Gedankenverloren

Bisher haben 13 bewertet.Du hast schon bewertet!

von Oberfeldwebel Ophelia Ziegenberger (RUM), Korporal Mina von Nachtschatten (RUM)
Online seit 08. 10. 2014
Zeitmönche haben die Geschichte auf den 04. 08. 2012 datiert
Dauer: Über mehrere Monate

PDF-Version

 Außerdem kommen vor: MaganeFynn DüstergutKanndraRabbe SchraubenndrehrDiezAraghast BreguyarNatan SteinschleiferAmbrosia FernlichtRomulus von GrauhaarBraggasch GoldwartJargon SchneidgutMimosaRach FlanellfußDagomar Ignatius Volkwin von OmnienBarlor KurzbartValdimier van VarwaldRea DubiataLaiza HarmonieEttark Bergig

Es gibt diese Geschichten. Von der schönen Prinzessin, die von ihrem Prinzen gerettet wird. Vom steten Sieg des Lichts über die Dunkelheit. In denen am Ende alles gut wird, ganz gleich, wie aussichtslos die Lage schien. Doch diese Geschichten sind nicht die Wirklichkeit.

Wir schreiben das Jahr des prophezeienden Frosches und es braucht dieser Tage keinen Kriminalfall, um die Hüter von Recht und Ordnung in Ankh-Morpork in Atem zu halten. Ein Drama besonderen Kalibers spielt sich vielmehr direkt vor deren eigenen Bürotüren ab, zum Greifen nahe, nur einen Gedankensprung entfernt...


~~~~~

Die vorliegende Geschichte ist über einen sehr langen Zeitraum hinweg entstanden und wir haben versucht, die innere Ereignisfolge möglichst stimmig zur weiteren Wacheentwicklung zu gestalten. Sollten einige Aspekte dennoch nicht ganz folgerichtig gelungen sein, möchten wir darum bitten, uns dies zu verzeihen.




Dafür vergebene Note: 13

"...Was man allen alles sagen könnte, wenn man sagen könnte, was man sagen könnte, wenn man wissen dürfte, was schon alle wissen, was man sagen könnte oder zeigen. Würden alle allen alles sagen, würden alle sagen, dass sie alles sagen, wenn sie wissen dürften, dass schon alle wissen, was man sagen könnte oder schweigen..." [Georg Kreisler]



OPHELIA ZIEGENBERGER

In der Falle... ohne Vorwarnung... ausgerechnet er hat... wie konnte er nur! Ich habe ihm doch immer vertraut!
Ophelia lief wie in Trance von dem kleinen Raum, in welchem Ettark und Romulus in dieser Sekunde das Bewerbungsgespräch fortsetzten, zu der einzigen Person hinüber, die ihr nun noch zum Reden einfiel. Sie hielt sich dabei krampfhaft aufrecht, auch wenn ihre Bewegungen alles andere als elegant anmuteten. Hölzern oder gar brüchig, wären passendere Beschreibungen gewesen. Sie betrat das Büro ohne anzuklopfen oder auch nur darüber nachzudenken, was sie sagen würde. Die gefühlsmäßige Bindung zur Vampirkollegin hatte sich längst soweit intensiviert, dass diese hinter der Tür nur darauf zu warten schien, dass Ophelia den Weg zu ihr fände - wie ein Schiff den Hafen. So folgte sie blind den Emotionen, die sie ungeduldig lockten.
Mina stand bei ihrem Eintreten bereits mittig des Raumes und sah ihr erwartungsvoll entgegen.
"Wie schlimm ist es? Mit was für einer Art von Katastrophe haben wir es zu tun?"
Ophelia verharrte im Türrahmen und versuchte, die richtigen Worte zu finden. Die letzten Minuten strömten wie ein Wasserfall aus Bildern durch ihren Sinn. Wieder spürte sie den Moment, in dem ihr Vorgesetzter seine Entscheidung ausgesprochen hatte, wie einen Schlag in die Magengrube. Übelkeit stieg in ihr auf und ihre Knie begannen zu zittern.
Mina eilte auf sie zu und führte sie umgehend zu einem Stuhl.
"Bei allen guten Geistern! Sprich endlich! Was ist passiert?"
Die Finger ihrer Hand bebten in der festen Handhaltung ihrer Kollegin und sie konnte spüren, wie sich Sorge in Minas Gefühle zu mischen begann.
"Ich... Romulus... Ettark hat... ich musste... ich hätte lieber... aber er hat darauf bestanden! Ich musste das alles ausgerechnet vor ihm erklären. Das mit den Gedanken. Wenn es vorher einen passenden Zeitpunkt gegeben hätte, dann hätte ich doch nicht so lange gezögert! Aber Ettark war unerbittlich. Er sagt, er wird auf keinen Fall mit mir zusammenarbeiten, wenn er seine Abordnung bei RUM antritt und ich sei eine Gefahr für alle! Für die Ermittlungen und die Kollegen im Verdeckten Einsatz. Ich hatte ja auch schon daran gedacht aber er war sich so unsagbar sicher darin. Und Romulus... er hat entschieden, dass ich..." Sie musste schnell Luft holen und das Zittern ihrer Finger in Minas Griff wurde stärker. Die Worte lösten sich nur noch als entsetztes Flüstern von ihren Lippen: "Er hat mich unter Arrest gestellt. Ich darf das Wachhaus nicht mehr verlassen. Nie mehr, wenn sich keine Lösung findet! Ich bin hier eingesperrt..." Mit ihren Augen suchte sie fassungslos Minas Blick und hoffte entgegen jeglicher Wahrscheinlichkeit darauf, dass diese ihr versicherte, alles würde wieder gut werden.
Doch Mina sah sie nur ebenso verwirrt und betroffen an.
"Romulus hat dich..."
Minas Gefühle brandeten gleich einer Welle aus Unglauben gegen ihre Gedanken. Ophelia nickte zaghaft.
"Hausarrest. Vorerst. Hat er gesagt. Bis wir eine Lösung finden. Ich habe ihm gesagt, dass ihr mir helfen wollt herauszufinden, woran das alles liegt und was ich dagegen tun könnte aber das genügt ihm nicht..."
Sie blickte sich ziellos im Raum um, kaum imstande, einen klaren Gedanken zu fassen.
Mina drückte grimmig ihre Hand.
"Wir arbeiten daran! Mach dir keine Sorgen, wir finden das schon heraus."
Es fiel ihr schwer, sich auf Mina zu konzentrieren, zu sehr sprang sie innerlich von einer verzweifelten Frage zur nächsten.
"Er hat gesagt, das wäre mein Problem. Wenn es keine Lösung dafür gäbe. Dann würde ihm das zwar leid tun aber... Er wird mich einfach... wegsperren!"
Eine neue Woge schlug gegen ihre inneren Gestade, diesmal aus Verärgerung und Unverständnis. Mina murmelte geistesabwesend im Selbstgespräch:
"Wieso arrestiert er dich hier, im Wachhaus, nicht bei dir daheim? Immerhin hast du kein Verbrechen begangen, da wäre das doch wesentlich freundlicher und würde auch ausreichen, wenn er es denn überhaupt als unumgänglich ansieht, oder?"
Das Bild Rachs tauchte vor ihren Augen auf und die Wucht, mit der es sie traf, ließ Ophelias Atem stocken.
"Er will mich hier verstecken, damit ich keinen Kontakt zu Zivilisten habe."
Mina wich der sich aufstauenden Verzweiflung instinktiv körperlich aus - sie erhob sich rasch und begann von Ophelia fort zu streben. Sie schwieg und presste lediglich die Lippen fest aufeinander, so dass diese wie zwei blutleere Striche wirkten.
Ophelia fuhr sich verwirrt mit der nun freien Hand über die Stirn.
"Ich darf fragen, ob jemand sich dazu bereit erklären würde, persönliche Sachen für mich aus meiner Wohnung zu holen. Was ich so brauche. Kleidung. Vermutlich auch andere Sachen, als nur die Uniformen? Wenn ich hier... wohnen soll?"
Mina schnaufte abfällig.
"Als wenn man hier wohnen könnte! Was erwartet er von dir? Dass du dein Lager in einer der Zellen aufschlägst?"
Sie warf ihr einen kurzen Blick zu, den Ophelia wie einen warmen Windhauch spürte. Die Gefühle der Vampirin kamen bei ihrem Anblick jedoch ins Stolpern und Mina entschuldigte sich leise bei ihr.
"Tut mir leid! Ich hätte das nicht so formulieren sollen. Noch einmal von vorne. Du darfst dir Sachen bringen lassen? Soll ich für dich gehen?"
Ophelia atmete tief ein und nickte dann dankbar nach einem Moment des Zögerns.
"Würdest Du das für mich machen? Das wäre mir eine Hilfe. Auch wenn ich nicht weiß, was ich brauchen werde..." Wieder brach das Fundament der Gelassenheit in ihr zusammen. "Ich meine... wenn nicht einmal feststeht, wie lange ich hier bleiben muss... Ich kann mir ja schlecht alle Kleidung bringen lassen. Vielleicht genügen zwei oder drei Sätze und solche Dinge wie die Frisiersachen und Dinge für die Morgentoilette? Ich will auch gar nicht alles auf einmal hier haben... allein der Gedanke ist so schrecklich hoffnungslos! Und wo soll ich die Dinge unterbringen? Mein Büro ist nicht sonderlich groß. Der Schlafsaal...", sie räusperte sich verunsichert. "Ich habe mich dort noch nie wohlgefühlt. Man hat keinerlei Privatsphäre..."
Bei der Nennung dieses Begriffes zog sich ihr Herz kräftig zusammen und sie murmelte verstört: "Andererseits... wer bin ich, dass ich mich ausgerechnet darüber beschweren sollte? Meine Gedanken brechen in diejenigen Anderer ein, ohne sich um solche Abgrenzungen zu scheren..."
Mina reagierte fast unmittelbar auf den Anflug bitteren Schuldgefühls in ihr, indem sie einen ganz besonders sperrigen Gedanken aufgriff.
"Ettark wechselt zu RUM? Das ist beschlossene Sache?"
Die Fragestellung zerrte sie zurück in die Gegenwart, zurück in Minas Büro und in gewissem Sinne auch zurück in einen emotionalen Zustand, in dem ihre Kompetenzen als Stellvertretende Abteilungsleiterin eingefordert wurden. Was auch immer dies in der vorliegenden Situation bedeuten mochte, zumindest eine gewisse antrainierte Professionalität musste sie sich bewahren.
"Ich weiß es nicht mit Sicherheit. Sie führen gerade in diesen Minuten das Bewerbungsgespräch für seine Abordnung zu Ende. Aber da er sich freiwillig gemeldet hat, mein Zustand keinen direkten Bezug zu ihm aufweist und alles dafür spricht, dass in den nächsten Wochen viele Veränderungen anstehen werden durch mich... zumindest habe ich mein Bestes gegeben, Romulus diesen Neuzugang ans Herz zu legen."
Minas Augen weiteten sich leicht.
"Warum das? Ich hatte nicht den Eindruck, dass du nach dem Einsatz bei der HIRN gänzlich von ihm überzeugt gewesen wärest."
"Das mag sein. Aber er verfügt über Erfahrung auf der Straße, er hat bewiesen, dass er imstande und Willens ist zu überleben und obendrein gezielt nach Informationen zu suchen... und wenn eintrifft, was ich befürchte, werden wir jede Person mit offenen Armen willkommen heißen müssen, derer wir habhaft werden können, um die Abteilung in den nächsten Monaten am Laufen zu halten." Sie ließ resigniert die Schultern hängen. "Wie soll das nur alles werden? Ich bin eben von meinem Posten als Stellvertreter zurückgetreten. Romulus hat das zwar abgelehnt. Er müsse erst mit Araghast darüber reden, ehe er eine endgültige Entscheidung treffen könne. Aber... wenn er alle Fakten und Befürchtungen gegeneinander abwägt... er wird zu dem gleichen Schluss wie Ettark und ich kommen. Diese Entscheidung ist nahezu unumgänglich!" Ophelia blickte entschuldigend zu Mina auf. "Ich habe dich als neuen Stellvertreter empfohlen. Ich hoffe, das belastet dich nicht zu sehr? Ich weiß, es würde für dich viel zusätzliche Arbeit bedeuten, wenn es dazu käme. Aber vielleicht dürfte ich dich noch einarbeiten. Und vor allem... ich weiß, dass du das schaffen kannst. Du kennst die Abläufe, die Zusammenhänge. Du hast die nötige Auffassungsgabe. Das muss doch alles laufen! Ich wüsste nicht, wem ich diese Verantwortung sonst auftragen könnte. Und ich...", sie blickte schuldbewusst zu Boden. "Ich kann das nicht mehr machen. Nicht, wenn Ettark Recht hat. Wenn ich die Kollegen in Lebensgefahr bringe."
Ihr Blick richtete sich Verständnis suchend auf Mina.
Welche langsam, wie um sich zu beruhigen, die Arme vor ihrer Brust verschränkte und einen winzigen Schritt zurückwich, ehe sie breitbeinig, wie zum Kampf bereit, stehenblieb.
Sekunden des Schweigens dehnten sich bedeutungsvoll zwischen ihnen, während von der Vampirin dünne Schleier deutlichen Missfallens herüberwehten, welche Ophelia mit einem unsichtbaren Erschöpfungsdunst beantwortete. Schließlich löste Mina die abweisende Haltung mit bewusster Willensanstrengung, ehe sie sich auf einen der anderen Stühle im Raum setzte. Sie räusperte sich, ehe sie in betont freundlichem Tonfall nachfragte:
"Und nun?"
Ophelia ließ diese Frage in sich nachklingen. Ihr Kopf fühlte sich so leer und betäubt an, dass sie beinahe ein Echo zu Minas Worten zu hören meinte. Ja, was nun?
"Ich...", sie dachte mühsam darüber nach, was als Nächstes zu tun sei.
Soll ich mein Büro räumen und alles Persönliche in den Schlafsaal hinunter tragen? Soll ich damit beginnen, die laufenden Akten ein letztes Mal zu aktualisieren, um eine fehlerfreie Übergabe an... Mina oder wen auch immer zu gewährleisten? Aber dann habe ich wieder neue Informationen, über die ich nicht verfügen sollte. Bloß gut, dass ich mit den Akten kaum in Verzug bin. Selbst ohne Vorbereitung müsste eine Übergabe der Aufgaben machbar sein, hauptsache ich erinnere meinen Nachfolger an die anstehenden Kontaktergespräche. Der Dienstplan für die übernächste Woche müsste noch mit Rea abgestimmt und Romulus an den Termin mit Fred erinnert werden. Remedios hatte den Urlaubsantrag eingereicht, da wollte ich noch mal nachfragen, wegen ihrer beiden laufenden Fälle. Und wer kümmert sich um Ettarks Ausbildung, falls Romulus ihm die Abordnung gestattet...
Der Berg an dringenden Aufgaben wuchs beständig vor ihrem inneren Auge - und kollabierte, als sie mit plötzlicher Klarheit bemerkte, dass sie vermutlich zu keiner dieser Verantwortlichkeiten mehr Zugang erhalten würde. Der Posten, der sie in den letzten Jahren geformt und gefordert hatte, die Zuständigkeit, die sie mit Zufriedenheit erfüllt hatte, war vor wenigen Minuten in unerreichbare Ferne gerückt. Einfach so. Plötzlich. Eindeutig. Endgültig. Wenn sie all die Trümmer ihres Daseins als Wächterin beiseite schob, blieb nur ein einziger tröstender Gedanke übrig.
Rach! Ich muss mit ihm reden! Ich muss ihm erklären, was hier passiert. Wir können uns heute Abend nicht treffen. Vielleicht sogar...
Die vage Befürchtung durfte keinesfalls zu Ende gedacht und ausformuliert werden.
"Ich muss dringend über Klacker eine Nachricht rausschicken. Und dann... sehe ich weiter. Es ist ja schon spät. Vermutlich wäre es sinnvoll, wenn ich mir dann im Schlafsaal ein Bett zurechtmache..."
Sie sprang auf und wollte am liebsten sofort zum Nachrichtenturm hinauf laufen. Doch Mina unterbrach sie.
"Warte! Dann mache ich mich auf den Weg, um deine Sachen zu holen. Du musst mir nur eine Liste schreiben und deinen Wohnungsschlüssel geben. Wo wohnst du?"
Sie zähmte ihre Ungeduld und Mina reichte ihr Papier und Stift vom nebenstehenden Schreibtisch.
"Im Bezirk An der Langen Mauer, keine halbe Stunde von hier. Der Fünf-Und-Sieben-Hof sagt dir etwas? Dort, im Eckhaus mit der Nummer 1. Die Vermieterin heißt Frau Jahwohl. Sie weiß, dass ich ab und an für längere Zeiträume nicht anwesend bin, du kannst ihr also gerne Grüße von mir ausrichten. Die Miete wird ja automatisch weiter über die Bank an sie ausgezahlt, zumindest darum brauche ich mich nicht zu sorgen."
Gemeinsam sprachen sie das Nötigste durch. Doch Ophelia war in Gedanken längst bei der kurzen Nachricht an Rach.
Er muss wissen, was das alles für uns bedeutet. Dass ich hier bis auf Weiteres eingesperrt sein werde, wie ein gemeiner Verbrecher. Auf was für eine unmögliche Situation er sich eingelassen hat! Das ist alles so schrecklich! Ich möchte ihm diese Umstände gar nicht zumuten...
Sie erstellte eine Liste ihrer gewünschten Habseeligkeiten, dann verschwand Mina bereits in die Nacht und sie selber eilte die ausgetretenen Stufen gen Dach hinauf. Sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe, als sie die wenigen, möglichst unverfänglichen Worte vom Wacheklacker aus an ihn absandte. Eine längere Erklärung würde auf anderem Wege erfolgen müssen - falls er diese dann überhaupt noch hören wollen würde.
‚Es tut mir leid aber es wird alles... noch komplizierter. Wir können uns heute leider nicht mehr sehen. Ich schreibe Dir am besten einen Brief.’


MINA VON NACHTSCHATTEN

Der Flur lag in vollkommener Dunkelheit; nur schemenhaft ließen sich die seitlich davon abgehenden Zugänge erahnen, sowie auch jene am Ende, welche in die Schlafräume führten. Mina schloss die Eingangstür hinter sich und legte den Schlüssel auf dem ihr am nächsten befindlichen Möbelstück ab - das metallene Klirren wirkte beinahe unangenehm laut in der ansonsten perfekten Stille. Nicht einmal die Dielen gaben einen Laut von sich wenn man darüber ging. Aber das war vielleicht auch ganz gut so: Die Vampirin hatte sich ob der späten Stunde dagegen entschieden, die Hausverwalterin von ihrer Anwesenheit in Kenntnis zu setzen und sie wollte auch nicht, dass die gute Frau durch irgendwelche verdächtigen Geräusche über ihrem Kopf unnötig aufgescheucht wurde. Dennoch führte ihr erster Gang sie in die Küche, wo sie nach der Petroleumlampe griff und diese so platzierte, dass ein warmer Lichtschein bis in den Flur hinaus fiel. Mehr ein Zeichen von Anwesenheit als wirklich notwendig. Aber man konnte schließlich nie wissen... falls doch jemand kam, um nach dem Rechten zu sehen, sollte derjenige nicht gleich einen Einbruch befürchten müssen.
Mina ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Klein war er, jedoch zweckmäßig eingerichtet und mit allem Notwendigen ausgestattet. Allzu viel würde sie aus diesem Zimmer auch nicht benötigen - bis auf eines. Die Vampirin rief sich Ophelias Erklärungen ins Gedächtnis, trat an einen der Schränke heran, öffnete diesen... Das markerschütternde Quietschen, welches durch den Raum gellte, ließ sie zusammenfahren. Richtig, hier hatte ja noch bis vor wenigen Wochen eine Igorina gelebt und offenbar war das Ergebnis deren, für diese Spezies charakteristischen, Behandlung der Scharniere unangetastet geblieben. Eine Art Andenken vielleicht? Ungewöhnlich war es auf jeden Fall, aber immerhin hatte Rogis Tod Ophelia doch ziemlich mitgenommen. Auch wenn sich das mit der Stille nun erledigt hatte...
Mina begann das wenige, was sich noch an verderblichen Lebensmitteln in dem Schränkchen befand, auf dem kleinen Esstisch an der Seite aufzustapeln. Die Sachen wurden vom Herumliegen schließlich nicht besser und würden der Kollegin wenigstens in den ersten ein oder zwei Tagen eine kleine Abwechslung zusätzlich zu Madam Piepenstengels Küche bieten. Wer wusste schon, wie lange sie darauf angewiesen sein würde? Mina schüttelte den Kopf. So wie Ophelia es geschildert hatte ließen die Anordnungen des Abteilungsleiters nicht viel Spielraum, was deren zukünftigen Aufenthaltsort anging. Sicher, es gab schlimmere Orte als das Wachhaus um sich längerfristig einzurichten, aber schon allein das Bewusstsein dort im wahrsten Sinne des Wortes eingesperrt zu sein musste es bedrückender machen, als es vielleicht war. Mina hätte gern gewusst, ob Romulus noch andere Beweggründe für eine derart drastische Maßnahme gehabt hatte als nur den, Ophelia bestmöglich von der Außenwelt abzutrennen. Denn wenn überhaupt würde das ohnehin nur auf rein physischer Ebene funktionieren. Ophelias mentale Reichweite war - gemessen an der Unfreiwilligkeit die dieser Gabe anhaftete - mittlerweile beachtlich: Valdimier hatte berichtet, dass er sie gelegentlich schon vom entfernten Ende des Pseudopolisplatzes aus wahrnehmen konnte. Sollte das so weitergehen...
Mina schob den beunruhigenden Gedanken beiseite; über diesbezügliche Probleme würden sie sich morgen wieder zur Genüge mit dem FROG austauschen können. Allerdings waren diese Besprechungen stets eine entmutigende Angelegenheit, denn einer echten Lösung des Problems waren sie noch nicht einmal im Ansatz nahe gekommen.
Die verdeckte Ermittlerin verstaute die knappen Vorräte in einer Umhängetasche, griff zu guter Letzt nach den Teevorräten in der angegebenen Schublade und legte alles neben der Wohnungstür zum Abtransport bereit. Gut, als nächstes das Zimmer linkerhand, am fernen Ende des Flurs.
Nun eines Besseren belehrt ließ Mina beim Betreten die gebotene Vorsicht walten, aber entgegen der Erwartung gab diese Tür nicht den geringsten Laut von sich - offenbar hatte sich Rogis Eifer doch nur auf die gemeinsam genutzten Räume beschränkt, sowie wahrscheinlich ihren eigenen. Und die Behandlung der Eingangstür war wohl am Widerwillen der Vermieterin gescheitert... auch wenn sich bei Weitem nicht jeder Igor an dieses Verbot gehalten hätte. Derartige kleine Anpassungen gehörten für sie einfach dazu.
Es war angenehm, solch ganz banalen Überlegungen nachzuhängen, während sie sich einen Stuhl heranzog, um an den großen Koffer auf dem Kleiderschrank zu gelangen. Flüchtige Alltagsgedanken, ganz ohne tieferen Hintersinn oder Katastrophenpotential... und vor allem ohne dass sich irgendetwas hineindrängte, das nicht von einem selbst stammte. So etwas war im Wachhaus mittlerweile gar nicht mehr möglich und auch wenn die Vampirin es vermied, es Ophelia gegenüber zu erwähnen: Ja, es war anstrengend, durchgängig die Emotionen einer anderen Person mitfühlen zu müssen und ja, es war belastend, fremde Frustration, Sorge, Wut, Trauer oder Schwermut zu durchleben, ohne den konkreten Auslöser zu kennen oder etwas dagegen unternehmen zu können. Selbst wenn mit einigem räumlichen Abstand das Phänomen verebbte, beschäftigte es einen doch weiterhin und nahm eigentlich ständig einen gewissen Teil des Bewusstseins in Beschlag. So wie jetzt auch, denn sie war ja schon wieder beim Thema! Doch daran war die momentane Umgebung wohl nicht ganz unschuldig.
Mina seufzte und hievte dann den Koffer - ein wahres Monstrum - herunter, um ihn vorsichtig auf den Boden herab zu lassen. Feiner aufgewirbelter Staub tanzte im Mondlicht, welches durch das Lochmuster in der Gardine fiel und filigrane Muster auf die Bettdecke malte, sowie auf den Schreibtisch mit den hohen Ablagefächern und dem langsam welkenden Blumenstrauß. Ein kleiner Stapel ungeöffneter Briefe fiel ins Auge. Vielleicht auch etwas, das man einpacken sollte? Zunächst aber holte die verdeckte Ermittlerin Ophelias Liste aus der Tasche und begann systematisch den Raum nach den aufgeschriebenen Objekten zu durchkämen. Einiges fiel ihr dabei wie von selbst in die Hände, anderes nahm wesentlich mehr Zeit in Anspruch, wie etwa das Durchsuchen des übervollen Kleiderschranks. So war es bereits nach Mitternacht, als Mina schließlich mit einigem Nachdruck den Deckel nach unten drückte und die Verschlüsse einrasten ließ. Sie hielten – gerade so und hoffentlich würde das auch während des Transports so bleiben. Nur das Nötigste, ja, das waren Ophelias letzte Worte vor dem Aufbruch gewesen. Offensichtlich ließ eine derartige Formulierung einen größeren Spielraum zu, als man das gemeinhin annahm... Aber wie auch immer, der erste Teil konnte als erledigt betrachtet werden - jetzt musste sie den sperrigen Behälter nur noch durch das schmale Treppenhaus nach unten bringen, was noch einmal eine ganz eigene Herausforderung darstellen würde. Die Vampirin löschte das Licht, bevor sie das Gepäck aufnahm, sich leise aus der Wohnung schob und auf den Rückweg machte.

~~~ oOo ~~~


"Diese Anmerkung muss zwingend noch in die Akte und der Abgleich ist auch erst halb fertig, aber ob ich damit meinen Handlungsspielraum nicht schon zu sehr ausreize? Doch was soll es noch ausmachen, ich weiß ohnehin schon alles über diesen Fall und was einmal in meinem Kopf ist kann ich nicht mehr löschen. Dann könnte ich auch genauso gut noch..."
Die Verbindung brach abrupt ab und Valdimier atmete erleichtert auf. Endlich frei! Er hatte das Ende seines Bereitschaftsdienstes kaum abwarten können, die Stunden hatten sich heute schier endlos dahingezogen - auch wenn er nicht behaupten konnte, er wäre währenddessen nicht unterhalten worden. Oder zumindest etwas in der Art... Denn was die aktuellen Belange einer bestimmten Kollegin anging, bekam er für seinen Geschmack ein wenig zu viel mit. Was dem FROG-Schützen dabei primär Sorgen machte war nicht unbedingt die Tatsache, dass er mit allen möglichen Informationen versorgt wurde, die ihn größtenteils weder etwas angingen noch interessierten. Es war die entgegengesetzte Richtung dieser seltsamen Anbindung, welche ihm Kopfzerbrechen bereitete: Jeder hatte nun einmal Geheimnisse, welche man anderen Personen lieber vorenthielt. Ja, nicht nur Geheimnisse, vielmehr eine gewisse Privatsphäre, einfach persönliche Dinge, die nicht für die Ohren der Allgemeinheit bestimmt waren. Doch wie viel davon er vor Ophelia Ziegenberger im Moment überhaupt verbergen konnte oder was vielleicht schon unterbewusst bis zu ihr vorgedrungen war und nun für jeden Befähigten lesbar auf dem mentalen Silbertablett lag... Der Vampir zog ein grimmiges Gesicht. Unter Umständen war er mit seinem Hilfsangebot etwas voreilig gewesen, aber einen kompletten Rückzieher wollte er auch nicht machen - zumal eine vorübergehende Beurlaubung oder etwas anderes in der Art auch keine dauerhafte Lösung dargestellt hätte. Doch vielleicht war es möglich, den Kontakt auf ein absolut notwendiges Minimum einzuschränken? Schließlich bestand die durchaus realistische Gefahr für FROG-Interna in den allgemeinen Fokus zu geraten und dieses Risiko konnte kaum als tragbar bezeichnet werden. Das musste sie verstehen. Abgesehen davon war er vielbeschäftigt. Genau, er konnte es sich gar nicht leisten, Tag und Nacht an einem derart widerspenstigen Problem herumzudoktern. Wenn diese seltsame Angelegenheit wenigstens einen konkreten Nutzen gehabt hätte!
Geistesabwesend wich der Vampir einer Gruppe Betrunkener aus, welche auf den jeweiligen Nebenmann gestützt von einer Straßenseite zur anderen torkelten. Nun ja, das mit Rogi war durchaus eine interessante Neuigkeit gewesen: Vor wenigen Tagen hatte er aus heiterem Himmel Erinnerungen an Gesprächsfetzen aufgeschnappt, die eine sehr eindeutige Nachricht vermittelten. Offenbar hatte die Igorina die ehemalige RUM Stellvertretende erst kürzlich aufgesucht gehabt, aus welchem Grund auch immer, und ohne, dass es jemand anderes bemerkt hätte... Wenn er vorher nicht angenommen hatte, irgendetwas könne ihn derart kalt erwischen, dann sah er sich nun darin getäuscht. Sogar die Kaffeetasse war zu Boden gegangen! Nur gut, dass er zu dem Zeitpunkt allein im Raum gewesen war, ansonsten hätte die Situation ihn wohl in arge Erklärungsnot gebracht. Doch nach einer anfänglichen Welle der Freude und Erleichterung war ihm schnell klar geworden, dass er auch mit dieser Information herzlich wenig anfangen konnte. Er wusste weder, ob es im Interesse der Igorina war, die Kollegen von ihrer Auferstehung erfahren zu lassen, noch was diese davon halten würden, dass sie ihnen diesen Umstand absichtlich vorenthielt. Im Grunde handelte es sich nur um eine weitere vertrauliche Angelegenheit, die er nun mit sich herumtragen durfte. Nutzlos, nutzlos, nutzlos! Allerdings fand der Vampir durchaus eine gewisse Genugtuung darin, von etwas Kenntnis zu haben, von dem Breguyar noch keine Ahnung hatte.
Doch wie sollte es nun weitergehen? Man konnte der Ziegenberger ja schlecht das Denken verbieten. Und was würde er tun, wenn die Angelegenheit Züge annahm, die sich auf sein Privatleben auswirkten? Er hatte Lilith bisher noch nichts von der Sache erzählt, würde aber nicht tatenlos zusehen, wenn deren Angelegenheiten über ihn an ein größeres Publikum weitergereicht würden. Spätestens dann wäre ein Schlussstrich zu ziehen. Aber wie sollte der aussehen? Valdimier knirschte frustriert mit den Zähnen. Konnte nicht einmal etwas einfach sein?


