrte verbissen durch den Regen. Nicht solange noch ein Funken Leben in diesen Knochen war. Nicht solange diese Stadt sie noch brauchte.
Das Boucherie Rouge tauchte vor ihr auf, in zahlreichen Fenstern flackerte rötliches Licht. Atera stapfte ungehindert durch den Flur und kam an den Zimmern der Näherinnen vorbei. Sie brauchte eine Weile bis sie das Büro von Araghast gefunden hatte. Atera klopfte, doch niemand antwortete, als sie die Türe daraufhin langsam öffnete, wehte ihr ein kleiner Papierschnipsel entgegen. Der neue Abteilungsleiter von DOG saß zusammengesunken auf einem Stuhl und schlief. Die Untote trat leise neben ihn und räusperte sich verhalten. Als immer noch eine Reaktion ausblieb, beugte sie sich leicht vor. "Avocado Kadaver", flüsterte sie in sein Ohr. Die Wirkung war unfehlbar. Der Halbvampir schoss senkrecht in die Höhe und warf dabei den Stuhl nach hinten. Kurz darauf fing er sich aber wieder, das smaragdgrüne verbliebene Auge starrte Atera unwillig an.
"Gibt es einen Grund dafür, dass du mich so erschreckst?"
"Seals hat zwei Tote, die beide an einer Sauerkirsche erstickt sind", erklärte Atera. Araghast machte sich noch nichtmal die Mühe seine halb zerknitterte Uniform gerade zu rücken.
"Obst war schon immer viel zu überbewertet, was die Gesundheit betrifft."
"Ich habe mich an den Avocado Fall erinnert. Ich hasse zwar Magie, aber die Tatsache, dass zwei Männer daran ersticken, wovon beide nichtmal in der Nähe von Sauerkirschen waren, gibt einem doch zu denken."
Nun wurde der Püschologe doch hellhörig und ging in dem dunklen Zimmer umher. "Unmöglich, das kann nicht der Avocado Kadaver sein. Der ist nur dazu da, die Gehirne in Avocados zu verwandeln", erklärte er, während er unruhig weiterging, die Hände hinterm Rücken verschränkt. "Aber ich kann mir denken, was es war." Araghast drehte sich zu Atera um, nur die scharfen Konturen der linken Gesichtshälfte waren in der Dunkelheit zu erkennen. "Apportation."
Atera runzelte die Stirn. "Hat das nicht was mit Stöckchen holen zu tun?"
"Nicht, wenn man sich im Okkulten auskennt. Dort bezeichnet es das Bewegen von Gegenständen, allein durch die Kraft der Gedanken. Das Objekt verschwindet an einer Stelle und taucht an einer anderen wieder auf. In diesem Fall wohl in der Luftröhre eurer Toten", erklärte der Püschologe lapidar.
"Wie kann das so... präzise sein? Der Täter hat das Opfer nichtmal gesehen."
"Vielleicht hatte er Hilfsmittel, ein Mittel sie zu orten, egal wo sie sich aufhalten", spekulierte Araghast. Der Stabsspieß schlug sich abrupt gegen die Stirn.
"Verdammt, die Omega Ringe! Danke, du hast mir sehr geholfen." Sie eilte bereits zur Tür.
"Wir reden hier aber doch hoffentlich nicht über die Omega Loge?" Die Stimme des Halbvampirs war noch eine Spur schärfer geworden. Ateras Hand umschloss den Türgriff, sie warf einen Blick über ihre Schulter. Araghast lehnte gegen das Fenster, hinter ihm wehte der Regenvorhang. In dem Moment sah der Wächter aus wie ein Krieger, jemand, der sich gegen den herannahenden Sturm gestellt und überlebt hatte. Wieder und Wieder.
"Früher hießen sie Klub der Höheren und sie residierten im Savoy. Ich weiß, worauf ich mich eingelassen habe."

***


Ein junger Mann von vielleicht 18 Jahren öffnete die Türe ein Spalt breit, doch als er die Wächter sah, bat er sie rasch herein. Cim, Rea und Atera betraten den engen Flur, der Morgennebel kroch verstohlen hinter ihnen her.
