Das einsame Klavier

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von Obergefreite Tussnelda von Grantick (FROG)
Online seit 31. 07. 2006
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 Außerdem kommen vor: Carisa v. Schloss EscrowKanndraWaldemar von SilberfangHarryTyros y GracoRogi FeinstichMaximilian R. SchrecktNyvaniaValdimier van Varwald

Der freie Wille ist ein Geschenk, dass kaum jemand zu nutzen weiß... Ahnen die FROG, welcher Fall auf ihrem Schreibtisch gelandet ist?

Dafür vergebene Note: 12

Im Abschied liegt Wahrheit

Der sanfte Schimmer morgendlicher Röte hing träumerisch über dem Himmel von Ankh-Morpork. Noch feucht vom Tau glänzten die Blätter in das Büro Nummer fünf, als Tussnelda von Grantick durch die Türe kam, in der Hand einen kleinen Karton. Kaffeearomen flogen lustig durch die Luft, Staubteilchen tanzten im Licht. Alles war wundervoll, friedlich und - leer. Für Tussnelda machte es die Sache einfacher, schließlich war der Anlass bedrückend genug: Sie verließ RUM. IHRE Abteilung, der Ort, der für sie im letzten Jahr ein Heim geworden war. Gleichzeitig fühlte sie sich erleichtert, von hier wegzukommen. Endlich hatte dieses Graben in den Tiefen der Püsche ein Ende. Keiner ihrer Kollegen hatte jemals wirklich verstanden, was es damit auf sich hatte und Tussnelda bezweifelte sogar dass Frän, Herold und Doris ahnten, worum es wirklich ging. Wie sehr einen manche Einsichten zerreißen konnten. Ihr war klar, dass sie ihren Tschob gut gemacht hatte - zumindest, wenn es um das Profeihling ging. Bei Zeugenvernehmungen oder Therapiesitzungen hatte sie kläglich versagt, was der Selbstmordversuch Lillis hinlänglich bewies.
Tussnelda nahm das kleine Häkeldeckchen von der Couch, von dem niemand wusste, dass sie es mit 12 Jahren selbst gemacht hatte. Es war ihre mit Abstand beste Handarbeit gewesen, die Mutter hatte sie sehr dafür gelobt. Sanft lies sie es in ihren Karton gleiten und stellte dann ihre Kaffeetasse und das Einmachglas mit der Lakritze dazu.
Mit einem Blick prüfte sie das vollgepresste Bücherregal. Zwei Bücher gehörten ihr, nämlich ihr Lieblingsfachbuch "Die Püsche" und ein hart-kartoniertes Buch ohne Titel. Vorsichtig nahm sie beide heraus und wog sie einen Moment in der Hand. Mit wehmütigen Blick stellte sie dann "Die Püsche" zurück. Sie brauchte es nicht mehr. Einen Abschied hatte sie nicht vorbereitet - warum auch? Niemand würde ihr ernstlich nachtrauern, höchstens Ophelia würde sich eine Träne aus dem Knopfloch zwängen. Und Maggie natürlich, in den Ermittlungen hatten sie oft miteinander Spaß gehabt. Kathi... Kathi würde froh sein, wenn sie weg war. Wenn man nicht mehr immer den Spagat schaffen musste, sich im Dienst zurück zu halten, auch wenn die Faust lieber ins Gesicht der Anderen wollte, würde vieles leichter sein. Insgeheim hatte sich Tussnelda längst eingestanden, dass gerade dieses Zerwürfnis ihre Entscheidung zu FROG zu gehen begründet hatte. Zu sehr hatte der Dorn des Zweifels an ihrem Gemüt geschabt, nach dem mit Frederick [1]. Kathis Meinung hatte noch dazu beigetragen. Sie hielt es einfach nicht mehr aus, dem stetigen Spott ausgeliefert zu sein, der von der Zunge der Klatschianerin sprang. Dabei waren sie einst Freunde gewesen... verdammt enge Freunde. Immer hatte ihr die Obergefreite geholfen, wenn sie sich selbst wieder zu sehr in einer Ermittlung verstrickt hatte. Immer... Tussnelda schloss einen Moment die Augen. Es wurde Zeit zu gehen.

***


"Ich muss!", zornig stieß Tyron den Arm seiner Frau beiseite. Die schlanke Brünette strauchelte und wäre beinahe auf den dicken Teppich gestürzt, hätte er sie nicht schnell ergriffen. "Es tut mir leid, Amy", sagte er betroffen und strich versöhnlich über ihre glatte Wange.
"Tu es nicht", sagte sie schlicht, gefangen in dieser kleinen Berührung. Ihr war klar, dass sie nicht von Herzen kam, sondern durch Gewohnheit übermittelt war. Dennoch - als er die Hand wegziehen wollte, umfing sie die seine mit ihren eigenen, feingliedrigen Fingern. "Bleib", bekräftigte sie noch einmal und sah ihm in die Augen. Doch alles was sie sah, war schon Flucht, er war gedanklich so weit davon, dass sie nie wieder eine Chance haben würde, ihn zu erreichen. Sollte es das jetzt wirklich sein? Sollte die jahrelange Angst, das drohende Schwert der Trennung ihre fragile Ehe jetzt endgültig zerbrechen?
"Ich habe es mir nie so vorgestellt... ", er befreite sich jetzt endgültig von ihr, "Ich hab es mir nicht so vorgestellt, wirklich."
Sie blickte zur Seite, den hübschen Mund bitter verzogen. "Leere Worte, nicht wahr? Du hättest dieses Versprechen nie geben dürfen. Als du es tatest, damals schon, hast du uns verraten."
"Uns? Wir kannten uns nicht einmal! Nein, mich selbst hätte ich verraten", erbost durchmaß er den Raum mit langen Schritten, im Gleichschritt mit dem Ticktack der Uhr, hastig und unstet.
Getroffen schloss sie die Augen für eine Sekunde, um die Tränen zurück zu halten. Ein schmerzhaftes Ziehen ging durch ihren linken Arm, wie immer, wenn sie sich von ihm verletzt fühlte. Sie wischte die Trauer beiseite, härtete sich gedanklich. "Darum ging es immer, nicht wahr. Um dich. Aber ich verrate dir etwas - mich gibt es auch noch. Wenn du gehen willst - bitte sehr, dort ist die Tür. Schließe sie hinter dir und sei gewiss, ein anderer wird sie öffnen."
Innerlich schrie alles in ihr gegen diese Worte, doch sein schmerzvoller, verständnisloser Blick perlte an ihrem kalten Selbst ab. Mit einer eleganten Bewegung nahm sie eine Zigarette aus dem silbernen Etui auf dem lackierten Beistelltischchen. Als der Rauch durch den Raum strich machte sie eine gleichgültige Geste. "Geh jetzt. Ich brauche dich nicht mehr."
Ohne ein weiteres Wort griff er die lederne Tasche, die schon bereit stand und verließ sie. Der Schlag der zuknallenden Tür klang unnatürlich laut. Sie schlug erschöpft die Augen nieder und zog noch einmal an der Zigarette. Kurz nur überlegte sie, ob sie jetzt weinen sollte. Sie hatte schon andere Verluste hinnehmen müssen... es war ihr stets gelungen, sie beiseite zu schieben, wie eine Nebensächlichkeit. Oh ja, es war eine erstaunliche Fähigkeit, die sie besaß.

Die Schau beginnt

"Welchen Weg, schönes Leben?", Professor Halorank in seinem weißen Kittel blickte aus dem Fenster auf die geschäftigen Straßen Ankh-Morporks. "Keiner von euch ahnt, welchen Gefallen ich im Begriff bin euch zu tun ", sagte er sehr leise, mit einer Stimme die von zu vielem Tabakgenuss kratzig klang. Ein böses Grinsen glitt über das zernarbte Gesicht des grauhaarigen Mannes, ein Grinsen purer Überlegenheit. "Die letzte Sequenz ist gelöst... nun kann es bald beginnen... euer orientierungsloses Leben hat bald ein Ende. So dumm ist der Mensch, fast weniger wert als ein Tier, das man wenigstens verspeisen kann. Nutzlos ist er, so wie er ist."
Salbungsvoll ließ Halorank seinen Blick über die Stadt treiben. Wie von unsichtbaren Schnüren gezogen, bewegten sich die Menschen ihren Zielen entgegen. Ohne jemals wirklich für etwas Gutes, etwas Großes nützlich sein zu können. Er würde ihnen diese Chance geben.
"Ein Tier muss belehrt werden, mit viel Geduld oder Zucht. Ich", er atmete tief durch die Nase aus, "ICH werde den Mensch neu züchten, ihn besser machen. Leistungsfähiger, gesünder, gehorsamer. Der freie Wille ist nutzlos, er ist ein Bremsklotz, kaum einer weiß etwas mit einer freien Entscheidung zu beginnen, alle suchen einen Herrn. Ich werde euch diese Suche abnehmen, ich werde euch davon befreien, auf dass ihr eurem Herdentrieb folgen könnt, ohne wegen eures freien Willens ein schlechtes Gewissen haben zu müssen."
Er beendete seinen kleinen Monolog und entzündete eine weitere Zigarette, deren Rauch sogleich aus dem Fenster gesogen wurde. Windstösse zerfaserten den weißen Qualm als er über die Dächer der Stadt glitt...
"Ich kann dich sehen, du Narr", flüsterte eine ebenso heisere Stimme ungehört. Rot glimmte die Zigarette in der hohlen Hand des verborgenen Betrachters.