OPHELIA ZIEGENBERGER

Die Zeit hatte ein Eigenleben entwickelt. Mal fühlten sich die letzten Tage wie Blätter im Wind an, in schnellem Torkeln unsichtbarer Kräfte an ihr vorüber gezerrt. Dann wieder hatte sie das Gefühl, bereits seit Monaten immer den gleichen monotonen Hilfsarbeiten nachzukommen. Dabei hatte sie niemand dazu gezwungen, beispielsweise Madame Piepenstengel mit dem Säubern der Kantinenküche zu helfen! Auf diese absurde Idee war sie ganz von alleine gekommen, als sie den Gedanken von fettschlierigem Geschirr, auf dem ihre täglichen Mahlzeiten nun serviert wurden, nicht mehr ertragen hatte. Und auch die anderen Dinge, denen sie vermehrt zugeteilt wurde... irgendjemand musste eben den Taubenschlag reinigen, die Flure wischen, im Stall nach dem Rechten sehen und den Abfall in den Hof hinaustragen. Sie hatte sich selbst als Rekrutin nicht vor unliebsamen Aufgaben gedrückt. Irgendwann, mit steigendem Rang, wurden sie ihr nur deswegen nicht mehr aufgetragen, weil ihre Zeit immer kostbarer geworden war, im Getriebe der Wache.
Das hatte sich geändert. Wenn ihr inzwischen von etwas reichlich zur Verfügung stand, dann von Zeit.
Es ist einfach folgerichtig, dass ich mich nützlich mache, soweit mir dies möglich ist. Ich möchte niemandem noch mehr zur Last fallen, als ich es ohnehin schon tue. Es ist ja auch besser, meine Gedanken mit Harmlosigkeiten beschäftigt zu halten. Ich darf mir keine Zeit zum Grübeln zugestehen!
Dem zum Trotze konnte sie nicht vermeiden, dass die Umstände sich zu einem erdrückend beschämenden Empfinden verbanden.
Die Blicke, die sie seitens der Kollegen im Wachhaus auf sich ruhen spürte, variierten von mitleidig bis misstrauisch. In Einzelfällen, wie sie mit einem Kloß im Hals hatte feststellen müssen, sogar bis hin zu unterschwelliger Aggression. Rabbe war so ein Fall gewesen. Vermutlich lag es mit an den Gerüchten, die schnell begannen die Runde zu machen und an denen man als Betroffener niemals etwas ändern konnte. Vielleicht lag es auch an dem feindseeligen Tonfall des internen Memos, welches Araghast allen geschickt und mit dem er sie quasi als Geächtete gebrandmarkt hatte? So oder so, in manchen Momenten war es eine erniedrigende Prüfung, in der Nähe anderer Wächter auf ein Knie zu gehen, um beispielsweise den Scheuerlappen aufzuheben, wenn sie gleichzeitig deren Blicke im Nacken spürte. Sie versuchte sich einzureden, dass sie in all das zu viel hineindeuten mochte. Doch dem war häufig nicht so und das wusste sie genau. Sie hatte schon immer über ein gutes Gespür für zwischenmenschliche Schwingungen verfügt und so viele Gelegenheiten zum Beobachten, wie sich ihr abseits der Arbeitsroutinen ihrer Kollegen boten, entgingen ihr leider auch die kleinsten Hinweise nicht mehr.
Ich verunsichere sie. Das geflügelte Wort, dass ich eine Verräterin sei, hatte dank Ettark schon vorher die Runde gemacht, wie sollte es unter diesen Umständen besser werden? Die meisten wissen nur, dass man mir nicht trauen darf, dass man mir nichts Wichtiges mitteilen darf und dass ich ebenso dazu gezwungen bin, mich Tag und Nacht im Wachhaus aufzuhalten, wie die Gefangenen in den Zellen unten. Selbst wenn jemand Näheres weiß... niemand kann mit Sicherheit sagen, wo dieser Fluch beginnt und wo er endet. Das ist für sie ebenso Neuland, wie für mich. Ich darf es ihnen nicht übel nehmen.
Ophelias Gedanken schweiften ab und schlenderten zu ihren Erinnerungen zurück, dem 'Ort', der für sie zur Zeit die wenigsten Gefahren zu bergen schien.
Über ihre Zukunft nachzudenken verbot sie sich rigoros.
So vieles hatte sich mit Romulus' Entscheidung von einem Tag auf den anderen geändert. Ihre Aufgaben waren ihr genommen und Mina tatsächlich als neue Stellvertretende eingesetzt worden. Sie hatte ihr zur Hand gehen und alles fein säuberlich erklären wollen, doch die Übergabe erfolgte im Beisein ihres werwölfischen Vorgesetzten und fiel kalt und kurzangebunden aus. Die Gelegenheit dauerte keine zehn Minuten und bestand aus nicht viel mehr, als einer Schlüsselübergabe und kurzen Hinweisen dazu, wo sie welche Themen und Akten in den Fächern des riesigen Schreibtisches finden würde, den Ophelia damals beim Einzug in ihr Büro als Spezialanfertigung in den Raum hatte einpassen lassen.
Ich weiß, dass es Mina nicht leicht fällt, sich einzuarbeiten. Sie ist jetzt immer so erschöpft und in Eile. Und sobald sie mein ehemaliges Büro betritt, fühle ich ihre Frustration ansteigen. Aber sie will nicht von sich aus darüber reden. Der Folgegedanke ließ Ophelia in der verlassen daliegenden, nächtlichen Wachhausküche schwer seufzen. Aber vielleicht darf sie auch nur nicht mit mir darüber reden...
Der Schein der Öllampe in dem unfreundlichen, kahlen Raum bot ihr gerade so genug Licht, um die Spüle mit den beiden Geschirrstapeln an ihren Seiten zu erkennen. Ihre Hand bewegte sich von selbst beim Bürsten der Teller. Das Provisorium, das sie sich dafür gebastelt hatte, Geschirr im kleinen Becken festzuklemmen, erfüllte seinen Zweck erstaunlich zuverlässig. Sie stellte jeden Teller einzeln zum Trocknen in die Senke. Und versuchte wieder einmal, sich mit schöneren Gedanken von der lauernden Schwermut abzulenken.
Ich bin so froh, dass Rach vorhin da war. Er schafft es auch stets von Neuem, Zeit für mich zu finden... der Abend war so schön...
Das Steingut klapperte und das Abwaschwasser plätscherte leise gegen den Spülenrand.
Ich wüsste nicht, was ich ohne ihn machen würde. Es sind zwar nur ein paar Stunden, bis wir uns wiedersehen werden. Aber ich vermisse ihn jetzt schon wieder so sehr.
Sie war sich nicht sicher, wie er es geschafft hatte, Araghast von sich als regelmäßigem Besucher zu überzeugen. Aber sie war ihm täglich dankbar dafür, dass er es getan hatte! Ein neues Geheimnis vor Breguyar zu haben wäre ihr unerträglich gewesen.
Obwohl es so scheint, als wenn es keinen Unterschied mehr machen würde... Gleichgültig, wie sehr ich mich darum bemühe, mich richtig zu verhalten... er vertraut mir nicht mehr.
Der Kommandeur verweigerte nicht nur das direkte Gespräch mit ihr, indem er auf eine Kommunikation per Rohrpost bestand, nein, er war sogar so weit gegangen, ihr dauerhafte püschologische Sitzungen zu verordnen - die er sich aber selber zu halten ablehnte. Stattdessen hatte er sie Romulus aufgedrängt. Wenn man bedachte, dass der Kommandeur im Gegensatz zu ihrem Abteilungsleiter bereits viel früher diverse Gelegenheiten dazu geschaffen hatte, sich ungestört mit ihr zu unterhalten, um tiefergehende Gespräche mit ihr zu führen und ihre Püsche auszuloten... und dass sie sich ihm dafür sogar geöffnet und ihm gegenüber mehr von ihrem Seelenleben preisgegeben hatte, als irgendwem sonst bisher!
Ein bitterer Geschmack bildete sich in ihrem Mund.
Morgen soll ich mich mit Romulus im kleinen Besprechungszimmer treffen und mich auf die Couch legen. Es wird mir nicht leicht fallen, mich ihm anzuvertrauen. Aber ich werde es versuchen. Das wird so oder so ein anstrengender Tag. Romulus wollte die Büros umräumen lassen, um mir einen Wohnraum in der oberen Etage zu gewähren, anstelle des schmalen Feldbetts im Schlafsaal. Einerseits bin ich sehr erleichtert über diese Aussicht. Andererseits... die armen Kollegen! Was für ein Aufwand und das alles nur meinetwegen! Das wird der allgemeinen Stimmung nicht zuträglich sein.
Ophelia stellte das letzte Geschirrteil in die Abtropfvorrichtung und breitete des Trockentuch als Staubschutz darüber aus. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und strich eine widerspenstige Haarsträhne beiseite.
Wenig später sank sie völlig erschöpft auf die durchgelegene Schlafstätte zurück und schloss die Augen. Es dauerte nur Sekunden, bis ihr Körper zur Ruhe kam. Die Stimmen in ihrem Sinn wisperten noch eine Weile von den Enttäuschungen des fliehenden und den Ängsten des nahenden Tages, doch sie hörte ihnen längst nicht mehr zu.


MINA VON NACHTSCHATTEN

Mit sanftem Nachdruck schob Mina den Ordner wieder an seinen Platz im Regal; das klopfende Geräusch, als er an der Rückwand anstieß, ließ einen seltsam hohlen Nachhall in ihren Ohren zurück. Einer weniger - blieben nur noch gefühlte einhundert. Es war nicht ungewöhnlich, dass bei Aufgaben wie dem systematischen Durcharbeiten einer Vielzahl von Schriftstücken der Berg an Arbeit eher zu wachsen als zu schrumpfen schien, immer neue Papiere und noch mehr Akten auftauchten, als würde sie jemand von hinten fleißig nachschieben. Es war ebenso normal, dass immer ein gewisser Zeitdruck dahinter stand - dem man bestenfalls durch die Mithilfe einiger Kollegen immer noch gerecht werden konnte. Doch in diesem Fall war nicht nur der Druck ein anderer... Ihr Blick glitt an den gefüllten Regalfächern entlang, an den Kolonnen von noch nicht eingesehenen Akten und dann weiter über den überladenen Schreibtisch und das umlaufende Regal an der gegenüberliegenden Seite des Raumes, bis er an dem großen Stadtplan neben der Tür hängen blieb. Dieser war mit Fähnchen in allen möglichen Farben gespickt, zwischen denen zum Teil Verbindungen in Form von dünnen Garnfäden verliefen, welche sich wiederum überkreuzten, zusammen ein komplexes Netz bildeten - welches auch auf den zweiten Blick absolut keinen Sinn zu ergeben schien! Es war nicht das erste Mal während der letzten Tage, dass sich in solchen Momenten das zwar unterschwellige, jedoch sehr beständige Gefühl der Unsicherheit zu einem Anflug regelrechter Panik auswuchs, welcher nur mit einiger Mühe klein gehalten werden konnte. Wie sollte sie das alles bewältigen, ohne dass es zu ernsthaften Verzögerungen im Abteilungsablauf kam? Neben all den anderen täglichen Pflichten? Wer würde sich um ihre noch laufenden Fälle kümmern? Wie lange durfte es dauern, bis sie einen vollständigen Überblick hatte? Solch eine Verantwortung auf einmal... man konnte so vieles schlichtweg übersehen oder falsch anpacken... und schlussendlich musste es funktionieren, es musste einfach, da gab es keine Alternative!
Die Vampirin schloss kurz die Augen und zwang sich mit einiger Willensanstrengung, mehrmals tief ein- und auszuatmen - wenn schon zu nichts anderem gut, so half das wenigstens etwas, den Kloß im Hals zu lösen sowie die Gedanken in geordnetere Bahnen zurückzuführen.
Einen Schritt nach dem anderen! Das führt sonst zu nichts. Niemand erwartet irgendwelche Wunder von dir. Du arbeitest soweit wie du kommst und morgen dann... - morgen würde Ettark vor der Tür stehen.
Das wenige an mühsam aufgebauter Zuversicht brach mit einem Schlag wieder in sich zusammen. Ausgerechnet Ettark! Diese Entscheidung des Abteilungsleiters hatte sie doch verhältnismäßig unvorbereitet getroffen: Was um alles auf der Scheibe hatte von Grauhaar sich dabei gedacht, ihr in der momentanen Situation auch noch den ehemaligen SEALS-Wächter als Auszubildenden auf's Auge zu drücken? Denn einmal ganz abgesehen davon, dass dieser nicht unbedingt als verträglicher Zeitgenosse galt, für den Respekt und Kooperationsbereitschaft wohl so eine Art Fremdworte darstellten, und sie darüber hinaus schon zu gemeinsamen GRUND-Zeiten nicht sonderlich gut miteinander zurecht gekommen waren... wenn sie ehrlich war, fehlte Mina noch der überzeugende Ansatz, was die Gestaltung der Ausbildung an sich betraf. Sie schielte zu ihrem neuen Arbeitsplatz hinüber, wo irgendwo unter anderem Papier der Leitfaden für Informantenkontakter darauf wartete, gelesen zu werden. Vielleicht konnte man in irgendeiner Weise daran anknüpfen? Immerhin war Ettark kein absoluter Frischling mehr, bei dem man noch an den Grundlagen arbeiten musste. Aber ob das nur von Vorteil war... oder sich nicht vielmehr ins absolute Gegenteil verkehren konnte, wenn vorgefasste Arbeitsweisen aufeinanderprallten, die partout nicht zusammenpassen wollten...
Was tust du denn da, woher kommt eigentlich dieser übertriebene Pessimismus?
Es war nur dieser entschiedene Gedanke zur rechten Zeit, der sie vor der nächsten emotionalen Abwärtsspirale bewahrte. Mina schüttelte energisch den Kopf. Dass sie sich noch nicht zur Gänze über ihr Vorgehen im Klaren war bedeutete doch noch lange nicht, vom Schlimmsten ausgehen zu müssen. Und was die Person des neuesten angehenden verdeckten Ermittlers der Abteilung betraf, gut, dann war es eben Ettark, aber das war doch kein Grund, sich schon vorher vollkommen fertig zu machen. Warum denn nicht einfach erstmal abwarten, was die nächste Zeit bringen würde?
Also reiß dich zusammen, du bist doch sonst nicht so!
Sie hielt inne. Wenn schon nicht sie selbst.... dann war etwas anderes beunruhigend nahe liegend. Aber das ließ sich überprüfen: Mittlerweile routiniert in diesem Vorgang horchte Mina in sich hinein, konzentrierte sich auf ihr Selbst, auf ihre eigenen Gefühle... und stellte fest, dass nur wenige Zimmer weiter ganz offensichtlich noch jemand Trübsal blies. Besorgniserregend daran war allerdings, dass die fremden Emotionen, diese feinen nebeligen Finger einer anderen Präsenz, die sich um das eigene Empfinden legten wie eine Staubschicht auf Spinnweben - dass eben diese Regungen kaum noch als der leicht zu entdeckende Fremdkörper erschienen, der sie bisher immer gewesen waren. Mina verzog das Gesicht. Das war schlecht! Sie konnte die beiden Ebenen nur schwerlich voneinander unterscheiden. Wenn sie Ophelias Einfluss nun schon beinahe selbstverständlich als Teil ihrer eigenen Gefühle wahrnahm, wo sollte das denn bitte noch hinführen? In einer reflexartigen Reaktion setzte die Vampirin einen frustrierten Impuls gegen den Eindringling, vielleicht etwas ruppiger als er ausgefallen wäre, wenn sie sich bewusst dafür entschieden hätte. Die Antwort war ein erschrockenes Aufflackern am Rande ihres Bewusstseins. Aber wenigstens war das wieder deutlich Ophelia und nicht diese sich unbemerkt einschleichende Suggestion. Das sich nun anschließende normale emotionale Dauerraunen hatte im Vergleich etwas richtiggehend Wohltuendes. Kurz spielte Mina mit dem Gedanken, hinüberzugehen und sich zu erkundigen, ob der Kollegin in den vergangenen Minuten ebenfalls etwas aufgefallen war. Ob es vielleicht diesmal einen besonderen Auslöser gegeben hatte. Andererseits würde in den nächsten Minuten höchstwahrscheinlich Rach im Wachhaus eintreffen, es war seine übliche Zeit. Da war es wohl wenig sinnvoll, vorher die Pferde scheu zu machen und Ophelia noch etwas zum Grübeln zu geben, was ihr am Ende den ganzen Abend verdarb. Nein, das konnte bis zum nächsten Tag warten - zumal es auch nicht das geringste an dem Vorfall ändern würde herauszufinden, wer von ihnen beiden zuerst deprimiert gewesen war.
Und ob sich das überhaupt noch feststellen lässt... bei den ständigen Wechselwirkungen... wer ist denn dann eigentlich noch wer? Eine Überlegung, die durchaus das Zeug hatte, einen schaudern zu lassen.
Eine lautstark zufallende Tür irgendwo auf dem Gang ließ sie endgültig ins Hier und Jetzt zurückfinden. Die neue stellvertretende Abteilungsleiterin begann einiges zum Durchlesen für den Abend zusammen zu packen mit der Absicht, diesen in der Kantine oder sonstwo zu verbringen - nur nicht auf dieser Etage. Denn die rosarote Gefühlswelt, welche in Kürze das gesamte Stockwerk durchwabern würde - die hielt sie nie lange aus. Da konnte man sich nur innerlich wappnen, wenigstens ein wenig Distanz suchen, sich irgendwie ablenken. Und dann abwarten. Wie bei so vielem in letzter Zeit.

~~~ oOo ~~~


Ein leichter Luftzug wehte durch den Raum, doch das war schon genug, damit sich Fynns Nackenhärchen aufstellten und er einen verstohlenen Blick über die Schulter warf. Dort gähnte ein Durchgang, düster und bedrohlich, welcher tiefer in das Gebäude führte. Schritte erklangen aus dieser Richtung, wurden kurz lauter, um sich dann wieder zu entfernen und schließlich ganz zu verstummen. Der Windhauch verebbte und der Ermittler in Ausbildung schalt sich selbst einen Narren. Bestimmt hatte nur irgendwo jemand eine Tür geöffnet, schließlich wurde in diesem Haus gearbeitet. Außerdem befand er sich hier an einem vergleichsweise zivilisierten Ort, da war es gefährlicher zur Hauptverkehrszeit den Breiten Weg zu überqueren. Aber dennoch, was blieb war ein mulmiges Gefühl, hervorgerufen durch die bloße Möglichkeit, jemand könnte sich unbemerkt von hinten nähern. Er hätte sich ja in einen der Sessel auf der anderen Seite setzen können, aber dann wäre die Tür ihm gegenüber nicht mehr Teil seines Blickfeldes gewesen und eigentlich war es diese, durch welche er - hoffentlich in Bälde - die Rückkehr der Botschaftsmitarbeiterin erwarten konnte. Abgesehen davon: Dort hatte sich bereits eine Person niedergelassen und das griesgrämige Gesicht dieses Vampirs ließ den Platzwechsel nicht gerade verlockend erscheinen. Und wer wusste schon, ob man nicht irgendeine ungeschriebene Regel der Etikette brach, wenn man anderen hier Wartenden zu sehr auf die Pelle rückte?
Eigentlich hatte sich diese Aufgabe ganz einfach angehört: Hingehen, etwas abholen, zurückkehren - im Grunde die simpelste Sache der Welt. Dass ihn sein Weg dazu in die überwaldische Botschaft führen würde, hatte Fynn zunächst nicht als Grund zur Beunruhigung gesehen - nein, diese war erst eingetreten, als die Fassade des Gebäudes bereits vor ihm aufragte. Der erste Eindruck war nicht gerade ein freundlicher gewesen und die Atmosphäre im Inneren des Hauses hatte diesen auch nicht revidieren können: Viel dunkles Holz und Marmor, eine extrem spärliche Beleuchtung und sich nahezu geräuschlos bewegende Angestellte erzeugten ein dauerhaftes Unbehagen und der nur als unterkühlt zu bezeichnende Empfang, welchen man dem Wächter bereitet hatte, trug sein Übriges dazu bei. Bestimmt verirrten sich nicht viele Menschen an diesen Ort... was hatte er sich eigentlich dabei gedacht? Aber als die Kollegin von Nachtschatten vor ein paar Tagen das gemeinsame Büro geräumt hatte - ein Ereignis, an welches Fynn immer noch mit leisem Bedauern zurückdachte - und dabei eine entsprechende Bemerkung hatte fallen lassen, da war er es sogar selbst gewesen, der den Vorschlag unterbreitet hatte. Der Gefreite seufzte leise. Wie auch immer, jetzt war er hier und da half auch kein Jammern mehr. Immerhin war seine Sitzgelegenheit nicht unbequem, das stand außer Frage, und bald würde er ja auch...
"Wünfen Fie etwaf fu trinken, während Fie warten?"
Fynn schrak so heftig zusammen, dass er beinahe vom Sessel und auf den Boden gerutscht wäre. Dabei verhakte sich ein Fuß unter dem Möbelstück, sodass das Ganze unter lautstarkem Knarzen einige Zentimeter nach vorn ruckte. Verdammt, es war immer noch etwas anderes, theoretisch von der Eigenart der Igors, urplötzlich auftauchen zu können, zu wissen, als es dann am eigenen Leib zu erleben. Der kleine Mann, welcher nun neben der rechten Armlehne stand, zeichnete sich durch ein besonders asymmetrisches Gesicht aus und vielleicht lag es daran, dass man ihm keinerlei emotionale Reaktion ansehen konnte. Der Vampir gegenüber hingegen quittierte die Schreckhaftigkeit des Menschen mit dem höhnischen Heben einer Augenbraue, bevor seine Mimik wieder zu ihrem vorherigen Zustand gefror.
"Ähm, also ich... ich, ähm... nein, danke", brachte der Ermittler in Ausbildung schließlich hervor und strich peinlich berührt seine Uniformjacke glatt. Der gefühlten Temperatur nach zu urteilen mussten seine Wangen knallrot angelaufen sein.
Der Igor nickte.
"Fallf Fie ef fich anderf überlegen, zögern Fie nicht zu läuten", sprach er, wies mit einer gemessenen Geste auf einen Klingelzug an der sich ihnen am nächsten befindlichen Wand und verschwand. Fynn starrte ihm hinterher und kam nicht umhin sich zu fragen, ob sie hier überhaupt etwas hatten, was man Menschen anbieten konnte.
Ein leises Klacken ließ ihn seine Aufmerksamkeit wieder der vorher beobachteten Tür zuwenden: Die Mitarbeiterin, welche ihn am Empfangstresen abgeholt und dann direkt hierher geführt hatte, stand nun wieder im Raum. Es handelte sich um eine hochgewachsene Vampirin mit energischen Gesichtszügen; das zu einem strengen Knoten gebundene Haar und die hochgeschlossene, wenn auch einfache, schwarze Kleidung im Kontrast zu der schneeweißen Haut schufen eine beeindruckende Gestalt, die in ihrer ganzen Erscheinung geradezu nach einer bestimmten Berufsgruppe schrie: Bibliothekarin! Sie runzelte die Stirn und bedachte den Menschen mit einem tadelnden Blick.
"Solch einen Aufruhr möchte ich mir doch ausdrücklich verbitten! Dies ist eine ehrwürdige Institution, da sehen wir ein derartiges Verhalten nicht gern."
"Ich habe doch nur...", begann Fynn, überlegte es sich dann aber anders und nickte schuldbewusst. Widerspruch war bestimmt nicht nur zwecklos... er konnte unter Umständen auch gefährlich sein.
Seine Gegenüber sparte sich ebenfalls einen weiteren Kommentar und streckte nur fordernd die Hand aus.
"Abholschein und Vollmacht."
Der Gefreite zog zwei sorgsam gefaltete Papiere aus seiner Tasche - beide in einer Sprache verfasst, die er nicht verstand - und überreichte sie. Die Vampirin nahm sich viel Zeit zum lesen, gerade so, als wolle sie eines der Schriftstücke der Fälschung überführen. Doch schließlich bedeutete sie dem Wächter, ihr zu folgen.
"Es ist eher ungewöhnlich, dass jemand wie... dass jemand anderes geschickt wird, um eine solche Abholung vorzunehmen", erklärte sie, während sie durch einen schmalen Gang voranschritt.
Fynn hatte durchaus Mühe, bei dem Tempo mitzuhalten und gleichzeitig einen professionellen Eindruck zu machen. Er hatte sich heute schließlich schon genug blamiert.
"Manchmal ergeben sich unerwartete Formalitäten und wir können es uns ja nicht leisten, das Material an jeden herauszugeben. Das ist nichts Persönliches."
"Natürlich nicht." In dieser Gesellschaft wagte es Fynn nicht einmal, sich seinen Teil dazu zu denken.
Sie passierten einige kleine Vorräume, welche bereits einen Vorgeschmack vermittelten, was den Besucher weiter hinten erwarten musste: Sorgsam aufgereiht standen unzählige Bücher in hohen Regalen, manche davon klein und schlank, andere lehnten sich wie altersschwache Zauberer aneinander oder waren so abgegriffen, dass man schon beinahe durch den Buchrücken hindurch sehen konnte. Es war keine allzu weit bekannte Tatsache, aber die überwaldische Botschaft verfügte über eine nicht unerhebliche, wenn auch recht spezialisierte, Sammlung an Literatur, natürlich vornehmlich in der Landessprache. Und man war recht kleinlich, was den Verleih der Werke anging. Das hatte zumindest Mina gemeint, mit dem Hinweis, er solle trotzdem versuchen so viel zu bekommen, wie irgend möglich. Doch als sie schließlich vom Hauptgang in ein Nebenzimmer abbogen, gingen dem Gefreiten beinahe die Augen über: Ein wahrer Bücherberg türmte sich auf dem Tisch in der Mitte; sorgsam aufeinander gestapelt vermittelte er dennoch eine gewisse Bedrohlichkeit. Denn wie um alles in der Welt, fragte sich Fynn, sollte er all diese Schwarten zum Wachhaus zurückbringen, von denen manche zwei Hand breit waren? Man musste ihm seine Besorgnis wohl angesehen haben, denn die Bibliothekarin seufzte und griff nach einem kleinen Stapel daneben, etwa drei oder vier Bücher.
"Das ist alles, was ich Ihnen direkt mitgeben kann, bei der restlichen Literatur handelt es sich um Archivmaterial, welches wir eine Woche hier vorhalten werden." Da sich der Wächter immer noch nicht rührte drückte sie ihm die Werke umstandslos in die Hand. "Was aber keineswegs ein Freibrief ist, sorglos mit diesen Exemplaren umzugehen. Ich möchte deutlich darauf hinweisen, dass wir sie in ihrem jetzigen Zustand zurückwünschen." Die Vampirin hob kurz die Mundwinkel, eine Bewegung, die nicht als Lächeln durchgehen konnte, indessen aber eine Andeutung von Eckzahn erahnen ließ. Ein Anblick, der Fynn dazu veranlasste, sich zusammenreißen. Er betrachtet kurz die Titel der Bücher, welche man ihm gereicht hatte. Er konnte keinen einzigen davon lesen. Natürlich war er froh und erleichtert, sich nun doch nicht mit dem Transport einer schieren Karrenladung Literatur befassen zu müssen, aber diese Ausbeute war dann vielleicht doch ein wenig mager.
"Und es besteht wirklich keine Möglichkeit, noch ein oder zwei weitere..."
Er ließ den Satz unbeendet im Raum stehen... und da stand er denn auch eine Weile... das Schweigen dehnte sich aus... Die Bibliothekarin sah ihn lange und sehr eindrücklich an und als sie sich dann doch zu einer Antwort herabließ, schien es im Raum merklich kälter geworden zu sein.
"Nein. Da wird sich", sie warf einen Blick auf ihr Formular, "das Fräulein von Nachtschatten selbst hierher begeben müssen. Ich werde Sie nun zum Ausgang begleiten."
Glücklich wieder draußen im Sonnenlicht angekommen stellte Fynn fest, dass er die Bücher nahezu krampfhaft vor seiner Brust umklammert hielt, wie einen Schutzschild vor dem Feind. Er atmete tief durch. Vielleicht sollte er sich das nächste Mal ein wenig mehr Zeit zum nachdenken lassen, bevor er vorschnell die Zusage zu solch einer Erledigung gab.