"Gibt es etwas neues?", fragte Nathan. Er wirkte durchnächtigt, sein braunes kurzes Haar war ungekämmt. Seit dem Tod seines Lehrmeisters war er bei einem Freund, ebenfalls einem frischgebackenem Anwalt, untergekommen. Cim hielt dem Famulus die Fetzen der Jacke des toten Werwolfes hin.
"Wir würden gern wissen, ob das der Messerstecher möglicherweise getragen hat."
Zögernd nahm Nathan die Stoffreste entgegen, glitt dann mit den Fingern über das Gewand, schloss dann die Augen und tastete erneut. "Nein", sagte er schließlich, "Das hier fühlt sich seidiger als die Kleidung desjenigen an, den ich in der Nacht überrascht hatte. Es ist zu... glatt." Mit einem entschuldigenden Gesichtsausdruck reichte der Anwaltsgehilfe die Fetzen wieder zurück an Cim. "Es tut mir leid, ich würde wirklich gerne helfen. Ich wünschte, ich hätte den Kerl festhalten können, aber er war zu flink."
"Wenn es dich tröstet, du hättest Herrn Dhalasenos nicht mehr rechtzeitig helfen können. Er ist nicht an den Messerstichen, sondern an einer Kirsche erstickt", erklärte Rea. Abwartend blickten alle drei Seals zu Nathan, ob das irgendeine Reaktion bei ihm auslösen würde, doch der junge Mann war so niedergeschlagen wie zuvor.
"Du hast ausgesagt, Dhalasenos hätte Angst vor Magie und Zauberern gehabt." Cim klappte einen Notizblock auf und blätterte darin herum. "Wir müssen noch mehr darüber wissen. Kannst du dir erklären, warum er Angst davor hatte? Wir haben dich schon einmal nach möglichen Feinden des Anwalts gefragt.... gab es Zauberer, die etwas gegen ihn hatten?"
"Er hatte keine Angst vor Zauberern an sich, er hatte sogar einen Klienten, der Zauberer bei der Unsichtbaren Universität ist", wand der Famulus ein, "Ich hab auch die Buchhaltung für Herrn Dhalasenos gemacht. Er und Cald Windig waren Freunde, er hat ihn mit Rezepten für Schutzzauber und Abwehrritualen versorgt, während Herr Dhalasenos es übernahm Windig aus Schwierigkeiten zu bringen in denen dieser sich mit seinem Temperament immer wieder brachte. Ich weiß auch nicht, warum Herr Dhalasenos sich plötzlich vor allen möglichen Zaubern schützen wollte, es fing vor einem Jahr an und wurde dann immer schlimmer." Es nahm den Lehrling sichtlich mit darüber zu sprechen.
"Was sagt dir dieser Ring?" Atera hielt den Omega Ring in ihrer Handfläche. Nathan starrte zu dem Ring, als wäre es eine Schlange, die ihn gleich jeden Augenblick anfallen könnte.
"Wo habt ihr denn den her? Herr Dhalasenos hat diesen Ring gehasst. Seit diesem... Gildenstreik hat er ihn nicht mehr angelegt, es war auch ein ganz schöner Akt, das Teil erstmal von seinem Finger runterzubekommen. Ich selbst hab das Teil dann im Ankh versenkt." Der Famulus konnte den Blick kaum von dem Ring abwenden. "Er wollte eigentlich, dass ich den Ring bei einer Schmiede ins Feuer werfe, aber der Weg war mir zu weit und das ganze viel zu umständlich, da hab ich ihn in den Ankh geschmissen." Er schüttelte den Kopf, als könne er es immer noch nicht glauben. "Gibt's etwa mehrere von den Ringen? Der einzige Schmuck, den Herr Dhalasenos trug, war sein Schutzamulett."
"Schutzamulett? Er trug kein Amulett", meinte Cim und sah den Lehrling kritisch an. Dieser wirkte wiederum irritiert.
"Doch, doch. Das hat er immer getragen, selbst wenn er schlief, glaub ich."