***

"Ach, Tussnelda, Du bist es", Chief-Korporal Valdimier von Varwald sah die eintretende Obergefreite abschätzig an. "Armbrustschützin, was?", fragte er.
"Ja, Sör", sagte Tussnelda fest und sah sich in Valdimiers schummrigen Büro um. Viel gab es freilich nicht zu sehen, das typische Sammelsurium aus Akten und persönlichen Gegenständen eines Wächterbüros.
"Schon gut, Obergefreite."
Im flackernden Licht der kleinen Öllampe auf dem Schreibtisch griff er nach seiner Armbrust und musterte sie eindringlich. "Hast du dir schon eine geholt?"
Tussnelda zog eine kleine Armbrust aus der Halterung an ihrem Waffengurt und reckte sie dem Chief-Korporal entgegen.
"Hübscher Köcher", bemerkte er und legte seine eigene Waffe zur Seite, um Tussneldas Armbrust einer eingehenden Begutachtung zu unterziehen.
"Selbst gemacht", erwiderte sie ein wenig schüchtern. Valdimier von Varwald war ihr Ausbilder bei GRUND gewesen und damals hatte er ihr jede Menge Angst eingejagt. Er war der erste Vampir gewesen, den sie kennen gelernt hatte. Obwohl sie einerseits Vampire ob ihrer Eleganz und Stärke faszinierend fand, war die Furcht vor der uneinschätzbaren Verhaltensweise überragend. Eine schockierende Kreatur der Nacht, hatte sie ihn damals gedanklich genannt. Ihn laut als grausig bezeichnet. Unbehaglich fragte sich die junge Frau, ob sich ihr Ausbilder noch an ihre erste Begegnung erinnerte.
"Es wird dich beruhigen, dass ich garantiert NICHT mit dir das Büro teilen werde", bemerkte er bestimmt und gab ihr die Waffe zurück, "Weiß gar nicht, wie Bregs auf die Idee gekommen ist."
"Völlig unverständlich, Sör", unfreiwillig musste Tussnelda grinsen. Wenigstens in dieser Angelegenheit waren sie einer Meinung.
"Glückwunsch zu der Baratte, gute Wahl. Aber eine feinfühlige Waffe, die schlechtes Zielen verübelt. Du wirst viel lernen müssen, um damit umgehen zu können. Wie man zielt weißt du ja bereits - geh am Besten direkt zum Schießstand und leg schon mal los. Ich komm dann später, hab noch ne Menge zu tun."
Gerade als Tussnelda salutieren wollte, wurde die Türe aufgerissen und Oberfeldwebel Kanndra stürmte herein.
"Val! Tussnelda! In mein Büro - sofort! Und sagt den Anderen bescheid!"
Der Chief-Korporal war sofort aufgesprungen. Er kannte Kanndra schon sehr lange und wusste, dass etwas Dringliches auf sie warten musste. "Ruf die anderen zusammen", wies er Tussnelda knapp an und löschte hastig die Lichter in seinem Büro.

***


Die FROG waren darauf trainiert, schnell zu sein. Kein Wunder also, dass etwa 5 Minuten später das gesamte Team das Büro von Kanndra bevölkerte. Aufregung stand den Kollegen ins Gesicht geschrieben, in letzter Zeit war es so still gewesen, dass der rüde Befehl des Feldwebels Hoffnung auf neue Heldentaten weckte.
Kanndra sah jedes einzelne Mitglied ihrer Abteilung an. Für sie waren viele bekannte Gesichter darunter und sie empfand es als Ehre, nach Araghast die Leitung dieser besonderen Truppe übernehmen zu dürfen. Umso dringlicher wollte sie den anstehenden Fall zu einer glücklichen Auflösung bringen.
"Also Leute", hob sie an und lehnte sich gegen die Kante ihres Schreibtischs, "Es geht um eine kitzelige Angelegenheit, wenn ihr mich fragt - ein Tschob von höchster Stelle."
Die Abteilungsleiterin erwähnte nicht, wer der Auftraggeber war. Tussneldas Blick flackerte kurz, als ihr klar wurde, dass es nur der Patrizier sein konnte. Ihre erste Chance, sich bei FROG zu beweisen und es würde gleich von so bedeutender Tragweite sein. Unwillkürlich versuchte die Obergefreite, noch gerader da zu stehen, als sie es ohnehin tat. Das Gewicht der feingearbeiteten Armbrust an ihrem Waffengurt rückte in ihr Bewusstsein. Würde sie auf jemanden schießen müssen? Wäre sie dazu in der Lage?
"Wir müssen in dieses Haus", Kanndra tippte mit spitzen Zeigefinger zweimal auf die vor ihr ausgebreitete Karte, "und zwar unbemerkt. Unser Ziel, Professor Halorank, arbeitet indirekt in klatischianischem Auftrag. Auf die Integrität der diplomatischen Beziehungen zwischen Klatsch und Ankh-Morpork darf also keinerlei Zweifel fallen. Ein Zwischenfall, wäre das letzte, was wir brauchen könnten." Ernst musterte sie die FROG, einige nickten zustimmend. Auch Tussnelda beeilte sich, ihrem Verständnis Ausdruck zu zollen.
Die Schäffin fuhr fort: "Die Schlapphüte von Vetinari haben herausgefunden, dass der Professor dort merkwürdigen Untersuchungen nachgeht - ein Mann sehr zweifelhaften Rufes. Er ist vor einigen Wochen zurück nach Ankh-Morpork gekommen, um hier seine Forschungen abzuschließen. In Klatsch fehlten ihm wohl gewisse Ressourcen - zumindest gehen davon die Schlapphüte aus, Mitarbeiter der klatschianischen Botschaft wurden gesichtet, wie sie einige Dinge über dunkle Kanäle direkt aus der Alchimistengilde besorgten. Das alles gibt höchsten Anlass zur Sorge - Unser Auftrag also lautet, Halorank samt eventueller Forschungsergebnisse zu holen. Vor allem sollen wir in Erfahrung bringen, was er vorhat. Und im Notfall werden wir dafür sorgen, dass er sein Vorhaben nicht in die Tat umsetzen kann."
Der Ausdruck der Entschlossenheit spiegelte sich auf den Gesichtern jedes einzelnen FROG. Nur Tussnelda musste sich dabei noch ein wenig Mühe geben.
Kanndra musterte ihre Truppe und nickte dann zufrieden. "Nachdem das also geklärt ist - gehen wir an den Einsatzplan."

