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Pokalmission für August 2006
Dafür vergebene Note: 12
Liebe
Der Blick ihrer samtenen braunen Augen mit den kleinen goldenen Sprenkeln lag warm und aufmerksam auf ihm, als er dort im Sommerwind auf dem Flachdach des Gildengebäudes stand.
"Es kann doch nicht angehen, dass die anderen Gilden schon über Urlaubsregelungen diskutieren, während wir noch nicht einmal eine Vereinbarung zu Papier gebracht haben, die überhaupt unsere Arbeitszeiten fest regeln würde!"
Er richtete seine Hand anklagend gegen den Patrizierpalast, der weit hinter den Dächern zu seiner Rechten liegen musste.
"Wenn wir nicht bald mit unserem Anliegen zum Patrizier gehen, dann sind die Einigungen um uns herum feste Bestandteile irgendwelcher Gesetze geworden und wir die Einzigen, die der bloßen Willkür unserer Gilde ausgesetzt sein werden. Denkt doch bloß mal darüber nach! Jetzt schon schimpft ihr darüber, dass keine von euch jemals ein Kind bekommen darf. Wo soll das denn noch hinführen?"
Aus der hinteren Reihe meldete sich Ruth zu Wort: "Was du uns vorschlägst führt aber noch schneller dazu, auf der Straße zu landen, Ismo. Und überhaupt. Was interessieren dich denn unsere Probleme? Du wirst ja wohl kaum in die Verlegenheit kommen, mit dickem Bauch bei der Bettlergilde vorstellig zu werden."
Die Frauengruppe lachte laut auf, woraufhin er rot wurde. Er warf ihr einen schnellen Blick zu. Doch sie saß noch immer lächelnd inmitten der anderen und strich nur mit einer kleinen, liebenswerten Geste ihr langes, welliges Haar zurück.
"Menja, sag du doch auch etwas. Du siehst das doch genauso, nicht wahr?"
Auch die anderen Frauen warteten neugierig auf ihre Reaktion.
Die Angesprochene blickte ihn unverwandt an. "Du sprichst von einem Gildenstreik, als wenn er uns nur Gutes bringen könnte. Glaubst du das denn wirklich?" Sie legte dabei den Kopf leicht schräg und etwas in ihren Augen ließ sein Herz schneller schlagen. Sie würde ihn gewiss unterstützen. Sie mochte ihn, das hatte er gleich gespürt. Und es ging doch auch um ihre Zukunft!
Lehrjahre
Das schwere Schloss der Gildentür fiel viel zu laut hinter Ismo in den Rahmen und er begann die vielen Beutel, die ihm unsanft gegen die Waden schlugen, die Treppen hoch zu tragen.
Von oben vernahm er den unverkennbar beschwingten Schritt dünner Schuhsohlen. Seine Vermutung wurde Gewissheit. "Was wird das denn?"
Die junge Frau sah wieder einmal atemberaubend gut aus. "Ich gehe noch mal hinaus. Fräulein Grimme war so freundlich, mir aufgrund meiner guten Prüfungsergebnisse für heute Abend eine Sondergenehmigung zu erteilen. Es könnte etwas länger dauern."
Im Gegensatz zu den vielen sonstigen Malen erreichte ihr Lächeln nicht sein Herz, sondern blieb sozusagen an dem Kloß in seinem Halse hängen.
"Ich habe alles besorgt, was du wolltest." Er wusste selber, wie trotzig das klang aber es wollte ihm nichts Milderes einfallen. Wenigstens hatte er es sich eben noch verkeifen können auf das kleine Vermögen hinzuweisen, welches sie ihm durch diesen Einkauf, theoretisch zumindest, schuldete. Zusätzlich zu den vorhergehenden Einkäufen. Und Einladungen.
Sie kam weiter die Treppe hinab und schmiegte sich auf gleicher Höhe dicht an ihn, als sie ihn passierte. Ihre Stimme klang noch seidiger als sonst, als sie ihm lächelnd ins Ohr raunte: "Vielen Dank, liebster Privatsekretär!"
Er schloss die Augen und atmete ihren neuerlich so unverwechselbaren Duft ein. Sauerkirsche. Wo auch immer sie das Parföng herbekam, billig konnte es nicht sein. Der Gedanke daran, wie sie sich das Geld zusammensparte, brachte ihn schnell wieder auf den Boden. Doch sie war schon am Ausgang.
"Leg' die Taschen einfach in mein Zimmer!"
Ismo ließ sich dann seufzend auf die kalten Stufen fallen. Ihre Unabhängigkeit war der Preis, den er dafür akzeptieren musste, dass er in ihrer Nähe sein durfte.
Er würde die Taschen hochbringen, sicherlich wieder einmal Fräulein Grimme über den Weg laufen, einen weiteren Tadel und noch eine Strafarbeit erhalten und sich dann, wie jeden Abend, völlig übermüdet in seine einsame Kammer unter dem Gildendach zurückziehen. Weniger Rügen hätten mehr Zeit bedeutet. Zeit, die er dringend für sich selber, das Lernen der Übungen und den aufzuholenden Schlaf benötigt hätte.
Fallengelassen
Der Wächter beugte sich etwas weiter vor und schrieb in bedächtiger Art Linien auf das Papier. Zwischendurch blickte er immer wieder auf, um dem Blick dieser gold gesprenkelten, ausdrucksstarken Augen zu begegnen und eine Frage zu stellen. "Ich fasse das mal zusammen. Sie leiten seit etwa fünf Jahren die hiesige Sekretärinnengilde?"
Die Frau nickte ihm freundlich lächelnd zu. "Ja, das ist richtig."
"In ihrem Büro steht ein einbruchssicherer Metallschrank, dessen Zahlenkombination zum Öffnen nur Sie kennen. In diesem Schrank werden von ihnen die Akten der wichtigsten Kunden eingeschlossen. Außerdem haben Sie dort drin einige kleine..." Er blickte auf einen kleineren Extranotizzettel, mit dem er begonnen hatte.
Die Besucherin ergänzte hilfreich seine Ausführungen: "Einige Glasfläschchen. Jedes etwa so groß wie mein kleiner Finger. Es waren noch 42 Stück in dem Holzkästchen, als es gestohlen wurde. Und die kleine Kiste ist so groß." Sie deutete mit beiden Händen die Maße an, die in etwa einem großen Laib Brot entsprachen. "Eckig und mit scharfen Kanten. Mit Eisenbeschlägen. Der Deckel lässt sich an zwei Scharnieren zurückklappen. Eine Metallplatte dient als Verschluss, wobei dieser durch ein Metallstäbchen gesichert wird. Das Holz ist von dunkler Farbe, ein rötliches braun mit feiner Maserung. Poliert." Die behandschuhten Hände kamen auf dem glatt gestrichenen Rock zur Ruhe, die großen Augen betrachteten ihn erwartungsvoll.
Humph MeckDwarf holte tief Luft, brummte etwas Unverständliches und ergänzte nickend seine Notizen. Was eine gewisse Zeitspanne beanspruchte. Er sah wieder auf. Die Spitze seines Stiftes tippte ihm immer wieder leicht gegen die rechte Schläfe. "Frau Skunda. Wenn diese Fläschchen in der Kiste gestohlen wurden, dann ist die Diebesgilde für diesen Vorfall zuständig. Und wenn keine Quittung aufzufinden ist erst recht, denn dann wäre es unlizenzierter Diebstahl und das Ganze ein Fall für Gildenjustiz, in den wir uns von Rechts wegen nicht einmischen sollten. Wir von der Wache und der Abteilung R.U.M. sind nur für schweren Raub zuständig. Das wissen Sie bestimmt, nicht wahr?"
Die schlanke Frau beugte sich nun ihrerseits etwas näher, stützte ihre Hand nur wenig neben der seinen auf der Schreibtischoberfläche ab und begann in eindringlichem Tonfall zu sprechen: "Es handelt sich zweifellos um schweren Raub. Die Diebesgilde braucht nicht eingeschaltet zu werden. Wäre ich anderer Meinung, hätte ich nicht den Weg über Sie gewählt."
MeckDwarf zog schnell seine Hand zurück und schuf wieder Abstand zwischen ihnen beiden. Fast stolperte seine Zunge bei dem Versuch, Unnahbarkeit in die Stimme zu legen: "Schwerer Raub hat eindeutig etwas mit dem Wert des Diebesguts zu tun. Worin soll dieser bei ein paar kleinen Fläschchen gegeben sein, um den Einsatz einer ganzen Abteilung voll gut ausgebildeter Spezialisten zu rechtfertigen?" Nun musste er doch die Stirn runzeln.
Menja Skunda sah ihn vertrauensvoll an. "Es handelt sich in dieser Sache um schweren Raub. Glauben Sie mir. Und was den Wert angeht..." Sie öffnete die flache Handtasche auf ihrem Schoß und zog ein Bündel säuberlich gefalteter Geldscheine daraus hervor, welches etwa vier Monatssolden des Abteilungsleiters entsprechen musste. Die Frau legte das Geld direkt vor ihm ab. "Für mich sind die Phiolen sehr, sehr wertvoll!"