Es war Rea, die als erstes von der Sofagruppe aufsprang auf der sie sich niedergelassen hatten während der Befragung. "Dhalasenos hatte doch eine Quittung der Diebesgilde dabei. Ich Trottel, warum hab ich das nicht früher beachtet? Ich hätt sofort misstrauisch werden sollen, weil sein Geldbeutel noch da ist, verflucht."
"Dann hat es vielleicht der gestohlen, der auch die Einträge in dem Disorganizer gelöscht hat", spekulierte Cim.

***


Will kniff die Augen eng zusammen und hielt das kleine Papier vor die Kerzenflamme. "Entweder ist es ein Original oder eine verdammt gute Fälschung. Das Schriftbild ist identisch, das Papier gleich und das Wasserzeichen ist auch da."
"Das Datum stimmt mit dem Todestag überein. Unterschrieben mit T.P. Aber das kann kein Zufall sein. Hier hat jemand nach Auftrag geklaut." Cim rieb sich müde über das Kinn. Sie alle hatten in den letzten Tagen wohl nur wenig geschlafen.
"Also Rekonstruktion: Dhalasenos kommt am Abend von der Anwaltskammer wieder", begann Rea, "Sein Amulett wird ihm gestohlen. Dann ist er, wenn das Teil wirklich funktioniert hat, ungeschützt für unseren Magier mit Apportationsfähigkeiten. Irgendwie kriegt er den Omega Ring wieder angehext. Der Anwalt schafft es noch bis nach Hause. Dort erstickt er dann an der Kirsche. Bleibt die Frage nach dem Grund, dem Namen auf seiner Hand und den Messerstichen."
Cim nickte und wandte sich dann um zu Atera. "Es ist jetzt endlich Zeit für ein paar Antworten. Meinst du nicht?"
"Der Fall wäre längst bei den Akten, stünde nicht mein Name auf seiner Hand", gab Atera zurück, "Das wisst ihr genau." Sie schwieg kurz. "Als das Amulett fort war, wusste er, dass er sterben würde. Die Zeit reichte nicht mehr, um irgendjemanden zu benachrichtigen, also ritzte er sich den Namen in die Hand. Weil er mich kannte, weil er wusste, dass ich es zu Ende bringen würde. Ich schulde ihm das."
"Warum hat er nicht einfach eine Nachricht geschrieben?", fragte Will.
"Er brauchte etwas unauslöschliches. Etwas, was jemand, der alle anderen Hinweise vernichten sollte, nicht so schnell würde entfernen können", erklärte Atera und wog den Ring nachdenklich in ihrer Hand. "Vielleicht sogar der Famulus selbst."
"Hinweise worauf?" Doch noch bevor die Untote auf Cims Frage antwortete, steckte sie sich den Ring an den Finger.
"Hinweise auf die, die ihn damals dazu brachten, den neuen Plan für die Gilden zu schreiben." Sie sprach nun rascher. "Wir müssen noch einmal ins Savoy."
"Atera, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist..." Der Seals Wächter sah zweifelnd zu dem Ring an ihrem Finger. Der Stabsspieß lächelte nur grimmig.
"Ich bin ein Zombie, was soll mir schon passieren? Aber wenn wir Glück haben, merken die im Savoy nur, dass jemand den Ring aufgesteckt hat. Und versuchen mich zu töten. Und wir können sie im Zimmer 214 stellen." Draußen schoss ein gezackter verästelter Blitz zu Boden, lauter Donner folgte und die dichten schwarzen Wolken machten den Tag rasch zur Nacht. Atera hustete plötzlich, dann spuckte sie eine Kirsche im hohen Bogen aus. Sie rollte noch eine Weile über den Boden, verfolgt von den Blicken der Wächter. "Wir sollten-" Eine weitere Kirsche folgte. "-gehen."