Interludium

Irres Gackern hüpfte über die klinisch weißen Gänge des Sanatorium Sandelholz. Hinter jeder Tür wartete ein gebanntes Schicksal darauf, freigelassen zu werden. Manche schrieen ohrenbetäubend, wann immer von draußen ein Geräusch zu hören war, das auf Leben schließen ließ. Eine einzige Tür blieb immer stumm, egal was geschah. Nur ein Klavier klimperte gelegentlich melancholische Weisen. Die Kraft der Apportation, bewegte die schwarzen und weißen Tasten, weil die Hände der Bewohner des bewussten Zimmers derart verkümmert waren, dass sie dazu nicht mehr in der Lage waren. Wie sehr hatte sie das Spiel vermisst, den Klang in ihrem Kopf. Lange hatte es gedauert, bis sie gespürt hatte, dass ihr zerstörter Körper einen eigenen Weg gefunden hatte, das Leben erträglicher zu gestalten. Und war es nicht so, dass jeder ausfallenden Sinn durch das Erstarken eines Anderen ersetzt wurde?
Ein Laut erklang in ihren Gedanken, noch bevor er durch die den Raum schallte. Tyron öffnete die Türe.
Tyron, dachte sie, über ihre Lippen kam nur ein unnatürlich, angestrengter Gurgellaut.
Wie schön du doch bist. Doch was hält dich bei mir? Nur noch Erinnerung...
Aufmerksam musterte sie den sportlich wirkenden Mann. Über sein Alter gab nur das völlig ergraute Haupthaar Aufschluss, obwohl er die 40 schon hinter sich gelassen hatte, umkränzten nur seine Augen sympathisch wirkende Fältchen. Sie bemerkte seinen unstet wandernden Blick, der immer wieder über die nüchterne Einrichtung des Raumes streifte, ohne wirklich etwas wahr zu nehmen.
Das Klavier schlug einen harten, dunklen Ton an, als sich Tyron ihr näherte.
"Ich bin gekommen", stellte er fest. Fahrig glitt seine Hand durch sein kurzes Haar.
Dir scheint keine Wahl zu bleiben, als immer wieder hier her zu kommen. Wie nur soll ich dich von dieser Pflicht entbinden? Warum blickst du immer noch und immer wieder zurück? Habe ich dich nicht fort geschickt? Willst du es nicht verstehen?
"Der Kerl ist wieder da", kurz verzerrte Wut das hübsche Gesicht, "endlich wird er bekommen, was ihm zusteht. Gerechtigkeit für das, was er dir angetan hat." Tyron schluckte schwer und zwang sich, Eanna anzusehen. Sie war ein Wrack. Die Muskeln ihres Körpers wussten nicht mehr, wie zu arbeiten war. Ihr Gesicht war eine ständig zuckende Fratze, der stand zu halten schier unmöglich war. Unablässig floss Sabber aus ihrem Mundwinkel. Ihre Gliedmaßen wirkten im Vergleich zum Torso derart dünn, dass man meinte, sie mit einer Hand brechen zu können. Pustelartiger Ausschlag bedeckte ihre Haut an den meisten Stellen, wenn er aufriss, eiterte er widerlich riechend. Bedrückt ging er vor ihr in die Knie.
Du erträgst es kaum, mich zu sehen.
Plötzlich brach das Geklimper des Klaviers mit zornigem Missklang ab.
Wie sollte sie ihm nur begreifbar machen, dass sie nicht wollte, dass er sich ihretwegen sein Leben versaute? Warum konnte er nicht endlich verschwinden? Für wen sollte Rache noch nützen? Für sein schlechtes Gewissen? Nur weil er sie gedrängt hatte, sich von Halorank behandeln zu lassen? Himmel, sie hatte doch ganz genau gewusst, welches Risiko die Sache in sich barg. Sie hatte es in Kauf genommen, sie ganz allein. Hätte sie geahnt, dass Haloranks Heilsversprechen nichts als eine billige Ausrede gewesen war, um sie als Versuchskaninchen für seine Forschung zu benutzen - viel Kummer hätte sie sich ersparen können. Sie hätte nach dem Unfall auch ganz gut im Rollstuhl leben können. Sie hätte noch ihre Hände gehabt, einen Mund zum sprechen. Nun war ihr Körper nicht mehr als eine widerliche Hülle, die einen Geist umgab, der keinen Weg fand sich auszudrücken.
"Alles wird gut. Vielleicht finden wir sogar eine Möglichkeit, dich gesund zu machen", murmelte Tyron, drückte ihr einen verlegenen Kuss auf den Scheitel und verschwand ebenso schnell, wie er gekommen war.
Wie verblendet du doch bist, dachte sie und konzentrierte sich wieder auf ihr Spiel.

Fanal

Nachtfinster waren Ankh-Morporks Straßen, Fensterläden waren geschlossen, vereinzelt huschten Gestalten über das kalte Kopfsteinpflaster. Der vage Geruch von Curry hing in der Luft, die leichte Straße mit ihrem klatschianischen Schnellimbiss war ganz in der Nähe. Von Grantick saß bibbernd neben einer Mülltonne. Hinter den Scheiben des Gebäudes war bis vor Kurzem noch flackerndes Kerzenlicht durch die Korridore gegeistert, nun spiegelte sich nur die Mondsichel in den gardinenlosen Fenstern.
Überdeutlich war sich die Armbrustschützin ihres Lehrmeisters, Valdimier von Varwald bewusst, der leicht versetzt hinter ihr hockte. Noch klarer allerdings war ihr die Anwesenheit des Grauens... des Grauens in Gestalt von Maximilian R. Schreckt. Irgendwo in irgendeinem Schatten lauerte er. Man hatte ihr erklärt, dass er nur seinen Tschob machen würde, aber Tussi war mit schaurigen Gute-Nacht-Geschichten viel zu vertraut, als dass sie akzeptieren konnte, dass ein schwarzer Mann jemals etwas anderes sein konnte, als ein Schreckgespenst in dunkler Nacht.
"Okay, Tussnelda, jetzt ist es soweit", raunte Valdimier und entblößte seine schrecklichen Zähne mit einem Grinsen.
Namenloses Grauen machte sich in Tussi breit, als sie einige atemlose Sekunden glaubte, Valdimier würde ihr nun seine Zähne in den Hals graben. Danach würde der grausige schwarze Mann... In einer unbewussten Abwehrreaktion bleckte die furchtsame Armbrustschützin die Zähne, das Wissen umgeben von etlichen Alptraumgestalten zu sein, ließ ihre Nackenhärchen in steile Höhe ragen. Tussnelda wollte rennen. Weg von hier, weit, weit weg.
Da öffnete sich kaum hörbar die Türe zum Hof.
"Wie?", keuchte sie.
Maximilian R. Schreckt betrat den Hof. "Hat sehr gut geklappt", meinte er leise und zwinkerte der Obergefreiten zu.
"Dachte ich es mir doch. Gut gemacht, Tussnelda", Valdimier erhob sich aus seiner hockenden Position und klopfte der Armbrustschützin auf die Schulter.
"Wie?!", fragte Tussi wieder, diesmal mit mehr Fragezeichen.
Valdimier, der eben in das Gebäude eintreten wollte, drehte sich noch einmal zu ihr um. Die Nacht zeichnete schattige Konturen auf sein schelmisch grinsendes Gesicht. "Angst. Wenn sie stark genug ist, kann man sie manchmal wirklich brauchen", vieldeutig wies er dabei in Max Richtung, der schon wieder im Gebäude verschwunden war. "Max kann in ein Versteck springen, wenn jemand in seiner näheren Umgebung sich wirklich fürchtet."
Mit diesen Worten bedeutete er ihr zu folgen und schlich in das Haus.
Das Innere wirkte seltsam gedämpft auf die Obergefreite, die versuchte sich mit schnellen Blicken ein Bild der Lage zu machen. Irgendwo stand leise tickend eine Uhr, dicke Teppiche belegten jeden Quadratzentimeter Boden, die Farben des Interieurs bewegten sich zwischen Braun und Rostrot. Kalter Rauch hing in der Luft und Tussnelda unterdrückte den Drang, ihre Nase zu reiben. Immerhin lag die gespannte Armbrust in ihren Händen, ein weiterer Bolzen klemmte zwischen ihren Zähnen, wie bei einem Pirat auf Entertour. Ihr Ausbilder überzeugte sich kurz, dass sie ihre Waffen richtig handhabte und wies mit einer knappen Bewegung des Kinns Richtung Treppe. Oben würden schon Carisa und Waldemar warten, die hoffentlich übers Dach herein gekommen waren. Ihre eigene Aufgabe würde lediglich die Rückendeckung sein... während des ganzen Einsatzes sollte sie nur hier stehen und - aufpassen. Die ehemalige Püschologin zog kritisch die Stirn kraus, als sie Valdimiers Weg Richtung Keller mit den Augen folgte.

***


Tatsächlich hatten Waldemar und Carisa einen adäquaten Weg in das Gebäude gefunden. Auf der Suche nach Haloranks Labor waren sie nun damit beschäftigt, eine Türe nach der anderen zu öffnen. Doch schon wenige Blicke genügten, simple Wohnräume zu erkennen. Es blieb noch eine letzte, mögliche Tür auf dieser Etage, direkt vor dem Treppenabgang. Waldemar nickte Carisa kurz zu, die Wasserspeierin hatte eine Position eingenommen, die es ihr ermöglichte, an Von Silberfang vorbeizuschießen. Kurz vergewisserte sie sich, dass Von Grantick an der verabredeten Stelle stand und sie somit einen Angriff von unten nur indirekt fürchten musste.
Als Waldemar die Klinke vorsichtig herab drückte, öffnete sich die Türe knarrend. Er zuckte knapp mit den Schultern und spähte dann vorsichtig in den Raum. Ein kühler Lufthauch wehte misstrauisch über ein Sammelsurium an Phiolen, Tiegeln, kleinen Glasplättchen und überquellenden Aschenbechern. Aus einem kleinen Pappkarton zog der würzige Geruch von Curry herüber, verschmolzen mit der unvermeidlichen Note Zimt. Ein zerbrochener Porzellanteller lag auf einem gekachelten Tisch, vereint mit einem umgestoßenen Glaskolben, aus dem eine saphirrote Flüssigkeit unablässig auf den kalten Fliesenboden tropfte. Der Blick des Gefreiten folgte dem Tropfen und roch. Blut. Auf dem Boden liegend in kräftiges Rot getaucht, sah und witterte der Werwolf einen Mann. Eben wollte er prüfen, was es damit auf sich hatte, als ein dunkler Schatten durch das Zimmer stürmte und verfolgt von seidigem Haar direkt durch das geöffnete Fenster hechte.
"Mist", murrte der Gefreite und versetzte gedanklich eine lange Reihe Flüche, während er hinter her hastete. Nun betrat auch Carisa den Raum und inspizierte ungläubig die Leiche. "Da ist uns wohl jemand zuvor gekommen", murmelte sie und eilte die Treppe hinunter, um die Anderen zu informieren.
Waldemar indes schwang sich über den Sims des Fensters und spähte in die Dunkelheit. Er sah nur noch, wie sich die Gestalt elegant am Boden abrollte und wandte sich wieder dem Labor zu. Er wusste, dass der Rest des Thiems unten wartete und jeden der Ein,- und Ausgänge im Auge behielt. Seine Aufgabe war eine andere. Obwohl der Wolf in ihm nach der Jagd geiferte, riss er sich zusammen und murmelte: "Wollen wir den Laden auseinander nehmen."