~~~ oOo ~~~


Auch an andere Stelle hatte jemand Sorgen mit Papier, wenn auch in einer vollkommen anderen Art und Weise: Laiza drehte schon seit einigen Minuten den immer gleichen Zettel gedankenverloren zwischen den Fingern hin und her, faltete das Papier, strich es wieder glatt, um dann noch einmal die knapp gehaltene Nachricht darauf zu lesen. Sie gefiel ihr deswegen nicht besser. Im Gegenteil, das Gefühl der Hilflosigkeit verstärkte sich nur noch mehr, gleichzeitig mit der Erkenntnis, dass sie die Zeilen nicht dadurch würde löschen können, indem sie sie einfach ignorierte. Immerhin kam das Schreiben von höchster Stelle in der Wache. Nein, nicht zu reagieren war keine Option, besonders wenn man bedachte, worum es eigentlich ging...
Die Okkultismusexpertin hatte schon von der seltsamen Problematik gehört, welche sich um Ophelia Ziegenberger drehte und es hatte vor allem ihr Mitleid mit der Kollegin geweckt. Sie hatten schon so einen nicht ungefährlichen Tschob, wie grausam musste es dann erst sein, sich im aller Privatesten, im eigenen Selbst, nicht mehr sicher fühlen zu können? Und jetzt auch noch eingesperrt zu sein! Der Feldwebel musste sich ja vollkommen isoliert vorkommen. Laiza war sich nicht sicher, wie sie selbst in solch einer Situation reagieren würde. Dennoch, und auch wenn sie Verständnis dafür aufbrachte, dass der Kommandeur das Problem schnell aus der Welt schaffen wollte, beschlich sie zunehmend ein leichter Groll. Wusste Breguyar überhaupt, was er da eigentlich von ihr verlangte? Denn kurz zusammengefasst und heruntergebrochen auf das, was zwischen den offiziell klingenden Zeilen stand, bedeutete diese Anordnung nichts weiter als: Versuch es mit was immer du auf Lager hast! Als ob es so ein Leichtes wäre, Okkultismus gezielt auf eine Kollegin anzuwenden! Das war nichts, was sich per Knopfdruck mal eben an- und wieder abschalten ließ. Schon allein der Gedanke, was nicht alles schief gehen konnte... Laiza schauderte. Am Ende würde sie die Sache vielleicht nur noch verschlimmern! Es ging hier schließlich nicht um irgendeine Therapie, die man einfach so abbrach, sollte sich kein Erfolg zeigen. Jede Art von Magie hinterließ Spuren.
Die stellvertretende Abteilungsleiterin von SUSI schnippte den Zettel resigniert von sich. Einen Moment noch hing er an der Tischkante, dann segelte er langsam zu Boden und aus Laizas Blickfeld. Sicher, wenn sie darüber nachdachte, würden ihr gewiss einige Ansatzpunkte zur Herangehensweise an eine solche Problematik in den Sinn kommen, welche es sich zu prüfen lohnte. Wahrscheinlich musste sie die Sache einfach so betrachten, als wäre dies ein anonymer - vielleicht sogar nur theoretischer - Fall. Denn Hemmungen würde sie noch genug haben, wenn es dann zur Sache ging. Laiza schüttelte energisch den Kopf, wie um den Gedanken daraus zu vertreiben. Zumindest heute würde sie nichts mehr entscheiden; wenigstens eine Nacht darüber zu schlafen erschien ihr nicht nur angemessen und notwendig - am nächsten Tag eine zweite Sichtweise einzuholen wäre gewiss ebenso hilfreich. Wenn sie nicht schon selbst vom Kommandeur hinzugezogen worden war, so würde beispielsweise Rea ihre Hilfe bestimmt nicht verweigern, ja, konnte ihre Gedanken durch eigene Ideen vielleicht auch in ruhigere Bahnen lenken. Nicht mehr allein mit den eigenen Gewissensbissen zu sein wäre schon ein Anfang... wo auch immer dieser dann hinführen mochte. Eines stand für Laiza allerdings jetzt schon fest: Sie würde nichts unternehmen, bevor sie es nicht mit Ophelia selbst besprochen hatte.

~~~ oOo ~~~


"Wie siehst du denn aus?"
"Ich schätze, du wirst es mir ohnehin gleich verraten."
Gloria Eurydike von Nachtschatten nippte demonstrativ langsam an ihrem Weinglas, welches mit einiger Sicherheit keinen solchen enthielt.
"Haben wir schlechte Laune?", wollte sie dann mit Unschuldsmiene wissen - sofern man den Gesichtsausdruck dieser Frau überhaupt jemals als unschuldig bezeichnen konnte.
Mina entschloss sich, dass keine Antwort in diesem Fall wahrscheinlich die beste Variante war, um den diesbezüglichen Wortwechsel mit ihrer Großmutter nicht noch weiter zu vertiefen. Manchmal funktionierte das...
"Aber wie ich sehe, ließ der Tag für dich auch zu wünschen übrig. Nicht, dass mich das in irgendeiner Weise erstaunen würde."
Gut, "manchmal" hatte eben nicht unbedingt die beste Trefferquote.
Das leicht ziehende Gefühl in den Schläfen war ihr mittlerweile leidlich vertraut und nach mehreren erfolglosen Bemühungen zu Anfang hatte Mina es aufgegeben, sich in irgendeiner Art von Gegenwehr zu versuchen.
"Gloria, bitte! Andere Leute begnügen sich damit, einfach zu fragen."
"Wobei es sich keinesfalls derart verhält, dass du mir auf alles auch eine Auskunft geben würdest."
"Ja, und das meistens aus gutem Grund."
Gloria wischte das Argument mit einer unwirschen Geste beiseite.
"Ich bin ja immer noch der Meinung, dass diese Art von Arbeit dir weder bekommt noch für Leute unseres Standes als angemessen zu bezeichnen ist", fuhr sie unbeirrt fort, "Die Wache, Himmel, mir will immer noch nicht in den Sinn, was dich zu dieser Extravaganz getrieben hat."
Es war eines der Lieblingsthemen ihrer Großmutter, seit sie vor einiger Zeit ohne Erklärung in der Stadt aufgetaucht war und sich in der Bleibe ihrer Enkelin häuslich niedergelassen hatte. Ein Arrangement, welches man nicht gerade als harmonisch bezeichnen konnte. Mina schnaubte. Hätte es einen Meistertitel für Nörgelei gegeben, ihre Großmutter wäre eine durchaus ernstzunehmende Anwärterin darauf gewesen. Daneben schien es ihr regelrecht Spaß zu machen, sich ungefragt die passenden Erinnerungsfetzen aus den Gedanken ihrer Enkelin herauszupicken, um diese dann gegen sie zu verwenden oder sich darüber in nicht enden wollendem Lamentieren zu ergehen - einer der Gründe, warum Dinge wie Dienstschluss und Feierabend für Mina momentan rapide an Reiz verloren. Gloria langweilte sich, natürlich. Aber wessen Problem war das doch gleich?
Wenn es nach ihr geht allein das meine, ging es der verdeckten Ermittlerin durch den Sinn, Also habe ich auch gefälligst Abhilfe zu schaffen. Es hat überhaupt keinen Sinn ihr zu sagen, sie solle nicht nach Lust und Laune in meinem Kopf herumwühlen, sie tut es trotzdem, und wenn lediglich zu ihrer eigenen Belustigung. Wenn sie es nur dabei belässt...
"Deine Indignation ist weder angebracht, noch steht sie dir sonderlich gut zu Gesicht", unterbrach die alte Vampirin ihren Gedankengang. Natürlich war ihr das Schnauben nicht entgangen und bot somit einen willkommenen Anlass zu einer weiteren spitzen Bemerkung. "Du wirst mir schon gestatten müssen, meine Meinung zu diesen Dingen kundzutun."
Warum sie den gegenwärtigen wohnungsbezogenen Zustand eigentlich beibehielt, wusste Mina selbst nicht so genau, zumal es Gloria nicht an den finanziellen Mitteln mangelte, sich in dieser Hinsicht selbstständig zu machen und sich damit obendrein auch noch zu verbessern. Die kleine Dachgeschosswohnung in der Quirmstraße war nicht eben ein Palast... und es lag damit in der Natur der Sache, dass man sich nur schlecht aus dem Weg gehen konnte.
"Ich lege bezüglich dieses Themas immer noch keinen Wert auf deine Ansichten, Gloria", meinte sie nun laut.
Die Ältere rümpfte die Nase.
"Na, wenn du meinst!", seufzte sie theatralisch. "Aber vielleicht solltest du dir doch einmal überlegen..."
"Nein."
"Bitte, dann nicht."
Mina verkniff sich einen Seufzer im letzten Moment. Der Abend ging ja schon gut los - und dabei war sie noch nicht einmal ganz zur Tür herein.
Die verdeckte Ermittlerin ließ ihren Schlüsselbund in das Schälchen auf dem kleinen Beistelltisch neben der Eingangstür gleiten. Es klimperte... ungewohnt laut. Sie schaute genau hin und entdeckte unter den eigenen zwei weitere, größere Schlüssel, deren Verwendungszweck sie nicht zuordnen konnte.
"Was ist das?", fragte sie und hielt einen der beiden zwischen zwei Fingern in die Höhe.
Gloria winkte ab.
"Oh, das ist nur der Kellerschlüssel. Igor hat sich mit Frau Schrapnell geeinigt, im Gegenzug für deren Instandsetzung die Räumlichkeiten im Untergeschoss frei nutzen zu dürfen. Und bevor du hysterisch wirst - ich war daran in keiner Weise beteiligt."
Beinahe synchron wanderten ihre Blicke zu der großen Truhe an der linken Wand. Hätte die Vermieterin genauere Kenntnis von den damit im Zusammenhang stehenden Ereignissen gehabt, es wären wohl nicht nur die Kellerräume gewesen, welche verschlossen geblieben wären. [1]
"Ja, einmal Hysterie reicht wohl." Mina nickte langsam, verbot sich an den Vorfall zurückzudenken und wandte sich stattdessen einem Regal auf der anderen Seite zu, in welches sie begann, einige Utensilien aus ihrer Tasche zu verstauen.
Seit Glorias Igor wieder auf den Beinen war hatte sie die vage Hoffnung, dass es tatsächlich bei dem einen Zwischenfall bleiben würde. So war immerhin die meiste Zeit über jemand da, der ein Auge auf die sehr konservativ eingestellte Vampirin haben konnte, wenn es Mina selbst pflichtbedingt nicht möglich war. Vielleicht trug das Vergangene aber auch dazu bei, dass die verdeckte Ermittlerin gern wusste, wo Gloria sich die meiste Zeit über aufhielt und wenn sie das nur durch die momentane Wohnsituation sicherstellen konnte...
"Wo ist er eigentlich?", fragte sie aus dem Gedankengang heraus.
"Von wem sprichst du?"
"Igor."
"Er macht einige Besorgungen für mich." Ein Fingernagel klopfte leicht gegen Glas und das leise Pling machte sehr deutlich, worauf die Andere anspielte.
Das war in der Tat der zweite große Vorteil, den Diener ihrer Großmutter im Haus zu haben: Nun war er es, der sich um die erforderlichen... Viktualien für Gloria kümmern konnte. Mina war nicht unglücklich darüber, dieser Aufgabe ledig zu sein.
"Aber bevor er zurückkehrt, und ich denke, dass dies bald der Fall sein dürfte, gibt es noch ein Thema, über welches ich gern unter vier Augen mit dir gesprochen hätte."
Ihr Tonfall machte nicht den Eindruck einer der üblichen Tiraden, was Mina darin bestärkte, nicht nur stillschweigend dem Kommenden zu harren. Man konnte ja immerhin versuchen, normal miteinander auszukommen, auch wenn die Realität immer wieder das Gegenteil bewies.
"Ja?"
Gloria schwieg noch einen Moment, schien ihre Worte mit Bedacht zu wählen, was bei ihr nun wahrlich nicht häufig der Fall war. Dann:
"Was ist das eigentlich für eine Geschichte mit dieser Frau?"
"Welche Frau?"
"Diejenige mit dieser eigentümlichen... lass es mich einmal "Befähigung" nennen. An und für sich sollte ein Mensch dazu nicht in der Lage sein, meinst du nicht auch?"
Mina erstarrte mitten in der Bewegung. Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Gloria beim Durchstöbern ihrer Gedanken auf das Thema Ophelia stieß - so offenkundig aktuell gehörte es wirklich nicht zu den gut verborgenen Dingen in irgendeinem entlegenen Winkel des Bewusstseins. Doch war es das erste Mal, dass jemand von außerhalb der Wache es so unumwunden in ihrer Gegenwart ansprach.
Ihre Großmutter spürte ihr Unbehagen und fuhr fort:
"Keine Sorge, ich habe daran kein tiefer gehendes Interesse, es ist mir schlicht aufgefallen und auch in meinem Alter ist die Neugier durchaus kein seltenes Phänomen."
Daran war weiter nichts auszusetzen; es gab nur einen Punkt, welcher Mina an der Erklärung störte.
"Wenn du schon soweit darüber im Bilde bist würde ich annehmen, du weißt auch über den Rest gut Bescheid." Sie wandte sich zu ihrer Großmutter um. "Warum fragst du noch?"
Gloria sah sie vorwurfsvoll an.
"Ich versuche hier lediglich ein wenig Kommunikation zu betreiben, da es dich ja offensichtlich so sehr stört, wenn ich alles auf meine Art vorwegnehme. Wenn dies nun auch der falsche Weg sein sollte weiß ich nicht, was du eigentlich von mir verlangst." Sie nahm den letzten Schluck aus ihrem Glas, setzte es akzentuiert auf dem nebenstehenden Tisch ab und unterbrach dadurch absichtlich den Blickkontakt. Eine Geste, welche eine eindeutige Sprache sprach - es steckte mehr dahinter, als Gloria im ersten Moment zugeben wollte. Allerdings war es auch diesmal nicht nötig für Mina, den Gedanken laut auszusprechen.
"Also schön, dann vermeide ich weitere unnötige Phrasen und komme direkt auf den eigentlichen Kern zu sprechen." Die Stimme der alten Vampirin hatte einen harschen Ton angenommen - sie fühlte sich ertappt, ganz offensichtlich. "Das Fräulein hat offensichtlich keinerlei Kontrolle über das, was sie der Welt mitteilt, also würde ich es sehr begrüßen, wenn du mich ihr gegenüber nicht erwähnen würdest."
Sie hatte viel erwartet, etwa ein weiteres Lamento über ihren unmöglichen Umgang im Allgemeinen und Speziellen, aber das? Mina hob skeptisch die Augenbrauen.
"Warum?"
Gloria ließ sich Zeit mit der Antwort. Sinnierend betrachtete sie die Spiegelung einer Kerzenflamme an ihrem Glas, dann wandte sie ihrer Enkelin in gemessenem Tempo wieder den Kopf zu. Der angespannte Zug um den Kiefer war vorher allerdings nicht da gewesen.
"Es gibt Personen, welche nicht unbedingt von meinem Aufenthalt hier erfahren sollten. Auch wenn die falschen Ohren selten die ersten sind, die etwas zu hören bekommen, so lässt sich die Möglichkeit nicht von der Hand weisen, dass es bis an eben diese dringen könnte. Eigentlich ist mir vollkommen gleichgültig, was ihr in diesem Zusammenschluss seltsamer Individuen mit dubiosen Befugnissen so treibt und ob das Fräulein... Ziegenberger heil aus der Sache hinauskommt oder nicht. Nur über mich wird währenddessen kein Wort fallen."
Mina ließ sich das einen Moment durch den Kopf gehen. Eine seltsame Bitte. Aber im Grunde unschwer zu erfüllen.
"Da ich mir nicht vorstellen kann, wie es weiterhelfen könnte, wüsste ich nicht, warum ich sie mit dir schockieren sollte", erwiderte sie daher.
"Dann wäre ja alles geklärt."
Bildete sie sich das nur ein oder haftete diesen Worten tatsächlich ein Hauch Erleichterung an?
"Würdest du zumindest mir erklären, warum..."
"Nein."
"Tja. Dann wäre das tatsächlich geklärt."
"In der Tat." Gloria nickte gravitätisch, dann erhob sie sich und warf ihrer Enkelin einen lauernden Blick zu. "Und Mina? Sie ist nur ein Mensch. Du solltest dich also hin und wieder selbst an die Relationen erinnern. Dieser ganze Aufwand..."
"Das ist ganz allein meine Angelegenheit."
"Ganz wie du willst. Aber da wir von Angelegenheiten sprechen..." Glorias Tonfall schlug um und sie war wieder ganz die Alte. "Ich muss dich doch noch einmal dringend ersuchen, über eine Veränderung dessen hier nachzudenken." Die zwei, drei kleinen Kreise, welche ihre Hände nun beschrieben, schlossen den ganzen Raum mit ein. "Ich denke wirklich, ein paar vernünftige Särge wären schlichtweg angebracht..."


OPHELIA ZIEGENBERGER

Braggasch saß ungewöhnlich still in seinem Büro, vor sich eine Reihe wunderlich anzusehender Konstrukte, als Ergebnis seiner gestrigen Bemühungen. Mit viel Vorstellungsvermögen konnten die Geräte als Helme durchgehen. Als Helme mit außergewöhnlich viel Zierrat. Wenn dieser auch nichts Zierendes an sich hatte.
Er knetete nervös die Hände und biss sich auf die Unterlippe.
Ich… ich könnte ihr den ersten auch persönlich rüberbringen. Mit ihr reden. Es sind ja nur ein paar Schritte…
Seine innere Stimme jedoch erhob Einspruch - und dabei handelte es sich nicht einmal um den lästigen 'Mitbewohner', sondern um seinen ureigensten Überlebensinstinkt.
Und damit die einzige Sicherheitsmaßnahme selber unterwandern, die dir noch vor ihr bleibt? Keinesfalls! Höflichkeit hin oder her aber vor einigen Tagen hast du sogar noch mit dem Kommandeur darum gehandelt, irgendeine Art magischen Schutz oder andere vertraglich geregelte Zusicherungen zu erhalten, um ihr nicht zu nahe kommen zu müssen und jetzt? So freundlich sie auch immer zu dir war… du weißt ganz genau, wie schnell so eine Kopfsache danebengehen kann. Wo sie nicht mal Kontrolle darüber hat! Der Kommandeur kann viel erzählen aber wenn es ungefährlich wäre, sich in ihrer Nähe aufzuhalten, dann bräuchte er nicht in dem Maße rücksichtslos alle Register ziehen, wie er es tut! Nein, mir kann er nichts vormachen! Als wenn es unbemerkt bleiben würde, dass er selber sie meidet wie die Pest. Aber unsereiner soll sich ohne Fragen und ohne Schutz in die Sache stürzen!
Andererseits war Ophelia wirklich immer ausgesucht freundlich zu ihm gewesen. Er mochte sie. Er hatte die Gespräche mit ihr geschätzt und es tat ihm wirklich leid, sie so ausgegrenzt zu wissen. Das konnte nicht leicht sein für sie. Auch wenn sie immer so gefasst schien, er hatte gerade nach Rogis Tod oft beobachtet, wie sehr ihr dieser zu Herzen gegangen war. Sie versuchte immer alles nur mit sich auszumachen. Und um die vorliegende Situation in ihrer Tragik zu krönen, brauchte er nur darüber nachdenken, was Breguyar ihm sichtlich widerwillig in ihrer beider Diskussion eingestanden hatte.
"Wenn sie das absichtlich täte, dann würde ich sie nicht im Wachhaus wohnen lassen, sondern hätte sie schon längst an den Palast weitergegeben. Es ist einfach unsere verdammte Pflicht, zu sehen, ob irgendwas in unseren Möglichkeiten liegt, um das wieder geradezubiegen. Was auch immer es ausgelöst hat... es hat sie im Dienst erwischt. Ich werde mich nicht davor drücken, die Verantwortung für einen Wächter in meiner Obhut zu tragen. Genauso wenig wie du dich davor drücken wirst, einer Kollegin beizustehen, insofern es in deiner Macht liegt. Oder muss ich deutlicher werden?"
Der Zwerg fühlte einen Anflug von Scham bei dem Gedanken daran, dass es trotz der schwerwiegenden Argumente eines direkten Befehls des Kommandeurs bedurft hatte, sich auf dieses Thema einzulassen. Und die Vorstellung von Ophelias gewiss sehr enttäuschter Reaktion darüber, dass er sie in Anbetracht der Umstände nun ebenfalls nicht mehr sprechen wollte, machte das nicht besser. Er versuchte sich einzureden, dass sie dafür Verständnis aufbringen würde. Sie war für ihn von jeher ein Sinnbild freundlicher Zurückhaltung und geduldiger Aufmerksamkeit gewesen. Sie hatte für so Vieles Verständnis!
Was deine abweisende Haltung ihr gegenüber in solch einer Krisensituation nur noch verwerflicher macht!
Braggasch riss seine Hände in die Höhe und rieb sich mit einem abgrundtiefen Stöhnen frustriert über das Gesicht.
An der Tür zu seinem Büro klopfte es und schon trat der Abteilungskollege ein, auf den er gewartet hatte.
"Wie vereinbart..."
Valdimier van Varwald wirkte ebenso unglücklich über das anstehende Tagewerk, wie er sich fühlte. Im Gegensatz zu ihm aber wusste der Vampir genau um Ophelias Problem und dessen wahrscheinliche Grenzen, schließlich hatte er in deren Nähe offenbar keine Chance, dem gedanklichen Einfluss der Ermittlerin zu entgehen. Was für den Zwerg eine namenlose Furcht war, war für den Vampir längst lästige Gewissheit. Braggasch beneidete ihn nicht.
"Ja… ähm… dann sollten wir, also…"
Valdimier legte in einer beinahe resignierenden Geste den Kopf in den Nacken und atmete aus.
"Sie möchte es schnell hinter sich bringen. Und da bin ich einer Meinung mit ihr. Bist du also soweit?"
"Äh… ich… das ist der erste Helm, ähm, hier... aus der Versuchsreihe. Eine besondere Metalllegierung, das schon. Aber... äh, normal geschmiedet. Erst mal. Du kannst ihn zu ihr bringen, sie setzt ihn auf, du wartest ab, ob es etwas bringt und dann bringst du ihn mir wieder zurück und erstattest Bericht, ja? Ich wollte eigentlich noch einen Raum Sicherheitsabstand zwischen hier und dort, ähm, haben… naja…"
Der Vampir zog spöttisch eine Braue in die Höhe.
"Du hast Angst vor ihr?"
Braggasch spürte, wie sein Gesicht heiß und seine Hände kalt wurden. Er stotterte unbeholfen zur Antwort und schämte sich abgrundtief.
"Du… äh, es ist ja nicht so, als wenn… jedenfalls… vor allem, äh…"
Valdimier wischte seinen Einwand ironisch beiseite.
"Sie kommt mit ihren Gedanken inzwischen an manchen Tagen bis beinahe ans Opernhaus heran. Ein Raum Abstand ist nichts! Wenn du bisher keinen gedanklichen Kontakt zu ihr gespürt hast, bist du wohl kaum gefährdet. Vergiss es einfach und sei dankbar!"
Der Vampir zuckte kurz zusammen und er murmelte mit leicht geschlossenen Augen:
"Tut mir leid! Es war nicht… bitte! Entschuldige dich nicht immerzu dafür, dass…" Er seufzte vernehmlich. Dann öffnete er wieder die Augen und streckte ihm auffordernd die Hand entgegen.
"Wir fangen besser an!"
Der Erfinderzwerg nickte bedauernd und überreichte den ersten Metallhelm einer ganzen Serie, die er in Eigenentwurf gebastelt hatte. Er sah dem Kollegen hinterher.
Irgendwie glaube ich nicht daran, dass es funktionieren wird. Es wäre zu einfach…


MINA VON NACHTSCHATTEN

Klack... klack... klack...
'Lieber Archibald, mit großer Freude habe ich deine letzte Nachricht gelesen und kann dir nunmehr die ebenso erfreuliche Antwort zukommen lassen, dass alles vorbereitet ist.'
Klack... Klack-klack... Klack...
'Wir werden also das Eintreffen deiner Kutsche in einer Woche erwarten, so wir nichts Gegenteiliges von dir hören. Außerdem...'
Klack... Klack...
'...hoffe ich sehr, dass du diesmal nicht vergessen wirst mitzubringen, worum ich dich schon mehrfach gebeten habe. Mit den besten Grüßen. B.'

Ophelia legte den Stift beiseite und strich mit der Hand ihres gesunden Armes das soeben beschriebene Blatt Papier glatt. Die Nachricht war unspektakulär, aber das waren die meisten, zumindest jene, welche sie bis zum Ende notierte. Schließlich gebot es der Anstand, diese Art des Lauschens einzustellen, sollte der Inhalt zu persönlich oder prekär werden.
Die Klappen des nächstgelegenen Klackerturms schwiegen nun, womit die Wächterin nichts mehr hatte, worauf sie für den Moment ihre Aufmerksamkeit richten konnte. Automatisch wanderte ihr Blick in eine andere Richtung, bis die Türme des Palastes in Sicht kamen und ein Seufzer entrang sich ihrer Kehle. Wo Rach nur so lange blieb? Er brauchte heute Abend wirklich ungewöhnlich lange...
Im schwindenden Licht des Tages hier heraufzukommen und sehnsuchtsvoll in eben jene Richtung zu schauen, aus der sie eine ganz bestimmte Person erwartete, war Ophelias ursprüngliche Intention gewesen, warum sie dem Dach des Wachhauses seit einer geraumen Weile regelmäßige Besuche abstattete. Das konnte ihr nun wirklich niemand verbieten, schließlich verlies sie zu diesem Zwecke nicht das Gebäude - zumindest nicht in herkömmlicher Hinsicht. Irgendwann hatte man einfach das Gefühl, dass die Wände, welche einen den ganzen Tag über umgaben, immer näher rückten und einen zu erdrücken drohten, gerade zu späterer Stunde, wenn das Haus sich leerte und die Ablenkungen rar wurden. Dann halfen nur noch diese kurzen Fluchten an die frische Luft. Unter einen weiten Himmel, weg von dem unmittelbaren Gefühl, eingesperrt zu sein. Es war eine der ganz wenigen Möglichkeiten die ihr noch blieben und verbunden mit einem kurzen Gefühl des Trotzes versicherte die Wächterin sich immer und immer wieder selbst, dass sie an dieser unerbittlich festhalten würde.
Wann das mit den Klackernachrichten angefangen hatte wusste sie selbst nicht mehr so genau; wahrscheinlich an dem Tag, an welchem ihr selbst hier oben das Warten zu lang geworden war. Der Turm der Wache verfügte über eine gute Sicht und so war es möglich, die weitergeleiteten Mitteilungen über die nächstgelegenen Klacker auch von hier zu decodieren. Das anfängliche, leichte Unbehagen - ähnlich dem, welches den Leser fremder Briefe überkommen musste - war schnell verflogen, konnte sie doch keinerlei Zusammenhänge herstellen, wählte die Nachrichten willkürlich aus und vernichtete hinterher sorgfältig die Mitschriften. Ophelia fand, dass das diesen Zeitvertreib harmlos genug machte, um ihn statthaft erscheinen zu lassen. Sobald eine in irgendeiner Form dienstliche Mitteilung am Klacker der Wache selbst eintreffen sollte würde sie die Finger davon lassen, so einfach war das. Und es hatte etwas Faszinierendes, hinauszuschauen und stiller Zeuge zu werden, was sich vollkommen fremde Menschen so frei über die Luft mitteilten; gleichsam ihre fliegenden Gedanken einzufangen und für einen Moment daran teilzuhaben. Menschen, die entscheiden konnten, was und wem sie sich mitteilten... Wie immer an dieser Stelle durchzuckte Ophelia ein Stich Traurigkeit, doch sie schob den Gedanken energisch beiseite. Sie wollte sich diese Aufenthalte hier oben nicht auch noch verleiden lassen, indem sie sich immer wieder den einen unausweichlichen Umstand ins Gedächtnis rief. Schnell ließ sie erneut den Blick schweifen, auf der Suche nach Ablenkung diesmal zu den Türmen in weiterer Ferne. Das sich bietende Bild war am heutigen Abend wirklich fantastisch und die blinkenden Lichter vor dem wolkenlosen, tiefroten Himmel hatten etwas unbestreitbar Romantisches. Nun zumindest was das "wolkenlos" betraf, war es bis eben noch so gewesen: Ein Stück entfernt zeigte sich ein kleines dunkles Exemplar, welches eilig vorüberzog... ein wenig zu eilig vielleicht... Ophelia kniff die Augen zusammen, um das Objekt besser erkennen zu können. Für ein Wetterphänomen bewegte es sich eindeutig zu schnell und auch bestimmte Unregelmäßigkeiten in der Form ließen die Zweifel Gewissheit werden. Zumal das Ding in diesem Moment auch noch die Richtung wechselte und damit genau auf das Wachhaus zuhielt. Ein Vogelschwarm? Der Feldwebel folgte ihm mit den Augen, durch die nun beschriebene weite Kurve und den daran anschließenden Sinkflug. Gleich mussten die Tiere neben dem Klackerturm des Pseudopolisplatzes vorbeiziehen. Ophelia ertappte sich dabei, wie sie sie beneidete. Wie es wohl wäre, einfach davonfliegen zu können?
Dann war der Schwarm direkt vor ihr und in der gleichen Sekunde, in der die Wächterin realisierte, dass das keine Vögel waren, stoppte das erste Exemplar derart abrupt, als wäre es gegen eine unsichtbare Wand geflogen. Es gab einen überraschten Laut von sich und brach zur Seite aus, ein Manöver, welches nicht allen nachfolgenden Flattertieren gelang: Ein paar der hinteren prallten auf die davor fliegenden, andere gerieten ins Trudeln, stießen beinahe gegen Mauern oder stoben scheinbar orientierungslos in alle Richtungen auseinander und über all dem Chaos erklang plötzlich eine Stimme in Ophelias Kopf, deutlich zwar, aber dennoch ziemlich verwirrt:
"Wer verdammt noch mal... die Kleine da? Aber das kann doch nicht..."
Blitzende Augen richteten sich auf die Wächterin, ein wütendes Fauchen kam aus mehreren spitz-bezahnten Mäulern und was vorher noch nach Irritation geklungen hatte, wandelte sich nun eindeutig in Wut.
"Sag mal hast du sie noch alle? Was bildest du dir ein? Raus aus meinem Kopf!"
Ein Frösteln überlief Ophelia und gleich darauf schrie sie überrascht auf, als eine der Fledermäuse sich kurz in ihren Haaren verhedderte und in ihrem Versuch loszukommen nicht gerade rücksichtsvoll vorging.
"Es tut mir leid, ich kann nichts dafür, ich tue das nicht mit Absicht!", dachte sie beinahe reflexartig zurück, bevor sie sich dessen überhaupt bewusst war.
"Nicht mit Absicht? Wie kann das aus Versehen passieren?"
Zugleich mit den Worten erreichte die Wächterin ein Strom an Informationen, unzusammenhängende Fragmente, Erinnerungsfetzen... und ein paar Dinge, die eindeutig nicht zur Kenntnis eines Gesetzeshüters bestimmt waren.
"Ich muss den Austausch in die andere Richtung verhindern, ich muss einfach!" Es war ein verzweifelter Wunsch und Ophelia bedurfte nicht erst einer Bestätigung um zu wissen, dass es bereits zu spät war.
"Stell das sofort ab! Du bist ja nicht mehr... nicht mehr ganz DICHT!"
Der Schwarm hatte sich mittlerweile wieder notdürftig formiert und drehte nun hastig ab, auch wenn sich die einzelnen Tiere noch immer nicht auf eine einzige gemeinsame Richtung einigen konnten. Mit deutlicher Schräglage und mehr wabernde Masse denn geordnetes Kollektiv verschwand er zwischen den Häusern auf der anderen Seite des Platzes.
"Nichts wie weg hier! Verfluchte Schnüffler!", war das Letzte, was Ophelia noch wahrnahm, bevor die Verbindung abbrach.
Zitternd und schwer atmend stand sie auf dem Dach, versuchte ihren rasenden Puls zu beruhigen und gleichzeitig ihre Fassung wiederzugewinnen. Was war nun zu tun? Musste sie das melden? Angesichts des soeben Erfahrenen vielleicht... aber nutzte das etwas, da sie keinen Namen zu den Fakten kannte? Würde es nicht unnötig Unruhe stiften? So oder so: Was waren die Konsequenzen aus dem Geschehenen? Halt suchend stützte sich Ophelia an der Wand des Turmes ab und versuchte krampfhaft, eine schreckliche Befürchtung niederzuringen: Denn im schlimmsten Fall hatte sie durch diesen Vorfall nun auch noch ihren letzten Rückzugsort verloren.