Der Wächter starrte auf das sich entfaltende Papier. Er musste schwer schlucken. Nur widerwillig löste er den Blick davon. Ungewollt hatte sich seine Stimme verschärft. "Was ist in diesen Flaschen drin?"
Sie konterte seinen Blick mit Leichtigkeit. Wäre er nicht gerade misstrauischer Stimmung gewesen, hätte er ihr die vorgetäuschte Unschuld vielleicht sogar abgekauft.
"Medizin."
Wollte sie ihn für dumm verkaufen? "Besonders krank sehen Sie aber nicht aus, wenn ich das mal sagen darf." Sie sah ihn lediglich weiter mit diesen großen Augen an.
Woraufhin er missvergnügt brummte: "Und warum bitte haben Sie etwas dagegen, dass die Gilde sich darum kümmert?"
Sie lächelte. "Einerseits möchte ich das Gestohlene schnellstmöglich zurück erhalten. Und Sie werden mir darin zustimmen, dass es nicht unbedingt den kurzen Weg zu diesem Ziel darstellen würde, die Diebesgilde einzuschalten. Sicherlich, sie würden schnell nach dem Schuldigen suchen. Aber mein Eigentum könnte auf eine längere Reise gehen, ehe die Formalitäten geklärt wären. Ein Risiko, dass ich meiner Gesundheit zuliebe nicht eingehen möchte. Zumal das Gestohlene eine frische Lieferung darstellte und ich keinesfalls vor Ende des Monats Nachschub erhalten kann."
MeckDwarf nickte zustimmend. Die Quotenregelung ließ genügend Spielraum, um eine Zeitlang mit unrechtmäßig erworbenem Kapital zu arbeiten. Die Höhe der Bearbeitungsgebühr wurde berechnet. Und dann musste natürlich sichergestellt werden, dass das Entwendete auch an den rechtmäßigen Besitzer zurückging. Die Gilde legte großen Wert darauf, in so Etwas keinen Fehler zu machen.
Er lehnte sich mit vor dem Körper verschränkten Armen zurück, den Blick missbilligend auf das kleine Vermögen gerichtet.
Die Besucherin beendete die Stille mit vertraulichem Tonfall: "Und zum Anderen sind die Methoden der Gilde gegenüber Unlizenzierten nur zu bekannt. Es wäre mir nicht recht, wenn..."
Der ältere Mann blickte hellhörig auf. Zum ersten Mal wich sie seinem Blick aus.
"Ja? Was wäre Ihnen nicht recht?"
Die Dame blickte zu Boden. "Ich denke, ich weiß, wer es war." Endlich sah sie wieder auf, doch ihr Blick blieb für den Wächter undeutbar.
MeckDwarf hakte nach: "Wenn Sie den Schuldigen kennen, warum stellen Sie ihn dann nicht vor vollendete Tatsachen?"
Menja Skunda schüttelte tadelnd den Kopf. "Nein. Ich habe lediglich eine Vermutung. Ein Verdacht ergibt noch keinen Schuldigen, wie gerade Sie wissen sollten."
Die ganze Sache gefiel dem Abteilungsleiter nicht. "Was machen Sie, wenn er wirklich derjenige Welcher ist? Uns in die Parade fahren und plötzlich die Ermittlungen abbrechen lassen? So etwas schätzen wir nicht, wissen Sie?"
Die gesprenkelten Augen sahen ihn belustigt an. "Wenn es Sie beruhigt, kann ich Ihnen gleich hier und jetzt zusichern, dass Sie den Schuldigen seiner gerechten Strafe zuführen dürfen. Ich möchte nur schnell meine Medizin zurück haben und dabei nicht unbedingt über Leichen gehen, was bei einem Gildeneinsatz kaum zu erreichen wäre."
Humph legte den Stift auf der Schreibtischplatte ab, wobei er den mittlerweile völlig entfalteten Geldstapel geflissentlich ignorierte. "Wie kam es zu dem Diebst... zu dem schweren Raub?"
Die Leiterin der Gildenfiliale der Sekretärinnen in Ankh-Morpork lächelte erfreut und begann zu erzählen: "Dieser Schrank, von dem ich ihnen erzählte, der steht in meinem Büro. Es gibt zu diesem Raum insgesamt, mit Fenstern, drei mögliche Zugänge. Der einzige vordere führt in das direkt unter dem Dachfirst gelegene Großraumbüro, welches lediglich zwischen Mitternacht und fünf Uhr früh nicht besetzt ist. Sonst sind dort mindestens zwei, die meiste Zeit des Tages über aber um die vierzig Frauen beschäftigt."
Der Wächter unterbrach sie: "Entschuldigung, aber wissen diese Frauen, was sich in dem Schrank befindet?"
Frau Skunda nahm sich kurz Zeit zum Nachdenken. Dann nickte sie einmal. "Ich denke, dass es sich zumindest herumgesprochen haben dürfte. Wissen Sie, wenn man den ganzen Tag miteinander arbeitet, dann hat man irgendwann kaum noch Geheimnisse voreinander. Zumindest ist das bei Frauen so. Und ab und an muss ich ja an den Schrank ran. Wenn er dann geöffnet ist, kann es schon vorkommen, dass gleichzeitig jemand das Büro betritt. Ja, sowohl die Papiere, als auch der Kasten hätten durchaus gesehen werden können."
MeckDwarf nickte zufrieden. "Und wo wir schon mal dabei sind: wen verdächtigen Sie?"
Sie verrückte die Handtasche einen Millimeter auf ihrem Schoß und entgegnete: "Wir haben auch einen männlichen Sekretär. Er ist schon lange dabei und hat sich bisher nie etwas Ernsthaftes zu Schulden kommen lassen. Ich meine, er hat auch Fehler und anstrengende Angewohnheiten aber..." Sie zögerte.
Der Abteilungsleiter forderte sie auf, weiter zu sprechen: "Bitte. Wenn wir Ihnen helfen sollen, benötigen wir Informationen."
Die Dame nickte. "Er heißt Ismo Kaufgut. Und er war in mich verliebt."
Sie seufzte. "Aber wie das eben so ist im Leben. Ich war es nicht in ihn. Damit konnte er sich nicht abfinden. Er hat schon des Öfteren Dinge persönlicher Art mitgehen lassen aber ich hätte niemals für möglich gehalten..."
"Wurde er bei der Tat beobachtet?"
"Nein, natürlich nicht, sonst wäre es ja keine Vermutung mehr, sondern Gewissheit!" Sie sah den Wächter für einen Augenblick so an, als wenn seine Aufnahmekapazität für sie überraschend beschränkt wäre. "Er wurde allerdings bei vorangehenden Gelegenheiten beobachtet, womit die Schlussfolgerung nahe liegend wäre, meinen Sie nicht? Zumal ihn während des Feuers niemand gesehen hat."
MeckDwarf saß mit einem Ruck aufrecht: "Während des Feuers? Welches Feuer?"
Menja betrachtete den Mann ihr gegenüber mit einem gewissen Spott in den Mundwinkeln. "Es war nichts Spektakuläres und es hat auch keinen bleibenden Schaden hinterlassen, aber Sie haben mich unterbrochen, als ich davon erzählen wollte."
Verbitterung
"Und Sie möchten in das Gildenbüro?"
Romulus antwortete auf die nicht zum ersten Mal gestellte Frage mit den gleichen Worten wie zuvor: "Frau Skunda hat darum gebeten, dass wir uns einer Sache hier annehmen und uns mal etwas umsehen." Er erwähnte nicht, dass die Abteilungsleitung sich einig gewesen war, auch die Rolle der Anzeigenden in diesem Fall gründlich in Augenschein zu nehmen.
Sie kamen an eine dünne Tür, hinter der es geschäftig zuging. Stimmen, das Kratzen unzähliger Federn und Stifte, das Schaben von Messerspitzen auf Pergament, das Klappen von Pappdeckeln und das Klackern von Absätzen auf Dielen vereinigten sich zu einer unverkennbaren Geräuschkulisse. Die Tür wurde aufgestoßen und ein blutjunges Mädchen in weißer Bluse konnte gerade noch im Laufen innehalten.
Sie strahlte über das ganze Gesicht, als sie den ergrauten Jüngling erkannte. "Ismo! Entschuldige bitte, ich hatte keine Ahnung, dass du gerade hinein wolltest." Sie wuchtete lächelnd den viel zu schweren Aktenstapel wieder etwas höher auf ihre Unterarme und blickte dann zum Wächter auf. "Wer ist denn dein Begleiter?"
Der Sekretär deutete sichtlich lustlos zwischen ihnen hin und her: "Darf ich vorstellen? Fräulein Hupfner, Herr von Grauhaar. Fräulein Hupfner ist unsere geschätzte Assistentin der Filialleitung. Herr von Grauhaar ist Wächter und auf Bitten Frau Skundas hier."