***


Harry lag auf der Lauer. Auf seinem kleinen Bogen lag einer jenen kostbaren Mini-Pfeile, die er sich für besondere Gelegenheiten aufsparte. Die Aufgabe, die ihm zugeteilt worden war, erschien denkbar leicht: Alles, was fluchtartig das Gebäude verlassen wollte, durch einen sorgsam gezielten Schuss zu Fall zu bringen. Möglichst, ohne gleich tödlich zu wirken. Dennoch, gerade dies bereitete ihm Kopfzerbrechen. Die bisherigen Erfahrungen als Bogenschütze waren nicht gerade positiv gewesen und niemand schien so lange zu brauchen wie er, um die Ausbildung erfolgreich abzuschließen.
Die Augen des Gnoms verengten sich. Vermutlich hatte man ihm deshalb diesen simplen Tschob zugeteilt.
Ein Geräusch zerteilte die nächtliche Stille und plötzlich war Kanndra neben ihm. "Da oben", wisperte sie und deutete auf ein Fenster im ersten Stock. Harrys Blick folgte ihrem ausgestreckten Zeigefinger. Eine Gestalt stand dort und schien ernstlich gewillt, die fünf Meter, die sie von dem Erdboden trennten, durch einen Sprung zu überbrücken.
"Spinnt der?", murmelte die Frau Oberfeldwebel und gab Tyros ein Zeichen, ihr zu folgen. Der GiGa hatte Stellung hinter einer Hecke bezogen und schlich nun aus der Dunkelheit.
"Gib uns Deckung, Harry."
Pah, leichter gesagt als getan, dachte der hochdekorierte Azubi und versteifte sich innerlich bei dem Gedanken, versehentlich seine Schäffin zu treffen.
Kanndra und Tyros hatten das Gebäude beinahe erreicht, als sich die Gestalt bereits vom Sims abgestoßen hatte. Hart kam sie auf dem Kopfsteinpflaster auf und rollte so geschickt ab, wie es nur jahrelange Übung ermöglichte. Keinerlei Benommenheit war ihr anzumerken, als sie geschwind auf die Füße kam. Das schwache Licht des Sichelmonds beleuchtete Sekundenbruchteile lang ihr offensichtlich weibliches Antlitz, dann wandte sie sich um und rannte davon.
"Hinterher", Kanndra hatte unwillkürlich ihr Tempo dem der jungen Frau angepasst, ebenso Tyros v Graco.
Im Hintergrund überlegte sich Harry, ob er einen Schuss abgeben sollte, oder nicht. Er entschied sich dagegen, das Leben seiner Kollegen erschien ihm wichtiger.
Die Verfolgte indes passierte einige leere Salzfässer, die auf dem Gehweg standen. Sie nutzte die Gelegenheit und schubste die schweren Eichenholztonnen um, die sofort in Richtung Kanndra und Tyros klapperten. Doch allein damit ließ es die Frau nicht bewenden - sie zog eine Armbrust und feuerte einen Schuss auf die beiden FROGs ab.
"Zur Seite", zischte Kanndra noch und zog Tyros mit sich auf den Boden, weg von den Fässern und dem Bolzen.
"Was soll der Krach?!", brüllte jemand, ein Fensterladen öffnete sich und entblößte einen nackten, bierbäuchigen Mann. Erbost lugte er aus dem Fenster. "Sind nur gestolpert", rief ihm Kanndra schief grinsend zu. "Räuberpack", brummte der Bierbäuchige, spuckte zweimal aus dem Fenster und knallte dann wieder die Läden zu. Und genau in dieses Knallen mischte sich ein knapper, ungläubiger Aufschrei...

***


Im Zwielicht, den Körper dicht an einen verfallenen Kamin gepresst, saß Tyron. Ohnmächtig starrte er auf die Strasse, sah die Gestalt, die linkisch über den Asphalt hetzte. Es hatte keine Eile, zur Verfolgung zu schreiten. Er hatte bereits erkannt, um wen es sich handelte... Sein Blick blieb also auf die Straße geheftet, auf der in einer Lache aus Blut seine Frau lag. Welche Teufel hatten sie dazu getrieben, hier her zu kommen? Warum war sie bei Halorank eingestiegen? Seine Hände verkrampften sich in dem porösen Stein, als das Gefühl von Schuld bitter in seine Seele kroch. Sie hatte ihn fort geschickt, oh ja, und hatte geglaubt, er hätte die Härte ihrer Stimme nicht als das enttarnt, was es gewesen war - pure Scharade, nicht nur um sich selbst zu schützen, sondern auch, um es ihm leichter zu machen. Einmal mehr fühlte er sich bestätigt, dass seine Liebe mit ihrer niemals mithalten konnte. Eine Tatsache, die ihn krank machte, die ihn so unendlich weiter von ihr weggerückt hatte, als es durch Eanna jemals möglich gewesen war.
Er wollte hinab steigen, um ihr zu helfen, doch auf seinem Weg über den Dächern Ankh-Morporks hatte er sehr wohl gesehen, dass Amy verfolgt worden war. Es gab nicht sehr viele Leute, die Anlass haben könnten, Haloranks Haus im Auge zu behalten. Abgesehen von Maurice, den er vorhin meinte erkannt zu haben, kam außer den Klatschianern nur die Wache in Frage. Sollten Wächter ihn erwischen, würde ER davon Wind bekommen. Und ER würde gewiss nicht zimperlich mit dieser Angelegenheit umgehen. ER konnte es nämlich überhaupt nicht leiden, derart hintergangen zu werden, wie Tyron es getan hatte. Verzweifelt schaute er auf Szene unter ihm und hoffte, dass es Wächter waren. Wächter würden sie vielleicht noch retten...

***


Kanndra Mambosamba schmullte vorsichtig um das Haus, über ihr erschien nur kurz darauf Tyros Kopf, unterhalb ihres Knies spähte Harry um die Ecke, der sich zum dem Verfolgerduo hinzugesellt hatte. Sofort stach ihnen eine am Boden liegende Person ins Auge, die alle Vorsicht ad absurdum führte.
Rasch eilte der Oberfeldwebel zu der Verwundeten und erkannte, dass es sich um die Flüchtige handelte. Unverkennbar war das Gesicht, dass von ihrem Haar wie ein seidiger Schleier halb verdeckt wurde. Der hübsche, streng wirkende Mund war leicht geöffnet, ein dünner Faden Blut sickerte heraus, der Brustkorb der schlanken Frau hob und senkte sich kaum merklich. Schnell prüfte Kanndra den Puls, er war flach und unregelmäßig.
"Hol Rogi", wies Kanndra Tyros an, "beeil dich."
Nun musterte die Abteilungsleiterin die Züge der etwa 40 Jährigen genauer. Hübsch war sie, nicht ohne einen gewissen herben Zug - mit einem etwas zu breit ausgeprägten Kiefer und hohen Wagenknochen, die ihr etwas Asketisches gaben. Die Augenbrauen waren dünn gezupft, das Haar rabenschwarz und wunderschön, wie Kanndra ohne Neid feststellte. Sie hatte kaum Falten, nur ein paar bitter wirkende Mimikfältchen im Mundwinkel und an der Nasenwurzel. Ihre Kleidung war dunkel, dem Zweck angemessen, klebte aber unordentlich an ihrem Leib. Die Innentasche ihrer schwarzen Lederjacke war ausgerissen, als hätte jemand hastig etwas herausgegrabscht. Die Frau musste also etwas aus Haloranks Behausung mitgehen lassen haben - vermutlich Notizen über die Forschung. Inständig hoffte Kanndra, dass die Truppe im Haus noch etwas fand, dass über Haloranks Arbeit Aufschluss gab.
"Pass hier auf", wandte sie sich nun an Harry, "ich verständige das Thiem."