"Was war das damals wirklich für ein Plan?", fragte Cim im Laufen, als sie das Wachhaus eilig verließen und auf die Straße zusteuerten, wo das Savoy stand. In einer nicht ganz so engen Straße in einem besseren Teil der Stadt prangte das große Haus mit den weit ausladenden Giebeln. Der breite Eingang lag etwas hinter der eigentlichen Häuserzeile links und rechts neben dem Savoy, so dass es eine leichte bauchige U-Form besaß. Vielmehr war vor dem Hotel ein kleiner runder Platz über den momentan der Regen peitschte, eingerahmt von den Seitenflügeln. Im ersten Stock brannte ein Licht.
"Hast du Geld dabei?" Als Cim auf Ateras Frage nickte, hatte sie bereits die Eingangstore aufgestoßen. Im Wind pendelte der Kronleuchter leise klirrend hin und her. Sie legte einen Zeigefinger auf ihre trockenen Lippen und deutete zur Kasse bei der Empfangstheke. Die Wächter sammelten sich vor der Kasse, die als einzige noch nicht so abgegriffen wirkte wie der Rest des Hotels. Atera drehte an der Kurbel und zog das Schubfach auf. Es war leer, nicht eine Münze war zu sehen. Mit höchst kritischem Blick legte Cim sein Geld hinein. Als die Untote daraufhin das Fach zuschob und erneut an der Kurbel drehte, hörte man ein lautes Katsching und eine Sekunde später erstrahlte der Kronleuchter in der Mitte der Halle in neuem Glanz. Die Kristalle glitzerten und funkelten in seinem schummrigen Licht, das er in den Raum warf. Atera öffnete die Kasse wieder, sie war leer, von Cims Münzen fehlte jede Spur.
"Das Savoy ist-" Sie spuckte eine Kirsche aus.
"Ist magisch", vollendete Rea den Satz und ging langsam weiter, ihr Blick huschte über die Wände um sie herum. "Es lebt vom Reichtum, vom Geld. Oder hat es jedenfalls mal getan."
"Ich weiß nicht, was passiert ist. Aber dieser Plan die Gilden zu zentralisieren, sie vielleicht genau hier zu zentralisieren, wo all die Geldströme der Gilden zusammengeflossen wären, hätte es wieder zum alten Glanz verholfen. Zu mehr als das", erklärte Atera, "Als ich den Strukturierungsplan Karmesin ausredete, wusste ich nicht, dass er nur der Bote davon war. Ich dachte... der Ring wäre ein Ring der Anwaltskammer. Ich wusste nicht, womit er sich-" Eine Kirsche verließ ihren Mund und rollte in der Dunkelheit davon. "Womit er sich eingelassen hat. Schätze, jemand wollte sich an ihm für seinen Verrat rächen."
"Hat dieser jemand auch einen Namen?", fragte Cim.
"Er hat." Eine markante sonore Stimme durchschnitt den Raum. Der Mann stand auf der obersten Stufe der Treppe und sah zu ihnen herunter. In der Dunkelheit war nicht viel von seinem Gesicht auszumachen, man sah seinen licht gewordenen Kopf, der bis auf einige Härchen vollkommen kahl zu sein schien. Er hatte wache, kleine Augen, eine hohe, außergewöhnlich glatte Stirn, komplettiert wurde diese Erscheinung durch eine gekrümmte Nase und dafür doch fast zu volle, fleischlich glänzende Lippen. Seine autoritär wirkende, dennoch ruhige Stimme war laut und deutlich in jedem Winkel des Raumes zu verstehen. "Es wäre zum Wohl der Stadt gewesen. Aber die Loge hat noch mehr Pläne. Pläne bei denen eure Anwesenheit nicht erwünscht ist."
"Ich hasse diese Leute, die immer glauben, alles besser zu wissen", entgegnete Cim.
Langsam kam der Mann die Treppe hinunter, erst jetzt sah man den langen Stahl in seiner Hand, die Klinge strich an den Säulen des Geländers vorbei. 40 Zoll lang.. Eine schwarze, elend scharfe Klinge an der die Nacht sich teilte und in Strömen zu Boden floss. "Ich hatte gehofft, unser kleines Haustier würde euch lange genug fern halten. Bedauerlicherweise muss man die Arbeit immer selbst erledigen, wenn man sich den Erfolg versichern will."