Die junge Assistentin lächelte Romulus ohne das geringste Zögern an. "Was für ein aufregender Beruf! Es ist uns eine Freude, Sie bei uns begrüßen zu dürfen. Frau Skunda hat mich soeben per Semaphore benachrichtigt, dass Sie kommen und einige Fragen wegen des Feuers stellen würden. Sie selbst lässt sich allerdings entschuldigen. Ein wichtiger Termin ist ihr leider dazwischen gekommen. Aber ich stehe Ihnen voll zur Verfügung. Nur schnell diese Akten zur Korrektur geben und dann bin ich sofort wieder für Sie da."
An den Sekretär gewandt sagte sie: "Du kümmerst dich darum, dass er alles hat, was er benötigt, ja Ismo?"
Sie lächelte wieder den Ermittler an: "Möchten Sie lieber einen leichten Kaffee oder einen Tee? Wir können Ihnen auch quirmianisches Quellwasser anbieten. Wenden Sie sich vertrauensvoll an Ismo. Er ist unsere Bürofee, wissen Sie."
Mit einem letzten entschuldigenden Blick auf den schweren Stapel huschte sie davon.
Die 'Bürofee' hatte sichtlich mit ihrem Gesichtsausdruck zu kämpfen, trat aber schließlich durch die Tür in den großen Raum. Der Wächter folgte ihm.
Die Welt schien mit einem Mal um ein Vielfaches lauter, schneller und heißer geworden zu sein. Ein wahres Bombardement aus Gerüchen traf ihn unvermittelt, vor allem die unzähligen, blumigen Noten von Duftwässerchen und Schweiß, sowie der scharfe Brandgeruch.
Das Dach hatte glücklicherweise gehalten. Sie mussten das Feuer schnell unter Kontrolle bekommen haben. Aber mit dem öligen Russ auf allen Flächen würden sie noch eine Weile zu kämpfen haben.
Sie befanden sich auf einem sehr langen, niedrigen Dachboden, links und rechts unter den Dachschrägen standen Schreibtische dicht an dicht, mit den Seiten zum Mittelgang ausgerichtet, durch welchen die beiden Männer nun auf die Tür am anderen Ende des Firstes zugingen. Vereinzelt fielen Sonnenstrahlen durch winzige Luken.
Die schwarzen Schatten neben der Tür, durch die sie eingetreten waren, kündeten vom Brandherd. Vor allem die Schreibtische waren schon wieder blank geschrubbt worden, so dass die Geschäftskorrespondenz keine Abdrücke oder Schmierer abbekam.
Die Hitze stand in dem Raum, so dass von Grauhaar sofort das Gefühl hatte, in Schweiß zu zerlaufen. Die munteren Frauen eilten an ihnen vorüber oder kreuzten den Weg, wenn sie zu einer Kollegin wollten. Sie alle hatten zwei Dinge gemeinsam: die weißen Blusen mit den Plüschärmeln und die geschäftige Ausstrahlung absoluter Gelassenheit. Keine machte den Eindruck, dass sie die brütende Hitze überhaupt bemerken würde.
Er benötigte keine Sekunde, um alle diese Eindrücke in sich aufzunehmen.
Zeitgleich mit einer instinktiven Erkenntnis: Ein anderer Werwolf!
Fast wäre ihm ein leises Grollen aus der Kehle entschlüpft. So aggressiv hing die schwere, männliche Duftnote in der flimmernden Luft, dass er instinktiv in Verteidigungshaltung gegangen war.
Romulus atmete bewusst flach durch den Mund und versuchte sich zu beruhigen. Jetzt galt es, nicht überzureagieren. Zuerst einmal: Wo war der Andere?
Er schloss schnell wieder zu dem Sekretär auf, blickte sich nun aber umso misstrauischer um. Es kostete den Wächter etwas Mühe, sich auf seine eigenen Worte zu konzentrieren.
"Was war die Brandursache?"
Der Sekretär drehte sich bei seiner Antwort nicht einmal zu ihm um: "Ein Glas Wasser."
Romulus hätte fast gelacht. Aber eben nur fast. "Wie das?"
"Eine der Neuen hat das Verbot missachtet und sich heimlich etwas zu Trinken mit hier hoch genommen. Sie stellte das Glas neben sich auf dem Boden ab, die Sonne traf ungünstig darauf und..."
Etwas in Romulus' Magengrube verkrampfte sich bei den unweigerlich in seinem Sinn entstehenden Bildern. Er dachte an die langen Röcke der Frauen und die vielen Lagen Stoff, die gewiss leicht entflammbar sein mussten. "Hat sie es überlebt?"
Der dünne Mann vor ihm zuckte mit den Schultern: "Wie man es nimmt. Sie hat nichts abbekommen. Aber sie wurde eben gekündigt und nach so einer Sache bleiben ihr nicht viele Möglichkeiten. Die meisten Sekretärinnen landen später entweder als illegale Schreiberinnen auf der Straße oder bei den Bettlern. Zur Näherin hätte sie eh' nicht getaugt."
"Könnte ich Namen und Adresse der Dame bekommen?"
Der Sekretär drehte sich zu ihm um. "Ja, das dürfte kein Problem sein."
Sie befanden sich nun vor der gegenüber vom Eingang gelegenen Wand, in welcher drei Türen eingelassen waren.
"Wohin führt diese kleinere Tür rechterhand?"
Der Sekretär zwinkerte nicht einmal. "Dort befindet sich meine Schlafkammer. Selbstverständlich kann ich nicht bei den Frauen im Schlafsaal nächtigen."
"Und diese größere in der Mitte?"
Kaufgut öffnete besagte Tür und der dominante Geruch wurde überwältigend. "Das ist das Büro von Frau Skunda. Ich nehme an, dass Sie gerne hier auf Fräulein Hupfner warten möchten?"
Der Ermittler hatte gerade so seinen Fluchtreflex unterdrücken können und stand nun verkrampft im Türrahmen. Was war nur mit ihm los? Gut, Vollmond war nicht mehr weit und er war nie heroisch oder selbstmörderisch veranlagt gewesen, aber sollte das als Begründung genügen? Er versuchte seine Gedanken zu ordnen, während er in ein kleines Büro mit großem Metallschrank sah. Wenigstens fehlte die zu dem aggressiven Geruch gehörende Person. Anscheinend hatte der Andere sich lediglich eine Zeitlang hier aufgehalten.
Herr Kaufgut räusperte sich. "Haben sie irgendwelche Fragen? Was darf ich Ihnen zu trinken anbieten?"
Romulus überlegte kurz. "Ich hätte gerne ein Glas Wasser."
"Kommt sofort. Nehmen sie doch bitte so lange Platz." Er wandte sich zum Gehen, wurde jedoch noch einmal kurz aufgehalten.
"Herr Kaufgut, wohin führt die dritte Tür?"
"Zum Flachdach auf dem zweiten Gebäudeteil. Das dient dem Trocknen der Wäsche für die Gildenmitglieder."
"Also liegt dieses Büro zwischen dem Ausgang zum Flachdach und Ihrem Schlafraum?"
"Ja, das tut es. Wenn Sie das Dach sehen wollen..." Er deutete auf die Wand mit den Fenstern. "Es verläuft genau hinter dieser Rückwand."
Romulus ging nicht auf das Angebot ein, sondern lächelte lediglich. "Dankeschön."
Ismo sah ihn einen Moment lang an, dann drehte er sich um und schloss die Tür des Büros leise hinter sich.
Romulus hielt sich schnell sein Halstuch vor die Nase und begann mit einem systematischen Umsehen.
Als erstes überprüfte er die Aussage zu den Fenstern. Er öffnete die kleinen Fenster und betrachtete die Schleifspuren auf den Fensterbrettern. Bei beiden Fenstern kündeten die Abnutzungsspuren von häufigem Gebrauch und es war nicht auszumachen, ob die Kratzer lediglich von den hier abgelegten Dingen stammten oder ob es sich dabei um die Hinterlassenschaften eines ungebetenen Besuchers handelte.
Er betrachtete den Metallschrank, in dem die angeblichen Medikamentenfläschchen verschlossen gewesen sein mussten. Metallplatten auf allen Flächen, Metallbeschläge dort, wo einzelne Teile miteinander verbunden waren, weder Kratz- noch Pulverspuren, das teure Sicherheitsschloss mit Zahlenkombination, war bis auf die üblichen Gebrauchsspuren völlig unversehrt. Sicherheitshalber nahm er Fingerabdruckproben.
Sein Blick wanderte über die Arbeitsfläche. Ein Schreibtisch wie aus dem Lehrbuch! Man sah zwar an der Art der Auswahl der bereit gelegten Utensilien, dass dieser Bereich tatsächlich zum Arbeiten genutzt wurde, die Gebrauchsspuren an der Unterlage deuteten sogar auf viele Stunden täglich hin, dennoch stand jeder Gegenstand auf den Millimeter ausgerichtet an seinem ihm zugewiesenen Platz. Ebenso hielt die Dame des Hauses es mit dem Rest ihrer Büroeinrichtung. Dieser Raum sagte viel über Frau Skundas Wesen aus. Und darüber, dass das übrige Personal sich diesem exakt angepasst hatte.