Die Tücke des Objekts

"Es ist nicht ganz optimal gelaufen, würde ich sagen."
Das Thiem hatte sich im Bereitschaftsraum versammelt, die meisten wirkten müde, abgekämpft und umkrampften Kaffeetassen. Tussnelda fühlte sich ziemlich fit - kein Wunder, sie hatte wenig zu tun gehabt. Nachdem sie einige Zeit vor dem Treppenabsatz Wache gehalten hatte, war Carisa erschienen und hatte den Einsatz abgepfiffen. Sie hatte enttäuscht ausgesehen. Offenbar war irgendetwas nicht nach Plan verlaufen. Im Augenblick fasste die Schäffin zusammen, was genau das gewesen war.
"Also - Waldemar und Carisa hatten schließlich das Büro gefunden", die beiden nickten resigniert, "und dort unsere Flüchtige angetroffen. Halorank hatte einen Bolzen in der Brust, im Labor herrschte Chaos und ihr konntet nur ein paar Notizen abgreifen, die uns vielleicht weiter helfen. Bei Halorank war beim besten Willen nix mehr zu machen. Die Flüchtige sprang aus dem Fenster, ich und Tyros machten hinterher. Aufgehalten durch rollende Fässer, Bolzen und schimpfende Nachbarn erreichten wir die Dame zu spät, um den Angreifer auszumachen. Dieser hat scheinbar auch einige Notizen entwendet, die Madame wiederum aus Haloranks Labor mitgehen lies. Die Schöne ist derzeit nicht ansprechbar, Rogi versorgt sie. Ihre Armbrust dagegen und die mitgeführten Bolzen haben die Vermutung bestätigt, dass sie für Haloranks Tod verantwortlich ist."
Kanndra schwieg kurz und spielte grüblerisch mit ihrem langen Zopf. "Der Mord wird schon bald bei RUM auf dem Tisch liegen. Sobald das eintritt, werde ich Humph klar machen müssen, dass das UNSER Fall ist. Er wird natürlich misstrauisch und nicht sehr erfreut sein, aber das hilft nichts. Und egal wie - wir müssen denjenigen finden, der sie überfallen hat. Wenn er tatsächlich Teile - vielleicht sogar relevante Teile - von Haloranks Notizen hat... Nicht auszudenken. Der Patrizier würde uns in die Skorpiongrube werfen, wenn das versickert", Kanndra grinste verunglückt, "wenn wir Glück haben."
"Ich werde mir die Aufzeichnungen von Halorank genauer ansehen", meinte Nyvania, die Püschologin der Abteilung, "vielleicht sind sie aufschlussreich genug."
Valdimier schüttelte energisch den Kopf. "Das wird nicht reichen. Wenn Kanndras Eindruck stimmt - und ich glaube, er tut es - läuft da draußen jemand mit hochbrisanten Unterlagen rum. Vielleicht sogar Leute einer anderen Regierung. Das können wir nicht einfach ausblenden."
Kanndra nickte zustimmend. "Wenn das der alte Knollenbeißer mitbekommt, blüht uns schlimmeres als Skorpiongruben."
-"Rote Beete-Kaffee?", entschlüpfte es Tussnelda und sie wurde rot.
Verständnisvoll grinsend meinte Kanndra: "Vielleicht sogar das." Dann wurde sie wieder ernst und trommelte ungeduldig auf dem unebenen Holz des großen Tisches. "Obergefreite, ich möchte, dass du Nyvania bei den Nachforschungen unterstützt."
Von Grantick wollte protestieren, doch als sie den unerbittlichen Blick der Schäffin gewahrte, nickte sie nur lahm.
Die Türe öffnete sich und Rogi trat ein. Anspannung lag auf den bunten Zügen der Igorina, doch sie lächelte leicht.
"Fie überfteht es", eröffnete sie, "ihren Namen hat fie mir widerftandflof genannt. Warum fie bei Halorank war, wollte fie aber nicht fagen, genaufo wenig, ob fie waf hat mitgehen laffen."
"Der Name?"
"Amy Fönfildern... ich muss jetzt wieder zu meinen Rekruten."
"Nyv geh du noch mal runter. Vielleicht kriegst du ja was raus", meinte Kanndra.
Als die beiden den Raum verlassen hatten, wurde es fast schon still. Einer knusperte Kekse, Kaffeetassen wurden schlürfend geleert, Tussnelda bot Lakritze an.
"Ich weiß, wir sind alle müde. Aber jemand muss Frau Schönfildern prüfen", seufzte Kanndra, "Valdimier?"
Der Vampir nickte und deutete wortlos auf sich und Harry.
Frau Feldwebel klopfte dreimal auf den Tisch. "Gut, dann informiere ich den Kommandör. Wer im Augenblick nichts zu tun hat, kann erst mal schlafen gehen."

***


"So ein Mist", Tussnelda knallte fluchend die Unterlagen von Halorank auf ihren neuen Schreibtisch. War sie nicht extra zu FROG gegangen, um mit so einem Kram nichts mehr zu tun zu haben? Aber erst tauchte Kanndra hier auf und dann tat sie so, als wäre sie immer noch bei RUM, eine verdammte Püschologin, und nur da, um dem kranken Hirn von irgendeinem Verrückten auf den Grund zu gehen. Dass sie selbst dabei durchdrehte, war der Frau Oberfeldwebel wohl wurscht. Warum hatte sie sich nicht gegen die Schäffin durchgesetzt? Die Antwort lag auf der Hand - sie war einfach nicht dazu in der Lage. Ihre Wut galt nicht Kanndra, sondern sich selbst. Die Gennuanerin versuchte nur, ordentlich ihren Tschob zu machen und nutzte eben die Ressourcen, die ihr zur Verfügung standen. Und das Tussnelda neben Araghast Breguyar die erfahrenste Püschologin der Wache war - ... ging ihr erst im Augenblick auf. Ärgerlich ließ sich die Obergefreite auf den Stuhl fallen. Tatsächlich, so war es. Kein anderer Püscho - außer dem Oberfeldwebel - hatte auch so einen Patch an sich kleben und angesichts dessen dämmerte es der jungen Frau, dass es schwerer als gedacht werden würde, die Vergangenheit hinter sich zu lassen.
Resigniert studierte sie Haloranks liederlich unpräzise Handschrift. Das dreckige Heft schien sich schon lange in seinem Besitz befunden zu haben, Eselohren, Tintenflecke und der Geruch von kaltem Rauch haftete ihm an. Es dauerte eine Weile, bis sie an eine interessante Stelle kam. Die meiste Zeit nämlich erging sich der Professor darin, wie toll, phantastisch und brillant er selbst doch sei, wie dumm und unnütz die Menschheit. Dann jedoch gelang es Tussi, einen Namen zu entziffern:

Eanna, vermutlich konditional-letal, keine Veränderung des Phänotyps, verschiedene Funktionsverluste. Verunreinigung des Serums wahrscheinlich.

Die Obergefreite verstand kein Wort. Aber sie spürte, dass dies hier ein Knackpunkt sein konnte, das wohlbekannte Kribbeln in ihren Fingerspitzen überzeugte sie völlig davon. Hastig blätterte sie weiter.

Serum tatsächlich verunreinigt. Monilia-Sporen gefunden. Verfluchte Sauerkirsche! Bestimmt durch Maurice, isst das Zeug pausenlos. Tölpel! Das Objekt ist nicht mehr zu gebrauchen. Werde Unterbringung im Sanatorium anstreben.

Die Obergefreite nahm einen Block und einen Bleistift zur Hand. Säuberlich notierte sie die genannten Namen in einzelne Zeilen. Darunter schrieb sie "Sanatorium", umkringelte das Wort und setzte ein fettes Fragezeichen dahinter. Sie erinnerte sich an einen ihrer ersten Fälle, den der jungen "Eulalia Liestnichgut" [2]. Sie war in das Sanatorium Sandelholz eingeliefert worden, nachdem sie für unzurechnungsfähig erklärt worden war. Konnte das sein? Konnte sich diese Eanna bis heute im gleichen Sanatorium aufhalten? Tussnelda wollte das unbedingt überprüfen. Wenn sie das "Objekt" fand, würde sie sicherlich mehr über Halorank herausbekommen und vielleicht auch darüber, wer einen Grund hatte ihn umzubringen.
Unvermittelt biss sich die Obergefreite auf die Unterlippe. Sie benahm sich nicht wie eine Armbrustschützin. Sie ermittelte wie eine Püschologin.