~~~ oOo ~~~


Der hochgewachsene Mann bahnte sich seine Weg durch die Menge; er ließ sich dabei weder von den gehetzt vorbeieilenden Passanten noch den lautstark auf sich aufmerksam machenden Bauchladenbesitzern beeindrucken, während er mit ruhiger Gelassenheit auf sein Ziel zusteuerte: Der bunt gekleidete Alte hatte Aufstellung auf der dem Ankh zugewandten Seite des Platzes bezogen, an dem Heldenstraße, Billigseite und Willkommensseife aufeinander trafen und der von den Anwohnern in Anwendung der typisch ankh-morporkischen Kreativität den Namen "Dreieckiger Platz" erhalten hatte. Ein für die Verhältnisse der Stadt noch vergleichsweise übersichtlicher Ort. Aber selbst wenn nicht die Möglichkeit bestanden hätte, ihn direkt im Auge zu behalten, so wäre der Herr kaum zu verfehlen gewesen: Aus dem kastenförmigen Instrument vor ihm drang eine quengelnde Abfolge von Tönen, die nur mit viel gutem Willen als Melodie zu bezeichnen war, und mischte sich als weitere, wenn auch besonders penetrante Schicht unter den Lärm in den Straßen. Der Mann selbst drehte dabei unablässig an einer Kurbel und hatte das starre Lächeln von jemandem aufgesetzt, der sich der verzweifelten Natur seines Tuns nur zu bewusst war. Das änderte sich auch nicht sofort, als er schließlich von dem Anderen angesprochen wurde, doch schon nach wenigen Worten bekam die Maske erste Risse und sichtbare Nervosität ersetzte die krampfhafte Fröhlichkeit.
Nur ein kleines Stück entfernt hatte die Szene eine aufmerksame Beobachterin. Und sie war nicht unbedingt zufrieden mit dem was sie sah. Sie rührte bedächtig in einer Tasse Tee, setzte diese dann an die Lippen und nahm einen kleinen Schluck, dabei keine Sekunde das Geschehen aus den Augen lassend.
"Nicht schon wieder", murmelte sie in die dampfende Flüssigkeit.
Mina hatte in den letzten Tagen schnell festgestellt, dass sich die ehemalige Spezialisierung ihres Auszubildenden als durchaus hilfreich erwies: Ettark hatte eine Menge Erfahrung im Knüpfen von Kontakten in halbseidenen Kreisen und darin, wie man mit solchen umzugehen hatte. Er war die Arbeit mit toten Briefkästen gewohnt, wusste sowohl um die Sensibilität eines solchen Systems als auch darum, dass an der eigenen Diskretion Leben hängen konnten. Nicht zuletzt konnte er auf ein weites Netz an Informanten zurückgreifen - ein nicht zu unterschätzender Vorteil in der zukünftigen Arbeit als verdeckter Ermittler. Allerdings gab es auch... Haken. Einer davon präsentierte sich der Vampirin in eben diesem Moment und es war kein neues Problem. Sie hatten das doch erst heute morgen besprochen! Mina sah in das Gesicht des Drehorgelspielers, in welchem sich mittlerweile das blanke Entsetzen spiegelte, während er ihren Auszubildenden mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, wie das Kaninchen die Schlange. Interessanterweise drehte er dabei immer noch an der Kurbel, so als führte sein Arm unabhängig vom restlichen Körper ein professionelles Eigenleben. Tja, die Herangehensweise "drohend-aggressiv" funktionierte nunmal nicht immer...
Am Tisch neben ihr wurde ruckartig ein Stuhl zurückgezogen, Holz kratzte über Kopfsteinpflaster und ächzte dann leise, als sich jemand darauf niederließ. Noch bevor sich die Vampirin darüber wundern konnte, wann dort denn frei geworden war - bei ihrer Ankunft im Café hatte sie gerade noch so den letzten Platz im Außenbereich erwischt - riss sie eine Stimme aus ihrer stillen Betrachtung. Eine, die sie leider nur zu gut kannte.
"Von Nachtschatten."
"Herr Schrapnell." Sie zwang sich den Kopf zu drehen und ihm höflich zuzunicken, bevor sie wieder in ihre Ausgangsposition zurückkehrte. "Ich fürchte, dies ist ein schlechter Zeitpunkt..."
"Keine Sorge, ich habe nicht vor, Sie lange in Anspruch zu nehmen. Nur sah ich Sie gerade zufällig hier sitzen und dachte mir, dass ich es zumindest meinen guten Manieren schulde, mich bemerkbar zu machen." Der ätzende Tonfall strafte den Inhalt seiner Worte Lügen, aber wenn er glaubte sie allein damit provozieren zu können, erwartete ihn eine Enttäuschung.
"Sehr aufmerksam." Sie stellte ihre Tasse ab. "Wie geht es Ihnen, Anastasius?"
"Oh, im Grunde gut, sehr gut sogar, ich bin nicht in der Position mich zu beschweren." Er verrückte seinen Stuhl auf Minas Höhe und lehnte sich dann soweit zurück, dass er unvermeidbar Teil ihres Blickfeldes wurde. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt betrachtete er sie einige Sekunden mit vollkommen emotionsloser Miene bevor er fortfuhr: "Ja, ich beginne langsam, mich an den Untot zu gewöhnen und ich bin seit nunmehr zwei Wochen vollkommen trocken. Meine Phobie habe ich auch ganz wunderbar im Griff - es ist schwer, vor Vampiren Angst zu haben, wenn man selbst einer ist. Vielleicht könnte ich in dieser Hinsicht sogar so etwas wie Dankbarkeit heucheln."
"Geben Sie sich keine Mühe."
"Nein, das habe ich auch nicht vor." Anastasius Schrapnell rümpfte kurz abwertend die Nase, dann griff er den vorherigen Gesprächsfaden wieder auf. "Apropos: Wie geht es denn der alten Hexe? Schon mal wieder jemanden zu den lebend Toten befördert?"
Mina presste die Lippen zusammen, sie brauchte keine explizite Erinnerung, um die Vorfälle von vor ein paar Wochen noch sehr lebhaft vor Augen zu haben: Nach dem unglücklichen Zusammentreffen ihrer Großmutter mit dem Sohn ihrer Vermieterin - die verdeckte Ermittlerin hielt sich immer noch hartnäckig an dem Gedanken an einen "Unfall" fest - der anfänglichen Totsagung und dann überraschenden Wiederauferstehung dessen, sowie der sich anschließenden haarsträubenden Suchaktion nach dem völlig überforderten Jungvampir hatte sie eigentlich gehofft, dass in die Angelegenheit etwas Ruhe einkehren würde. Zumal ihr Oskar Koskaja von der Liga der Enthaltsamkeit im Brustton der Überzeugung versichert hatte, er würde sich höchstpersönlich um die Sozialisierung des Neulings kümmern und ihn zu einem moralischen Mitglied der Vampirgesellschaft machen. Dass Oskar nicht unbedingt der belastbarste Angehörige eben jener war hatte sie dabei so gut es ging verdrängt.
Der Vampirin wurde bewusst, dass Anastasius immer noch auf eine Antwort wartete. Sie löste den bis jetzt stur geradeaus gerichteten Blick und wandte sich ihrem Gegenüber zu.
"Sie könnten mir auch einfach rundheraus sagen, was Sie eigentlich wollen, finden Sie nicht?"
Offensichtlich erfreut über ihre nun ungeteilte Aufmerksamkeit hoben sich seine Mundwinkel zu einem feinen Lächeln und er schnalzte anerkennend mit der Zunge.
"Also wenn ich etwas an Ihnen schätze, Mina, dann dass Sie so direkt sein können. Es gibt tatsächlich etwas, das mich interessieren würde." Der Vampir legte den Kopf schief. "Ich spiele in letzter Zeit wieder vermehrt mit dem Gedanken, doch einmal im Wachhaus vorbeizuschauen und mich mit einigen Leuten... zu unterhalten." Er ließ den Satz kurz im Raum stehen, wohl um eine Reaktion ihrerseits zu ermöglichen. "Gesetzt den Fall, ich wollte es wirklich - was könnten Sie wohl dagegen tun?"
Mina ließ sich einen Moment Zeit zum Nachdenken, obwohl die Antwort eigentlich klar auf der Hand lag. Es waren vielmehr die Konsequenzen, die hinter dieser kaum verhüllten Drohung lauerten, welche der Wächterin ein flaues Gefühl in der Magengegend bescherten.
"Die Wahrheit ist, dass ich rein gar nichts dagegen tun könnte, Anastasius, und ich glaube, das wissen Sie auch ganz genau", erwiderte sie dann langsam.
Er grinste boshaft.
"Die Welt kann manchmal so einfach sein, nicht? Aber wissen Sie was? Vielleicht warte ich tatsächlich noch eine Weile. Auf etwas wirklich Gutes, etwas, dass Ihnen zwangsläufig entgleiten muss, mit einem weit effektvolleren Ergebnis, als ich es schon jetzt erreichen könnte. Wer weiß? Wenn ich eine Sache zur Genüge habe, dann ist das Zeit."
Sie setzte zu einer Erwiderung an, aber gerade in diesem Augenblick verstummte das dissonante Gedudel, welches die stete Hintergrundmusik zu diesem Gespräch gebildet hatte. Ein kurzer Blick in die entsprechende Richtung zeigte ihr, dass der Drehorgelspieler hektisch seine Sachen zusammenpackte und sich dann mit seinem Instrument aus dem Staub machte, während Ettark suchend den Blick über den Platz schweifen ließ. Höchste Zeit zum Aufbruch.
"Nun ja, das war zwar sehr... aufschlussreich, aber wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich habe zu tun", murmelte Mina kurz angebunden und erhob sich von ihrem Platz.
Anastasius zuckte mit den Schultern.
"Bitte doch, ich werde Sie bestimmt nicht aufhalten. Aufschlussreich, in der Tat. Einen schönen Tag noch."
Mit schnellen Schritten schlängelte sich die verdeckte Ermittlerin zwischen den vollen Tischen hindurch, heilfroh den Tee schon vorher bezahlt zu haben, sodass dies nun keine Verzögerung mehr bedeutete. Sie verbot sich, jetzt über das gerade Geschehene nachzudenken; das würde sie zum einen nur ablenken und zum anderen gönnte sie Schrapnell den Triumph nicht, sie aus der Ruhe gebracht zu haben. Doch das hieß keinesfalls, dass sie die Angelegenheit deshalb weniger ernst nehmen würde.
Ihr Weg kreuzte sich etwa in der Mitte des Platzes mit dem Ettarks und wie vereinbart schlugen sie schweigend dieselbe Richtung ein, bis sie in einer der angrenzenden Straßen außer Sichtweite waren. Eine Lücke zwischen zwei Häusern bot außerdem ausreichend Ruhe, um sich weitestgehend ungestört unterhalten zu können.
Der Hauptgefreite hatte die Arme verschränkt und trug die übliche verschlossene Miene zur Schau, dennoch konnte er ein erwartungsvolles Funkeln in den Augen nicht ganz unterdrücken.
"Und?"
Mina schüttelte den Kopf und das Funkeln erstarb.
"Nein. Unter "auf den Mann zugehen" hatte ich mir doch etwas anderes vorgestellt."
"Hmm." Mehr ein abweisendes Geräusch, als eine wirkliche Äußerung.
"Du solltest nur mit ihm reden und ihn nicht zur Berufsaufgabe zwingen. Ganz ehrlich, der arme Mann sah aus, als wärest du irgendein... nichts für ungut, aber, Schläger, der von einem Ladenbesitzer da hinten am Platz angeheuert worden ist, um diese Lärmbelästigung zu unterbinden."
"Klingt nach einer brauchbaren Rolle."
"Darum ging es aber nicht. Du solltest dich auf seine Art und Weise einlassen, mit ihm auf einer Ebene agieren - und es ist eben nicht Ettark, den man in solchen Momenten braucht."
Ihr Auszubildender überging den letzten Einwand.
"Ich mach mich doch nicht lächerlich und spiel den fidelen Leierkastenmann", knurrte er.
"Weißt du, manchmal erfordert unsere Spezialisierung eben auch das."
Ettark bedachte sie mit einem Blick, der irgendwo zwischen Unglaube und Spott schwankte.
"Den Leierkastenmann?"
"Das "sich lächerlich machen"."
Einen Moment lang schwiegen beide, Ettark verdrossen, Mina nachdenklich. Als sie dann erneut das Wort ergreifen wollte, fiel ihr eine Person auf der anderen Straßenseite ins Auge. Sie musste direkt noch einmal hinsehen. Zugegeben, auf diesen zweiten Blick kamen einige Unterschiede deutlich zum Tragen, aber wenn man beispielsweise über das Fehlen eines Bartes und dafür das Vorhandensein von schulterlangem Haar hinwegsah, so ließ sich die Ähnlichkeit nicht leugnen.
"Ettark, hast du einen Bruder?", fragte sie.
Die Frage schien ihn ein wenig aus dem Konzept zu bringen.
"Was, warum?"
Die Vampirin wies mit einem Kopfnicken in die entsprechende Richtung; der Hauptgefreite folgte mit seinem Blick und verzog dann frustriert das Gesicht.
"Hmm, so kann man das sagen", brummte er dann.
"Zumindest scheint er sich gerade köstlich zu amüsieren. Muss ich irgendetwas wissen?"
In der Tat machte der Rotblonde keinen großen Hehl aus seiner offenkundigen Erheiterung. Als er bemerkte, dass er ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, neigte er kurz den Kopf in ihre Richtung und verschwand dann, immer noch grinsend, im Strom der Menschen, die die Heldenstraße bevölkerten.
"Nein." Der Hauptgefreiten selbst schnaubte und wechselte dann abrupt auf ihr ursprüngliches Thema zurück. "Du wolltest gerade noch etwas sagen oder war es das dann, Mä'äm?", wollte er wissen. Das letzte Wort war dabei mit einiger Verspätung und ihm auch nicht ganz von selbst über die Lippen gekommen.
Dieses Nein hatte eine recht eindeutige Sprache gesprochen, daher ließ Mina die Fragen, die ihr noch auf der Zunge lagen, unausgesprochen - die Beziehung zu ihrem Auszubildenden war auch so schon angespannt genug, da war es vielleicht nicht angeraten, in potentielle Wespennester zu stechen. Sie konzentrierte sich wieder auf das, was sie vorhin noch hatte anmerken wollen.
"Ja, was ich meinte ist: Darin bist du gut", sie wies mit einer Geste hinter sich und schloss damit die gesamte vergangene Szene auf dem Dreieckigen Platz ein, "aber als verdeckter Ermittler musst du in der Lage sein auch Rollen und Verhaltensweisen anzunehmen, die dir so gar nicht entsprechen; gelegentlich musst du diese sogar ganz spontan abrufen können. Daran müssen wir noch arbeiten." Sie überlegte einen Augenblick. "Gut, folgendes: Du nimmst dir morgen den Tag, setzt dich an irgendeine belebte Ecke in der Stadt und fängst an, Leute zu beobachten." Den aufkommenden Protest ignorierte sie einfach. "Es ist etwas anderes, anzunehmen, wie jemand sich verhalten würde als mit Erfahrungswerten zu arbeiten. Achte genau darauf, wie sich verschiedene Personen bewegen und handeln, was sie ausmacht, manchmal sind das Kleinigkeiten. Später werden wir versuchen es in die Praxis umzusetzen."
Ettark sah alles andere als begeistert aus, allerdings verkniff er sich jeden weiteren Widerspruch sondern nickte nur stoisch.
"Das wäre es für heute, du kannst gehen."
Die Vampirin sah ihm nach, wie er in einer Art die Straße hinunter stiefelte, als hätte diese ihn persönlich beleidigt. Sie seufzte. Und fragte sich zum wiederholten Male, ob diese übellaunige Fassade wirklich schon alles war.


OPHELIA ZIEGENBERGER

...eingesperrt! Noch ehe sie die Augen öffnen konnte, dämmerte dieser eine Gedanke bereits in ihr erwachendes Bewusstsein und drohte, dem beginnenden Tag von vornherein jegliche Lebensfreude zu rauben. Sie bemühte sich, sofort mit positiven Dingen dagegen anzugehen. Araghast weiß sich nur nicht anders zu helfen. Du hast selber auch keine Patentlösung, also nimm es, wie es ist und sei dankbar dafür, dass sie dir alle zu helfen versuchen...
Doch die mannigfachen Enttäuschungen der letzten Tage lauerten zu dicht hinter dem dünnen Wall des Selbstschutzes und sickerten unaufhaltsam durch diesen hindurch.
Nicht mehr auf das Dach...
Breguyar war unerbittlich gewesen, als er über den Umweg ihres Abteilungsleiters von dem neuerlichen Vorfall erfahren hatte. Romulus hatte sich beide Seiten getrennt voneinander anhören wollen, erst die ihre, voll von Zweifeln und Ängsten, dann jene seines Freundes, die anscheinend deutlich zielstrebiger und vehementer ausgefallen war. Er war mit ernstem Gesichtsausdruck zu ihr zurückgekommen und hatte sich überraschenderweise die Zeit dazu genommen, ein längeres Gespräch mit ihr zu führen. Nach all den Gelegenheiten, zu denen ihre Kollegen ihr inzwischen eilig aus dem Wege gingen, hatte sie das positiv überrascht. Ebenso wie die unerwartete Zugänglichkeit in seinen Worten.
"Bregs und ich, wir sind beide davon enttäuscht, dass du uns zu Beginn dieser Sache so lange außen vor gelassen hast, natürlich. Aber wir versuchen unser Bestes, um dir zu helfen, Ophelia. Das weißt du, oder?"
Sie hatte artig genickt und sich an einem Lächeln versucht. Was ihn lediglich dazu verleitete, sie mit einem schweren Seufzer anzuschauen, ehe er ihr die neue, belastende Anweisung überbrachte. Für einen winzigen Moment spielte sie mit dem Gedanken aufzubegehren, diese letzte Zuflucht zu verteidigen. Doch Romulus schien diese Regung an ihren Augen ablesen zu können. Seine Vermutungen zu ihren Ambitionen gingen zwar in eine andere Richtung, waren daher aber nicht weniger zutreffend.
"Du willst das Alles am liebsten hinschmeißen und weglaufen, nicht wahr?"
Sie hatte ihn nur reglos angesehen, dankbar dafür, dass er einer der Kollegen war, die ihre Gedanken nicht ohne Weiteres aus ihr auslesen konnten. Was aber in diesem Moment keinen Unterschied machte. Sie kannten sich inzwischen zu lange.
"Mach es nicht! Bregs... die Wache... wir könnten dir dann nicht mehr... helfen."
Ophelia schlug die Augen auf und blickte hinauf in die seidigen weißen Stoffbahnen, die sich über ihr spannten. Einen kurzen Augenblick lang war sie von dem Gedanken abgelenkt, dass sie die herrlich weichen Kissen um sich her und diesen wundervollen Baldachin Rach verdankte, der ihr das Bett geschenkt und ins Wachhaus hatte liefern lassen, kaum dass er von ihrer kargen Notlage hier erfuhr. Er war so aufmerksam, so fürsorglich!
Die Erinnerung an Romulus' ernsten Blick allerdings verdrängte die heitere Gefühlsnote ebenso schnell wieder, wie sie sich eingeschlichen hatte.
Was meinte er damit? Bezog sich das "helfen" auf die vielen Versuche an mir? Oder meinte er noch etwas anderes? Sein Zögern hatte etwas Unsicheres an sich. Fast, als wenn er eigentlich "schützen" hätte sagen wollen?
Ihr Unterbewusstes zog das Bild einer sehr umfangreichen Personalakte hervor, auf der in breiten Lettern ihr aktueller Rang und ihr Name vermerkt sein mussten.
Ich bin mir nicht sicher, wie weit die Kompetenzen des Kommandeurs letztendlich reichen. Oder wie weit er sich noch für mich aus dem Fenster lehnen würde, wo ich ihn zuletzt so enttäuscht habe. Vielleicht ist es gut, dass er mir aus dem Wege geht und ich so nicht einmal zufällig in seine Gedanken stolpern kann? Auch er ist rechenschaftspflichtig... und ich bereite ihm große Umstände.
Sie dachte an die Stellung der Stadtwache im Gesamtgefüge der ankh-morporker Politik. An das gerüchteweise ohnehin stark angespannte Verhältnis des Kommandeurs zum Patrizier.
Sie zog die Daunendecke fröstelnd höher.
In ihrem Kopf erblühten eisige Kristalle an den Innenseiten der Schläfen und schon vernahm sie die Stimme ihres unfreiwillig erkorenen Mentors. Der alte Vampir schien ihren bisherigen Gedanken überaus interessiert gefolgt zu sein und sich lediglich jetzt erst bemerkbar zu machen, denn er hatte keinerlei Schwierigkeiten damit, das Bild vor ihrem inneren Auge mit dem vorherrschenden Thema in Einklang zu bringen.
“Du kennst dich im Palast aus. Das war mir bisher entgangen.“
Ophelia runzelte unwillig die Stirn und legte sich den Unterarm über die Augen, um das grelle Morgenlicht abzuschirmen.
“Guten Morgen, Racul!“ Sie versuchte den versehentlich vermittelten Eindruck dessen, woran sie sich aus den Gängen und Korridoren des Patrizierpalastes erinnerte, auszublenden. Diese Dinge gingen den Vampir nichts an. “Du hast lange nichts von dir hören lassen. Welchem Umstand verdanke ich deine Anwesenheit?“
Das kalte Bewusstsein des Älteren ließ sich Zeit damit, in ihren Gedanken umherzuschlendern und gezielt an den nun allenthalben auftauchenden Erinnerungen zu rühren, die in Zusammenhang mit dem Regenten der Stadt standen. Als wenn er die Bilder und deren Informationsgehalt auf ihre Tauglichkeit prüfen würde.
Ja, sie war Havelock damals vorgestellt worden, als sie an seiner Statt den Lockvogel im Zentrum der Intrigen spielen sollte. Das Gespräch zu jener Gelegenheit war jedoch nur von kurzer Dauer gewesen und verlief zudem mehr oder weniger über ihren Kopf hinweg, so dass sie noch heute daran zweifelte, ob der Patrizier sie überhaupt wahrgenommen hatte. Nein, sie hatte die Situation nicht dazu ausgenutzt, in den Privatgemächern seiner Lordschaft herumzuschnüffeln oder in all die vielen Unterlagen Einblick zu nehmen, die ihr zum Schein vorgelegt worden waren.
“Das wäre auch vergeblicher Aufwand gewesen.“ Racul gab ihr amüsiert Recht. “Selbstredend hätte der Jungspund dir keine echten Informationen zukommen lassen.“
Ophelia war leicht verärgert.
“Ich weiß wirklich nicht, wie oft ich dich noch daran erinnern muss. So, wie ich deine Privatsphäre vor Dritten zu schützen versuche, so bitte ich auch dich dringend, diejenige Anderer zu respektieren! Es wäre dem Patrizier gewiss nicht recht, wenn er von deiner Neugier ihn betreffend und diesem unangemessenen Wege wüsste, auf dem du sie zu befriedigen suchst.“
Racul lachte.
“Oh, es ist lange her, dass es jemand so freimütig wagte, mir unstatthafte Neugier zu unterstellen. Herrlich!“ Seine Stimmung schwenkte jedoch noch im gleichen Moment um, von heiter zu nachdenklich. “Dass du unseren allseits geschätzten Patrizier allerdings sogar persönlich kennst, bereitet mir Sorgen.“
Raculs Aussage war so atypisch, seine mitfühlenden Bedenken so ungewohnt, dass Ophelia instinktiv den Atem anhielt.
“Sorgen?“
Hätte sie ihn gesehen, so hätte er vermutlich bedächtig genickt. Indirekt erahnte sie aber, dass seine Sorge nicht wirklich ihr gelten mochte, sondern über verschlungene Gedankengänge hinweg eher seine eigenen Angelegenheiten betraf.
“Ja, durchaus. Denn selbst, wenn du ihm nicht in ebenso direkter Weise in Erinnerung haften geblieben bist, wie mir, teile ich deine Einschätzung nicht. Du hast nun einmal dieses ganz bestimmte Etwas an dir, was dich einzigartig macht. Ich denke, er wird sich leider nur zu gut an dich erinnern. Bist du ihm nicht sogar noch einmal im Parkweg-Hotel begegnet, als du Ayami aufgesucht hast? Gegen meinen ausdrücklichen Wunsch, wie ich betonen möchte!“
Sie kam nicht umhin, seine Frage umgehend zu bejahen, wandte aber im selben Atemzug ein: “Auch da hat er mir keine Aufmerksamkeit geschenkt oder gar zu verstehen gegeben, dass er mich wiedererkannt hätte.“
Zwischen ihnen entstand ein Schweigen. Racul dachte offensichtlich nach, ohne sich währenddessen wie sonst darum zu bemühen, seine Präsenz zu verschleiern. Seine Überlegungen huschten gerade außerhalb ihrer Reichweite um sie herum und Ophelia begann infolgedessen erbärmlich zu frieren.
Als wenn man mitten in einem zugigen Keller wartet, in dem rundum alle Türen offen stehen...
Sie spürte in sich den neugierigen Impuls, nach einer dieser Gedanken-Böen zu tasten, wenn sie ihr näher käme. Was dann wohl geschähe? Immerhin waren sie sowieso schon miteinander verbunden, ohne die Möglichkeit, voneinander los zu kommen. Schlimmer konnte es ganz sicher nicht mehr werden. Und wenn sie...
Die empfundene Bewegung kam mit einem Schlag zum Stillstand. Raculs Aufmerksamkeit richtete sich voll auf sie, was zur Folge hatte, dass sie instinktiv in den hintersten Winkel ihres Selbst zurückwich. Seine Stimme flüsterte nur, doch seine Persönlichkeit kam der ihren dabei so nahe, dass sie sich unbedeutend und klein vorkam, von der schieren Macht jedes einzelnen Wortes erdrückt.
“Bin ich dir noch immer nicht nahe genug, Ophelia? Wie sonst lässt sich solch ein leichtsinniges Ansinnen erklären?“ Er belauerte sie, verspottete sie. “Möchtest du in meinen Gedanken aufgehen, wie ein Tropfen Wasser im Meer? Oder soll ich dich lieber zu mir holen, auf dass du meine Schlafstatt mit mir teilen und in meinen Armen Ruhe finden kannst?“
Düstere Bilder schlichen sich in ihre Gedanken, von Dunkelheit und Einsamkeit, von unnachgiebigem Stein, glatt und seidig, der ihn umschloss, von endloser Stille in endlosen Nächten, tief unten in dem Gewölbe, welches nur über die geheimen Gänge des...
Racul fauchte in ihren Gedanken auf, dass es ihr fast den Schädel sprengen wollte. Die Trennung ihrer Gedanken, wenn man sein plötzliches Zurückspringen denn überhaupt so nennen konnte, fühlte sich wie das schmerzhafte Spannen eines elastischen Bandes an, welches an ihr riss und zerrte.
Ophelia krümmte sich in ihrem sonnenbeschienenen Bett reflexartig zusammen und schnappte wimmernd nach Luft.
“Wage es nicht, Weib! Dieser Pfad ist dir verwehrt! Solltest du jemals die Dreistigkeit besitzen, mir Informationen entlocken zu wollen, um meinen Aufenthaltsort zu erkunden, so werde ich daraufhin dein Leben einfordern!“
Sie konnte deutlich spüren, dass er dem Drang dazu am liebsten sofort nachgegeben hätte. Alles schien in ihm danach zu verlangen. Doch gleichzeitig hielt ihn eine ebenso starke Regung davon ab und sie las in seinen Gedanken rasende Verzweiflung. Noch nicht! Du bist noch immer mit ihr verbunden und solange es keine Erlösung von dieser Fessel gibt, würde sie dich mit in ihr Verderben hinabreißen. Warte! Halte dich zurück! Die Lösung muss irgendwo zu finden sein. Dann kannst du sie immer noch loswerden...
Ophelia fühlte sich wie betäubt. Sie entgegnete dem Vampir fassungslos:
“Aber... ich habe dir nie etwas getan! Ich gebe mir die allergrößte Mühe, jegliche Unbill von dir fernzuhalten. Und... ich kann für all das noch nicht einmal etwas!“
Raculs Gedanken konterten mitleidslos:
“Was interessiert es mich, Frau? Du bist ein lästiges Übel. Ich habe nie um deine Anwesenheit gebeten und doch lässt du mich nicht mehr in Ruhe. Du bist eine Gefahr für meine Geheimnisse und meine Kräfte, für mich. Sei gewarnt! Bisher war ich nachsichtig. Aber damit ist nun Schluss. Deine Neugier wird dich umbringen. Du bist einen Schritt zu weit gegangen.“
Seine Gegenwart ließ so abrupt nach, dass es sich wie ein Guß kochenden Wassers anfühlte.
Ophelia keuchte schmerzerfüllt und schoss in die Höhe. Nach Atem ringend saß sie eine Weile auf ihrem Bett. Es dauerte einige Minuten, bis sie sich wieder gefasst hatte. Dann begann sie, sich anzukleiden. Ihre Bewegungen wirkten steif und wie automatisch und aus irgendeinem schamerfüllten Gedanken heraus war sie vor allem froh darüber, dass weder Mina, noch Valdimier bereits im Wachhaus eingetroffen sein konnten. Denn das war klar: Wären sie es gewesen, dann hätten sie bereits alarmiert bei ihr im Zimmer gestanden.

~~~ oOo ~~~


Der amtierende Abteilungsleiter von RUM musste seine Ungeduld und seine Frustration zügeln. Das wusste er. Aber das machte es nicht leichter, zumal zum Ende der heutigen Sitzung eine unangenehme Information zu beichten anstand. Er hasste so etwas.
Zumindest blieb das stete Wippen des Stiftes zwischen seinen Fingern geräuschlos und somit unbemerkt von seiner "Besucherin".
Trotzdem!
Er stoppte die Bewegung des Schreibgeräts in seiner Hand und zwang sich dazu, unverändert gelassen auf Ophelia hinunterzublicken und ihr zuzuhören. Immerhin beantwortete sie vorbildlicherweise seine Fragen, da war ein Mindestmaß an Höflichkeit ihr gegenüber angemessen.
Wenn ich nur nicht das Gefühl hätte, dass sie gedanklich so ganz und gar woanders ist! Ich verstehe ganz gut, was Bregs damit meint, wenn er sagt, dass er nicht an sie rankommt, obwohl sie sich nicht wirklich sperrt. Merkwürdige Sache...
Die Stimme seiner derzeit arrestierten und ihres Amtes enthobenen Stellvertretenden war noch leiser geworden, als sie mit den Worten endete:
"...so gesehen geht es mir... besser als zuvor... gut."
Er überflog die erstaunlich knappen Notizen, die er sich zu ihrem heutigen Gespräch bereits gemacht hatte, schrieb "Wassertrauma überwunden" darunter und räusperte sich dann.
"Immerhin! Ich bin froh, dass wenigstens diese alte Geschichte damit vom Tisch wäre."
Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet Bregs’ Hinhaltetaktik damals etwas Gutes bewirken könnte? Was sonst wäre als dermaßen effektiver Auslöser dafür in Frage gekommen, sich mit ihrer Angst vor Wasser auseinanderzusetzen, um darüber hinweg zu kommen. Ich war ja mehr als skeptisch gewesen. Aber nun… vielleicht klappt das noch einmal und wir schauen irgendwann auch auf ihren Hausarrest und all die schlimmen Zumutungen jetzt mit Erleichterung zurück, weil sie doch etwas gebracht haben? Hoffentlich!
Er blätterte eine Seite in seinen Unterlagen um und betrachtete nervös diejenige Frage, die er ihr jedes Mal am liebsten ersparen wollte. Hätte es in der Angelegenheit hoffnungsvolle Neuigkeiten gegeben, so hätte sie nicht erst bis zu einer der Zwangssitzungen gewartet, um ihm diese mitzuteilen. Aber was sollte man machen?
Er gab sich einen Ruck.
"Hm, also... wie sieht es denn mit den Experimenten aus? Irgendwas Erfreuliches? Erkenntnisse? Wie geht es dir momentan mit der gedanklichen Sache?"
Sie schüttelte leicht den Kopf und sah ansonsten unbewegt zu dem kleinen Fenster am Fußende der Liege.
"Oberfeldwebel van Varwald sagte gestern, dass mein Wirkradius die letzten Tage über mehr oder weniger konstant geblieben sei; etwa bis zu drei Kutschenlängen ans Opernhaus heran. Und es hat keine weiteren Fälle von Auswirkungen gegeben, die ich auf andere Wächter gehabt hätte. Zumindest hat sich niemand mehr deswegen gemeldet. Senray... Gefreite Rattenfaenger war bisher die letzte."
Romulus atmete automatisch tief ein, als er an die hektischen Ereignisse rund um die kleine Person dachte, die sich als DOG-Neuzugang herausgestellt und Bregs unbeabsichtigt in Raserei versetzt hatte. [2]
Reicht ja auch. Noch sowas könnten wir wirklich nicht gebrauchen.
Seiner ehemaligen Stellvertretenden und dem nervösen Welpen war kürzlich erst aufgefallen, dass etwas mit der Beleuchtung des Wachhauses nicht zu stimmen schien, sobald sie einander rein räumlich näher kamen. Wie sich herausstellte, gab es in diesem Fall keine von Ophelia ausgehende gedankliche Rückkopplung, sondern es kam zu einer ganz anders gearteten aber mindestens ebenso unberechenbaren Reaktion: Befanden sich beide Frauen zugleich in einem Zimmer, so entflammten dort Kerzen von selbst - und das Feuer ließ sich nicht mehr ohne Weiteres löschen! Das Ganze wies eine Dimension auf, die fast nicht mehr zu handhaben schien. Bregs hatte sofort entschieden, dass die kleine DOG bis auf Weiteres das Wachhaus am Pseudopolisplatz nicht mehr betreten durfte. Um nicht mehr in Ophelias Nähe zu geraten.
Es war fast so, als wenn sie mit jeder Entscheidung Ophelia betreffend den Geschehnissen um diese nur hinterherhinken und notdürftig reagieren konnten, um einen unvermeidlichen Schaden zu minimieren.
Romulus presste die Lippen aufeinander.
Er hatte flüchtig den Eindruck gewonnen gehabt, dass Ophelia Zuneigung zu der Gefreiten gefasst und diese quasi unter ihre Fittiche genommen hatte. Es war Ophelia jedenfalls merklich nahe gegangen, von Bregs durch dessen Bürotür hindurch fluchend fortgejagt worden zu sein, so laut obendrein, dass es keinem Wächter, der zu diesem Zeitpunkt im Wachhaus anwesend gewesen war, entgangen sein konnte! Sie hatte nicht einmal zugunsten Senrays sprechen und zu einem Versuch beitragen dürfen, deren Unsicherheit zu zerstreuen. Sie hatte sich Sorgen um die Kleine gemacht und ihr doch nicht helfen dürfen. Im Gegenteil! Ophelia hatte sich damit abfinden müssen, selbst der Auslöser für die Angst der jüngeren Kollegin gewesen zu sein.
Das alles ging ihm dermaßen gegen den Strich.
Ein Elend, das!
Sie war wieder in dieses ungewohnte Schweigen verfallen. Ausgerechnet sie!
Er war es gewohnt gewesen, dass sie bei einem Stocken im Gespräch stets eine humorvolle Anekdote, einen interessanten Zusatz oder ein freundliches Wort parat gehabt hatte. Jetzt entstand bei den Püschositzungen mit ihr manches Mal der Eindruck, als wenn sie ihm nicht mehr gänzlich zuhören würde. Dass sie manchmal vergaß, dass er noch anwesend war.
Wenn ich ihr keine Fragen stellte... bliebe sie dann stumm?
Der Gedanke fühlte sich absurd an, da er so gar nicht zu ihr passen wollte. Und doch…
Schnell stellte er die nächste Frage.
"Welche Tests fanden denn seit unserem letzten Gespräch statt?"
Sie antwortete in gleichgültigem Tonfall.
"Feldwebel Schneyder hat eine neue Teemischung ausprobiert. Ich habe vergessen zu fragen, was diese Mischung von der davor unterschieden hat. Ich glaube es hatte irgendetwas mit einem geringen Anteil einer Kirschsorte zu tun, um einen anderen Bestandteil zu transportieren? Sie hat dabei darauf bestanden, dass ich den Raum abdunkle und Atemübungen mache. Der Vorgang war... angenehm... Korporal von Nachtschatten meinte allerdings im Anschluss, dass der Versuch nur etwas an der Beschaffenheit meiner Gefühle geändert, sie abgemildert und verlangsamt, dass er aber keinen Einfluss auf die Übertragung selbiger gehabt hat... Korporal Goldwart ließ mich einen neuen Helmentwurf testen. Ein Modell mit sich drehenden Mixstäben an den Außenseiten, um Gedankenwellen zu verquirlen. Und die Verschalung innen hatte er dieses Mal mit einer besonderen Legierung ausge… dunstet?" Sie gestikulierte vage mit ihrer Hand, als sie nach dem richtigen Wort suchte. "Auf dem Zettel, den er mir mitgegeben hatte, stand jedenfalls, dass der Helm damit innen beschichtet und die Herstellung dadurch kompliziert war. Etwas mit einer Glasscheibe bei Wärme und Kälte?" Sie ließ die Hand wieder sinken und atmete tief durch. "Er hätte sich die Mühe allerdings sparen können. Der Helm drückte nur schwer auf meinen Kopf und brachte, außer Kopfschmerzen, nichts... Ich wundere mich ohnehin, dass er die Versuche fortsetzt. All die andere Arbeit, die in der Zwischenzeit liegen bleiben muss! Aber Araghast wird vermutlich darauf drängen, dass er trotz anderer Aufgaben…" Sie verstummte kurz, ehe sie fortfuhr. "Wie auch immer. Fähnrich Harmonie, Feldwebel Schneyder, Leutnant Mambosamba und Fähnrich Dubiata haben miteinander beraten und beschlossen, dass sie einen gemeinsamen Versuch unternehmen wollen, auf okkultem Wege herauszufinden, was mit mir nicht stimmt. Ich weiß noch nicht genau, worum es dabei geht aber die vier wollen heute Abend zu mir kommen und es mir erklären. Anscheinend will Fähnrich Harmonie etwas ausprobieren, was im Schlaf wirkt. Morgen weiß ich Genaueres..."
Fast hätte er sich gewünscht, dass sie bei der Aussicht darauf, mit potentiell gefährlichen Einflüssen umgarnt zu werden, eben doch revoltierte. Ihr fügsamer Fatalismus konnte nicht gesund sein, so rein vom püschischen Standpunkt aus betrachtet. Aber das konnte er ihr natürlich nicht sagen und es hätte ja auch nichts geändert. Ihm blieb die undankbare Aufgabe, die Sicherheitsinteressen der Wache im Auge zu behalten.
"Gut, gut... das klingt doch schon ganz vielversprechend, nicht?" Einen besseren Zeitpunkt würde es nicht mehr geben, um auf den unangenehmen Abschluss der heutigen Sitzung zu sprechen zu kommen. "Wo wir schon mal beim Thema sind... morgen, und überhaupt die nächsten Tage, werde ich auf einem Einsatz außer Haus unterwegs sein. Ich... kann dir jetzt natürlich nichts Genaueres sagen...", er bemerkte, wie ungeschickt er es angegangen war und hätte am liebsten von Vorne begonnen.
Ja, stoße sie nochmal mit der Nase darauf, dass sie ein Sicherheitsleck ist, prima!
Seine Finger begannen unabhängig von ihm wieder damit, den Stift nervös wippen zu lassen.
"Jedenfalls, weil Bregs ja darauf besteht, dass deine Sitzungen regelmäßig stattfinden und wir darüber auch an ihn Bericht erstatten, was die Versuche angeht... es wäre eben wichtig, das nicht schleifen zu lassen und..." Verdammt! Er tat sich wirklich schwer damit. "Er hat Sebulon als Ersatz vorgeschlagen. Von allen infrage kommenden Personen hat unser IA-Agent wohl die meiste Zeit, wie es aussieht. Und du kommst ja mit ihm zurecht, nicht wahr?"
Als wenn es darauf ankäme!
Er verschwieg ihr bewusst Araghasts hämisches Grinsen, als jener den unbeliebten Kollegen in dessen Abwesenheit zur "Strafarbeit mit der Ziegenberger" verdonnerte. Das musste sie nicht wissen.
Ich will nicht behaupten, dass ihm die Problematik über den Kopf wächst. Eigentlich steckt er eine Menge weg. Aber Taktgefühl, wenn er sich im Recht fühlt, ist nicht so seins. Und irgendwie liegen seine Nerven auch schon ziemlich blank, wenn man bedenkt, dass die Schadenfreude in dem Fall schwerer wog, als seine Vorbehalte.
Ophelia schwieg erst, dann nickte sie.
"In Ordnung. Ich werde mich bei ihm melden."
"Gut!" Er atmete erleichtert auf und schlug schwungvoll die Notizen zu. "Dann wünsche ich dir schon jetzt viel Erfolg für den neuen Versuch heute Abend und... wir sehen uns..."
Sein Abgang fühlte sich letztendlich doch verdächtig nach Flucht an. Ob sie das, noch still in Gedanken auf der Liege verharrend, ebenso empfand?