Austausch
Der ältere Zuhörer folgte den Ausführungen Rasmus Drachenkumpels getreulich, der noch nicht viele Einsätze allein absolviert hatte.
"Als sie das Lokal betrat, bin ich ihr erst mit etwas Verzögerung gefolgt. Drinnen saß sie mit einem zwielichtigen Kerl zusammen in der hintersten Ecke. Der Mann war etwa 1,80 groß, schätze ich, kräftig gebaut mit breitem Rücken und sehr vielen Muskeln."
Der Wächter blickte kurz zum ranghöheren Kollegen und beeilte sich anzufügen: "Als die beiden ihr Gespräch beendet hatten und sich trennten, bin ich ihm gefolgt. Er ist einer von zwei Leuten, die zusammen als Sucher arbeiten. Sie nennen sich 'Die Spürhunde' und geben damit an, alles wieder finden zu können, was es auch sein mag."
Pyronekdan strich sich mit einer nachdenklichen Geste über den vollen braunen Bart. "Sie hat sich also auch noch anderweitig Hilfe gesichert. Na, hoffentlich kommen die uns nicht noch in die Quere." Er sah Rasmus an. "Konntest du von ihrem Gespräch irgendetwas mitbekommen?"
Der Frischling konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. "Hat mich zwar einiges an Überwindung gekostet, mehr als einmal in Richtung Abort zu müssen aber immerhin bin ich dadurch näher an ihnen vorbei gekommen. Sie hat dem Hünen versichert, dass 'Es' wirklich 'völlig geruchlos' sei, solange man es nicht zu sich genommen habe. Bezog sich vermutlich auf die Flüssigkeit in den Flaschen, denke ich?"
Der Zauberer nickte bedächtig. "Ja, vermutlich. Hätte sie uns ja ruhig auch sagen können." Er ergänzte die Akte mit einem entsprechenden Hinweis.
Rasmus dachte an die Observierung. "Da war etwas, das ich nicht so ganz einordnen konnte." Er richtete seinen Blick wieder auf den Kollegen. "Dem Auftrag, den ich bekommen hatte, war ja eine kurze Beschreibung der Frau beigefügt. Und ich habe ja auch eindeutig die Richtige überwacht aber... "
Der Kontakter bohrte nach: "Worauf willst du hinaus, Rasmus?"
Dieser gab sich einen Ruck. "Na ja. Darauf, dass das nicht übereinstimmt. In den Beschreibungen wird sie als ruhig, höflich, zurückhaltend und freundlich beschrieben. Wenn auch selbstbewusst. Nur, so war sie nicht. Nicht in diesem Lokal. Kaum, dass sie den Typen gesehen hat, ist sie sofort zur Sache gekommen und aus ihrer Haltung und den paar Satzbrocken, die ich im Vorbeigehen aufschnappen konnte, ging ganz klar hervor, dass sie mehr als nur ungehalten oder nervös war. Überhaupt hatte ich, schon als sie das Wachhaus verließ, den Eindruck, sie hätte ihre ganze Haltung geändert. Ich weiß nicht so recht, wie ich das beschreiben soll. Sie wirkte von da an wie eine ganz andere Person."
"Bist du dir sicher?"
Rasmus zuckte hilflos mit den Schultern. "Na ja. Die Frau ist kein bisschen so kühl, wie sie allen weismachen will. Wenigstens nicht als sie mit dem Kerl von den Spürhunden geredet hat. Es schien ihm zwar nichts auszumachen aber sie hat ihn ziemlich angefahren, ruppig und ungeduldig."
Pyronekdan überlegte schweigend. Dann atmete er tief durch. "Gut. Nehmen wir das Alles einfach mal zur Kenntnis. Du wirst jetzt deinen Bericht dazu schreiben und ich spreche gleich mal mit deiner Ausbilderin."
Fast schüchtern fragte Rasmus: "Habe ich etwas falsch gemacht?"
Pyronekdan sah erst irritiert auf, musste dann aber leise lachen. "Oh, keine Sorge. Du hast deine Aufgabe gut erfüllt, wirklich."
Der ältere Wächter stand ächzend auf. "Aber jetzt ist es wohl an der Zeit, auch unserem Fräulein mal wieder eine Arbeit aufs Auge zu drücken, die nicht nur darin besteht, sich Hausaufgaben für euch auszudenken."
Befangenheit
Hätte jemand Kathiopeja danach gefragt, so hätte diese es wohl nicht zugegeben. Aber sie war nervös. Romulus hatte sie gewarnt und auch wenn er das auf seine zurückhaltend ruhige Art getan hatte, ohne irgendwelche dramatischen Vermutungen oder Ausschmückungen, blieb eine gewisse Eindringlichkeit seiner Worte. Er konnte diese besondere Befragung nicht durchführen. In solchen Fällen gab es immer Schwierigkeiten mit den verdammten Anwälten und die Aussagen wurden gewissermaßen wertlos. Zumindest in der entscheidenden Phase eines Prozesses. Wenn es dazu kommen sollte. Dann hieß es für gewöhnlich, die Beobachtungen eines Wache-Werwolfes seien wegen angeblicher Befangenheit in Frage zu stellen, jemand im verwandelten Zustand sei nicht zurechnungsfähig, dass er immer wieder von den vielen Sinneseindrücken verwirrt würde und dass prinzipiell sowieso eine Duftspur oder eine instinktive Reaktion auf ein Gegenüber nicht mit handfesten Beweisen gleichzusetzen sein könnten.
Kathiopeja empfand diese Argumente, zumindest wenn sie an ihren absolut bodenständigen Kollegen dachte, als maßgeschneiderte Lügen und absurde Behauptungen der Gegenseite, die lediglich vorgebracht wurden, um ihnen die Arbeit zu erschweren. Aber da sie nun einmal immer wieder vorgebracht wurden, hatte Rascaal Ohnedurst Konsequenzen gezogen und gewisse Vorgehensweisen, schon während der Ermittlungen, nahe gelegt. Natürlich stützten sie sich weiterhin auf die unschätzbare Hilfe des R.U.M.-Ermittlers. Aber ab einem bestimmten Punkt war es eben, so wie jetzt, sinnvoller, wenn ein anderer Kollege übernahm.
Wen sie möglichst noch befragen sollten, hatten sie schon vor Stunden von der Verdeckten Ermittlerin Ophelia Ziegenberger erfahren. Ihn zu finden war ebenfalls ein Leichtes gewesen.
Sie folgte dem Mann mit dem dichten, schwarzen Haar und den breiten Schultern und lockerte bewusst ihre verkrampften Nackenmuskeln. Gut. Sie war soweit. Es konnte losgehen.
"Entschuldigung! Herr von Smarl?" Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen besonders freundlichen Ton zu verleihen und als er sich ihr zuwandte, lächelte sie bereits.
"Was wollen Sie von mir?"
Seine konzentrierte Aufmerksamkeit wirkte direkt auf die Knie. Der Kerl sah verdammt gut aus. "Mein Name ist Tamir. Ich arbeite für die Wache und hätte Sie gerne kurz gesprochen. Es wäre sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie einige Minuten für mich erübrigen könnten."
Er blickte mit zusammengezogenen Brauen auf sie hinab. "Von der Wache." Es war mehr eine Feststellung, als eine Frage aber sie machte ihr bewusst, dass sie vergessen hatte, ihre Marke auszuweisen. Verlegen begann sie in ihrer Tasche danach zu kramen. Als sie mit dem dünnen Blech in der Hand wieder seinem Blick begegnete, hatte sich seine Haltung gewandelt. Zwei dunkle Augen funkelten sie amüsiert an.
"Soso. Von der Wache. Und in welcher Sache verdächtigen Sie mich?"
Die Ermittlerin fühlte die Gratwanderung zwischen schmachtender Verlegenheit und flirtendem Draufgängertum, die sich vor ihr auftat. Alternativen schien es plötzlich keine mehr zu geben.
"Im Moment in jeder Angelegenheit, die mir nur in den Sinn kommen könnte. Aber Sie können mich gerne vom Gegenteil überzeugen. Wenn Sie das können."
Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen, das allmählich die prächtigen Zähne entblößte. "Nenn' mich ruhig Victor."
Wunder und Verfallsdaten
"Und du kennst Amok schon länger, ja?" Der Ermittler in Ausbildung sah seine Begleiterin, ebenfalls eine Ermittlerin in Ausbildung, neugierig von der Seite aus an. Die junge Frau errötete prompt.
Er musste grinsen.
Ayure nickte lediglich stumm.
Rabe blickte wieder auf den verdreckten Straßenbelag. "Netter Kerl, stimmt's?"