***


Kaum hatte Valdimier an der Tür des schmucken Hauses in Bruchsteinoptik geklopft, wurde sie auch schon aufgerissen und ihnen gegenüber stand ein grauhaariger Mann.
"Oh", sagte er und klang enttäuscht dabei.
"Tyron Schönfildern?", fragte der Chief-Korporal sachlich.
"Der bin ich. Treten sie ein", antwortete dieser reserviert.
Im Haus war es kühl, sämtliche Läden waren geschlossen, um die sommerliche Hitze nicht herein zu lassen. Die Einrichtung wirkte teuer und unglaublich geschmackvoll, dunkel lackierte Möbelstücke, aufgelockert durch helle Polstersessel gaben dem Wohnraum ein gediegenes Flair. Im Gegensatz dazu welkte ein Strauß Orchideen in einer Vase, Staub lag in einer dünnen Schicht über allem.
"Nehmen sie Platz."
Umständlich setzten sich Val und Harry auf die Kante des schicken Sofa. Der Hausherr schien nur mäßig erstaunt über ihre Präsenz, er musste mit Besuch gerechnet haben.
"Was also ist vorgefallen?", fragte er kühl und nahm ein Glas, das auf einer Anrichte stand. "Drink?"
"Danke, nein. Herr Schönfildern, wissen sie wo sich ihre Frau aufhält?"
"Ich dachte mir bereits, dass es um sie geht", er nahm einen tiefen Schluck der bernsteinfarbenen Flüssigkeit.
"Sie wissen es also nicht?"
"Meine Frau ist mir keine Rechenschaft schuldig."
Valdimiers Augen verengten sich misstrauisch. "Wen haben sie erwartet, Herr Schönfildern?"
Indigniert knallte Tyron sein Glas auf ein Beistelltischen. "Das geht sie wohl nichts an." Mit nervösen Fingern tastete er nach einem kleinen silbernen Etui.
"Sie wissen also, dass ihre Frau in Schwierigkeiten ist?", fragte nun Harry sehr direkt.
Tyron runzelte die Stirn, fingerte eine Zigarette aus dem Etui, steckte sie langsam in den Mund und entzündete sie. Er paffte zwei, drei Mal. Dann erst antwortete der Mann: "Seit sie in der Gilde ist, rechne ich damit, ja." Abschätzend betrachtete er die beiden Wächter. Eine bessere Erklärung hätte er nicht finden können. "Erstaunlicherweise ist die Beliebtheit von Assassinen sehr gering. Sie wissen vermutlich, dass weibliche Assassinen in ihrer eigenen Gilde einen besonders schweren Stand haben. Ich riet ihr sehr von dem Eintritt ab, aber sie ließ sich nicht von mir überzeugen."
"Sie hat also Schwierigkeiten in der Gilde?"
Nichtssagend zuckte Tyron mit den Schultern. "Keine Ahnung. Ich kann nichts genaues sagen. Wir sehen uns nicht oft."
Valdimier wechselte einen kurzen Blick mit Harry. Der letzte Teil war so schnell aus dem Mann herausgequollen, wie es nur eine sorgsam vorbereitete Erklärung tat. Interessanterweise hatte Herr Schönfildern es bis jetzt nicht für nötig erachtet zu fragen, wer sie waren oder was den nun genau mit seiner Frau los war. Ihr Misstrauen war geweckt.
"Vielen Dank für ihre Zeit. Wir werden dem nachgehen", Valdimier erhob sich, Harry tat es ihm gleich. "Schönen Tag noch."
"Du weißt ja, was jetzt zu tun ist", meinte Val zu dem Gnom.

***


"Was willst du hier?!", murrte Maurice, als er die Türe öffnete.
Tyron schob ihn grob zur Seite und verschaffte sich so Zutritt zu dem sparsam ausgestatteten Ein-Zimmer-Appartement. "Drecksack!", stieß er gereizt aus, "Du hast Amy erwischt!"
Maurice verdrehte unwillig die Augen und verschloss die Türe, ohne zu bemerken, dass eine kleine, flinke Gestalt mit hinein wischte und sich alsgleich ein Versteck suchte.
"Sie lebt also noch?"
Wütend trat Tyron einen Schritt auf Maurice zu, die Hand erhoben. "Allerdings! Und ich würde dir raten, dass es so bleibt", brüllte er unwirsch.
Maurice ignorierte den Ausbruch völlig und ging zu der kleinen Kochnische, wo ein Kessel heißen Wassers bereit stand. "Willst du nen Kaffee? Dann können wir in Ruhe reden", meinte er ruhig und holte zwei Tassen aus einem Hängeschrank.
Kraftlos ließ Tyron die Hand sinken und ließ sich resigniert in den schmalen Zweisitzer sinken.
"Du musst sie doch erkannt haben."
"Natürlich. Aber ich mache nur meinen Tschob", erwiderte Maurice ohne aufzublicken. Geschäftig füllte er die Tassen mit Wasser und häufte dann großzügig Kaffeepulver und Zucker hinein. "Ich habe im Gegensatz zu dir kein Interesse, mich mit Vetinari anzulegen."
Er ging zu Tyron hinüber und stellte die beiden Tassen auf dem niedrigen Couchtisch ab.
"Was hatte deine Frau da überhaupt zu suchen?"
Tyron schwieg.
"Was hatte sie da zu suchen?!", fragte Maurice noch mal, diesmal heftiger.
"Ich hab es ihr gesagt", murmelte Tyron.
"Götter, was bist du für ein Spinner. Ich hätte gleich melden sollen, dass du in meinen Akten rumgeschnüffelt hast. Dann wäre alles glatt gegangen. Die Wache hätte Halorank festsetzen und ausquetschen können. Wir wären im Besitz seiner Forschung gewesen, er wäre in irgendeinem Turm verschmachtet und die Klatschianer hätten nur dumm unter ihren Turbanen grinsen können!"
Wütend griff Maurice eine Kaffeetasse und verschüttete dabei etwas auf dem weißen Holz des Tisches.
"Du hast mir alles versaut, weil du nicht deine doofe Klappe halten konntest. Wie es sich gehört für einen von uns! Ist dir eigentlich klar, dass ich jahrelang schon an dem Kerl dran war?"
"Mach mich nicht dafür verantwortlich, dass du es damals verhunzt hast", keifte Tyron zurück, "Ohne dich wäre das alles ohnehin nicht passiert! Hättest du nicht gesagt, dass der Kerl echt was drauf hat, hätte ich Eanna nie zu ihm geschickt! Ich könnte jetzt noch..."
"...mit der Kleinen zusammen sein, was? Was machst du dann überhaupt für ein Geschrei wegen Amy? Wenn du mich fragst, war sie ohnehin viel zu kompliziert", Maurice holte einen Lappen und wischte den Tisch ab.,
Tyron schnaufte. "Vergessen wir das. Keine Ahnung, warum Amy sich eingeschaltet hat. Du hast ja recht, ich hätte sie nie einweihen dürfen. Aber irgendwas musste ich ihr doch sagen. Immerhin ist sie meine Frau."
"War, wenn alles gut geht", sagte Maurice leise.
"Wie meinst du das? Die Wächter haben sie mitgenommen."
"Bist du eigentlich total blöde? Dir sollte klar sein, dass Witwenmacher so was nicht duldet."
"Woher soll der wissen..."
"Es steht in meinem Bericht", meinte Maurice schlicht.
Tyrons Gesicht verfärbte sich rötlich, Wut brodelte in ihm. Als Maurice das Tuch wegbrachte, griff er sich eine der Kaffeetassen, war mit zwei Schritten bei ihm und schlug sie ihn mit Kraft gegen die Schläfe. Das Porzellan zerbrach und Maurice sackte in sich zusammen.
"Das hättest du nicht tun sollen, Freund", flüsterte Tyron in die Stille. Rasch schob er den Tisch beiseite und wuchtete dann Maurice auf den darunter liegenden Teppich. Dann sah er sich nach etwas um, mit dem er den Mann fesseln konnte. Fündig wurde er in dessen Garderobe, ein schwarzes Leinenhemd, dass er in breite Streifen riss. Er fesselte den Kollegen und rollte ihn dann in den Teppich.