~~~ oOo ~~~


Er stellte das halbhohe Glas mit einem frustrierten Knall auf der Schreibfläche ab, direkt neben den dreiseitigen Bericht Fähnrich Harmonies. Die Okkultismusexpertin hatte durch die extrem kurz gefasste Art ihr Formulierungen keinen Zweifel daran gelassen, wie sie zu dem von ihm ausgeübten Befehlsdruck in der Sache stand. Oder zu seiner Anweisung, auch diese Richtung der an Ophelia durchgeführten Experimente weiter zu verfolgen - trotz des Desasters vor wenigen Stunden! [3]
Ein böser kleiner Gedanke schlich sich in seine Überlegungen.
Es wäre die Lösung unserer Probleme schlechthin gewesen, wenn Ophelia an den Folgen des Fluchs gestorben wäre! Sie hätte dabei ja nicht einmal leiden müssen! So, wie der Vorfall hier beschrieben wird, wäre sie wahrscheinlich bis zum Ende hin nicht mehr zu Bewusstsein gekommen! Ein netter Abgang! Erst recht im Vergleich zu dem, was ihr drohen könnte, falls Vetinari die Geduld verliert. Zu dumm, dass ihr schnöseliger Verehrer dazwischen gegangen ist.
Er war sich dessen bewusst, dass diese Erwägungen hartherzig und kalt waren. Ebenso wie er sich all der Probleme und Gefahren bewusst war, die mit der Beschädigung der Ziegenberger einhergingen - und ihrem immer länger andauernden Aufenthalt im Wachhaus. Ettarks Worte, die jener vor einer gefühlten Ewigkeit als Bedenken dazu vorgebracht hatte, forderten einmal mehr Breguyars Aufmerksamkeit ein. Auch wenn er sie zu verdrängen versuchte.
Wenn ich wüsste wie, dann würde ich seinen Vorschlag sofort aufgreifen und sie auf einer einsamen Insel aussetzen. Sie muss wie ein achatenes Feuerwerk wirken und ich bekomme sie nicht zum Schweigen! Mit viel Glück lässt sich allenfalls verhindern, dass sie an die falschen Sachen denkt. Aber das war's auch schon. Es ist wie ein Tanz auf rohen Eiern. Man weiß nie, wann man auf ein faules tritt und die Sauerei ihren Lauf nimmt.
Araghast blätterte lustlos durch die Kladde. Sie war jüngeren Datums und lag obenauf, gehörte aber zu der darunter liegenden, deutlich dickeren Akte dazu. Ophelias Personalakte... beziehungsweise ihre Personalakten. Und es lagen noch nicht einmal die püschologischen Sitzungsprotokolle und Gutachten zu ihr dabei oder die Notizen des IA-Schnüfflers! Er schnaufte abfällig.
Das ist lächerlich! Ihre Personalakte ist inzwischen dicker als die des Weihnachtsras! Sie macht uns nichts als Scherereien und Arbeit. So loyal sie früher gewesen ist, so gefährlich und störend ist sie jetzt. Sie beansprucht Raum und Verpflegung, bringt uns alle in Gefahr und das, ohne dass sie noch irgendeinen Nutzen hätte!
Der begierige Vorschlag des Hauptgefreiten zu den neuen, theoretischen Möglichkeiten, ging ihm partout nicht mehr aus dem Sinn. Doch so verlockend es auch klang... es gab sehr wohl noch Grenzen, die Araghast nicht ohne Weiteres übertreten würde.
Nützlich wäre sie als Lügendetektor natürlich schon, oh ja! Da kann ich ihm kaum widersprechen. Was für eine Genugtuung es wäre, die verlogenen Blutsauger einfach mit ihr in den gleichen Raum zu sperren und dann nur noch deren "Aussagen" aufzuschreiben! Aber... und bei diesem Gedanken rieb er sich frustriert mit der Hand über die Stirn. Es gibt da nicht nur die kleine Sache mit dem gedanklichen Gegenwind, bei dem sie irgendwann unweigerlich auch etwas Wichtiges ausplappern würde. Sie befindet sich in meinem Zuständigkeitsbereich. Meine Verantwortung. Solange ich das Sagen habe, was sie angeht, solange werde ich mich an die Regeln halten. Sollte sich allerdings irgendwann der Patrizier einschalten...
Er griff entschlossen nach dem Glas und leerte es in einem Zug.
Dann wären mir, ach so tragisch, die Hände gebunden! Bis dahin gilt es, den Schaden zu begrenzen.
Araghast drehte das nun leere Glas in seiner Hand.
Drei Hexen und eine Okkultismusexpertin haben bei diesem ersten Anlauf versagt. Vier erfahrene Wächterinnen! Macht es überhaupt Sinn, gute Leute noch einmal in diese schwer einschätzbare Gefahr zu bringen?
Er blätterte mit der locker von sich gestreckten Hand zur letzten Seite des Berichtes.
Grünzeug für das Winden eines Zaubers zu nehmen, war aber auch eine selten dämliche Idee. Und dann noch welches mit Dornen! Ich werde darauf bestehen, dass sie beim nächsten Versuch den Kern der Problematik angeht. Sie braucht nicht versuchen, Ophelias Gefühle mit Samthandschuhen anzufassen und ihr nicht zu nahe zu kommen. Sie soll mit handfesten Plänen arbeiten. Am besten einen sehr starken Schutzkreis errichten und den Bann direkt an Ophelia festmachen.
Bereits als er das erste Mal ihre Hilfe im Fall Ziegenberger anforderte, hatte Laiza ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass sie die Gefahren als zu hoch ansah. Sie hatte ihm Leichtfertigkeit vorgeworfen, da es keine harmlose okkulte Macht gäbe, die man einfach wieder ausschalten könne - jede Art von dunkler Magie würde Spuren hinterlassen.
Araghast verdrängte Ophelias blasses Gesicht vor seinem inneren Auge, ebenso diesen einen Alptraum zu ihr, den er vehement zu vergessen suchte. Er stählte seine Entschlossenheit.
Ich werde Laiza dazu zwingen, ihre Ängste und Vorbehalte zu ignorieren. Irgendwer muss ja hier den Überblick behalten. Es ist wichtiger, die Wache zu schützen, als dass Ophelia jeder Wunsch von den Augen abgelesen würde. Sie ist ganz sicher auch selber Schuld. Und wenn die Anderen mir dafür Herzlosigkeit unterstellen wollen, dann bitte... sollen sie es machen!
Der Gedanke an die drei Hexen und ihren gescheiterten Versuch der vorangegangenen Nacht ließ ihm keine Ruhe.
Vielleicht sollte ich mich mal mit Raistan unterhalten? Die Zauberer haben gewiss noch andere Möglichkeiten...
Der Kommandeur traf eine Entscheidung - und beugte sich zu der fast leeren Flasche Untervektorrum vor.
Kein falsches Mitleid mit ihr! Dieses Gedankenleck muss mit allen Mitteln gestoppt werden, selbst wenn ich dazu auf so unsichere Methoden wie die der Zauberer zurückgreifen müsste. Ich werde Raistan noch heute anschreiben und ihn zu seiner Meinung befragen. Und wenn das Alles unserem holden Fräulein Ziegenberger nicht in den Kram passt, dann soll sie meinetwegen gehen! Raus aus dem Wachhaus! Soll sie doch gegen meinen ausdrücklichen Befehl verstoßen! Dann wäre ich sie wenigstens los und ihr nichts mehr schuldig.
Er nahm einen großen Schluck und ließ ihn brennend die Kehle hinuntergleiten.
Ein grimmiges Lächeln breitete sich auf seinen kantigen Gesichtszügen aus.
Und selbst, wenn all das nichts bringen sollte... Es wird sie lehren, dass es ein Fehler war, mich belogen und hintergangen zu haben!