Wieder nickte die Wächterin nur. Dann aber überlegte sie es sich anders. Besser, sie stellte selber Fragen, als die des Partners abzuwarten. "Glaubst du, dass sie da sein wird?"
Der ehemalige Wasserspeier folgte nonchalant dem Themenwechsel. "Du meinst diese Annegret Bärbeisser?"
"Ja."
Ihr Kollege wog skeptisch den Kopf hin und her. "Ehrlich gesagt habe ich da nicht allzu große Hoffnungen. Immerhin ist sie seit dem blöden Vorfall gestern ohne Arbeit und eine neue Anstellung wird nicht leicht zu finden sein. Bestimmt ist sie unterwegs Klinken putzen und spricht überall vor, wo auch nur die kleinste Möglichkeit besteht, als Sekretärin angenommen zu werden."
Die blasse Frau neben ihm schien diesem Gedankengang wortlos zuzustimmen. Gerade, als er ihr weitere Fragen stellen wollte, kam sie ihm zuvor. "Was machen wir, wenn sie nicht anzutreffen ist? Auf sie warten?"
Rabes Mundwinkel sanken ein Stück weit herab.
Die stille Wächterin sah ihn prüfend an. "Ich meine, wir könnten natürlich auch Klinken putzen gehen. Vielleicht findet ja wenigstens einer von uns beiden etwas Einträglicheres?"
Der Wächter blickte sie verdutzt an, doch das fast weiß leuchtende Gesicht der Kollegin zeigte nicht die kleinste Emotion.
Er musste lachen. "Holla, da hat ja Jemand Humor!"
Als sie die Adresse erreichten, blieben sie skeptisch stehen.
Rabe rümpfte die Nase. "Miese Gegend." Er bedachte den baufälligen Kasten mit Abscheu. "Da hätte sie auch gleich in die Schatten ziehen können. Ist ein regelrechtes Wunder, dass ihr noch nichts zugestoßen ist."
Die Frau neben ihm trat entschlossen auf den Eingang zu. Sie gingen durch einen dunklen Gang, der so eng war, dass sie ihn nur hintereinander passieren konnten. Mittig dieser vermauerten Häuserschlucht zweigte ein schmaler Absatz in das Gebäude ab, der auf eine wacklige Holztreppe zuführte.
Rabes Stimmung sank zusehends. "Es ist ein Verbrechen, solche Häuser zu bauen. Wenn wir Annegret was-auch-immer nicht antreffen sollten, wissen wir immerhin, wen wir stattdessen verhaften könnten!"
Ayure sah sich nach einer Alternative um. "Hier wohnt sie nicht."
Ihr Begleiter lachte leise. "Und was veranlasst dich zu dieser erlösenden Schlussfolgerung? Die Beschaffenheit der Treppe oder etwas Handfesteres?"
Sie deutete auf den ebenerdigen Gang: "Dieser Trampelpfad wird regelmäßig benutzt. Und zwar von Jemandem mit schmaleren Absätzen, als sie in dieser Gegend üblich sein dürften."
Rabe sah von der wackligen Treppe zum Tunnelpfad. Jetzt entdeckte auch er die kleineren Vertiefungen zwischen den schweren, großen Schuhabdrücken.
Ayure setzte sich in Bewegung und ging voraus in den Hinterhof. "Ich nehme an, dass Sekretärinnen noch weniger als wir verdienen und den größten Teil ihres Verdienstes in die Kleidung stecken müssen."
Aus irgendeinem der kleinen Fensterlöcher über ihnen drang das Schreien eines Säuglings, aus einem anderen das Gekeife zweier Erwachsener.
Rabe runzelte die Stirn, als er zu dem engen Viereck bleichen Himmels hinaufblickte, das von den schwarzen Gebäudekanten freigelassen worden war. Er murmelte frustriert: "Man, man, man. Hier möchte ich nicht mal begraben sein."
Die angehende Ermittlerin drehte sich im Rahmen der geöffneten Schuppentür, die sie angesteuert und soeben erreicht hatte, zu ihm um. "Das wollte sie vermutlich auch nicht."
Er trat etwas näher. Seine Augen gewöhnten sich nur zögerlich an das Zwielicht im Innern. Dann sog er erschrocken die Luft ein. "Igitt!"
Verschlungene Pfade
Es war inzwischen später Nachmittag geworden. Die Vampirin ignorierte den still leidenden Mitwächter, der derzeit Aktendeckel als Fächer zweckentfremdete, und zog Resümee: "Wir haben einen Brand, einen Diebstahl und einen Mord, die höchstwahrscheinlich miteinander zusammenhängen. Sollte in allen drei Fällen ein und die selbe Person dahinter stecken, dann ist von einem kaltblütigen, planenden Mörder auszugehen, der vor nichts zurückschreckt."
Herold fühlte sich angesprochen, öffnete mühsam die von Schweißperlen umsäumten Augen und stöhnte. "Was? Oh man, ich brauche irgendwas gegen Kopfschmerzen..."
Fräns Kommentar kam fast automatisch: "Du bist zu ausgetrocknet. Du musst einfach mehr trinken, sonst dickt dein Blut zu sehr ein." Sie überlegte weiter.
Herold hielt im Fächeln inne und sah sie besorgt an, was Frän natürlich nicht mitbekam. Seine Nackenhärchen stellten sich in Zeitlupe auf.
Plötzlich sah die Kollegin ihn erschrocken an: "Entschuldige bitte. Ich wollte dich nicht... bevormunden. Es wäre nur wirklich besser für dich, wenn du etwas trinken würdest."
Herold stand schnell auf und nickte. "Ja. Natürlich. Ich... komme gleich wieder."
Frän nickte. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, setzte sie ihr Selbstgespräch schon wieder fort.
"Könnte es sich denn um Unfälle handeln?" Sie drehte den Gedanken hin und her und betrachtete ihn von allen Seiten.
"Der Brand? Ja, das kann Zufall gewesen sein." Sie zog die Akte näher zu sich heran und begann in den gesammelten Notizen und Berichten ihrer Kollegen zu blättern.
"Der Diebstahl? Nein. Da muss Jemand entweder die Gelegenheit herbeigeführt oder sie ausgenutzt haben. Ersteres spräche wieder für unseren kaltblütigen Täter, letzteres würde ganz neues Licht auf die Sache werfen."
Sie stutzte. "Eine zurückhaltende, vielleicht sogar feige Person, die die Umstände ausnutzt und nun hofft, unerkannt zu bleiben?"
Aber es gab es ja noch so viele andere Möglichkeiten.
"Das ganze Spektakel fand im obersten Stockwerk des Gildengebäudes statt. Also kommen nur Mitglieder, Besucher oder unerkannte Eindringlinge in Frage."
Sie lachte kurz ironisch auf. "Meine Güte, das schränkt es natürlich ungemein ein."
Sie schloss die Augen und dachte angestrengt nach. "Letzteres ist so gut wie ausgeschlossen, denn immerhin ging es um eine Zahlenkombination. Es sei denn natürlich, die Dame des Hauses hat uns belogen und es wusste doch jemand Dritter um die Kombination. Oder noch direkter, die Tür war, vielleicht aus Unachtsamkeit, sogar noch offen und sie traut sich nicht, das einzugestehen?"
Etwas in ihrem Sinn machte deutlich spürbar 'klick'. "Vielleicht steckt aber auch Absicht dahinter?"
Die Püschologin legte ihr Kinn auf einem Handballen ab und kniff die Augen zu misstrauischen Schlitzen zusammen. Sie flüsterte: "Vielleicht ein Racheakt?"
Etwa eine Minute lang vertiefte sie diesen Gedanken, bevor sie wieder von Vorne ansetzte. "Na ja, das kann man ja erst mal im Hinterkopf behalten. Zumindest hätte diese Variante den Vorteil, dass keine Komplizen oder Mitwisser benötigt wurden. Hätte sie dann vielleicht auch diese Sekretärin getötet? Vielleicht hatte die etwas beobachtet, was sie nicht wissen sollte?"
Frän seufzte leise. "Wobei das natürlich schon harter Stoff ist, so ein Gemetzel, da hätte sie Nerven aus Stahl benötigt. Zumal bei so wenig eigenen Spuren, die hinterlassen wurden! Im Grunde ja gar keine. Andererseits hat die Frau tatsächlich Nerven, wenn man den verschiedenen Angestellten trauen darf. Und das sollte man, bei so vielen übereinstimmenden Aussagen!"
Sie durchblätterte die Gedächtnisprotokolle, blieb dann aber an der Seite hängen, die den Bericht des Verdeckten Ermittlers enthielt.
"Hm... aber er macht das noch nicht lange. Vielleicht interpretiert er da im Übereifer zu viel hinein?"
Sie überflog die Seite, blätterte noch einmal zurück und verglich den Inhalt mit den Notizen des Abteilungsleiters.