"Ihr verschwindet wieder aus dieser Stadt...", drohte Atera.
"Sonst was? Du kannst doch noch nicht einmal dein eigenes Schwert halten. Es sind nun einmal die Tage vorüber, wo du noch etwas in der Welt hättest ausrichten können." Der Mann war nun am Ende der Treppe angekommen, er lächelte süffisant. Ohne ein weiteres Wort kam er auf die drei Wächter zu, er war scheinbar noch nicht einmal nah genug heran, da zuckte bereits das Schwert hervor wie eine ausgestoßene Rauchsäule, nur knapp das Gesicht Reas verfehlend, die es gerade noch schaffte auszuweichen. Zwei Atemzüge später war er bei Atera, das Schwert glitt lautlos wie Nebel durch die Luft. Ein hoher schneidend klirrender Ton erklang, als die Klinge mit der Cims aufeinander traf. Finsternis floss glänzend über die dunkle Klinge...
Der Mann verstärkte den Druck, versuchte den Wächter nach hinten zu drängen. "Es ist besser, du mischt dich nicht ein."
Der Fähnrich hielt dem Druck stand, schob den Angreifer stattdessen noch ein wenig weiter nach hinten. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. "Oh, ich misch mich gern in Dinge ein, die mich nichts angehen. Das liegt uns Wächtern im Blut."
Dann zog der Mann sich abrupt einige rasche Schritte seitwärts und startete einen neuen Angriff. Er war von bestürzender Schnelligkeit und Kraft, die Klinge glänzte immer dunkler im Zwielicht, er begann Cim vor sich her zu treiben. Für einen Moment hörte man nur das Geräusch ihrer Schwerter wie sie durch die Luft wirbelten und dem feinen hohen Ton, wenn Klinge auf Klinge traf.
Schlag folgte auf Schlag und dann kam der Rand der Treppe immer näher und Cim sprang auf die ersten Stufen, wich weiter zurück. Der Mann attackierte ununterbrochen, sein Arm schien nicht einmal schwächer zu werden. Bald stand der Fähnrich mit dem Rücken zum Geländer. Weiter zurück ging es nicht. Das vielsplittrige Licht des Kronleuchters tanzte auf Cims Gesicht. Der Angreifer holte zum erneuten Schlag aus.
"Ein bisschen Unterstützung wäre nicht schlecht!", brüllte er den anderen zu.
Atera deutete auf eine Türe auf der anderen Seite der Halle. Sie erinnerte sich, wie einst der damalige Geschäftsführer Wincent Kantersteg dort hinunter gerannt war, um das Hotel aus Ankh-Morpork wieder fortzubewegen. "Rea, da unten muss ein Hebel oder etwas in der Art sein. Er lässt das Hotel wieder verschwinden!"
Die Vektorin sah Atera zweifelnd an, hinter ihnen ertönten immer noch die Schwertklänge des Kampfes. "Ich möchte eigentlich gern in Ankh-Morpork bleiben."
"Wenn der Hebel umgelegt ist, haben wir noch ein bisschen Zeit hier abzuhauen", erklärte Atera rasch. Als Rea Dubiata immer noch zögerte, wurde die Stimme der Untoten noch drängender. "Verdammt noch mal, vertrau mir! Du bist schneller dort unten als ich." Ohne weitere Einwände rannte die SEALS Wächterin los. Atera dagegen schlurfte quälend langsam zurück zur Kasse. Der Weg kam ihr unendlich lang vor. Sie zerrte an dem Finger mit dem Ring, die Nähte rissen mit einem leichten Ratschen. Der Stabsspieß sah hinüber zu Cim, der mittlerweile bis oben zur Galerie zurückgewichen war und den Mann mit heftigen Schwertfolgen attackierte.
Ein wenig wehmütig blickte Atera auf ihren Finger hinab, dann öffnete sie die Kasse und platzierte den Ring mit dem Finger in das Geldfach.
Katsching.