***


Wieder hatten sich die FROG im Bereitschaftsraum eingefunden, der Geruch von Kaffee und Schweiß schwebte durch das Zimmer.
"Wie sieht es aus?", fragte Kanndra.
"Wir waren im Haus Schönfildern. Da liegt was in der Luft... Der Mann schien irgendwas zu wissen, hat uns aber mit einer Ausrede abgespeist. Seine Frau sei bei der Assassinengilde eingetreten und habe deshalb Probleme, sagte er. Aber irgendwas ist an dem faul", Valdimier grinste, "Harry behält ihn im Auge."
"Darin hat er ja Übung", konstatierte Kanndra. "Nyv?"
Die zierliche Püschologin schüttelte nur den Kopf.
"Sie hält also weiterhin die Klappe. Dann kann man davon ausgehen, dass es keinen ordentlichen Auftrag für Halorank gab. Sonst hätte sie ja sagen können, dass ein Honorar auf ihn ausgesetzt war...", Kanndra kratzte sich kurz am Kopf, "Na schön, also Eigeninteresse. Aber warum? Tussi, konntest du irgendwas aus den Unterlagen ziehen?"
Die Obergefreite machte ein griesgrämiges Gesicht. "Aus seinen Aufzeichnungen werde ich nicht schlau. Die Begriffe, die er verwendet, sagen mir gar nichts. Er hat aber zwei Namen genannt - Eanna und Maurice. Maurice scheint nur irgendein Gehilfe zu sein, da aber die Aufzeichnungen entsprechend alt sind, wird er wohl schon längst nicht mehr für ihn arbeiten. Interessanter ist Eanna. Sie war wohl ein Proband", angestrengt betrachte von Grantick ihre Fingernägel. "Ich habe sie besucht."
Kanndras Augenbrauen schossen in die Höhe: "So?"
Gemächlich nickte die Armbrustschützin. "Ja. Sie ist in sehr schlechtem Zustand. Eine Vernehmung ist unmöglich."
"Was soll das heißen?"
Tussnelda schlug die Augen nieder und schwieg.
"Komm schon Obergefreite, wir haben keine Zeit für den Käse", meinte Valdimier ungehalten.
"Sie ist ein Wrack. Okay? Sie ist absolut kaputt, da ist nichts mehr, was man für Verstand halten könnte", rief die Quirmianerin gereizt aus.
"Nicht in dem Ton", der Chief-Korporal warf ihr durch die Gläser seiner Ermeni-Sonnenbrille einen bösen Blick zu.
"Entschuldigung, Sör", kleinlaut legte Tussnelda ihre Handflächen auf den Tisch.
"Kommen wir wieder runter", mahnte Kanndra und wandte sich dann wieder an die ehemalige Püschologin. "Wie genau meinst du das?"
"Doktor Holzkopf, der Leiter des Sanatorium Sandelholz, erzählte mir, sie sei schon vor Jahren eingewiesen worden. Zunächst wollte er mich nicht zu ihr lassen, weil er meinte, ihr Anblick sei schwer zu verkraften... Ich konnte ihn dennoch überzeugen, weil ich ihn schon eine ganze Weile kenne, durch einen anderen Fall... ", die Obergefreite schloss die Augen, sie erinnerte sich.
Die weiße Türe schwang. Ein Sonett schwebte ihr entgegen, getragen von den Klängen eines gut gestimmten Klaviers. Sie fragte sich, wer der Spieler war und betrat den Raum. Erst dann sah sie, dass sich die Tasten wie von Geisterhand bewegten. Und sie erblickte die unglaubliche Kreatur, die das nüchterne Zimmer bewohnte. Sie lag in einem Bett, das weißes Leintuch das ihr bis zur Brustmitte gezogen worden war, erbebte immer wieder. Ständig zuckte sie, der ganze Körper, das ganze Gesicht... Das Klavier klang traurig...
"Wir wissen nicht, wie sie es macht", erklärte Doktor Holzkopf, der im Türrahmen stehen geblieben war. "Aber sie spielt es. Vielleicht findet sich dort wirklich noch ein Funke menschlichen Verstandes...", nachdenklich ließ er seinen Blick über den Raum schweifen, ohne dabei an der Frau hängen zu bleiben, "Es wäre ein Segen für sie einzuschlafen. Aber wir dürfen das nicht entscheiden. Es wäre nicht ethisch."

Sekundenbruchteile später sah sie ihre Schäffin traurig an. "Es ist gut für die Welt, dass Halorank tot ist. So ein Mensch darf nicht frei herum laufen. Wir müssen diese Unterlagen finden und zerstören. Niemals wieder darf so etwas geschehen, kein Mensch hat das Recht...", die Obergefreite brach ab. Der dringliche Klang ihrer Stimme ließ die übrigen FROG still zurück. Minutenlang herrschte Schweigen.
Dann stürmte plötzlich Will Passdochauf, die Kommunikationsexpertin der SEALS rein. "Leute, eine Nachricht von Harry! Ihr sollt schnell zur Alchimistengilde kommen!"
Sofort sprangen die FROG auf, Stühle schabten und knallten auf den Boden.

Es gilt, schnell zu sterben

Matt ließ sich Amy zurück sinken. Kurz hatte sie versucht, sich gegen die Fesseln, die sie an die Pritsche banden zu stemmen. Doch ihr geschundener Körper hatte schmerzlich dagegen protestiert, deswegen ließ sie es vorerst bleiben. Ihre Gelegenheit würde kommen, wenn die Wächter zurück kehrten, dann würde sie all ihre Kräfte brauchen. Hoffentlich ließen sie sich nicht zuviel Zeit, sonst würden schon sehr bald Witwenmachers Leute auf der Matte stehen. Inhumierung, ohne Auftrag. Schlimmer würde vermutlich wiegen, dass der Mord höchst stümperhaft ausgeführt worden war. Aber war ihr denn eine Wahl geblieben? Sie wusste genau was Vetinari mit Tyron machen würde, wenn raus kommen würde, dass er dienstliche Informationen für private Zwecke missbrauchte. Sie hatte es verhindern müssen. Hätte sie es nicht getan, sie wäre genauso wie er gewesen. Hätte ihn genauso verlassen, wie er sie.
Das Schloss von Zelle Eins klickte.
Von dem Operationstisch, der direkt gegenüber der Tür stand, konnte Amy sogar in ihrer liegenden Position sehen, dass sich ihr ein Kollege näherte.
"Bin ich wenigstens teuer?", röchelte sie, ihre Wunde machte ihr trotz des Geschicks der Igorina immer noch zu schaffen. Der andere Assassine zuckte wortlos mit den Schultern.
"Kann ich vorher noch eine rauchen?"

***


Regen klatschte auf die Straßen Ankh-Morporks, auf dem unebenen Pflaster bildeten sich Pfützen an jeder Ecke. Am Himmel wanden sich rhythmisch Blitze. Die FROGs ignorierten das unter ihren Füßen spritzende Wasser, sie rannten als ginge es um alles. Vielleicht tat es das sogar.
Als sie nach endlosen Minuten die Tore der Alchimistengilde erreichten, waren sie verrammelt.
"Das Gebäude steht derzeit leer", erklärte Kanndra, "Gildenstreik wegen der unzumutbaren Arbeitsbedingungen."
"Dauernd explodiert was und so", grinste Nyv.
"Da seid ihr ja endlich!" Unbemerkt hatte sich ihnen Harry genähert. "Der Kerl tickt völlig aus."
"Schönfildern?", wollte Valdimier wissen.
"Genau der", brummte der Gnom.
"Gehen wir also", Kanndra bedeutete dem Harry, sich an die Spitze zu setzen.