MINA VON NACHTSCHATTEN

"Gut, versuchen wir's nochmal."
Sie schaffte es sogar, den Satz mit einem Lächeln zu untermalen, während sie das Buch vor sich zuschlug, beiseite legte und das nächste vom Stapel zu ihrer Linken griff. In Wirklichkeit war Mina alles andere als nach einem derartigen Ausdruck von Zuversichtlichkeit zumute. Was sie hier taten erschien ihr von allen Versuchen, die bereits mit Ophelia unternommen worden waren, als die deutlichste Sackgasse, was aber wohl damit zusammenhing, dass hier zwei aufeinandertrafen, die mit der fraglichen Materie nur wenig Erfahrung hatten. Manchmal fragte sich die Vampirin ernsthaft, ob es nicht vielmehr die reine Zeitverschwendung war, welche obendrein Hoffnung auf ein Gelingen in Ophelia weckte - falsche Hoffnung im ungünstigsten Fall. Welcher ja leider immer wahrscheinlicher wurde... Aber auf der anderen Seite: Einfach nur zuzusehen und nichts zu tun kam keinesfalls in Frage und wenn es eben nur das hier war, woran sie ansetzte konnte, dann würde sie es auch solange weiter versuchen, wie eben nötig.
Wenn Ophelia diesen kurzen Moment des Zweifels wahrgenommen hatte, so ließ sie es sich zumindest nicht anmerken und nickte nur entschlossen.
"Was soll ich tun?"
Meine Güte, sie würde wahrscheinlich allem zustimmen und alles über sich ergehen lassen, nur um ihre momentane Lage ein klein wenig zu ändern, dachte Mina, Das nimmt uns in mehr als nur einer Hinsicht in die Verantwortung...
Die Vampirin blätterte bis zu dem Kapitel, welches sie sich markiert hatte. Zugegeben, zum Teil waren die Bücher aus der überwaldischen Botschaft wirklich uralt und die Methoden schienen antiquiert, aber in jüngerer Zeit hatte sich leider niemand mit dem zur Debatte stehenden Phänomen auseinandergesetzt, zumindest nicht schriftlich und in veröffentlichter Form. Wenn man es ganz genau nahm ging es auch in den vorliegenden Texten nicht konkret um die Kontrolle von Emotionen - doch war das Feld der Gedankenkontrolle nicht zu weit entfernt, als dass die vorgeschlagenen Techniken in leicht angepasster Form nicht einen Versuch wert gewesen wären.
"Also, Ariborius schreibt, man solle sich den Geist als eine Art Raum vorstellen und zur Abwehr jeglicher unerwünschter Einflüsse... nein, das haben wir schon versucht." Sie übersprang den Absatz. Bis auf eine erste grobe Sichtung hatte ihr bis jetzt die Zeit gefehlt, sich eingehender mit dem vorliegenden Material zu befassen. "Als nächsten Punkt führt er an..." Mina las den darauf folgenden Satz vorsichtshalber zweimal, nur um sicher zu gehen, dass ihr bei der Übersetzung kein Fehler unterlaufen war. Doch dem war nicht so, wie sie mit wachsender Beunruhigung feststellte. Also manchmal konnten einem die Menschen regelrecht unheimlich werden... es war nicht zu fassen!
"Ähm, das willst du nicht wissen. Glaub mir. Vergessen wir Ariborius." Das Buch folgte seinem Vorgänger und ein neues wurde aufgeschlagen, während Ophelia geduldig abwartete - vielleicht war ihr die etwas längere Pause aber auch ganz recht. Denn egal wie oft sie das Gegenteil beteuerte - das hier war anstrengend und um das zu wissen brauchte es keine Bestätigung durch die ab einem gewissen Punkt verstärkt durchdringenden Anflüge von Erschöpfung. Es lag in der Natur der Sache, dass sie hier mit einem anderen Kaliber arbeiten mussten, als mit reinen Alltagsgefühlen - sonst wäre eine Kontrolle der Wirksamkeit wohl kaum oder nur sehr verschwommen möglich gewesen. Das war für keine der beiden sonderlich angenehm und Mina war sich manchmal nicht sicher, ob sie nicht doch ein wenig über's Ziel hinausschoss. Denn selbst wenn es ihr zu viel geworden wäre - Ophelia hätte sich mit Sicherheit nicht beklagt. Diese zunehmend fügsame Haltung der ehemaligen Stellvertretenden war eigentlich schon ein eigener Grund zur Besorgnis.
Wie eigentlich immer, wenn sie mit ihren Überlegungen an diesem Punkt angekommen war, beschloss Mina im Stillen, mit den Versuchen für den heutigen Tag nicht mehr viel länger fortzufahren. Doch da die Beschreibung für den nächsten Anlauf ganz akzeptabel klang - auf jeden Fall im Vergleich zum vorherigen - würde sie zumindest diesem noch eine Chance geben. Schließlich konnte man ja nie wissen...
"Hierbei geht es um eine Art, nun ja, aktive Spiegelung." Sie tippte mit dem Finger auf die Seite. "So ähnlich wie bei Grellsang, du erinnerst dich? Der Punkt ist allerdings, dass du nicht versuchst, jemanden vom Eindringen in deinen Geist abzuhalten, sondern ihn dort einfach nichts vorfinden lässt." Die Vampirin las weiter. "Wenn ich das richtig verstehe, nimmst du denjenigen viel mehr bewusst wahr und schickst ihm dann das, was von seiner Seite aus bei dir ankommt, direkt wieder zurück... so wie sich Licht an einer spiegelnden Oberfläche bricht. Somit würde der Eindringling sich in seinen eigenen Reflexionen verlieren. Anmerkung des Autors: Es geht nicht um Feinheiten." Mina warf Ophelia einen fragenden Blick zu. "Soweit verständlich?"
"Ich glaube schon. Steht da ob es reicht, auf den ersten Kontakt dergestalt zu antworten oder muss ich immer wieder neu reagieren?"
"Nein, mit Einzelheiten ist hier gespart worden. Wahrscheinlich läuft es wie immer darauf hinaus, was für dich handhabbarer ist."
Ophelia schloss kurz die Augen und schien sich die Erklärung noch einmal gründlich durch den Kopf gehen zu lassen.
"In Ordnung, fangen wir an", meinte sie dann, ohne an ihrer Positur etwas zu ändern.
Ein flüchtigen Beobachter hätte an der sich nun anschließenden Szene wohl nichts gefunden woran sich festmachen ließ, dass überhaupt etwas passierte: Die beiden Frauen saßen sich schweigend gegenüber, jede scheinbar zu tief in ihre eigenen Gedanken versunken, um die Welt um sich herum wahrzunehmen. Es waren lediglich die minimalen Veränderungen im jeweiligen Gesichtsausdruck, welche Aufschluss über das Vorgehende zuließen: Zögerlich wählte Mina eine jener Erinnerungen aus, an die zu denken sie ansonsten lieber vermied. Die Angelegenheit mit den Tentakelwesen in der Unsichtbaren Universität hatte sich für ihre Zwecke als recht brauchbar erwiesen, nur musste man dabei darauf achten, ein paar Details auszublenden - das wäre dann doch ein wenig viel der Zumutung gewesen. Zudem war sie mittlerweile so geübt darin, gerade diesen Ausschnitt aus ihrer Vergangenheit jederzeit und an jeder beliebigen Stelle wieder unter Verschluss zu nehmen, dass sich der Versuch bei einem Misserfolg umgehend unterbrechen ließ. Also schön... Mina rief die Bilder wach und zwang sich, diese wider jeden Instinktes nicht sofort im Keim zu ersticken, sondern den aufkommenden Schrecken zuzulassen. Dann wartete sie auf eine Reaktion.
Es war genauso schnell wieder vorbei wie all die Male davor; der Punkt an welchem sich die verschiedenen Stimmungsschichten unkontrolliert zu überlappen begannen war stets auch der Moment, an welchem man den neuerlichen Fehlschlag einsehen musste und ein Abbruch die einzig vernünftige Konsequenz darstellte. Aber hatten sie wirklich etwas anderes erwartet?
Ophelia schlug die Augen wieder auf, nachdem die letzten Gefühlswellen vollständig verebbt waren. Die Frustration, welche kurz über ihre Züge flackerte war also ihre ureigenste, wurde jedoch schnell von Erschöpfung abgelöst. Mit zitternden Fingern strich sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
"Gar nichts", flüsterte sie, "Es hat sich gar nichts getan. Aber vielleicht mit etwas mehr Übung... sollen wir es noch einmal...?"
"Lassen wir es für heute gut sein. Wir können ja beim nächsten Mal wieder an dieser Stelle ansetzen."
Ophelia nickte und ihre Erleichterung war so umfassend, dass Mina sofort ein schlechtes Gewissen bekam, ob sie es dieses Mal nicht tatsächlich übertrieben hatte. Darüber hinaus vertrieb sie aber auch die eben noch willentlich heraufbeschworenen Gespenster aus Angst und Furcht und die Atmosphäre im Raum entkrampfte sich spürbar.
"Versprichst du dir etwas von dieser Methode?", fragte Ophelia.
Ja, in etwa genauso wenig wie von all den anderen...
Mina schob diesen weiteren Anflug von Pessimismus beiseite und versuchte sich in einer eher neutralen Antwort:
"Sie klingt zumindest stimmiger als so manches andere, was wir bisher ausprobiert haben."
"Ja, das dachte ich auch... hast du jetzt noch ein wenig Zeit übrig?"
"Ja, etwas."
"Tee?"
"Gern."
Dieser Dialog hatte schon beinahe etwas Rituelles an sich, selbst die Wortwahl hatte mittlerweile eine feste Abfolge gefunden. Er war zum einen das Stichwort, um auf andere Gedanken zu kommen, zum anderen hegte Mina den Verdacht, dass Ophelia die so vertrauten Handgriffe dazu benutzte, sich nach einer anstrengenden Versuchsreihe wieder zu fangen. Eine Sicherheit, an der sie sich festhalten konnte: Wenn auch die Welt um sie herum mehr und mehr aus den Fugen geriet, so war das Aufgießen von Tee etwas, das immer zuverlässig funktionierte. Vielleicht auch ein Grund, warum die Kollegin sich dabei partout nicht helfen lassen wollte.
"Ich habe Septimus auf dem Gang getroffen", bemerkte diese nun, während sie die notwendigen Utensilien zusammensuchte. "Ist er endgültig wieder aus dem Einsatz zurück? Hatte er Erfolg?"
Mina schaffte es nicht ganz, ein Seufzen zu unterdrücken.
"Du weißt doch, ich darf nicht mit dir drüber reden, wer was bei RUM gerade tut oder bleiben lässt."
Das Teesieb klirrte etwas heftiger als gewöhnlich gegen die Porzellankanne.
"Richtig, verzeih. Es war nur der letzte Fall, welchen ich weitergeleitet hatte, als alles noch..." Ophelia stockte, dann lächelte sie gequält. "Ich werde wohl nie aufhören, mir Gedanken über das Wohl und Wehe unserer Abteilung zu machen. Darf ich mich dann wenigstens erkundigen, wie du mit Ettark zurechtkommst?"
Die Vampirin überlegte. Das Problem an diesen Gesprächen war, dass sie sehr sorgfältig darauf achten musste, was genau sie sagte. Damit Wacheinterna auch wirklich auf Dauer intern blieben, durfte aus ihren Antworten nichts herauszuhören sein, aus dem Ophelia irgendwelche Schlüsse ziehen konnte. Natürlich geschah dies sowohl zu ihrem als auch zum Schutz der Wache und dass Mina sich in ihrer neuen Position überhaupt noch mit der anderen verdeckten Ermittlerin unterhalten durfte setzte voraus, dass sich sowohl Romulus als auch Breguyar auf sie verlassen konnten, was die Informationssperre gegen die ehemalige stellvertretende Abteilungsleiterin anging. Im Umkehrschluss: Um ein Vertrauen zu rechtfertigen musste sie auf der anderen Seite Vertrauen entziehen. Auch wenn sich das so gar nicht mit dem mittlerweile freundschaftlichen Umgang vertrug, welchen sie mit die Zeit zu Ophelia aufgebaut hatte. Aber in diesem Fall, was sollte es schon schaden, wenn sie der Anderen von der Arbeit mit ihrem Auszubildenden erzählte - solange keine ermittlungsrelevanten Details darin vorkamen? Damit dürfte für einen Außenstehenden nun wirklich nichts anzufangen sein.
Bevor Ophelia befürchten konnte, schon wieder die falsche Frage gestellt zu haben, antwortete sie also:
"Er stellt sich gar nicht dumm an und was den respektvollen Umgang gegenüber Vorgesetzten betrifft, da... gibt er sich Mühe." Mina lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. "Im Grunde tut er was ich sage. Zwar meistens mit einem Gesicht wie sieben Tage Regenwetter, aber er tut es. Ehrlich gesagt, so ein bisschen unheimlich finde ich das schon. Wir reden hier immerhin von Ettark Bergig, da hätte ich ein klein wenig mehr Widerstand erwartet."
"Aber dann doch besser so als andersherum, oder?"
"Sicher. Nur weiß ich immer noch nicht, warum er diese Ausbildung eigentlich will. Irgendetwas mit einem nicht abgeschlossenen Fall - aber da hüllt er sich beharrlich in Schweigen."
Ein winziger Stich von Bedauern ging von Ophelia aus, den Mina nicht zuordnen konnte.
"Aber wie auch immer: Wenn er sich weiter zusammenreißt, dann machen wir aus Ettark einen passablen verdeckten Ermittler."
"Siehst du, du hast dir am Anfang einfach zu viele Sorgen gemacht."
"Ach, na ja, ich hatte eine gute Ausbilderin." Mina grinste. "Eigentlich gebe ich nur weiter."
Das brachte Ophelia zum Lachen und als sie Tassen und Kanne an den Tisch balancierte war die unangenehme Empfindung von eben wieder gewichen. Es war wohl ein passender Zeitpunkt für das zweite Anliegen des heutigen Treffens.
"Bevor ich es vergesse: Ich habe dir etwas mitgebracht", begann Mina, zog eine der alten Schwarten unter den anderen Büchern hervor, und schob sie Ophelia über den Tisch zu, sobald die andere die Hand wieder frei hatte.
"Püschologia dess Vampyr." Verwundert las Ophelia den Titel. "Von Abraham Abrahamssohn."
Die Frage dahinter stand im wahrsten Sinne des Wortes im Raum.
"Ich habe das Buch von meinem letzten Auslandseinsatz mitgebracht", erklärte Mina, überlegte kurz noch weiter auszuholen - und besann sich dann eines Besseren. "Aber das ist eine längere Geschichte, vielleicht ein andermal. Worum es mir geht ist folgendes: Ich werde in den nächsten Tagen wohl häufiger außer Haus unterwegs sein. Dienstlich. Daher weiß ich noch nicht genau, wann ich wieder Zeit haben werde... für das hier." Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern.
Erst Romulus, jetzt ich... da zeichnet sich ein ungewolltes Muster ab.
"Deswegen habe ich mir überlegt, dass du dich in der Zwischenzeit vielleicht selbst ein wenig kundig machen möchtest und dieses Exemplar ist als einziges in einer Sprache geschrieben, die auch du lesen kannst." Sie nickte in Richtung des Buches. "Abrahamssohn bietet ein paar nicht uninteressante Ansätze an. Allerdings besteht ein großer Teil auch aus Veraltetem und Klischeehaftem, doch ich bin mir recht sicher, dass du mittlerweile genug Erfahrung mit meiner werten Sippschaft hast um die Spreu vom Weizen trennen zu können."
Ophelia nickte nachdenklich und verströmte dabei eine wenig Unsicherheit, die jedoch ebenso deutlich mit einer Nuance aufkommender Neugier durchzogen war.
"Danke", meinte sie dann, "Damit schlagen wir sogar zwei Fliegen mit einer Klappe: Ich tue etwas Nützliches und komme gleichzeitig an neue Lektüre." Sie stand auf um das Buch neben ihren eigenen auf dem Regalbrett über dem Schreibtisch zu verstauen. Dort verharrte sie einen Moment; ihre Finger glitten über die einzelnen Buchrücken und die darauf folgenden Worte schienen eher ein Selbstgespräch als an die andere Person im Raum gerichtet zu sein. "Irgendwann hat man sie ja doch alle einmal zu viel gelesen. Eigentlich wäre es in diesem Fall das Normalste der Welt loszugehen und einen Buchhändler aufzusuchen. Nun ja... früher war es das ja auch. Etwas derart banales..." Sie schnaubte bitter und wandte sich dann wieder Mina zu. "Ich habe mir unlängst sogar Briefpapier aus der Stadt mitbringen lassen müssen. Briefpapier! Besieht man es genau bin ich in derlei Hinsicht gezwungen, mich von vorn bis hinten von euch bedienen zu lassen. Manchmal komme ich mir vor wie ein unselbstständiges Kind! Daran werde ich mich wohl nie gewöhnen." Ophelia kehrte an den Tisch zurück, stützte den Ellenbogen auf die Platte und das Kinn auf die geschlossene Hand. "Ich will mich auch gar nicht daran gewöhnen. Und ich bin es leid, hier festzusitzen. Ich möchte einfach einmal wieder auf die Straße und vor allem nach Hause gehen können. Seltsam, wie man ausgerechnet so etwas mit am meisten vermissen kann." Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, zwang sich dann aber lediglich zu einem Lächeln. "Aber das ist wohl Klagen auf sehr hohem Niveau."
Wenn Mina geahnt hätte, dass die Sache mit dem Buch einen derartigen Themenwechsel und damit einhergehenden Stimmungsumschwung brachte, dann wäre es wohl eine Überlegung wert gewesen, sie noch einmal zu verschieben. Andererseits, wie sollte Ophelia auch nicht immer und immer wieder auf diese Gedanken zurückfallen, in einer Umgebung, welche sie stets auf's Neue ihrer Situation gemahnte - der sie aber nicht entkommen konnte? Jedoch war Wohnen ein momentan ebenfalls heikles Thema auf der anderen Seite, nur dass der Fall dort eher andersherum lag.
"Weißt du, manchmal ist es gar nicht so erstrebenswert, nach Hause zu gehen...", rutschte ihr eine Bemerkung heraus. In der nächsten Sekunde biss sich die Vampirin auf die Zunge. Oha, das war unvorsichtig gewesen und eigentlich hatte sie das auch gar nicht laut aussprechen wollen.
Ophelia sah sie fragend an.
"Stimmt etwas nicht?"
Für einen Moment war die Versuchung es zu erzählen wirklich groß und es fiel Mina nicht leicht, dieser zu widerstehen. Denn wenn sie ehrlich war wollte sie mit jemandem darüber sprechen, aber das jetzt zu tun wäre exakt dem zuwider gelaufen, worum Gloria sie explizit gebeten hatte.
"Es gibt nur ein paar... Unstimmigkeiten, mit denen ich es momentan zu tun habe", antwortete sie daher ausweichend, "Nichts dramatisches, aber dennoch ärgerlich. Zehrt an den Nerven. Aber ich werde es in Ordnung bringen."
"Klingt... kompliziert?" Natürlich warteten noch ganz andere Fragen hinter diesen zwei Worten, aber Mina stand nicht der Sinn danach, lange um den heißen Brei herumzureden.
"Es ist etwas familiäres."
Die Kollegin nickte verstehend, sie erkannte den metaphorischen Zaunpfahl.
"Weswegen sich dein Feierabend auch immer weiter nach hinten verschiebt?", bemerkte sie lediglich.
"Das ist auf jeden Fall einer der Gründe. Ich lege momentan wirklich nicht viel Wert darauf, mehr Zeit als nur irgend nötig in meinen eigenen vier Wänden zu verbringen."
Ophelia rührte gedankenverloren in ihrer Tasse, dann hellte sich ihr Gesicht urplötzlich auf und die Woge freudiger Erwartung, von welcher dies begleitet wurde, verhieß eine von ihrer Warte aus gesehen wohl außerordentliche Idee.
"Ich hätte da einen Vorschlag zu machen", begann sie, "Sollte er dir zusagen, dann wäre das Ergebnis für uns beide von Vorteil."
"Das klingt doch vielversprechend." Es war unmöglich, sich von der Vorfreude der anderen nicht anstecken zu lassen und neugierig zu werden. "An was hast du gedacht?"
Ophelia stellte das Trinkgefäß vor sich ab, um der Kollegin ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
"Ich habe doch die Wohnung im Fünf-Und-Sieben-Hof, du kennst sie ja bereits. Auch wenn ich in der aktuellen Situation nicht viel davon habe, so laufen die Mietzahlungen trotz allem weiter. Warum soll dieser Wohnraum dann nicht auch genutzt werden?"
Mina hätte sich beinahe an ihrem Tee verschluckt und Ophelias Gesichtsausdruck nach zu urteilen hatte sie in der gleichen Sekunde zu spüren bekommen, dass ihr Ansinnen nicht mit der gleichen Begeisterung aufgenommen wurde, mit der es vorgetragen worden war.
"Dir gefällt die Idee nicht?"
"Also... nicht grundsätzlich, aber..." Darüber musste sie wirklich kurz nachdenken. Im ersten Moment schien es ja tatsächlich eine Lösung zu sein, aber verfolgte man den Gedanken weiter... Ophelia ließ ihr jedoch keine Zeit dafür.
"Du könntest die Wohnung voll nutzen. Abgesehen von Rogis Zimmer, davon würde ich dich bitten abzusehen." Ihr Blick schweifte kurz in die Ferne, allerdings ohne sich in der alten Trauer zu verlieren. "Die Vermieterin, Frau Jahwohl, hätte ganz bestimmt auch nichts dagegen; ich würde dir ein kurzes Schreiben für sie mitgeben, in dem ich den Sachverhalt soweit erkläre, wie sie es wissen muss. Den Schlüssel habe ich ohnehin hier."
"Aber ich kann doch nicht so einfach deine..."
"Oh doch und wie du das kannst! Was macht es für einen Sinn, Leerstand zu bezahlen?"
Da hatte sie recht und der Gedanke, endlich wieder über einen Rückzugsort zu verfügen, dem ewigen Kleinkrieg mit ihrer Großmutter entgehen zu können, wenigstens ab und zu - das hatte etwas ungemein Reizvolles an sich. Aber konnte sie es riskieren, Gloria derart allein zu lassen - vor allem nach der Angelegenheit mit dem jungen Schrapnell? Denn wenn die alte Vampirin eines nicht war, dann berechenbar.
"Der Bezirk Lange Mauer ist nicht unbedingt kostengünstig...", griff Mina daher das augenfälligste Gegenargument auf.
"Das ist auch einer meiner Gründe", gestand Ophelia, "Zu zweit ist die Wohnung tragbar, aber allein? Sie fängt an, meine Finanzen ernsthaft zu belasten... trotzdem, ich würde sie nur ungern aufgeben..." Sie zuckte mit der Schulter. "Deswegen ist es ohnehin nur eine Frage der Zeit, bevor ich mir jemanden suchen muss, mit dem ich die Kosten teilen kann. Da wäre es mir eine Beruhigung, wenn das jemand wäre, auf den ich mich verlassen kann."
Die Aufwendungen für anderthalb Wohnungen zu bestreiten - konnte das überhaupt aufgehen? Mit einem Unteroffiziersgehalt? Ophelia sah sie immer noch erwartungsvoll an und derart in die Ecke gedrängt wollte Mina eine Entscheidung auch nicht unbedingt vorschnell treffen, also:
"Ich überlege es mir, ja?"
Damit schien ihr Gegenüber vorerst zufrieden gestellt.
"Natürlich, nimm dir die Zeit, die du brauchst. Ich habe dich damit hoffentlich nicht zu sehr überfallen?"
"Nein, es... schon gut." Die Vampirin erhob sich. "Danke für den Tee, aber so langsam sollte ich mich auf den Weg machen. Das übliche konspirative Treffen, die anderen werden schon warten." Mina stapelte die restlichen Bücher zusammen. "Ich gebe dir Bescheid, sobald ich weiß wann ich das nächste Mal zum Üben vorbeikommen kann, in Ordnung?"
"Ja, ich werde - mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit - hier sein." Ophelia lächelte schief. "Außer natürlich ihr hattet bis dahin Erfolg."
Und es war Hoffnung, die den Raum flutete.

~~~ oOo ~~~


"Und? Irgendwelche Fortschritte?"
Die Vampirin schloss die Tür hinter sich, dann schüttelte sie den Kopf.
Rea Dubiata seufzte: "Na, das wäre ja auch zu schön gewesen!", während Mina sich ihren Weg durch den Raum bahnte und schließlich den gewohnten Platz auf dem Sofa direkt neben dem Fähnrich einnahm. Davor waren weitere Sitzgelegenheiten im Halbkreis um einen kleinen Beistelltisch in der Mitte positioniert worden, so dass alle einen guten Blick auf das darauf befindliche große Blatt Papier hatten. Eng mit Notizen in verschiedenen Handschriften bedeckt und auch verziert mit dem ein oder anderen Kaffeefleck, schien es auf den ersten Blick ein ganz normales Zeugnis wächterlicher Geschäftigkeit zu sein. In der Tat handelte es sich in gewisser Hinsicht sogar um Ermittlungsergebnisse - allerdings keine, die man einer Abteilungszuständigkeit überantworten konnte oder einfach in einem Bericht an einen Vorgesetzten zusammenschusterte. Nein, manchmal war es besser, wenn bestimmte Details in der Runde verblieben, in der sie zusammengetragen worden waren. Das war auch einer der Gründe für die Wahl des Raumes: Zwar war das Püschologiezimmer in der 201 beinahe schon zu klein für ihre Besprechungen, hatte aber den Vorteil, dass hier wohl niemand einfach so, aus Versehen, hineinplatzen würde - und ein Zettel an der Tür sorgte dafür, dass diejenigen mit dem Vorsatz es zu tun es sich zweimal überlegen würden, ob ihr Anliegen in gerade diesem Moment wirklich so wichtig war. Außerdem wurde das Zimmer nicht allzu oft genutzt, lediglich eine sehr überschaubare Anzahl an Kollegen hatte einen Schlüssel und nicht zuletzt bot es den Wächtern, die in irgendeiner Weise in die Leitung von Abteilungen involviert waren, genug Ruhe zur Konzentration auf die eigentliche Aufgabe, ohne von irgendwelchen organisatorischen Fragen abgelenkt zu werden. So betrachtet war es ein kleines Opfer, dafür einfach ein wenig enger zusammenrutschen zu müssen.
Magane hob den Kopf und sah in die Runde.
"Dann fehlt jetzt eigentlich nur noch Kanndra... oder hat Valdimier verlautbaren lassen, er käme noch?"
Die Blicke richteten sich auf den blondhaarigen Zwerg, welcher auf einem zusätzlich zur Einrichtung des Raumes herbeigeschafften Stuhl in Türnähe saß und sich als neuestes Mitglied der Versammlung nicht ganz wohl zu fühlen schien. Was sich durch den plötzlichen Zuwachs an Aufmerksamkeit nicht unbedingt verbesserte.
"Äh... Feldwebel van Varwald, äh, ist unterstützend... äh, im Einsatz und Kanndra... sie hat ein Memo vom Kommandeur bekommen und... sie kommt wohl, äh, noch etwas später."
"Dann lasst uns weitermachen." Rea nickte entschieden und richtete ihr Augenmerk wieder auf das Papier. "Also, wo waren wir?"
"Wir sind gerade dabei noch einmal die Ereignisse zu und vor dem Zeitpunkt durchzugehen, zu welchem Ophelias Problematik zum ersten Mal aufgetreten ist", erklärte die SUSI-Abteilungsleiterin der gerade hinzugekommenen Kollegin. "Vielleicht finden wir noch einen neuen Anhaltspunkt."
Laiza Harmonie seufzte.
"Ich frage mich, zum wievielten Mal wir das jetzt schon versuchen." Müde strich sie sich eine Haarlocke aus dem Gesicht. "Und wer sagt uns denn überhaupt, dass es so etwas wie einen konkreten Auslöser für die Entwicklung ihrer seltsamen Fähigkeit gegeben hat?"
"Wir können aber nicht einfach so weitermachen und an den Symptomen herumdoktern, während wir die Ursache außen vor lassen", beharrte Fähnrich Dubiata. "Das könnte am Ende mehr schaden als nutzen. Abgesehen davon, dass eine langfristige Lösung dadurch auch mehr als unrealistisch wird." Sie hob in konzentriertem Nachdenken ihren Blick, wodurch Braggasch erneut in den Fokus geriet - diesmal allerdings lediglich bedingt durch den Umstand, dass er der Hexe direkt gegenüber saß. Der Zwerg kratzte sich nervös am Kopf, bemüht einen Beitrag zu ersinnen, der wie er annehmen musste, nun von ihm erwartet wurde.
"Vielleicht, äh, müssen wir... einfach noch weiter, äh, zurückgehen", meinte er schließlich hoffnungsvoll "Vielleicht hat sie das schon, äh, viel länger als, äh, gedacht?"
"Ein Kindheitstrauma?" Magane machte ein skeptisches Gesicht. "Das herauszufinden wäre ja eher etwas für einen Püschologen."
"Aber Ophelia ist doch in Behandlung bei jemandem, vielleicht kann derjenige uns etwas zuarbeiten", überlegte Rea laut, "Bei wem ist sie denn?"
Mina gab ein missbilligendes Geräusch von sich.
"Die reichen sie durch. Zuerst war sie bei Breguyar, dann eine Weile bei Romulus, der sie kürzlich an Sebulon abgeben wollte - nur das der sich geweigert hat. Der nächste auf der Liste ist unser Gefreiter von Omnien." Sie zuckte mit den Schultern. "Wenn sie so weitermachen gehen uns demnächst die Püschologen aus."
Für einige Augenblicke war es still.
"Nun, das bedeutet wohl, dass sie in etwa so erfolgreich sind wie wir." Magane lächelte humorlos. "Aber selbst wenn wir das "warum" herausfinden und ob es nun eine Art Kurzschluss in Reaktion auf Rogis Tod war oder doch mit dieser Ermittlung im Ascher-Haushalt zusammenhängt", sie tippte auf zwei Vermerke auf dem Schriftstück, welche dick unterstrichen besonders ins Auge sprangen, "oder vielleicht alles zusammen plus Stress plus irgendwas... dann bleibt immer noch das "wie". Und so ungern ich das sage: Mein Beruhigungstee ist zwar gut und schön - aber er wird sie mental ebenso wenig wieder zusammenflicken, wie meine Meditationsübungen mit ihr."
"Was ist eigentlich daraus geworden, mit ihr eine aktive Kontrolle ihrer Gedanken zu trainieren?" Die SEALS-Abteilungsleiterin wandte sich erneut an die Stellvertretende von RUM. "Das war doch euer Ausgangspunkt, als noch nur ihr beide, Valdimier und du, an der Sache gearbeitet habt?"
"Da musst du den Kollegen van Varwald fragen." Die Vampirin hob die Hände. "Ich bin nur mit der emotionalen Seite des Ganzen beschäftigt und das funktioniert... ehrlich gesagt gar nicht. Aber Ophelia hat nichts davon erzählt, dass Valdimier deswegen schon einmal bei ihr vorbeigeschaut hätte, wenn du das meinst."
"Na ja, es ist vielleicht auch noch etwas anderes, mit jemandem ganz konkretes Wissen zu teilen, als nur Emotionen. Eine heikle Angelegenheit, er muss ja ziemlich aufpassen, was er an sie weitergeben könnte."
Die verdeckte Ermittlerin legte den Kopf schief und trommelte nervös mit den Fingern auf dem Bezug der Couch.
"Ganz ehrlich? Ich finde das beinahe beneidenswert. Gedanken kann man wenigstens auseinanderhalten."
"Soll heißen?"
"Soll heißen, dass ich zunehmend Probleme habe, ihre und meine Gefühle voneinander zu trennen." Mina verzog kurz das Gesicht. "Ich habe ihr das noch gar nicht erzählt", gab sie dann zu.
"Immerhin läufst du nicht Gefahr Abteilungsinterna auszuplaudern", meinte Rea versöhnlich.
"Apropos ausplaudern: Habt ihr das schon gelesen?", Magane schwenkte eine frische Ausgabe der Rohrpost, welche bisher neben ihr gelegen hatte. "Die Schlabbine-Droschkenmolch hat es damit wohl geschafft, dass jeder Kollege, der es vielleicht noch nicht wusste, nun durchaus im Bilde ist, was die Existenz eines", sie zögerte kurz, "Ziegenberger-Problems angeht."
"Ich finde sie hält sich in dem Artikel ziemlich zurück", bemerkte Mina, offenkundig dankbar für den Themenwechsel, während Rea neugierig nach der Zeitung griff. "Glücklicherweise."
"Trotzdem, hilfreich ist sowas nicht", erwiderte Laiza, während sie zum wiederholten Male vergebens versuchte, es sich auf dem kleinen Holzhocker im hinteren Teil des Raumes halbwegs bequem zu machen. "Die Gerüchteküche brodelt ohnehin schon genug. Was schreibt sie denn?"
"Wahrscheinlich alles, was ihr erlaubt ist zu veröffentlichen...", hob die SUSI-Abteilungsleiterin erneut zu sprechen an, wurde aber von ihrer SEALS-Kollegin mit einer unwirschen Handgeste unterbrochen. Fähnrich Dubiata überflog die Zeilen, dann runzelte sie zweifelnd die Stirn.
"Soso, wir arbeiten also mit Schocks? Das wusste ich noch gar nicht", meinte sie lakonisch.
"Sag ich ja: Gerüchteküche." Laiza schnaubte. "Was sollen die anderen sich denn darunter vorstellen? Dass wir versuchen eine Art Schluckauf zu kurieren - wir verstecken uns hinter der Tür und machen laut "Buh"?"
"Na ja, wenn schon Schock, dann war der wohl eher auf unserer Seite." Mina seufzte. "Die Sache mit der Rosenhecke war schon ein wenig... verstörend." Sie bemerkte ihren Fehler im gleichen Moment, in dem die Okkultismusexpertin mitten in der Bewegung erstarrte. "Entschuldige."
Laiza biss sich auf die Unterlippe. "Schon gut", murmelte sie leise.
"Was hat Breguyar jetzt eigentlich dazu gemeint?", erkundigte sich Rea vorsichtig.
Kurz schien es, als würde ihre Kollegin nicht antworten wollen; ihre ganze Haltung hatte sich verkrampft und sie starrte auf einen Punkt irgendwo an der gegenüberliegenden Wand.
Braggaschs Augen wurden unterdessen immer größer.
"Äh... Rosenhecke?", flüsterte er, allerdings ohne eine Reaktion hervorzurufen.
Laiza atmete tief durch.
"Er hat gemeint, wir wüssten ja jetzt wo der Fehler lag und befohlen, wir sollten es erneut versuchen", antwortete sie dann knapp.
Für einen Moment herrschte Schweigen, als jede der am ersten Versuch beteiligten Wächterinnen ihren eigenen Erinnerungen an das fehlgeschlagene Ritual nachhing und herauszufinden versuchte, wie sie zu einem zweiten Anlauf stand.
Rea schnalzte mit der Zunge. "Nun ja, wenn man die Rahmenbedingungen ein wenig anpasst könnte ich mir durchaus vorstellen, dass wir Erfolg haben könnten."
"Ich bin dagegen", widersprach Mina. "Ich denke es reicht, dass wir sie beim ersten Mal beinahe umgebracht haben."
"Aber ob Breguyar uns in dieser Situation eine konkrete Befehlsverweigerung durchgehen lässt?"
"Umgebracht... haben?", hauchte der Zwerg.
"Ich... ich weiß gar nicht... nein, ich kann das nicht nochmal", Laiza schüttelte heftig ihre schwarzen Locken, "Das Risiko... es war viel zu knapp und wer sagt denn, dass nicht wieder ein... Patzer..." Ihre Stimme brach zitternd weg.
Doch Rea schien noch nicht gewillt, das Thema auf sich beruhen zu lassen.
"Aber wenn wir schon in der Vorbereitung..."
Sie unterbrach sich, als die neben ihr sitzende Magane ihr eine Hand auf die Schulter legte und mit einem bedeutsamen Blick auf ihre Abteilungskollegin den Kopf schüttelte. Ihre Lippen formten ein stummes "Jetzt nicht".
"Braggasch, was machen eigentlich die Helme?", wandte sie sich dann betont aufgeräumt an den Zwerg. "Konntest du schon irgendeine Wirkung erzielen?"
"Äh..." Der Späher starrte mit offenem Mund und schien in Gedanken immer noch mit mörderischen Hecken beschäftigt, riss sich aber sichtlich zusammen, als er angesprochen wurde. "Ja, die, äh, Helme. Also bisher hatten wir keine, äh, Erfolge zu verzeichnen, aber ich, äh, ich arbeite gerade an einem Exemplar mit, äh, Eschenholzverstärkung und extra polierter Oberfläche, sowie einer flach konkaven Form damit sich die Größe an sich reduzieren lässt um die Anwendung in der Praxis zu vereinfachen. Außerdem habe ich an eine verschließbare Nut für eventuelle Anbauten gedacht und..." Er sah in fragende Gesichter und die Röte schoss ihm in die Wangen. "Äh, ich, äh, werde es, äh, weiter versuchen."
"Und genau das sollten wir auch tun." Rea verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. "Ich bin immer noch der Meinung, dass wir..."
"Kannst du vielleicht damit aufhören?" Laizas Stimme hatte noch immer nicht ihre alte Festigkeit zurückgewonnen, aber wer in die blitzenden Augen der Okkultismusexpertin sah erkannte schnell, dass das Beben darin nun mehr aus von Verzweiflung gespeister Wut und nicht aus reiner Angst resultierte.
"Wenn du mich vielleicht ausreden lassen würdest?", schoss Fähnrich Dubiata, nunmehr ebenfalls verärgert, zurück. "Ich wolle lediglich zu bedenken geben, dass wir hinsichtlich des Rituals nicht ausschließlich auf dämonische Mächte angewiesen sind."
"Das ist aber zufällig, womit ich arbeite, ja? Und es ist kein Spiel, bei dem Fehler toleriert werden können ohne ernsthafte Auswirkungen zu haben."
"Mach mich nicht dafür verantwortlich, dass der Kommandeur dir den Schwarzen Peter zugeschoben hat!"
"Aber selbst wenn wir es erneut versuchen wollten", mischte sich Mina ein, während sich Hexe und Okkultismusexpertin mit Blicken regelrecht aufspießten, "Ihr hattet sie doch - in gewisser Weise zumindest - komplett von der physischen Welt abgeschnitten. Zu Anfang ist keiner mehr an sie herangekommen, oder? Trotzdem hatte das keinerlei Auswirkungen auf ihren mentalen Zustand, wir haben sie genauso glasklar empfangen wie vorher." Trotz der überlegten Worte flackerte ein unsicherer Ausdruck über das Gesicht des Korporals und sie hatte begonnen, mit einem Fuß ein schnelles Staccato auf den Boden zu trommeln.
"Das muss nicht unbedingt miteinander zusammenhängen", stellte Rea klar.
Magane schaute unterdessen etwas hilflos zwischen ihren beiden magiekundigen Kolleginnen hin und her und entschied sich dann, nicht noch Öl in die Flamme zu gießen, indem sie sich auf eine der beiden Seiten schlug.
"Ist alles in Ordnung?", erkundigte sie sich stattdessen bei Mina, welche zunehmend nervöser zu werden schien, ohne dass ein offensichtlicher Grund zu erkennen war. Die Frage schien diese zu überraschen.
"Was? Ja, natürlich." Die Vampirin hielt kurz inne. "Bei mir zumindest. Aber..." Sie sah zur geschlossenen Tür hinüber. "Etwas hat sie aufgewühlt, vielleicht sollten wir später noch einmal nach ihr schauen..."
Laiza ignorierte das alles; sie war mittlerweile aufgesprungen und ging hinter den Stühlen auf und ab.
"Ich werde mich nicht dazu zwingen lassen", murmelte sie, "Das kann er nicht verlangen, niemand kann das, dies muss ihm doch klar sein."
"Der Kommandeur steht auch unter Druck, ich denke nicht, dass eine böse Absicht hinter seinem Befehl steckt." Rea hatte sich wieder gefangen, ihr Tonfall war wesentlich ruhiger als noch vor wenigen Augenblicken, doch auch das verfehlte seine Wirkung auf den aufgebrachten Fähnrich.
In diesem Moment öffnete sich die Tür und Kanndra schlüpfte ins Zimmer.
"Entschuldigt die Verspätung", murmelte sie. "Ich habe..." Was auch immer sie hatte hinzufügen wollen, es ging unter als Laiza bitter auflachte.
"Oh ja, Araghast hat sich bis jetzt auch durch ganz besonderes Mitgefühl ausgezeichnet, was Ophelia angeht. Da mag es einfach sein, etwas zu befehlen."
"Ähm...", versuchte Kanndra auf sich aufmerksam zu machen.
"Läge das nicht absolut außerhalb meiner Befugnisse würde ich ihm gern mal das ein oder andere erzählen, das ist sicher..."
"Ich bin ganz Ohr, Fähnrich", erklang es da aus Richtung Tür. "Im Übrigen begrüße ich es sehr, dass du offenbar deine Grenzen kennst."
Laiza wurde mit einem Schlag schneeweiß im Gesicht.
"Sör..."
Araghast Breguyar lehnte im Türrahmen und musterte die Anwesenden mit finsterem Blick.
"Da Leutnant Mambosamba ohnehin von meinem Büro aus direkt diesen Raum angesteuert hat, wollte ich einmal selbst sehen, wie eure Bemühungen sich entwickeln. Oder ob das nicht eine von den Kaffeerunden ist, die auf Budgetkosten gern als Krisengespräche getarnt werden."
"Sör, ich würde sagen, wir kommen voran." Rea Dubiata schaffte es am schnellsten, in ihren professionellen Modus gegenüber Vorgesetzten zu finden. "Gewisse Unstimmigkeiten gehören dazu und sind kein Grund zur Sorge."
"Ist das so? Für mich klang es fast wie ernsthafte Widerrede. Fähnrich Harmonie?"
"Nein, Sör." Das eben noch so lebendig-rebellische war vollständig aus Laiza gewichen; sie war wieder auf ihrem Hocker zusammengesunken und schien sich zu wünschen, irgendwo anders zu sein.
Dafür fuhr nun Mina von Nachtschatten wie unter einem Schlag zusammen. Ihre Hand fuhr zum Mund und konnte das erschrockene Aufkeuchen doch nicht zur Gänze ersticken.
"Etwas stimmt ganz und gar nicht." Sie war schon fast aus dem Zimmer, doch der Kommandeur vertrat ihr den Weg.
"Nun mal nicht so hastig Korporal, ich bin sicher, Feldwebel Ziegenberger kommt auch einmal für ein paar Minuten zurecht, ohne dass ihr wegen jeder Kleinigkeit jemand die Hand hält."
"Bei allem Respekt Sör, ich denke nicht, dass es sich nur um eine Kleinigkeit handelt. Verzeihung Sör, aber dürfte ich vielleicht..."
Breguyar verharrte noch einige viel zu lange Augenblicke mit versteinerter Miene, beobachtete wie seine Wächter einer nach dem anderen aufstanden - bevor er mit einem unwirschen Schnauben die Tür freigab. Erst als die Gruppe geschlossen an ihm vorbeigezogen war folgte er selbst, mit einigen wohlbedachten Schritten Abstand.