Zuerst befürchtete sie schon, es hätte keinerlei Wirkung, alles schien wie zuvor. Als die Untote den Kopf hob, schwirrte ein schwarzer Falter über ihr blind an der alten Wand entlang, nach einem Ausgang aus seinem Gefängnis suchend. Putz bröckelte von der Wand, die Tapete wellte sich, bekam Wölbungen, ein schwarzer Flügel brach aus dem Papier wie aus einem Kokon.
"Cim...", begann Atera leicht alarmiert.
Gegenseitig umrundeten sich die Gegner auf der schmalen Galerie, Der Angreifer senkte leicht den Kopf, breitete langsam den Schwertarm aus. Das Hotel hielt den Atem an.
Urplötzlich schoss eine Wolke von schwarzen geflügelten Insekten auf sie zu. Wie ein Wirbelsturm umhüllten sie die Galerie und schwirrten um sie herum, nahmen dem Wächter die Sicht und hefteten sich auf seinen Körper... Der Mann war nicht mehr zu sehen. Für eine Weile stolperte Cim orientierungslos über den Gang, Insektenflügel streiften seine Haut.
Abrupt und ohne jede Vorwarnung schoss aus der Dunkelheit wieder die rauchige Klinge hervor, sich nur eine Nuance vom Rest unterscheidend. Im letzten Augenblick, bevor das Schwert den Seals treffen konnte, schaffte er es noch sein eigenes hochzureißen. Die Wucht des Schlages schickte ihn taumelnd nach hinten.
Der Mann stürzte sofort nach, mit einer ungeahnten Heftigkeit attackierend. Feine haardünne Risse krochen über das eiserne Schwert des Wächters. Erneut trafen die Klingen klirrend aufeinander, wirbelten herum, zerteilten auf ihrem Weg durch das Hotel Dutzende der Insekten. Halbe Flügelpaare segelten durch die Luft wie fallende Blätter.
Sie tanzten nun über die Galerie und beide Klingen waren nicht mehr zu sehen und der Boden erbebte und die Kronleuchter über ihnen wankten.
Vor der weißen Gestalt einer Statue trafen sie ein letztes Mal aufeinander. Cims Schwert kreischte hoch auf, als besäße es eine eigene Seele, die mit jedem Schlag gequält wurde. Das Metall sang von Ton zu Ton, aber die schwarze Klinge hatte sich darin verbissen und nagte mit kalten spitzen Zähnen an dem Eisen. In einem letzten gewaltigen Akt rasten die Schwerter aneinander zu und die Wolke aus Faltern teilte sich und floss wie Tränenströme über die Klingen hinweg.
Dann ertönte der Laut von brechendem Metall, lauter als alles zuvor. Die Splitter schwebten für einen Moment durch die Luft wie aufblitzende Tränen ehe sie zu Boden gingen und Cim vor dem Mann stand, nur noch einen abgebrochenen Stumpf in der Hand.
Kurz entschlossen rammte er den verbleibenden Splitter der Klinge in den Hals des Gegners. Blut sickerte hervor, der Mann fasste sich irritiert an die Wunde, ging dabei leicht nach hinten.
"Wir müssen hier weg! Hier bricht alles auseinander!" Rea kam die Kellertreppe hoch gerannt. Im gleichen Moment taumelte der Mann gegen die Brüstung der Galerie. Das morsche Holz brach sofort entzwei und er stürzte nach unten in die Halle, wo er krachend vor Reas Füßen aufkam. Dichter Staub wirbelte auf.
Der Teppich zerfaserte unter ihren Füßen, Cim kam atemlos die Treppe runtergerannt, schwarze Falter umwirbelten sie, raubten ihnen die Sicht.
"Wo kommen die ganzen, pffff Insekten her?" Der Fähnrich wischte sich ein Flügelpaar aus dem Gesicht.
"Untote Finger bekommen dem Hotel wohl nicht gut." Sie begannen zu rennen, der Boden wankte und dröhnte, das gesamte Hotel schien sich nach innen stülpen zu wollen. Kaum waren sie aus der Tür nach draußen gehechtet, verschwand das Savoy. Auch der Platz war verschwunden und stattdessen landeten die Seals Wächter im Matsch der Gosse. Nieselregen ging auf sie nieder.