"Widersprüche." Ihre Stimme nahm beinahe etwas Verträumtes an. "Was erst wie ein störender Sprung im Glas wirkt, wird später zu der besonderen Linie, der einmaligen Struktur, die auf eine einzigartige Lösung hindeutet." Sie versank in Grübelei.
Die Tür ging wieder auf und Herold kam zurück. Er ließ sich auf den Stuhl fallen. "Schon irgendeine Idee?"
Frän sah ihn nachdenklich an. Der Jüngere strahlte sie unerwartet an und trumpfte auf: "Ich habe sogar schon selber eine Theorie. Wenn du mir deine erzählst, dann verrate ich dir auch meine. Wie wär's?"
Sie spürte das Zucken in ihren Mundwinkeln und konnte gerade noch verhindern, dass sie ihn mit ihren Fangzähnen erschreckte.
"Na gut. Wie du möchtest." Sie atmete noch einmal tief durch, während Herold sich gespannt näher beugte.
"Was den Diebstahl betrifft... letztlich könnte das Jeder gewesen sein. Diese Ermittlerin..." Sie sah kurz auf ein Blatt mit säuberlich geschwungenen Buchstaben. "...Lilli Baum, hat während ihrer Nachforschungen festgestellt, dass im Nachbargebäude der Gilde lediglich Ältere betreut werden, die kaum etwas hören oder sonst wie mitbekommen. Der Zugang zu dem Flachdach ist somit, mit etwas Umsicht, problemlos möglich. Und damit auch zum Büro. Der Zugang zur Zahlenkombination... na ja, letztlich wissen wir ja, wie so etwas läuft, nicht wahr? Wenn es niemand direkt aus dem Büro war, der den Schrank öffnete, dann vermutlich zumindest ein Mittäter. Was auch die Verbindung zu der Ermordeten darstellen könnte. Ich würde allerdings auf die Institutsleiterin selber tippen. Der Sekretär scheint ihr seit Jahren nachzustellen. Zudem hat Frau Skunda sich wohl in letzter Zeit häufiger mit dem Leitenden Angestellten des Mutterunternehmens getroffen, dem Herrn Victor von Smarl, was zu peinlichen Eifersuchtsszenen mit diesem Kaufgut geführt haben soll. Er hat ihr, laut Aussage einer gewissen...", Frän Fromm blätterte hastig zu dem Bericht der Kontakterin Feldacker, "Hier, also laut Aussage von Gertrude Stockmann, hat dieser Kaufgut der Skunda vor versammelter Mannschaft vorgeworfen, Andere zur Erreichung ihrer Ziele ohne Rücksicht auf Verluste auszubeuten und dann wie Müll fortzuwerfen. Sie habe jahrelang seine Gefühle in den Staub getreten und er würde sich das nun nicht mehr gefallen lassen, irgendwann sei das Maß voll."
Der Püschologe begann wieder mit dem Luftfächeln, nickte jedoch entschlossen. "Ich weiß zwar nicht, wie du dann auf die Skunda kommst..."
Sie fiel ihm erklärend ins Wort: "Na, weil sie den Sekretär lange genug ertragen hat und das mit dem Brand und dem allgemeinen Durcheinander eine hervorragende Möglichkeit darstellte, etwas zu behaupten, was niemand widerlegen kann. Und vor allem, hast du die Berichte verglichen, in denen ihr Verhalten beschrieben wird?"
"Ja, klar habe ich die gelesen. Man könnte das aber genauso mit der anhaltenden Hitze erklären. Da wird doch jeder irgendwann ungehalten! Jedenfalls mit meiner Theorie deckt sich das hervorragend! Ich würde auf den Sekretär tippen. Der Kerl hatte sowohl ein Motiv, als auch die Gelegenheit dazu. Der könnte sich sogar ein Loch durch seine Zimmerwand gebohrt haben, um die Kombination rauszubekommen! Müsste man eben überprüfen. Mal ganz abgesehen davon, dass das ja auch die Meinung seiner Schäffin ist, die extra deswegen zu uns kam, mit ihrer Anzeige. Warum sonst hätte sie denn das Risiko eingehen und sich deiner Meinung nach selber anzeigen sollen?"
"Vielleicht um die Fairsicherung zu überzeugen? Gab es eine? Hat das einer überprüft?"
Herold zuckte mit den Schultern. "Ich hab nichts darüber gelesen."
Frän notierte sich den Gedanken auf einem Extrablatt. Zusammen mit der Frage nach einem Durchguck in der Zwischenwand. "Meinst du denn, der Sekretär hat mit der Kleinen paktiert und sie dann ermordet?"
Er schüttelte den Kopf. "Ich würde das getrennt voneinander sehen. Die Frau hatte einfach Pech. Erst das Feuer, das sie den Job kostete. Dann ein völlig gefrusteter Heimweg. Vielleicht hat sie noch etwas getrunken. Jemand hat das mitbekommen und die Gelegenheit genutzt. Leichtes Opfer, leichte Beute. Das Zimmer in dem sie gewohnt hat, war ja schließlich durchwühlt worden. Passt doch."
Frän dachte kurz nach. "Und wenn wir etwas übersehen?"
Herold argumentierte von seinem Standpunkt aus: "Wir sind nicht die Ermittler. Wir sind die, die eins und eins zusammenzählen und daraus ein Täterprofil basteln." Er dachte kurz über seine eigenen Worte nach und seufzte dann.
"Na schön. Ich habe mich da vielleicht etwas weit aus dem Fenster gelehnt. Ich streiche meine Aussagen zusammen, bis zu dem Kern, der unsere ursprüngliche Aufgabe war. Das Feuer erscheint mir zufällig, zumal wenn man die Beschreibung der herrschenden Zustände unter dem Dach bedenkt. Da war es wohl nur eine Frage der Zeit. Bedeutet, dass es nur noch um einen Diebstahl geht. Meiner Meinung nach sollte nach einem Täter Ausschau gehalten werden, der den Diebstahl geplant und damit Rache bezweckt hat. Immerhin scheint er etwas genommen zu haben, was für die Besitzerin persönlichen Wert bedeutete und er hat insoweit Vorbereitungen getroffen, dass er sich, auf welchem Wege auch immer, die Zahlenkombination verschaffte."
Die grünen Augen der Püschologin waren nachdenklich auf die Akte gerichtet. "Selbst, wenn ich vom gleichen Blickwinkel an die Sache herangehe, komme ich zu einem leicht anderen Schluss."
"Und zu welchem?"
"Der Zeitpunkt des Diebstahls, eben wegen jenem Feuer, lässt mich vermuten, dass entweder Absprache oder eine erkannte Gelegenheit dahinter stehen. Der Dieb hat in jedem Fall starke Motive, die ihn zum sofortigen Handeln bewegen um Schaden zu stiften. In jedem Fall ist er berechnend, denn entweder ließ ihn die überraschende Gefahr für die Sekretärin kalt, als er eine Gelegenheit ergriff oder aber er plante in ihrem Fall den eventuellen Tod einer Komplizin mit ein, um sein Ziel zu erreichen. Ein Feuer lässt sich niemals völlig kontrollieren, erst recht nicht in einem überfüllten Büro mit Massen an trockenem Holz und Papier. Daher würde ich als Hintergrund zu der Tat ein Beziehungsdrama vermuten." Sie sah ihn mit entschuldigendem Blick an. "Tut mir leid aber in dem Fall ist eine entsprechende Verdächtige einfach zu nahe liegend."
Sie sahen sich kurz an, dann entschied Herold kurzerhand: "Wir geben einfach beide Interpretationen als Anhaltspunkte raus?"
Frän deutete mit einem Nicken ihr Einverständnis an, konnte den von Herzen kommenden Seufzer im Folgenden aber nicht aufhalten: "Wir sollten Pyronekdan mal fragen, ob es einen Zauberspruch gibt, der zur Apportation von Schuldigen führt."
Gepackte Koffer
Zum Glück war der Sekretär nicht sonderlich kreativ in seiner Reaktion. Kaum hatte er die Uniformierte mit den blauschwarzen Haaren das Dachgeschoss betreten sehen, war er am anderen Ende auch schon in sein Zimmer verschwunden.
Magane ging ganz bewusst nicht schneller, dennoch zog sie einige verwunderte Blicke der anwesenden Damen auf sich, als sie ihm unaufgefordert folgte. Das Fenster zum Dach stand offen und von dem Sekretär war nichts zu sehen. Sie schwang sich über das Fensterbrett und eilte an der Brüstung entlang zu der entfernten Dachluke. Als sie von der letzten Sprosse sprang, erklangen hinter ihr, schnell näher kommend, die Schritte weicher Sohlen.
Kaufgut kam schlitternd zum Stehen und starrte sie verzweifelt an. In seiner Hand eine prall gefüllte Reisetasche.
Hinter ihm tauchte in gemächlichem Tempo ein weiterer Wächter auf, der sich in alle Ruhe eine Pfeife stopfte.