~~~ oOo ~~~


Lustlos blätterte Ophelia in dem schon ziemlich in die Jahre gekommenen Buch; sie überflog die Texte nur, ohne wirklich wahrzunehmen was auf den stockfleckigen Seiten geschrieben stand. Währenddessen war sie sich nur zu bewusst, was in diesem Augenblick einige Türen entfernt passierte und dieser Gedanke verhinderte eine konzentrierte Beschäftigung mit etwas weniger Verfänglichem: Man traf sich um zu beraten. Über sie. Schon das war keine allzu angenehme Vorstellung, aber wenn sich die Wächterin vorstellte, dass die Kollegen damit Zeit opferten, die für andere Dinge von wesentlicher Bedeutung sein konnte, dann fühlte sie sich noch elender. Was war wohl schon alles liegen geblieben, was schon längst hätte erledigt sein können? Hatte es am Ende dazu beigetragen, dass ein Verbrechen nicht rechtzeitig aufgeklärt, eine Schuld nicht gesühnt werden konnte und das alles nur, weil eine einzelne Ermittlerin es geschafft hatte, zu einem Sicherheitsrisiko höchster Priorität zu werden? Ophelia schluckte. Sie mochte sich das gar nicht weiter ausmalen! Dennoch, trotz der Rückschläge und Fehlversuche blieben alle mit einem beinahe unglaubwürdigen Optimismus bei der Sache und wurden der Versicherungen nicht müde, es fände sich bestimmt bald eine Lösung. Es waren die kurzen Momente, wenn das jeweilige Gegenüber dachte, sie würde gerade nicht hinsehen, dass Ophelia in resignierte Gesichter schaute...
"Hallo."
Der Feldwebel erstarrte. Kurz durchzuckte sie der hoffnungsvolle Gedanke, dass vielleicht nur jemand den Raum betreten hatte, sie aber zu abwesend gewesen war, es zu bemerken... Doch es bedurfte eigentlich nicht einmal des Blickes zur Tür, um dieser Selbsttäuschung jede Grundlage zu nehmen. Vielleicht, wenn sie gar nicht darauf reagierte... Aber bedachte sie ihren derzeitigen - Ophelia scheute das Wort einen Moment lang - Zustand, wäre es dann nicht vielleicht doch klüger, direkt die gedankliche Ansprache zu suchen, als zu riskieren, das Unbewusstes versehentlich in den Fokus von... wem auch immer geriet? Überhaupt, vielleicht war das Ganze ja am Ende auch nur ein dummer Zufall?
"Hallo?", erwiderte sie daher vorsichtig.
Einen Moment herrschte Stille. Dann:
"Faszinierend, es funktioniert wirklich."
Sie konnte die Stimme niemandem zuordnen den sie kannte, ja, es war ihr nicht einmal möglich, sie als eindeutig männlich oder weiblich zu beschreiben. Nichtsdestotrotz war sich die Wächterin sicher, sie schon einmal gehört zu haben.
"Oh ja, das hast du, auch wenn die Umstände unseres letzten Zusammentreffens eher... nun ja, ich würde sie als unglücklich bezeichnen."
"Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen..."
"Ist auch nicht nötig. Du bist Wächterin, ja?"
Ophelia runzelte die Stirn. Das gefiel ihr nicht und wenn sie gekonnt hätte, dann wäre die Konversation an dieser Stelle beendet gewesen. Wenn sie doch nur darauf käme, wem dieser gedankliche Austausch galt...
"Mit wem habe ich das Vergnügen?", fragte sie daher frei heraus.
Ein amüsiertes Lachen hallte in ihren Gedanken wieder.
"Gerade du solltest doch wissen, dass man mit seiner Identität vorsichtig umgehen muss - wenn einverdeckter Ermittler das ist, was ich mir darunter vorstelle... Ophelia? Hmm, schöner Name. Nun, liebe Ophelia, eigentlich bin ich nur jemand, der dir einen geschäftlichen Vorschlag unterbreiten möchte."
Ihr Herz schien einen Schlag auszusetzen, dann begann es mit beinahe schmerzhafter Geschwindigkeit gegen ihren Brustkorb zu hämmern. Zwar musste dieses Wissen um ihr Selbst höchstwahrscheinlich recht weit oben in ihrem Bewusstsein zu finden sein, aber hatte sie auch tatsächlich gerade daran gedacht gehabt? Die gesunde Hand der Ermittlerin krampfte sich zu einer Faust zusammen. Hatte das Wort "Wächter" schon ausgereicht, um ihr diese Information zu entlocken? Wie, wenn man den Schalter an einer Maschine umlegte? War sie sich denn wirklich schon so ausgeliefert?
"Na na, kein Grund melodramatisch zu werden. Hör mir doch erst einmal zu: Deine Fähigkeit ist eine höchst interessante Sache, aus der wir beide einen Vorteil ziehen können. Wenn du also bereit wärest, mein Vögelchen innerhalb dieser Mauern zu spielen und mir, sagen wir, ab und an die ein oder andere Sache zu zwitschern, dann werde ich für ausreichend, hmm, Körnerfutter sorgen. Metaphorisch gesprochen. Ich kann dir so ziemlich alles beschaffen, was du willst."
Zusammen mit diesen Worten flackerte eine kurzes Bild vor Ophelias innerem Auge auf, eine Szenerie die ihr vertraut war, welche sie aber aus diesem Blickwinkel noch nie gesehen hatte: Sie befand sich schräg oberhalb des Wachhausdaches und näherte sich mit hoher Geschwindigkeit dem Klackerturm, auf welchem sich eine einzelne Person aufhielt. Es war wie bei einem Blick in den Spiegel. Die verdeckte Ermittlerin sog scharf die Luft ein.
"Bei Anoia!"
"Ah, du hast es begriffen. Ich hatte eigentlich gedacht, das ginge schneller." Eine Art mentales Schulterzucken folgte. "Egal, was sagst du denn jetzt zu meinem Vorschlag? Bist du dabei?"
Anstatt einer willentlich formulierten Antwort begann ganz automatisch eine bestimmte Textpassage in Ophelias Kopf abzulaufen, ein Teil eines Dokumentes, welches sie so gut wie fast kein anderes kannte:
"§5 Vorteilsannahme: Verboten ist die Annahme von Geld, Gegenständen oder Gefälligkeiten zum Zwecke des Abweichens von den Gesetzen der Stadt Ankh-Morpork, oder zur Herbeiführung der Begünstigung..."
Der oder die Unbekannte in ihrem Kopf stöhnte gequält auf.
"Also ehrlich, ihr Wächter seid ja sowas von fantasielos! Die Geschichten über korrupte Gesetzeshüter sind wirklich maßlos übertrieben! Aber gut, dann eben nicht. Einseitige Geschäfte haben schließlich auch ihre Vorzüge."
Was danach geschah ließ sich wohl am ehesten mit dem Bild eines lose gewickelten Wollknäuels vergleichen, an dessen Fäden wahllos, allerdings in sehr schneller Folge, gezogen wurde. Die fremde Präsenz wühlte derart rücksichtslos in ihren Gedanken, dass Ophelia es körperlich spüren konnte, ein seltsames Gefühl irgendwo zwischen Schwindel und beginnenden Kopfschmerzen. Sie sprang von ihrem Stuhl auf, musste sich kurz an der Tischplatte abstützen, doch dann fanden ihre Füße festen Halt. Sie musste irgendetwas tun, irgendetwas um diesem Tun schnellstens Einhalt zu gebieten! Die Folgen waren sonst nicht abzusehen.
Ein leichter Anflug von Ungeduld streifte ihre Wahrnehmung.
"Hmm, sie ist besser als gedacht, so wird das nichts. Das sind ja alles nur Einzelheiten, völlig zusammenhanglos..." Es war mit Worten nicht zu beschreiben, aber Ophelia konnte spüren, dass dieser letzte Gedanke nicht Teil der eigentlichen Kommunikation gewesen, sondern in einem Teil des fremden Bewusstseins abgelaufen war, welchen der Besitzer vor ihr verschlossen glaubte. Vielleicht konnte sie diesen Zugang von ihrer Seite aus nutzen um ihr Gegenüber abzulenken, nur wie? In einem unbeholfenen Versuch richtete sie ihre volle Konzentration darauf aus und rief dann gezielt weitere Paragraphen des Strafgesetzes der Stadtwache aus ihrem Gedächtnis ab.
"§6 Freiheitsberaubung: Verboten ist das Festhalten, Einsperren oder Fesseln von anderen Personen gegen deren Willen..."
"Sag mal, was probierst du da gerade?", fauchte es zwischen ihren Schläfen - nun wieder eindeutig an sie gerichtet. "Soll mich das beeindrucken? Sei doch mal ein bisschen kooperativer, dann bist du mich auch viel schneller wieder los. Übrigens, was ist das eigentlich für eine Sache mit dieser Familie Sargstätt?"
Ein Name, der im Zusammenhang mit der HIRN-Nachbearbeitung aufgetaucht war. Die Familie hatte größere Verluste erlitten, als... nein, hör auf zu denken, hör auf zu denken!
"Besten Dank!"
Ophelia rang nach Atem, die ansteigende Panik machte es ihr unmöglich, auch nur im Ansatz einen weiteren Verteidigungsversuch zu unternehmen. Das Ganze war in Sekunden abgelaufen, es durften keine Minuten daraus werden. Ihr Blick geisterte zur Tür, aber im gleichen Moment verwarf sie den damit einhergehenden Gedanken wieder. Selbst die anderen zu alarmieren würde zu lange dauern und bis sie erklärt hatte, was vor sich ging... und sie würden ja doch nichts tun können! Ihr fiel nur eine einzige Person ein, die zu erreichen sie sich im Stande sah und welche hoffentlich in der Lage sein würde, schnell genug zu reagieren. Obwohl es freilich keine Auswirkungen haben würde holte Ophelia tief Luft - und dann schrie sie, mit aller Kraft die sie aufzubringen imstande war, in den mentalen Äther:
"Valdimier!"
Es vergingen einige angsterfüllte Sekunden, lediglich untermalt von einem zufriedenen Summen, während sich der Eindringling weiter ungeniert in ihrer Gedankenwelt umsah, wahrscheinlich hier und da ein Detail näher betrachtend, ein anderes liegen lassend und Schlüsse ziehend, die nicht in die falschen Hände geraten durften. Doch dann:
"Ophelia? Das kann doch gar nicht sein, ich bin weit außerhalb ihrer Reichweite. Was hat sie jetzt schon wieder angestellt?"
Beinahe hätte sie vor Erleichterung laut aufgeschluchzt. Ophelia ignorierte die Frustration in der gedanklichen Stimme des Kollegen, überging ebenfalls was sie gerade vernommen hatte und kam umgehend auf den Punkt:
"Es ist ein Notfall, bitte, bist du in der Nähe?"
"Na ja, wir haben eine Festnahme im... tut nichts zur Sache, aber was ist denn..." Er verstummte. Ohnehin hatte es sich nur um eine Frage aus reiner Höflichkeit gehandelt - der Vampir war durchaus in der Lage, die Situation innerhalb weniger Augenblicke zu erfassen, so Ophelia ihm ungehindert Einblick gewährte. Doch was hätte es gerade jetzt gegeben, das sie davon abgehalten hätte?
Valdimiers Reaktion bestand in einem bedrohlichen Knurren.
"Verdammt nochmal Frau, was tust du denn da? Warum wirfst du nicht gleich die Akten aus dem Fenster, auf dass jeder Zugang hat?"
"Ich kann doch nichts dafür..."
"Das spielt jetzt keine Rolle! Kannst du es irgendwie aufhalten?"
"Nein..."
Es folgten einige unterdrückte Flüche.
"Ich bin gleich da."
"Beeil dich!"
"Ja ja..."
Sowas musste ja früher oder später passieren! Und natürlich dürfen es andere ausbaden! Wir haben ja auch keine sonstigen Probleme, als dass das Fräulein Ziegenberger neuerdings das Gesocks anzieht wie Licht die Motten. Warum mich nicht gleich zur Vierundzwanzig-Stunden-Überwachung der werten Geisteswallungen abstellen, im Wachhaus habe ich doch sowieso keine Privatsphäre mehr und wer braucht schon ein Leben außerhalb? Ich bin es leid, ich bin es einfach so leid!"

Was hätte sie dafür gegeben, diese Anschuldigungen nicht hören zu müssen! Es war eine Sache, sich selbst als Bürde zu empfinden, jedoch ungleich bitterer, dies so eindeutig bestätigt zu bekommen...
"Oh, ein Ritter in strahlender Rüstung, wie klassisch!", spöttelte es in diesem Moment dazwischen.
"Du hältst die Klappe und raus aus ihrem Kopf, bevor ich dich in die Finger kriege!"
"Jetzt habe ich aber Angst." Der fremde Vampir kicherte.
Ophelia biss die Zähne zusammen. Sie hasste es, diese Rolle des Übermittlers einzunehmen. Doch hatte sie dies bislang nur auf verbaler Ebene über sich ergehen lassen müssen, so gesellte sich nun noch ein neuer Aspekt hinzu: Bilder flackerten vor ihrem inneren Auge auf, wechselten einander in albtraumhaft schneller Folge ab, gingen ineinander über, verschmolzen zu unkenntlichen Formen. Sie kniff instinktiv die Augen zusammen, doch das nützte nicht. Vielmehr begannen sich nun langsam Muster abzuzeichnen: Das eine konnte die Pons-Brücke sein, seltsam verzerrt, wohl durch die Geschwindigkeit des herannahenden Kollegen, und das andere - war das das Opernhaus, von der gegenüberliegenden Straßenseite aus gesehen?
"Hmm, das wird mir nun doch ein wenig zu heiß", hallte es wie von fern zu ihr hinüber, "aber keine Sorge, ich bin sicher, wir werden eine Gelegenheit bekommen, unseren kleinen Plausch fortzusetzen."
Dann zerbarst das zweite Bild in viele kleine einzelne Scherben und wie in einem Mosaik aus jenen begann Ankh-Morpork mit Übelkeit erregender Geschwindigkeit unter ihr hinwegzuziehen.
"Ich muss jetzt nicht allen Ernstes noch die Verfolgung aufnehmen, oder? Na klasse! Dabei habe ich Lilith versprochen, heute ausnahmsweise einmal pünktlich zu sein."
Damit veränderte sich auch die Perspektive Valdimiers, hob sich über die Dächer der Stadt und fokussierte sich auf einige dunkle Punkte in der Entfernung... bevor beide Verbindungen mit einem Schlag abbrachen. Stille. Doch hatte diese nichts Tröstliches an sich, sondern glich vielmehr einem düsteren Schweigen vor dem nächsten Sturm.
"Ophelia?"
Jemand berührte sie sacht am Arm. Die Angesprochene hob den Kopf und zu ihrer Überraschung fand sie ihr Zimmer gut gefüllt vor. Während Braggasch Goldwart vorsichtig durch die Tür lugte, deren Klinke Magane immer noch in der Hand hatte, verharrten Laiza Harmonie und Kanndra Mambosamba schon auf halbem Weg zwischen Eingang und Tisch, an welchem sich das Drama abgespielt hatte. Ophelia am nächsten waren Rea und Mina. Die Hexe hob gerade den Stuhl auf - wann war dieser eigentlich umgefallen? - indes es die Vampirin war, welche gesprochen hatte. Sie musste etwas sagen, sonst dachten die anderen noch, es wäre ernsthaft etwas nicht in Ordnung.
Aber so ist es doch auch...
Ophelia blickte von einem Gesicht zum nächsten, in welchen sich verschiedene Ausdrücke zwischen Bestürzung und Entsetzen spiegelten. Jetzt erst bemerkte sie das Brennen in ihren Augen und die Tränen, welche ihr noch immer im stetigen stummen Strom die Wangen hinabliefen. Vom Gang her jedoch donnerte eine Stimme, triefend vor Sarkasmus, welche unzweifelhaft dem höchstgestellten Mitglied der Wache gehörte:
"Wirklich, exzellente Arbeit. Man kann in der Tat nur staunen, wie ihr vorankommt!"