Sie versuchten sich gerade gemeinsam aufzuraffen, als sie herankommende Schritte hörten, es war das charakteristische Geräusch von sich nahenden Wächterstiefeln. Cim wischte sich einen toten Falter von der Wange. Als er aufblickte, starrte zwei FROG Wächter auf ihn herab und grinsten.
"Na, so fertig vom Eselkarrenzählen?"
Sie lachten leise in sich hinein und schlenderten dann weiter. Rea keuchte matt.
"Wenn ich nicht wirklich so fertig wär, würd ich aufspringen und es ihnen zeigen."
Cim quälte sich aus dem Matsch und klopfte dann seine Uniform ab. Er hielt Atera eine Hand hin, um ihr aufzuhelfen. "Dazu ist an ruhigen Tagen immer noch Zeit. Nicht wahr... Schäffin?"
Atera lächelte grimmig. Dann aber schüttelte sie den Kopf, nachdem sie wieder stand. "Nein, Cim, du bist jetzt der Leiter von Seals. Ich bin nur noch ein Mitglied deiner Abteilung."
"Das ist nicht wahr und das weißt du genau."
Insgeheim fühlte sie sich geschmeichelt, dass er so etwas sagte, doch offen würde sie das niemals zugeben. Sie klopfte Cim auf die Schulter. "Mein kleiner Finger hat mehr erlebt als du zusammen, vergiss das nie." Sie blickte auf ihre Hand von dem sie den linken Finger abgerissen hatte und der nun wohl unrettbar im Savoy verschwunden war. "Na ja, jedenfalls bin ich mir ziemlich sicher, dass er viel erlebt hat."
"Gehen wir nach Hause." Die drei Wächter machten sich auf dem Weg zum Wachhaus. "Du schuldest mir da übrigens noch ein paar Erklärungen...."
"Später, Cim, später."

***


Sie starrte in das prasselnde Kaminfeuer. Das rötliche Licht beschien ihre bleiche dutzendfach zusammengeflickte Haut. Atera zog langsam das Buch aus der Innentasche ihres Mantels, ihre altersfleckigen Hände strichen sorgsam über den Einband, der in großen Lettern die Buchstaben "Stammbaum der Familie Dhalasenos" dort stehen hatte. Als sie es aufklappte, fiel ihr ein zusammengefalteter Zettel entgegen.
Mächtiger Schutzzauber der Familie: Man zeichne ein Oktogramm, ritze sich den Namen eines Ahnen auf den Körper und...
Atera ließ den Zettel wieder sinken und seufzte. "Ach, Karmesin...."

***


Er starrte auf das eingebrannte Omega in seiner Handinnenfläche und fragte sich, ob es je aufhören würde zu schmerzen. Hatte er nicht alles getan, was sie verlangt hatten? Er hatte dem Kerl das Amulett gestohlen, er hatte dafür gesorgt, dass die Gildenstreik Akte verschwunden blieb, verdammt noch mal, er hatte sogar hundertfach auf den Anwalt eingestochen und so die Zeichen auf seinem Rücken entfernt. Er hatte alles getan... alles, was ihm möglich gewesen war... Beweise vernichten, lügen, verraten, stehlen, morden... selbst das. Und wofür?
Zitternd strich er über das narbige Symbol. Es sollte doch nur aufhören, so schrecklich weh zu tun.
"He, kommst du bald mal?" Die Stimme schreckte ihn aus seinen Gedanken, er streifte rasch die Handschuhe wieder über. "Komm schon, die warten nicht ewig auf uns. Es ist Abteilungsversammlung. Ist ja ein Wunder, dass du überhaupt da bist." Amok Laufen grinste linkisch.
"Ich hatte... viel zu tun." Thymian Pech erhob sich langsam.
"Hast du jemanden angeworben?"
"So in der Art", wich Thymian aus. Seine Hand ging in die Jackentasche, wo ein Wächtername auf einem Zettel stand, um den er sich als nächstes kümmern sollte.



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