"Nichts für ungut, Herr Kaufgut. Wir wollen ja nur mit Ihnen reden. Das ist doch nicht schlimm, oder?"
Der ausgezehrte Mann zwischen ihnen schien unschlüssig, an welchem Wächter er größere Chancen hätte, vorbei zu kommen.
Die Omnierin schloss symbolisch die Hand um den Schlagstock an ihrer Hüfte.
Kolumbini nuschelte freundlich um den Pfeifenstiel herum: "Wo wollten Sie denn bloß so eilig hin?"
Der Sekretär packte seine Tasche mit beiden Armen und umklammerte sie, wie den größten Schatz.
Dann jedoch gab er von einer Sekunde auf die andere, völlig überraschend, auf. Er ließ sich auf die oberste Stufe der Treppe sinken. Seine Stimme klang brüchig: "Ich war es nicht."
Magane zog eine Braue in die Höhe, Kolumbini aber setzte sich gemütlich neben den Gescheiterten und fragte beinahe besorgt: "Wovon reden Sie? Was wollen Sie nicht gewesen sein?"
"Das mit dem Diebstahl."
"Sieh an... davon haben wir nie gesprochen, nicht wahr?" Er wandte sich an seine Kollegin. "Ich frage nur, weil ich manchmal selber durcheinander komme. Es ging immer nur um die Umstände des Brandes, nicht wahr?"
Die Ermittlerin nickte ihm zu und hielt nach verräterischen Bewegungen des Verdächtigen Ausschau.
Kolumbini drehte sich wieder um. "Aber Sie haben natürlich Recht. Wir verdächtigen sie des Diebstahls. Und daher möchte ich Sie höflich darum bitten, mir Ihre Tasche und deren Inhalt zu zeigen."
Er nahm ihm sanft die Tasche aus den Händen und legte einen Gegenstand daraus nach dem Anderen auf den Treppenabsatz ab.
"Ein Teil Unterbekleidung einer Dame, ein mit Spitzen umsäumtes Taschentuch, ein rotes Schnürband, ein kaputter Ohrring, ein Kettenanhänger..." Und dann hielt Kolumbini mit einem leisen Pfiff inne. "Was haben wir denn hier Schönes?"
Eine fingergroße, gläserne Phiole kam in die Höhe, so dass auch Magane hinter ihm diese sehen konnte. Mit neugierigem Blick sah er den Sekretär neben sich an, das Beweisstück noch immer zwischen ihnen. "Nun?"
Kaufgut schloss resignierend die Augen. "Ich habe ihr das nicht gestohlen. Das war auf einmal zwischen meinen Sachen, ich weiß auch nicht, wo es herkam." Er öffnete sie mit einem ermatteten Ausdruck. "Aber das werden Sie mir vermutlich eh' nicht glauben."
Kolumbini lächelte verschmitzt. "Ich streite weder ab, noch stimme ich zu. Allerdings fehlen hier etwa 41 weitere Beweise, mit denen ich ansonsten gerechnet hätte. Erzählen Sie uns beiden einfach mal ihre Variante der Ereignisse, ja?"
Der Hoffnungslose sah ihn zweifelnd an, begann dann aber zu erzählen.
"Natürlich habe ich dieses Fläschchen sofort erkannt. Das wäre ja immerhin ihre nächste Frage gewesen. Menja hatte immer mehrere davon im Büro. Eigentlich gehören solche privaten Dinge nicht in den Geschäftsschrank aber bis zum Besuch von dem Smarl hat das ja niemand kontrollieren können. Sie war schon immer etwas Besonderes und wenn sie ihr Parföng sicherheitshalber wegschließen wollte, so hätte es keinen Sinn gehabt, da reinzureden. Und wozu auch?"
"Ach!" Maggie war neugierig näher getreten. "Da ist Parföng drin?"
"Was sollte es denn sonst sein? Immerhin würde es ihren unverwechselbaren Duft erklären."
Kolumbini blickte währenddessen bedeutungsvoll zu Magane. "Erzählen Sie uns bitte von gestern, als es brannte."
Ismo ordnete seine Erinnerungen. "Viel kann ich dazu nicht erzählen. Ich war wie immer um diese Zeit in den Keller gegangen, um die Wäsche zusammenzulegen. Auf dem Rückweg hörte ich lauten Tumult in den oberen Stockwerken. Ich kam gerade recht um Menjas Auftritt zu erleben. Alles war voller Qualm der in dichten Wolken unter den Decken entlang rollte. Die Frauen waren drauf und dran, wie vom Herdentrieb gepackt nach draußen zu stürmen. Aber Menja stand unverrückbar in der Tür und rief zu Disziplin auf. Keine fünf Minuten später war das Feuer erstickt."
Eine Weile sagte niemand etwas. Bis die Ermittlerin hinter den beiden Männern fragte: "Und warum sind Sie dann vor uns weggerannt?"
Ismo zog spöttisch einen Mundwinkel in die Höhe. "Meine Güte, sehe ich wirklich schon so alt aus, dass Sie mich für senil halten? Ich habe doch die verschiedenen Leute beobachtet, die seit Kurzem hier ein und aus gehen, die Fragen stellen und die die passenden Antworten von denen da drinnen bekommen." Er deutete mit einer Kopfbewegung hinter sich, auf das Nachbargebäude. "Ich habe mich nicht beliebt gemacht in den letzten Jahren, nur nützlich. Sie haben keine Ahnung, wie es in diesem Raubtierkäfig mit den spitzen Krallen zugeht. Wenn Sie sie sehen, dann lächelnd. Aber ich habe die Zähne zu spüren bekommen. Warum auch immer die Wache ermittelt, nachdem ich das Fläschchen gefunden hatte war mir klar, dass mich jemand los werden will."
Maggie sah ungerührt auf ihn hinab. "Warum haben Sie das Ding dann nicht gleich weggeworfen, statt es aufzuheben?"
Der Sekretär wich verlegen ihrem Blick aus.
Unter vier Augen
Es war dunkel geworden, da draußen. Ophelia sehnte sich danach, auch nur für fünf Minuten in dieses 'Draußen' flüchten und dem Käfig entkommen zu können. Die Frauen hier drinnen waren aus anderem Holz geschnitzt als sie selbst und der Unterschied bestand nicht nur darin, einen ganzen Tag in diesem Brutkasten ohne Flüssigkeit oder Pause auszukommen. Aber die Abteilungsleitung wusste nicht, wie lange die Verdeckte Ermittlung in diesem Büro andauern würde und daher war es wichtig, fleißig zu sein und als "Neue" länger als die Übrigen durchzuhalten. Ein hohes Ziel.
Sie hatte schon eine Menge erfahren und unauffällig weitergeleitet.
Die Frauen für diese Gilde wurden nach dem Kriterium der Hitzebeständigkeit ausgewählt. Unter anderem. Wer keine gerade Nase und weißen Zähne hatte, der wurde gar nicht erst eingelassen. Wer keine zwölf Stunden ohne Pause durchhielt wurde wieder entlassen. Ebenso, wer Schweißränder an der Kleidung nicht irgendwie verhindern konnte. Die eigentliche Arbeit trat bei diesem Anforderungsprofil zwar in den Hintergrund, der Konkurrenzkampf aber holte sie wieder vor. Keine der Frauen in der Gilde war mit einer der anderen befreundet. Kleine Zwischenfälle waren an der Tagesordnung, ebenso die falschen Entschuldigungen oder Aufmunterungen.
Ophelia war dem Geplänkel aufmerksam gefolgt und inzwischen froh, dass sie noch nicht als ernstzunehmende Konkurrenz eingestuft worden war.
Ein Luftzug streifte die Verdeckte Ermittlerin. Sie blickte vorsichtig auf und sah gerade noch, wie eine Frau, auf die die Beschreibung der Frau Skunda zutraf, hinter der mittleren Tür verschwand. Ihre "Schäffin" war also wieder zurück. Merkwürdig. Deren Frisur hatte zerzaust gewirkt, ganz und gar nicht damenhaft.
Sie hinkte noch dieser Erkenntnis hinterher, als die Atmosphäre im Raum sich merklich wandelte. Ophelia blickte sich um und entdeckte den stattlichen Mann, der eindeutig derjenige sein musste, mit dem mindestens die Hälfte der Frauen hier ein Techtelmechtel angefangen hatte. Oder davon träumten. Und dabei ging es nicht nur um die natürliche Anziehungskraft, die er ausstrahlte. Eine der Sekretärinnen aus der hinteren Reihe, Rosemarie, hatte gegen Mittag verächtlich über eine gewisse Erika gelästert und dabei durchblicken lassen, dass diese und Victor in 'vorhersehbarer Regelmäßigkeit' an ihrer Karriere arbeiteten.
Von Smarl folgte der Filialleiterin und schloss gelassen die Tür des kleinen Büros hinter sich.
Die Verdeckte Ermittlerin beschloss, an den vorderen Schrank zu gehen, neben dieser Tür, um nach einem neuen Bleistift zu suchen.