***


"Bist du jetzt völlig durchgedreht?", schimpfte Maurice, als er an einen Stuhl gefesselt erwachte. Er befand sich in einem Labor, soviel offenbarten jedenfalls der großformatige Tisch, die aufdringlich grelle Beleuchtung und die Massen von Phiolen und Kolben, die namenlose Flüssigkeiten enthielten, die in allen Farben des Regenbogens schillerten und welliges Licht auf die grobbehauenen Wände brachten. Es stank säuerlich, schwefelig.
Tyron, der bis eben an dem Tisch gewerkelt hatte, schnellte herum. "Du bist also wach", murmelte er und trat zu dem Kollegen.
"Darf ich erfahren, was du vorhast? Selbstmord gar?", fragte er schnippisch.
"Was ich vorhabe?", grollte Tyron und packte Maurice an dessen blonden Haupthaar. Sein makellos wirkendes Gesicht näherte sich dem seines Kollegen und Maurice meinte tatsächlich, den Irrsinn in seinen Augen funkeln zu sehen. "Ich werde mir zurück holen, was DU mir genommen hast!", er packte den Kollegen fester, "Und du wirst mir dabei helfen! Du hast bei ihm gearbeitet! Du kennst die Formel für das Serum!"
Maurice widerstand der Versuchung den Kopf zu schütteln und dabei ein wenig zu lachen. Sein Kollege war wirklich nicht mehr bei Sinnen. Jegliche Vernunft war hier nicht angezeigt - versuchen musste er es trotzdem.
"Tyron, hör mal du weißt doch dass, als ich bei Halorank war, sein Versuch schief ging. Du weißt das selbst am Besten, du hast es doch an Eanna gesehen. Das Serum war verunreinigt." Maurice biss sich auf die Unterlippe. Bis heute hatte er Tyron verschwiegen, dass die Verseuchung durch Monila-Sporen geschehen war, ein Pilzbefall der häufig bei Sauerkirschen auftauchte. Tyron wusste zu genau, wer gern Sauerkirschen ass. Diese Information in diesem Augenblick konnte seinen Tod bedeuten, auch wenn Tyron der Meinung war, ihn zu brauchen.
"Du wirst mir helfen", bekräftigte Tyron noch einmal und ließ den Schopf von Maurice los. "Du wirst es tun", er schritt zurück zu dem Tisch und wandte sich dann urplötzlich noch einmal um, "Und du wirst derjenige sein, der das Resultat verkostet!"
Schockiert riss Maurice die Augen auf. "Das werde ich nicht", sagte er dann und fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen.
"Oh doch du wirst...", er grinste Maurice an und deutete auf ein durchsichtiges Bassin, etwa einen Meter im Quadrat groß. Drinnen schwamm ein kristallines Gebilde.
"Du weißt, was das ist nicht wahr? Natürlich weißt du es, du hast es ja selbst ausgespäht... reinstes Hexogen. Die Wassertemperatur liegt derzeit bei Minus drei Grad, optimale Bedingungen für eine sichere Lagerung, nicht wahr? Wäre es nicht furchtbar, wenn jemand auf die Idee käme, das Wasser zu erwärmen?"
Maurice keuchte. "Komm zur Besinnung! Mit der Masse Hexogen würdest du ganz Ankh-Morpork in Schutt und Asche verwandeln!"
Tyron lächelte sanft. "Ich weiß... ist das wichtig? Für mich ist es nicht wichtig, wenn ich nicht bekomme, was ich will. Du musst dir nur folgende Frage stellen: Ist es wichtig für dich? Bist du bereit, einem unschuldigen Menschen zu helfen oder willst du es drauf ankommen lassen, dass jemand ganz versehentlich für eine Wassertemperatur von exakt 30 Grad sorgt? 30 Grad und ein großes Kawum? Was ist dir lieber Maurice?"

***


Das Innere des Gildengebäudes glich einem Labyrinth. Oh ja, es hatte so etwas wie Architektur, aber diese war geprägt von den Wünschen der Alchimisten, die allesamt Wert legten auf ein einsames, abgeschiedenes Büro, dass sich mindestens in einer Schachtel von vier anderen zu verbergen hatte, damit man es nicht allzu leicht fand. Hinzu kamen die Löcher. Löcher in den Wänden, an den Decken, am Boden. Löcher, die ihre Herkunft den explosiven Ideen der Alchimisten verdankten. Ein findiger Gnom konnte sich auf die Art schnell und effektiv einen Weg zu jeder gewünschten Stelle bahnen. Menschen allerdings, ebenso Vampire, Wasserspeier und schwarze Männer hatten ein gewisses Problem mit Größe.
"Hier müssen wir lang", sagte Harry und deutete auf einen schmalen Durchbruch, den die übrigen FROG nur auf den Knien durchqueren konnten.
Nach Minuten des Kriechens, Krabbelns und Kletterns hatten sie es endlich geschafft.
"Das ist es", flüsterte Harry und deutete auf eine schwere Holztür. "Wenn man reinkommt, steht rechts ein Stuhl, darauf sitzt der Mann, den der Schönfildern als Geisel genommen hat. Was genau er von ihm will, weiß ich nicht. Er murmelte immer wieder etwas von helfen... Keine Ahnung. Drinnen steht ne Menge alchimistischer Kram."
"Also ist Vorsicht angezeigt", meinte Tyros grimmig.
"Sowieso."
Tyros öffnete rasch seinen Rucksack und wuchtete verschiedene Schläuche heraus.
"Das dürfte gehen. Wärmt zwar den Raum auf, reagiert aber nicht mit explosiven Stoffen", erklärte er.
Kanndra nickte zustimmend. "Legt den Mundschutz an", befahl sie, "Armbrustschützen nach vorn. Val, du hast den ersten Schuss. Bring ihn zu Fall, aber lass ihn leben. Wir haben noch ein paar Fragen", dann wandte sich die Schäffin an Tyros: "Sobald der Kerl draußen ist, gehst du rein und holst den Anderen raus. Der Rest sichert ab."
Die FROG nickten, der Fall war klar.
Tyros schloss die Schläuche an einen Behälter brodelnden Inhalts an und entfernte dann einen kleinen Sperrriegel. Das Gas strömte sofort durch die Röhre und Valdimier öffnete die Tür einen Spalt weit, so dass der Rauch seinen Weg in das Labor fand. Sofort wurde es spürbar wärmer, selbst in dem kleinen Gang, in dem die FROG ihres Opfers harrten.
Augenblicklich wurde Geschrei laut: "Was soll das? Was geht hier vor?"
Irgendetwas fiel scheppernd auf den Boden, zwei Leute husteten erbärmlich, die Türe wurden aufgeschlagen. Valdimier erkannte trotz der nun getrübten Lichtverhältnisse Tyron von Schönfildern und brachte ihn mit einem gut gezielten Schuss auf den Oberschenkel zu Fall.
Schreiend stürzte der Mann, umklammerte mit der Hand das verwundete Bein und ergab sich dann in Gewinsel. Tussnelda und Waldemar waren sofort zur Stelle und verschnürten den Mann in ein handliches Paket. Tyros indes hatte die Sperre wieder am Behältnis angebracht und stürmte, gedeckt von Harry und Carisa in den vernebelten Raum. Maurice Husten wies ihnen den Weg. "Zu warm", keuchte der Agent erstickt, mit tränenden Augen und wies mit dem Kinn auf einen großen Wasserbehälter. Tyros Blick folgte ihm und mit zusammen gekniffenen Augen erkannte er die kristalline Struktur, sowie den Modus der Aufbewahrung schnell. "Hexogen", japste er, "Scheiße!", gehetzt wandte er sich um, "Schnell alle raus hier!"
"Es ist reines Hexogen", stöhnte Maurice, als ihn Carisa und Waldemar, der schnell herbeigesprungen war, packten und samt des Stuhles nach draußen schleppten.
"Ich muss die Raumtemperatur runter kriegen, bevor sich das Wasser erwärmt", murmelte der GiGa, seine Gedanken rasten, sein Blick suchte etwas Brauchbares.
"Da brat mir doch einer...", murmelte er erleichtert, als er einen wohlbekannten Versuchsaufbau sah. Jemand hatte mit der fraktionierten Destillation verflüssigter Luft begonnen, wie Tyros fachkundig erkannte. Er musste nur noch rasch den Hergang vervollständigen und dann stünde ihm Stickstoff zur Verfügung. Schnell begab er sich an den Labortisch und tat das Nötige. Rasch führte er dann sein Resultat in den Wasserbehälter ein und sofort vereiste der Stickstoff das Bassin.
"Na bitte. Mal wieder hat ein FROG den Tag gerettet", der Obergefreite grinste.

***


"Kannst du auch was von Doktor Nabels Reine Ton?", fragte Tussnelda und machte es sich etwa bequemer in dem abgewetzten Sessel, denn sie aus dem Besucherzimmer hergebracht hatte. Ihr kleines Häkeldeckchen lag oben drauf. Eanna schlug einen freudigen Ton an, den die Püschologin inzwischen als Zustimmung zu interpretieren gelernt hatte. Dann begann sie mit dem ansteigenden D-Moll von Dr. Reine Tons Zaubereiphobie, einem irrwitzigen Stück über Magie im Hausgebrauch. Entspannt schloss die Obergefreite die Augen. Ihr erster Einsatz lag hinter ihr, die FROG hatten den durchgeknallten Tyron zum Patrizier gebracht, der bestimmt irgendein Turmverlies für ihn übrig hatte. Maurice, der Agent hatte sich überschwänglich bei ihnen bedankt und hatte die ganze Truppe in seinem Bericht lobend erwähnt. Die letzten Notizen Haloranks lagen in einer sicheren Schublade, wie sich Kanndra ausgedrückt hatte.
"Ich bin froh gekommen zu sein", sagte Tussnelda leise und lächelte zu Eanna rüber. Es fiel ihr immer noch schwer, den Anblick der Frau zu ertragen. Aber es hatte ihr keine Ruhe gelassen, was es mit dem Klavierspiel auf sich hatte. Wer Klavier spielen kannte, musste fühlen und denken, zu dem Schluss war die Quirmianerin gekommen. Und wer fühlte, der brauchte auch jemand, der ihm zuhörte. Manchmal ging es nur darum, zu zu hören.

Ende.

[1] siehe S-Mission: Blutiger Schnee

[2] siehe S-Mission: Von Problemen mit Karottencreme

Zählt als Patch-Mission.



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