Sie spürte mehrere feindselige Blicke ihren Rücken treffen. Vermutlich hatte mindestens eine der Anderen einen ähnlichen Gedanken verfolgt, wenn auch aus anderem Beweggrund, und würde diese Störung ihrer Pläne auf der Minusseite des Kontos der Neuen verbuchen.
Ophelia betrachtete ihren alten Stift, der "merkwürdigerweise" mittig zerbrochen war und brachte sich somit näher an die Tür. Sie hörte ein konstantes, tiefes Grollen und eine überheblich klingende, männliche Stimme: "Hast du wirklich geglaubt, du wärst hier das Alpha?"
Das Grollen wurde lauter und kippte langsam in ein anhaltendes, unterschwelliges Knurren.
Victor von Smarl schien sich gut in der Rolle des Stärkeren zu gefallen. "Entweder! Oder! Was für ein Trugschluss, zu denken, ein paar Pillen könnten das Raubtier in dir für immer zähmen..." Er lachte leise und der Lauscherin an der Tür fiel ein, dass sie vielleicht auch mal mit der Suche nach einem Stift beginnen sollte. Sie ging vorsichtig in die Hocke und zog eine der Schubladen auf. Währenddessen wurde die Konversation im anderen Raum heftiger. "Sieh dich doch bloß mal an! Wie erbärmlich... Lass dir das eine Lehre sein und mach den Platz frei für eine echte Frau, eine deiner kleinen Hübschen, die weiß, wie es zu laufen hat. Meine Güte, ich weiß wirklich nicht mehr, was ich an dir gefunden habe!"
Und dann gab es ein lautes Krachen und Poltern.
Ophelia zuckte wie ertappt zurück und starrte fassungslos auf die bebende Tür, hinter der das Chaos ausgebrochen sein musste. Etwas krachte mit solcher Wucht gegen die Wand, dass es sie nicht gewundert hätte, wenn es durchgebrochen wäre und jemand jaulte und winselte, dass es einem das Blut in den Adern gefror. Die Wächterin bekam nur mit einem kleinen Teil ihres Bewusstseins mit, dass die wenigen Anderen, die noch unter dem Dach gearbeitet hatten, jetzt auf sie zugelaufen kamen und aufgeregt gestikulierend redeten. Die Kampfgeräusche wurden nachhaltiger, während die Schmerzenslaute weniger wurden.
Ophelia nahm ihren Mut zusammen und riss die Tür auf, wobei die anderen Frauen aus dem Weg sprangen.
Was nicht an den Wänden angebracht worden war, lag in Splittern auf dem Boden. Und selbst die Regalflächen waren zum großen Teil unachtsam leergefegt worden. Inmitten dieses Bildes der Zerstörung lagen zuckend die Körper zweier Wölfe, blutige Fetzen waren aus ihrem Fell gerissen, büschelweise lag es in den verschmierten Lachen und mit jedem mühsamen Heben und Senken der beiden Brustkörper, mit jedem röchelnden Luftholen, wurde für Nachschub der roten Flüssigkeit gesorgt.
Die Wächterin starrte mit schreckgeweiteten Augen auf das Massaker. Sie flüsterte entsetzt der Sekretärin neben sich zu: "Es gibt einen Semaphoresender auf dem Dach, nicht wahr?"
Die Antwort bestand in einem Nicken.
Ophelia räusperte sich und begann mit etwas festerer Stimme Befehle zu verteilen. "Du schickst sofort eine Nachricht an den Pseudopolisplatz! Sie sollen die Igorina Feinstich informieren, dass zwei Werwölfe mit schweren Fleischwunden und hohem Blutverlust reinkommen."
Die Angesprochene rannte schon los, als ihr auf halbem Wege drei Personen entgegen kamen.
Die Wächterin allerdings bekam das gar nicht mehr mit. Sie ging auf die beiden Bewusstlosen zu und rief die nächste Unfreiwillige zu sich.
Inzwischen kniete sich Kolumbini neben die Wächterin und suchte bei dem helleren Wolf nach dem Puls.
Operation Werwolf
Der Raum war eindeutig zu voll mit Leuten und das missfiel der Sanitäterin. Ohne sich von dem schweren Körper abzuwenden oder auch nur etwas langsamer die Wunden zu vernähen, schickte sie die aufgeregten Zuschauer hinaus. "Ich habe gefagt, ich brauche Platf! Alfo ferfwindet gefälligft!" Eine ihrer rot verschmierten Hände warf einen voll gesogenen Stoffbausch in die Metallschüssel neben dem Tisch.
"Ophelia!" Ihre ehemalige Rekrutin war sofort zur Stelle. Die Igorina deutete nickend auf eine Wasserschüssel. "Fpül dir fnell die Hände und halt den Finger auf die Fnur, damit ich einen Knoten machen und neue holen kann."
Die Verdeckte Ermittlerin tat, wie ihr geheißen, und Rogi nutzte die Gelegenheit, den kleinen Ermittler mit dem blutverschmierten Mantel nach dem Zustand des anderen Eingelieferten zu befragen.
Kolumbini runzelte besorgt die Stirn: "So wie es aussieht, gibt es ein ernsthaftes Problem. Romulus hat sich das angesehen. Sie wechselt ständig hin und her, schafft aber keine vollständige Wandlung. Er sagt, ihr Körper macht das nicht mehr lange mit. Die Anstrengung sei zu groß." Er drehte umständlich die Pfeife, die er in Rogis Reich nicht anzünden durfte. "Unschöne Sache.", sagte er. "Es sieht aus wie ein schiefgegangener Fluch oder so. Man könnte tatsächlich einer Zaubereiphobie erliegen, wenn man sich das zu lange ansieht. Dabei liegt das wohl an diesem Medikament, was sie immer genommen hat und was nun fehlt."
Die Sänitäterin sagte nichts dazu, doch ihr Gesichtsausdruck und die verbissene Eile, mit der sie eine Wunde nach der anderen säuberte und verschloss, sagten alles.
Ophelia sah ihr dabei zu und bewunderte ihr Geschick. Doch der Weg zur Wache war lang gewesen und mit jedem Herzschlag befand sich weniger Flüssigkeit in dem Körper.
Rogi fluchte leise: "Daf kann nicht fein, verdammt... Ich möchte mal wiffen, warum die Selbftheilung nicht langfam einfetft?"
Ein weiterer Lappen landete klatschend in der Schüssel.
Sie dachte krampfhaft nach. Ihre Hände arbeiteten von selbst. "Und ihr habt einef diefer Fläfchen gefunden, ja?"
Kolumbini beeilte sich zu antworten: "Ja. Sie hätte es wohl jeden Tag nehmen müssen. Anscheinend unterdrückt es werwölfische Instinkte und hormongesteuerte Vorgänge im Körper."
Die Igorina beugte sich etwas vor und kappte den nächsten Faden. Dabei murmelte sie vor sich hin: "Dafu noch morgiger Vollmond, extremer Ftreff, fu wenig gegeffen und getrunken, die Hitfe und daf unfreiwillige Abfetfen def Mittelf." Sie biss die Lippen zusammen.
"Ef könnte fie genaufo gut umbringen, ef ihr jetft fu geben." Ein neuer Faden wurde eingefädelt.
"Tunkt einige Laken in kaltef Waffer, wringt fie gut auf und verfucht, fie damit einfuwickeln. Nicht fu feft. Aber fie foll fich möglichft wenig bewegen und etwaf runterkühlen. Ich beeile mich hier und komme gleich rüber."
Kolumbini hinter ihr nickte kurz und drehte sich dann um.
"Und ihr andern macht endlich die Tür fu! Von Drauffen!"
Resümee
Von Smarl erlag seinen Wunden. Die Proben der Fingerabdrücke ergaben, dass er sich an dem Schloss zu schaffen gemacht haben musste. Der Kasten mit den übrigen Phiolen wurde in seiner Wohnung gefunden, ebenso wie Blutspuren, die mit Annegret Bärbeissers Leiche übereinstimmten.
In den persönlichen Unterlagen Frau Skundas wurde ein Vertrag gefunden, in dem sie sich fünf Jahre zuvor für eine Testreihe zur Verfügung stellte. Im Kleingedruckten wurden gewisse Nebenwirkungen eingeräumt, sollte das Medikament nicht ordnungsgemäß eingenommen werden. Entsprechend lehnte die Chemikergilde jedwede Schuld ab. Frau Skunda konnte zwar am Leben erhalten werden, ihr Körper blieb jedoch deformiert und schwach.
Der Verdacht gegen Ismo Kaufgut wurde fallengelassen. Er hat sich dazu bereit erklärt, für seine ehemalige Vorgesetzte zu sorgen.
Frau Hupfner wurde unverzüglich als neue Leiterin der Filiale eingesetzt.
Übrigens fanden die R.U.M.-Ermittler tatsächlich ein kleines Loch in der Bürozwischenwand.
Kritik erwünscht
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