OPHELIA ZIEGENBERGER

Jargon hätte fast laut gelacht, als sie seinen Angriff nicht einfach nur parierte, sondern sofort mit zwei schnellen Hieben und einem wagemutigen Vorstoß reagierte. Vor einer Stunde noch hätte er es nicht für möglich gehalten, dass er im Stande sein könnte, sie auch nur etwas aufzumuntern. Er hatte nicht unbedingt viel Erfahrung mit den Frauen aber ihr jämmerlicher Zustand war selbst ihm aufgefallen, so dass er kurz daran gezweifelt hatte, ob es eine gute Idee oder auch nur in ihrem Sinne war, mit ihm zu trainieren. Ein Gedanke, der schneller verflogen war, als er ihn zu Ende hatte formulieren können, sobald sie seiner angesichtig geworden war. Und nun... wenn Ophelia so weitermachte, würde er das Tempo nicht mehr lange durchhalten können. Der Schweiß lief ihm in Strömen den Rücken hinunter und der einzige Trost, der sich ihm in dieser Situation bot, war, dass es ihr offensichtlich nicht anders erging. Was jedoch nichts an ihrer Vehemenz änderte - oder an seinem stetig wachsenden Empfinden, dass sie beide ewig so weitermachen sollten.
Wir sind ein gutes Thiem! Es war richtig, sie vorhin zu fragen.
Als wenn sie seine Gedanken gelesen hätte, lächelte sie ihn während eines Ausweichsschrittes an.
"Ich danke dir sehr, Jargon! Das war exakt, was ich nach diesem schrecklichen Tag gebraucht habe. Wenn es dir zu viel wird, sage bitte unbedingt Bescheid, ja?"
Seltsamer Übermut überkam ihn.
"Das könnte dir so passen! Kommt nicht in Frage, das fechten wir jetzt miteinander aus!"
Ophelia kannte ihn inzwischen gut genug, um das Ungewöhnliche an seinem Verhalten ebenso zu bemerken und stockte daher mit leichtem Staunen in der Bewegung.
"Jargon! Wie ungestüm! Seit wann bist du denn..."
Der restliche Satz wurde von ihrem Lachen verschluckt, als sie seinem neuerlichen Überraschungsangriff mit dem Wegreißen ihres Waffenarmes und einer schwungvollen Rückwärtsdrehung um ihre eigene Achse entging. Sie wich vorsichtshalber noch einen Schritt von ihm fort.
Schwer atmend standen sie einander gegenüber und grinsten sich mit bereit gehaltenen Waffen an.
Seine Lunge protestierte stechend.
Es tut gut zu sehen, wie es ihr langsam wieder besser geht. Er hatte noch viel zu deutlich ihr verweintes Gesicht von zuvor in Erinnerung und dieses Bild verstörte ihn nachhaltig. Das ist das Seitenstechen allemal wert.
"Soll ich wieder gehen, Madame?"
Ophelia richtete sich überrascht auf und sah sich in dem unsteten Fackelschein der Hofbeleuchtung nach dem nächtlichen Besucher um.
"Rach! Wie schön! Bitte bleib doch! Wir sind ohnehin gleich fertig, nicht wahr?"
Bei der Frage drehte sie sich ihm freudig zu und es war klar ersichtlich, dass die kampfeslustige Anspannung ihren Körper mit einem Schlag verlassen hatte.
Er zögerte.
Zwar würde sein Kreislauf es ihm danken, wenn er sie gehen ließe und er wollte ihr ja auch nichts ausschlagen aber...
Ihr Blick bekam etwas Fragendes.
Vermutlich sieht man mir die Enttäuschung an, wie dumm! Er beeilte sich, Euphorie zu demonstrieren und lässig abzuwinken.
"Ja, natürlich, geh nur! Für heute sollte das reichen."
Er konnte die unangenehme Aufmerksamkeit des Besuchers auf sich spüren, wich dessen Blicken aber willentlich aus.
Ophelia steckte ihr Kurzschwert mit einer entschlossenen Bewegung in das Gehänge zurück, das sie über ihrem schlichten Tageskleid trug. Sie knickste angedeutet, um ihm für seine Mühen zu danken, ehe sie sich aufgeregt ihrem Herrenbesuch zuwandte.
"Ich brauche nur einen Moment, um mir Wechselkleidung von oben zu holen und mich schnell frisch zu machen. Möchtest du so lange in meinem Büro warten? Oder lieber in der Kantine?"
Noch so eine Sache, an die er sich bisher nicht gewöhnt hatte: Die Zivilkleidung wirkte an ihr so seltsam, erst recht innerhalb der Mauern des Wachhauses. Die weichen, schwingenden Konturen betonten einen Wesenszug an Ophelia, der jene noch zugänglicher wirken ließ. Er wagte kaum, es zu denken aber: Sie sah damit mehr nach "Frau" aus, denn nach "Kollegin".
Sie sprach so konzentriert mit diesem Rach Flanellfuß, dass Jargon sich erschrak, als sie sich plötzlich ihm zuwandte.
"Morgen wieder?"
Er sah sie verständnislos an.
"Wie bitte?"
Sie hakte sich amüsiert bei dem Mann an ihrer Seite unter, der ihn schweigend zu beobachten schien.
"Wo bist du denn plötzlich mit deinen Gedanken? Wärest du bis eben genauso abgelenkt gewesen, dann hätte unser Vergnügen nicht einmal halb so lang angedauert. Ich habe unser Training genossen und würde es gerne morgen weiterführen. Vor deiner Schicht vielleicht sogar noch? Ich meine, wenn du magst. Und wenn sich an deinen Einteilungen in letzter Zeit nichts geändert hat?"
Er beeilte sich, zu nicken.
"Ja, auf jeden Fall! Ich meine, nein, es gab keine Schichtänderungen für mich. Morgen die späte Doppelstreife."
Ophelia strahlte zu ihrem Begleiter auf und Jargons Herz machte einen Sprung.
Ist mein Kreislauf dermaßen aus dem Rhythmus? Weiche Knie, immer noch viel zu schnelle Atmung... Vielleicht habe ich es doch etwas mit dem Training übertrieben. Ich habe doch sonst nicht so merkwürdige Störungen... nicht, dass es sich schlimm anfühlen würde aber mir ist regelrecht ein bisschen schwindlig im Kopf und ganz flatterig im Magen! Vielleicht sollte ich noch eine Kleinigkeit essen?
Die Ermittlerin lehnte sich unauffällig etwas näher an ihren Besucher, ihre schmale Hand schmiegte sich noch mehr in dessen Armbeuge.
"Du musst wissen, Rach, dass Jargon hier mir ein wertvoller Freund ist."
Ihre Worte waren Balsam für seine Seele, ebenso wie ihr aufrichtig dankbarer Blick. Er war froh, um ihre Zuneigung zu wissen.
"Das beruht auf Gegenseitigkeit, Ophelia. Nun denn! Dann wünsche ich euch beiden noch einen angenehmen Abend!"
Merkwürdigerweise schien Rach Flanellfuß seine Dankbarkeit für Ophelias Gegenwart und ihrer beider Freundschaft nicht nachempfinden zu können. Dessen Blick, bevor sie sich umwandten und zum Hintereingang des Wachhauses schlenderten, war alles andere als herzlich.
Was ist das denn für einer? Gönnt der Kerl ihr etwa keine Freunde oder wie soll man sein Verhalten verstehen? Sie wird sich doch hoffentlich nicht so einen ausgesucht haben, der nicht gut genug für sie ist?
Jargon blieb mit einem merkwürdigen Gefühl in der Mitte des nächtlichen Hofes stehen und nestelte verunsichert am Kragen seines Hemdes herum.

~~~ oOo ~~~


Der Gefreite Dagomar von Omnien, seines Zeichens zuletzt ausgebildeter im Reigen der Wache-Püschologen, stand etwas nervös vor der Tür zu ihrem Büro.
Eigentlich eher ihres Schlafgemachs, wenn man die Umstände berücksichtigt, nicht wahr? Meine Güte! Beruhige dich! Sie hatte darum gebeten und du suchst sie dienstlich auf. Es geht um deine Spezialisierung. Ein Gedanke allerdings, der es eben nicht einfacher machte. Denn der Umkehrschluss besagte, dass sie ihm in wenigen Sekunden ihre innersten Wünsche und Gedanken anvertrauen würde. Ich werde sie kennen lernen! So, wie sie wirklich ist!
Er wischte sich vorsichtshalber die Hände ein letztes Mal an der Hose ab und befeuchtete seine Lippen, ehe er möglichst gelassen anklopfte.
"Herein!"
Ophelia stand neben dem gedeckten Teetisch und wirkte in ihrer ungewohnten Zivilkleidung wie der Inbegriff der treu sorgenden omnianischen Ehefrau, die ihren Gemahl nach seinem erschöpfenden Tagewerk daheim begrüßte.
Er schüttelte diese erste Assoziation erschrocken von sich.
Was ist nur los? Es geht hier um etwas Wichtiges und sie vertraut dir. Erweise dich dieses Vertrauens als würdig!
Sie grüßten einander und obgleich sie dabei keinesfalls sonderlich ängstlich oder zurückhaltend auf ihn wirkte, war eine gewisse Unsicherheit zwischen ihnen spürbar.
"Dagomar... ich meine... Gefreiter von Omnien... schön, dass Du es einrichten konntest."
"Schön, dass du mich eingeladen hast, Mä'äm."
"Ich hoffe, mein Anliegen verursachte Dir keinen unnötigen Aufwand?"
Sie deutete ihm einen Platz gegenüber an und schenkte ihm sogleich einen Tee ein, als sie sich setzten.
"Nein, Mä'äm. Und selbst, wenn dem so gewesen wäre, würde ich es wohl nicht sagen... vielen Dank!"
Er bemerkte sehr wohl ihr leichtes Erröten. Leider - oder dankenswerterweise? - überging sie seinen nonverbalen Hinweis auf seine... wohlwollende Grundhaltung ihr gegenüber.
Ophelia blickte ihn besorgt an.
"Ist das für Dich in Ordnung, dass Du mich... die nächste Zeit über püschologisch betreuen würdest?"
Die Antwort darauf fiel ihm leicht.
"Ich würde mich geehrt fühlen. Es ist das Mindeste, was ich tun kann."
Er hatte in Vorbereitung auf dieses Gespräch – er korrigierte sich: auf diese Sitzung! – bereits davon läuten hören, dass er nicht ihr erster Gesprächspartner sein würde. Dieser Agentenzwerg der Internen Ermittlung hatte sich dreisterweise sogar geweigert, ihr weiter zu helfen!
Mickriger Feigling!
Beim Anblick ihrer püschologischen Akte hatte er schnell beschlossen, in seinem Ansatz einen neuen Weg einzuschlagen. Allein die Fragestellungen seiner Vorgänger wiesen in den Formulierungen auf gewisse Vorurteile, Vorlieben und Abneigungen hin. Es hatte ihn beim Lesen der Akte immer mehr in Rage gebracht zu sehen, wie sie Ophelia jeder für sich in eine bestimmte Schublade drängten, wie sie seiner Meinung nach empfindliche Themen wahlweise aggressiv an- oder sie sogar gelangweilt übergingen! Er würde ihr nicht das Gleiche antun! Er wollte ihr wirklich helfen!
Ophelia goss sich selber ebenfalls Tee ein und schien noch ihren eigenen Gedanken nachzuhängen, als sie erklärte:
"Araghast hatte es ja nun von Anfang an ausgeschlossen, das selbst zu übernehmen. Romulus musste außer Haus in den Einsatz und Sebulon…" Sie zuckte andeutungsweise mit der rechten Schulter und lächelte schief. "Er hat wohl zu große Bedenken. Wegen dieser ganzen Sache. Und seinen ganzen vertraulichen Untersuchungen. Man kann es niemandem zum Vorwurf machen…" Sie lächelte ihm aufmunternd zu. Dabei hätte es umgekehrt so sein müssen! "Umso mehr weiß ich deine Unvoreingenommenheit zu schätzen. Also dann... da wären wir."
"Ja... da wären wir... Also. Warum wolltest du mich denn genau sprechen?"
Er zupfte an einem imaginären Fussel am Ärmel herum.
"Romulus und Breguyar waren sich darin einig, dass ich aufgrund meines... mentalen Problems in dauerhafte püschologische Behandlung müsse. Und um diese nicht zu unterbrechen... wärest du nun an der Reihe, dein Können an mir zu versuchen. Von einer Lösung zu träumen wage ich nicht. Araghast will über den Weg dieser Sitzungen zumindest auch auf dem Laufenden gehalten werden, was die Experimente anbetrifft."
"Wäre es für dich in Ordnung, wenn ich mir Notizen mache?"
"Selbstverständlich!"
Er legte Notizblock und Stift offen vor sich und fühlte sich gleich etwas sicherer. Manchmal halfen schon kleine Dinge und Gesten, um den professionellen Anstrich zu wahren. Er würde das, was gerade zur Sprache kam, einfach nutzen, um sie zum Weiterreden zu verleiten und dazu, sich ihm zu öffnen. Und erst dann würde er auf die fraglichen Aspekte überleiten. So der Plan.
"Experimente?"
Ophelia errötete, dieses Mal jedoch deutlich unangenehm berührt.
"Solltest du der Einzige sein, der noch nichts von ihnen mitbekommen hat?"
"Nun, dass es Experimente gibt, habe ich gehört. Aber du weißt sicher auch, wie das mit Gerede ist, oder?"
Sie nickte mit einem leisen Seufzer. "Nur zu gut..." Sie holte tief Luft. "Es sind viele. In die unterschiedlichsten Richtungen. Sie sollen alles ausprobieren, bei dem die geringste Chance besteht."
Er begann nickend damit, sich die ersten unverfänglichen Notizen zu machen.
"Von Leuten, die dir nahe stehen? Also sind es vielmehr Hilfsangebote, als Experimente? "Experimente" klingt so... distanziert."
"Seitens der Kollegen. Also beides, würde ich sagen. Sowohl als auch. Ich soll ja mit keinem Zivilisten mehr in Kontakt kommen, solange das Problem ungelöst ist. Maggie zum Beispiel, aus der Gerichtsmedizin, testet immer neue Tee- und Kräutermischungen an mir, die sie mir morgens aufkocht."
Dagomar schaute instinktiv zu seiner eigenen Teetasse, während sie fortfuhr.
"Laiza und sie, sowie Rea und Kanndra haben vor Kurzem ein Experiment mit einem Bannkreis an mir durchgeführt."
"Aufgrund der Tatsache, dass du noch immer nicht das Gebäude verlassen darfst, nehme ich an, dass es nicht funktioniert hat?"
Ophelia senkte den Kopf und nickte bedauernd.
Es war eindeutig an der Zeit, mit der Arbeit zu beginnen und die eigentlichen Fragen zu stellen.
"Kam es vor den... Geschehnissen jemals vor, dass um dich herum etwas passierte, das du dir nicht erklären konntest?"
Ophelia legte den Kopf leicht schief und schaute ihn aufmerksam an.
"Vor welchen Geschehnissen genau?"
"Bevor du das Wachhaus nicht mehr verlassen durftest."
Ophelia dachte gründlich nach und antwortete gedehnt:
"Nein, im Grunde nicht. Es gab Ereignisse, die nicht als alltäglich bezeichnet gehört hätten aber letztlich konnte ich sie immer logisch herleiten."
"Also, würdest du sagen, Anzeichen dafür, dass du für das ... Nicht-Alltägliche empfänglich sein könntest gab es keine?"
Ophelia nippte vorsichtig an ihrem heißen Tee. Sie stellte die Tasse langsam wieder ab.
"Ich habe mich immer als normale Durchschnittsbürgerin gesehen. Vielleicht mit etwas mehr Bildung, etwas mehr Ambitionen. Aber keinesfalls mit weitreichenderen Gaben."
Er machte sich nickend Notizen, um die nächste Frage hinauszuzögern, da sich diese viel zu persönlich anfühlte. Andererseits... er war hier um ihr zu helfen. Und das war die einzige Art von Hilfe, die er ihr anbieten konnte.
"Ophelia ... das könnte jetzt eine etwas unangenehme Frage sein. Dennoch fühle ich das Bedürfnis, sie zu stellen."
Sie sah ihn gefasst an.
"Das ist in Ordnung. Frage ruhig! Ich werde so gut es geht antworten."
Wie viele solcher intimen Fragen hat sie schon über sich ergehen lassen müssen? Ich würde nicht in ihrer Lage stecken wollen.
Er holte vorsichtig Luft und überwand den eigenen Widerwillen.
"Hattest du jemals jemanden, mit dem du deine geheimsten Gedanken und Wünsche teilen konntest? Der dich versteht und ernst nimmt? Und ich meine nicht die Ophelia, die man auf den ersten oder zweiten Blick sieht."
Ophelia saß wie erstarrt auf ihrem Stuhl. Erst nach einigen unendlichen Sekunden löste sie mit deutlich sichtbarer, willentlicher Anstrengung die verkrampfte Hand aus ihrem Rock und atmete bewusst weiter.
"Es... ich muss beides mit ja beantworten... allerdings... könnte der Gesamteindruck dieser schlichten Antwort... es könnte ein falscher Eindruck entstehen und..."
Er merkte selber, dass er etwas verwirrt aussehen musste. Mit einer so ungenauen Aussage hatte er keinesfalls gerechnet. Ein generelles Ablehnen der Antwort vielleicht oder ein schüchtern ausweichendes Verneinen aber so etwas?
Sie sah ihn verunsichert an.
"Weißt du von meinen Erlebnissen im Hause Ascher? Vielleicht... es gab auch dazu Gerüchte im Wachhaus... oder durch meine Personalakte?"
Natürlich wusste er darüber Bescheid. Er konnte sich nur noch nicht denken, worauf genau die Frage abzielen mochte. Weswegen es sinnvoller erschien, es in ihren eigenen Worten formuliert herauszufinden.
Was treibt sie, das zu fragen? Welche Zusammenhänge vermutet sie selber?
Er antwortete ausweichend.
"Nur ein wenig."
Sie seufzte.
"Es gab da einen Vampir." Ihre Stimme wurde leiser. "Er... aufgrund seiner Manipulation... also, er hatte Zugriff auf mein Selbst... auf meine Gedanken. Und Gefühle."
Ophelia verstummte.
Dagomar dämmerte das volle Ausmaß ihrer Antwort und er musste den aufwallenden Zorn auf den genannten Vampir unterdrücken. "Ich glaube, ich verstehe." Er überprüfte innerlich schnell, inwieweit sich dies mit seiner These decken mochte. "Aber das war nicht freiwillig, sehe ich das richtig?"
Sie stimmte ihm hastig zu.
"Ja, nicht freiwillig. Und seine Art des Respekts mir gegenüber war auch eher fragwürdig. Jemanden, der mich wirklich respektiert, durfte ich erst vor kurzem kennen lernen."
Das grau ihrer Augen schien nachzudunkeln, das Licht des Raumes reflektierte in umso helleren Punkten aus der Tiefe heraus.
Kann es wirklich sein? Meint sie etwa…
Dann jedoch wanderte ihr Augenmerk für den Bruchteil einer Sekunde unstet von ihm fort, während sich das sinnierende Funkeln mit einem warmen Ausdruck in ihren Pupillen verband und ihn eines Besseren belehrte.
…nicht mich.
Natürlich. Er hatte davon vernommen. Gerüchte machten dieser Tage noch schneller die Runde, sobald sie Ophelia betrafen. Aber er hatte es noch nicht glauben wollen. Denn, mal im Ernst: Konnte ausgerechnet für Ophelia aus heiterem Himmel ein passender Begleiter aufgetaucht sein? Abgesehen von ihren sicherlich vorhandenen und gewiss anspruchsvollen Bedürfnissen gab es da ja noch den Fakt, dass sie in ihrem nahezu sprichwörtlichen Arbeitseifer wohl kaum die Zeit für romantische Treffen gefunden haben konnte!
Dagomar entschied sich dafür, mit einem unverfänglichen Laut der Aufforderung zu reagieren.
"Oh?"
Ophelia begann zu strahlen, was ihn unweigerlich dazu veranlasste, es ihr gleich zu tun - wenn auch mit gemischten Gefühlen. Ihr Lächeln verblasste allerdings viel zu schnell wieder, als ihr etwas aufging.
"Wobei man da vielleicht sagen müsste... Also... ihm gegenüber erlauben es die neuerlichen Umstände wiederum nicht, auch die geheimsten Wünsche und Gedanken zu teilen. Von daher... beides zusammen, völlige Aufrichtigkeit und Respekt, gab es noch nicht zeitgleich."
Ophelia schaute ihn bei dieser Erkenntnis etwas hilflos an. "Ist das wichtig?"
Für seine Theorie klang es nur zu bedeutsam aber das würde er ihr so direkt nicht sagen wollen. Es bedeutete nichts Gutes. Und obendrein war es traurig... ja, regelrecht tragisch. Aber darüber durfte er jetzt nicht länger nachdenken.
"Ich bin mir nicht sicher. Ich habe mir auf dem Weg hierher Gedanken gemacht. Dein momentaner Zustand scheint dich dazu zu zwingen, mit einigen Personen deine innigsten Gedanken und Wünsche zu teilen. Leider unfreiwillig. Sehe ich das richtig?"
Ophelia nickte ohne zu zögern. Sie hing regelrecht an seinen Lippen.
"Ich bin kein Experte was die okkulten Dinge angeht. Aber auf mich wirkt es so, als wolle deine Püsche dir mit aller Gewalt das beschaffen, was du, laut deinen Aussagen, bisher nicht hattest."
Sie sah ihn erschrocken und schuldbewusst an. Ein entsetztes Flüstern löste sich von ihr.
"Aber ich mache das nicht absichtlich. Wirklich! Bitte glaube mir, Dagomar!"
Dass sie ihn in der Stunde ihrer Not unbewusst auf so persönliche Weise anredete, als wenn er wirklich dazu imstande sein könne, ihr zu helfen und mit seinem Zuspruch dafür zu sorgen, dass Zweifel sich verflüchtigen würden, brachte ihn innerlich aus dem Gleichgewicht.
Er räusperte sich.
"Ja, das glaube ich dir. Allerdings: Ich habe dich kennen gelernt als eine Frau voller Selbstbeherrschung und Kontänongs. Wie erkläre ich meine Theorie jetzt am besten? Nehmen wir an, du wärest ein Dampfkessel. Und dein Wunsch nach einem... Seelenverwandten ist das Feuer unter diesem Kessel. Der Grund, zu existieren."
Ophelia wirkte erschüttert aber sie hörte ihm aufmerksam zu. Der Vergleich schien sie zu irritieren, denn sie runzelte die Stirn, folgte seinen Ausführungen dann aber wieder möglichst unvoreingenommen.
"Wegen eben dieser Selbstbeherrschung konnte der Dampf nicht einfach so dorthin ziehen, wo er hin möchte. Es baut sich eine Art Druck auf. Und dein jetziger Zustand könnte das Pfeifen des Teekessels sein. Ein Versuch, deinen Wünschen Ausdruck zu verleihen. Leider mit aller Macht. Verstehst du, was ich meine?"
Sie wand sich innerlich, denn sicherlich würde sie darin ein persönliches Versagen sehen, falls die Theorie sich als richtig herausstellen sollte. Er wünschte ihr das natürlich nicht! Aber seiner Meinung nach sprach Vieles dafür, dass es so sein könnte.
"Nehmen wir an, deine Theorie sei schlüssig. Warum geschieht das dann nicht bei allen Menschen in ähnlicher Situation so? Warum bin ich die erste Person, von der ich jemals gehört habe, der es so ergeht?"
"Vielleicht gab es einen Einfluss in deinem Leben, von dem momentan niemand etwas weiß? Eine zusätzliche Begabung, die du verborgen mit dir trägst und die nun, aufgrund der Umstände, zu Tage getreten ist?"
Ophelia sah ihn fast verzweifelt an.
"Worum sollte es dabei gehen?"
"Wie gesagt, ich bin kein Fachmann für das Okkulte. Allerdings vermute ich auch, dass Maggie, Laiza und Rea Dubiata bereits überprüft haben, ob dein Zustand irgendeine Art von... Magie ist?"
Sie strich sich müde mit der Hand über die Stirn.
"Ich bezweifle, dass dies alles in meinem Kopf irgendetwas mit Magie oder dem Okkulten zu tun hat. Der Versuch letztens ging ins Leere. Es sollen zwar noch weitere folgen, natürlich, aber... entschuldige bitte! Ich verliere allmählich den Überblick darüber, wer bereits was an mir getestet hat. Sie haben sich zumindest viel miteinander beraten."
Er versuchte, ihr mit seinem Blick das Aufmunternde an dem folgenden Gedanken zu übermitteln.
"Zu deinem Wohl! Du bist ihnen nicht egal!"
Ebenso wenig, wie mir!
Ophelia blickte ihn schweigend an und nickte dann langsam.
"Natürlich."
Er wechselte leicht das Thema, als ihm die Intensität der Situation zu bewusst wurde.
"Haben diejenigen, die dir helfen wollen und selbst eine Begabung haben, Möglichkeiten, ohne Zweifel herauszufinden, ob du nicht vielleicht auch magisch begabt sein könntest?"
Ophelias Blick wanderte zu den Fenstern, als sie nachdachte.
"Wenn Du Pyronekdan meinst... er ist inzwischen inaktiv. Vermutlich wird er in der UU verbleiben und uns völlig vergessen. Zauberer sind in der Regel nicht besonders zuverlässig. Allerdings… es gibt einen jungen Zauberer, der da eine Ausnahme bildet..."
"Ah?"
"Raistan... er hat mir heute Morgen ein Päckchen geschickt. Vermutlich in Absprache mit dem Kommandeur. Zumindest hat Araghast auf meine Anfrage per Rohrpost sehr deutlich geantwortet."
"Inwiefern?"
"Ich bin mir nicht so sicher wie er, dass es eine gute Idee ist, diese grünen Pillen einzunehmen. Immerhin kommen sie dennoch von einem Zauberer. Und so viele Dinge, wie bereits an mir getestet wurden... was wenn es Nebenwirkungen gäbe? Aber Araghast meinte, wir hätten uns darauf geeinigt, wirklich alles zu versuchen..."
Ophelia legte den soeben ergriffenen Keks wieder lustlos beiseite.
"Welche Nebenwirkungen befürchtest du denn?"
Sie sah ihn unsicher an und zuckte mit der Schulter.
"Keine im Besonderen. Man weiß es eben nicht."
"Hm. Denkst du, die Nebenwirkungen könnten schlimmer sein als dein Hausarrest?"
Ophelia lächelte resigniert.
"Letztlich ist es gleichgültig, was ich vermute oder befürchte. Es ist meine Verantwortung, den Anweisungen des Kommandeurs zu folgen. Also werde ich sie nehmen. Und dann wissen wir Genaueres."
"Aber du hast Angst?"
Sie blickte in ihre Tasse.
"Es wäre dumm von mir, keine zu haben, oder?"
Er atmete innerlich etwas auf.
"Richtig. Und besorgniserregend."
Ophelia überraschte ihn, indem sie lächelnd aufsah und schwarzhumorig erwiderte:
"Dann brauchst du dich nicht zu sorgen."
Ihr verschmitztes Lächeln, auch noch in einer so verfahrenen Situation, machte ihn ganz verlegen. Schnell sah er auf seinen Block hinab und vervollständigte seine Notizen.
"Ich muss zugeben, ich bin momentan auch etwas ratlos. Es sorgt mich, dass du bisher niemanden hattest, dem du uneingeschränkt vertrauen konntest. Es wäre zweifellos von Vorteil für dich, wenn du dich dazu entschließen würdest, eine Vertrauensperson zu erwählen."
Er ließ seine Aussage einen Moment im Raum stehen, ohne dass sie ihren undeutbaren Blick von ihm abgewandt oder anders darauf reagiert hätte. Er atmete tief durch.
"Leider muss ich die heutige... Sitzung langsam beenden und gehen. Aber ich würde gerne erneut zu Besuch kommen, wenn ich denn darf?"
Ophelia schluckte schwer, nickte dann aber. Sie erhob sich ebenfalls vom Stuhl und folgte ihm zur Tür, wo er sich ihr noch einmal zuwandte.
"Ich hoffe, dass sich bald jemand als vertrauenswürdig genug erweist, die Ophelia kennen zu lernen, die man erst auf den dritten Blick erkennt. Und selbst, wenn meine vorläufige Theorie vollkommener Humbug ist, und eine echte Vertrauensperson deinen wundersamen Zustand nicht beenden kann... Was hättest du verloren?" Sie rang offenbar nach den richtigen Worten, was es ihm leicht machte, lächelnd einzuwerfen: "Richtig. Nichts!"
Ophelia wirkte in einem Maße verunsichert, wie er es bei ihr noch nicht erlebt hatte und er war sich nicht ganz klar darüber, ob er diesen Aspekt seiner Arbeit mögen würde. Letztlich rang sie sich zu einem letzten offenen Wort durch.
"Danke! Dies war... mehr als nur ein Pflichttermin. Ich weiß deine Überlegungen zu schätzen, denn es bedeutet mir viel, dass du nach einer Lösung suchst, selbst ohne eine Garantie für Erfolg. Dieser Tage noch mehr, als ohnehin schon."
Er wiederholte nur lächelnd, was er bereits zu Beginn gesagt hatte und womit sich aus seiner Sicht ein um’s andere Mal die Umarmung seiner Gefühle um sie schließen würde.
"Es ist das Mindeste, was ich tun kann."

~~~ oOo ~~~


Valdimier strich sich die widerspenstige Haarsträhne zurück und rückte seinen Umhang mit einem Schulterzucken wieder zurecht. Einerseits war ihm dieser Einsatz durch und durch zuwider. Dieses Haus, das zum Himmel stank, die halb gewandelten und unnatürlich verrenkten Werwolfleichen darin, das großzügig verteilte und mehr als penetrant ausdünstende Blut auf Boden und Wänden.
Er warf einen Blick in die Höhe.
Und an den Decken.
Der Vampir schloss kurz die Augen in dem verzweifelten Bemühen, die hysterische Stimme der einzigen Person auszublenden, die dieses Massaker überlebt hatte. Es war nicht so, dass ihn die Angst der jungen Frau kalt ließ. Im Gegenteil!
Ich hätte vor dem Einsatz noch etwas B... Etwas zu mir nehmen sollen. Das letzte Mal ist zu lange her.
Er öffnete die Augen und versuchte, sich möglichst gelassen auf die Zeugin zu konzentrieren.
Diese zuckte bei seinem Blick zusammen und wich instinktiv etwas von ihm fort. Nicht viel. Aber genug, um seinen ohnehin schon brennenden Durst zu schüren!
Er merkte erst, dass er sich in der ihm ureigensten Geschwindigkeit vorwärts bewegt hatte, als seine Hand nur Millimeter vor der Haut ihrer Wange schwebend zum Stillstand kam und sie ihm mit einem panischen Aufschrei seitlich auswich.
Die Stimme seiner Kollegin holte ihn wirkungsvoller auf den Boden zurück, als es ein Eimer Wasser gekonnt hätte, als diese sich mit Verärgerung hinter ihm bemerkbar machte.
"Was soll das, Valdimier? Seit wann verschreckst du denn bitteschön unsere Zeugen?"
Er blinzelte.
Die junge Frau vor ihm ballte ihr Taschentuch schluchzend vor ihrem Mund zusammen und schlotterte am ganzen Körper. Ihre Pupillen waren dermaßen geweitet, dass sie schwarz und endlos wie die Tümpel in den nächtlichen Jagdgründen Überwalds wirkten.
Der Wächter atmete tief durch und räusperte sich. Die Verzögerung war nötig, um seine Eckzähne, den instinktiven Impulsen zum Trotz, unbemerkt wieder einzufahren. Dann erst wagte er, eine fadenscheinige Erklärung vorzutragen - welche ihm das Opfer... er korrigierte sich gedanklich: die Zeugin, keinesfalls abnahm.
Sie begann, nach Fluchtwegen Ausschau zu halten.
"Ich wollte lediglich die Richtigkeit der Aussage überprüfen. War das die Art, in der die Angreifer sich bewegt haben?"
Die Bedienstete nickte heftig.
"Ja, genau so, Sör. Darf ich jetzt gehen, Sör? Bitte? Ich kann auch nichts weiter dazu sagen. Die anderen Bediensteten haben heute ihren freien Abend, Sör. Ich bin bloß früher wieder zurückgekommen, weil ich Kopfschmerzen hatte, Sör."
Er musste sich bewusst darauf konzentrieren, an Ort und Stelle zu verharren. Noch schwerer war es, seinen Blick von dem ihren abzuwenden. Diese Seen aus Dunkelheit, diese Strudel der Verlockung! Ihre Angst begann den Raum zu durchweben und von dort aus, wo sie stand, im Rhythmus ihres Pulses gegen seine Haut zu pochen.
Ich muss weg von hier! So lange habe ich es geschafft, meine Bedürfnisse in dezenter Weise zu bedienen. So lange Zeit über bin ich auf dem dünnen Drahtseil balanciert, ohne zu fallen. Doch jetzt...
Der Gedanke an seinen üblichen Zufluchtsort ließ ihn beinahe bitter auflachen.
Ineffektiv! Wenn nicht sogar fatal! Nein, zum Pseudopolisplatz kann ich nicht umkehren. Sie unterwandert meinen Selbstschutz, meine Barrieren - alle! Sie würde mich nur zusätzlich auslaugen, um meine Schwäche dann auch noch hinauszuschreien. Es muss einen anderen Weg geben. Aber zuerst... konzentriere dich!
"Die Vermutung liegt nahe, dass die Angreifer dann ebenfalls Vampire waren. Würdest du das so bestätigen?"
Die junge Frau wirkte deutlich ruhiger, als noch vor wenigen Sekunden, als sie mit zögerlichem Nicken und gedehnter Stimme antwortete.
"Ja, Vampire. So, wie du einer bist, Herr. Sie traten in Eile aus dem Haus, als ich gerade die Straße überquerte. Sie sahen sich dabei nur flüchtig um, viel zu sehr in ihr Gespräch vertieft, um mein Misstrauen zu bemerken. Sie wirkten nervös, hektisch, zu schnell in ihren Bewegungen."
Er spürte die Wärme von Kanndras Körper dicht neben sich auftauchen. Sie wisperte ihm über die Schulter ins Ohr.
"Gibt es irgendwas, das ich wissen müsste, Val?"
Er biss knirschend die Zähne zusammen, schüttelte den Kopf und beeilte sich, den unbewusst eingeleiteten hypnotischen Vorgang wieder zu stoppen.
Die Befragte blinzelte irritiert und er lenkte sie mit der nächsten Frage ab.
"Kannst du dich noch an irgendetwas von dem erinnern, was die Vampire gesagt haben, als sie den Tatort in dieser Hast verließen?"
Die Bedienstete hatte deutliche Schwierigkeiten, sich auf seine Fragen zu konzentrieren.
Aber da ist sie nicht die Einzige. Mir selber geht es genauso.
"Sie, die Vampire, sie haben... gelacht. Ja, sie haben gelacht. Einer von ihnen sagte irgendwas in der Art, dass er sich beinahe wie ein Ordnungshüter vorkäme, wo sie doch jetzt für Gerechtigkeit gesorgt hätten. Woraufhin die anderen in der Gruppe ihn auslachten."
Selbstverständlich! Wer würde sich schon freiwillig mit Wächtern auf eine Stufe stellen? Wir sind Witzfiguren, mehrheitlich ein Haufen Sterblicher, die rettungslos gegen den ewigen Sturm ankämpfen, eine Entbehrung nach der anderen in Kauf nehmend, während die Welt um uns herum trunken ist vom Leben!
Er spürte Kanndras Blicke nachdenklich über sein Gesicht streichen und rückte etwas von ihr ab.
Zu nahe! All die Gedanken, mit denen Ophelia mich Stunde um Stunde überschwemmt, sogar über immer weitere Entfernungen hinweg, der hoffnungslose Kampf um die gedanklichen Barrieren, die sie sofort wieder niederreißt, sobald ich sie mir mit Mühe und Not wieder errichtet hatte... ich schaffe das nicht! Und Lilith hat Wind davon bekommen! Das Problem im Wachhaus, es spricht sich herum. Unter der Hand. Es wird zu gefährlich für Lilith und mich. Araghast kann denken was er will. Ich werde ihm sagen, dass ich eine Zeit lang fort muss! Familiäre Angelegenheiten oder so. Bis jetzt habe ich ihm gegenüber keine Ausreden gebraucht, deswegen kann er mir das jetzt nicht abschlagen. Ein Begräbnistermin in der alten Heimat? Oder eine Widererweckung im Kreise der Familie? Wie auch immer. Ich kann jedenfalls keinen Tag länger bleiben, wenn das alles nicht zu einem enormen Unglück führen soll.
Die Kollegin traf wohl ebenfalls eine Entscheidung, denn nachdem sie einige Zeit darauf gewartet hatte, dass er die Befragung fortsetzen würde, er dies aber nicht tat, übernahm sie kurzerhand.
"Konntest du von deinem Standpunkt aus irgendetwas an den Männern erkennen, was uns helfen würde, sie zu identifizieren?"
Die junge Frau gab sich sichtlich Mühe, das Erlebte Revue passieren zu lassen.
"Ja." Sie schien selbst davon überrascht, dass ihr die Erinnerungen erst jetzt wieder kamen. "Der eine der Täter war groß und schlank und er hatte sehr helles Haar. Er schien der Älteste der Gruppe zu sein. Und er meinte, dass er gerne mehr Zeit gehabt hätte, um 'die Schmach zurück zu bringen', die seiner Schwester beim 'Hauben Gordon' zuteil geworden sei?"
Valdimier und Kanndra sahen einander in derselben Sekunde an.
"Hauben Gordon? Denkst du dasselbe wie ich?"
Er verzog bei dieser Phrase den Mund.
"Ich hoffe nicht. Wenn, dann müsstest du dich hinter Ophelia anstellen."
Sie schlug ihm leicht auf die Schulter.
"Sei doch mal ernst! So meinte ich das nicht. Ich rede von dem Fall vor einigen Monaten, der so groß in der Presse war. Erinnerst du dich noch daran, diese Sache bei dem Hutmacher?"
Und ob er sich daran erinnerte! Immerhin hatte Lilith bis zu dem bestialischen Mord alle ihre besonderen Einkäufe was Kopfbedeckungen anging in eben jenem Geschäft getätigt. Und ihm daher tagelang mit nichts anderem mehr in den Ohren gelegen.
Er nickte.
"Das Geschäft wurde am helllichten Tage überfallen, alle Anwesenden niedergeschlagen und nur das Opfer, eine junge Vampirin, im Schaufenster ausgestellt. Die Täter konnten nie gefasst werden aber alle Hinweise deuteten auf die HIRN hin. Wie hieß sie noch gleich?"
Die junge Bedienstete wurde leichenblass, eine kaum zu übersehende Reaktion auf seine Worte.
Kanndra hakte sofort nach.
"Das bringt etwas in deinen Erinnerungen zum Klingen, habe ich Recht? Was ist es?"
Sie zitterte deutlich und begann sich hektisch umzusehen.
"Ich war ja damals noch gar nicht hier! Ich gehöre doch erst seit kurzem zum Haushalt. So ein Zusammenhang... Wer konnte denn ahnen, dass die Herrschaften… also… ich hätte niemals für möglich gehalten, dass die Herrschaften vielleicht wirklich, wie die Gerüchte besagten… dass sie gemeinsame Sache mit den Jägern gemacht haben könnten! Sie sind, ich meine, sie waren doch selber… sie waren ja keine…"
Kanndra streckte triumphierend einen Zeigefinger in die Höhe.
"Sargstätt, das war es, ich erinnere mich wieder an den Namen des Opfers: Wilhelmina Sargstätt! Du meinst also, dass die Täter hier einen Akt der Rache vollzogen haben, als Abrechnung für einen anderen Mord?"
Nicht nur einen anderen Mord... mehrere!
In Valdimiers Kopf fügten sich die Informationen mehrerer Akten und Ermittlungen wie von selbst ineinander und mit morbider Faszination erkannte er dabei, dass nur ein beängstigend kleiner Teil dieses Wissens seinen eigenen Erinnerungen entsprang.
Sie wieder! Selbst so hat sie noch Einfluss auf mich. Ihre Gedanken sickern ununterbrochen in mich hinein und werden sogar weit weg von ihr und mit Verzögerung sichtbar. Wie schimmliger Pilzbefall in altem Mauerwerk!
Die schmächtige Angestellte runzelte die Stirn.
"Aber warum erst jetzt?"
Kanndra warf ihm einen ahnenden Blick zu und er teilte ihre stummen Befürchtungen.
Vampirmorde sind selten, dieser war obendrein spektakulär. Die Täter konnten nicht überführt werden, es fehlten Beweise. Das war eine Auftragsarbeit. Und wieder die Jäger, das verachtenswerte Pack der HIRN. Die Zeugin hat Recht. Warum erst jetzt, wenn all dieses Wissen bereits zuvor die ganze Zeit in Ophelia lagerte? Warum hat sie als Stellvertretende nicht dafür gesorgt, dass die Ermittlungen zum Erfolg führten?
Die Erkenntnis ließ ihn kurz stocken.
Sie hat erkannt, dass all die vorhandenen Fakten nicht ausreichen würden. Es fehlte in jedem einzelnen der vorliegenden Fälle der endgültige Beweis dafür, wem die Morde, "zufälligen" Überfälle und "Unfälle" in Wirklichkeit zuzuschreiben gewesen wären. Zu dem Zeitpunkt, als ihr das klargeworden sein muss, dürfte bereits der Hausarrest über sie verhangen worden sein. Bregs hätte eher dafür gesorgt, dass das Pandämonium zufriert, als sie noch einmal an die Akten zu lassen oder ihr einen Einblick in laufende Ermittlungen zu gewähren. Und zu allem Überfluss hätte selbst das vielleicht nicht einmal etwas geändert! Sie wollte niemanden ohne stichhaltige Beweise anklagen. Sie wollte... die Unbeteiligten aus beiden Häusern schützen!
Der Gedanke beunruhigte ihn auf merkwürdige Weise. In den letzten Tagen war er mehr und mehr in eine Denkweise verfallen, die es ihm leichter machte, in der Ermittlerin einen Aggressor zu sehen. Den Aspekt, dass ihr die Vorgänge mindestens ebenso unangenehm waren, wie ihm, hatte er inzwischen erfolgreich verdrängt gehabt. Nun in seinen eigenen Überlegungen darauf gestoßen zu werden, dass sie keineswegs ein einfach zu handhabendes Feindbild darstellte...
Es muss etwas passiert sein, was die Faktenlage verändert hat! Jemand muss jemanden verraten haben. Zu viele Zufälle, um noch als solche durchzugehen! Erst recht, wo wir es im Wachhaus mit diesem Alptraum in Form ihrer Gedankenflut zu tun haben.
Er straffte die Gestalt noch etwas mehr und antwortete seiner Kollegin in grimmigem Flüstern.
"Es war nur eine Frage der Zeit."
Sie antwortete ihm missvergnügt.
"Wir können es nicht mit Sicherheit wissen."
Die Überlebende des Überfalls blickte unsicher zwischen ihnen hin und her.
"Was war nur eine Frage der Zeit?"
Valdimier ließ seinen Blick über die leblosen Körper und die bluttriefende Szenerie schweifen.
Bis jemand auf Ophelia aufmerksam geworden ist, dem moralische Bedenken fremd sind. All das... sie hatte von Anfang an keine Kontrolle darüber. Ich habe mir etwas vorgemacht, wenn ich daran glauben wollte, Lilith und mich aus der Gefahrenzone heraushalten zu können. Es geht um mehr, als darum, das Versteck meiner Ersparnisse vor Ophelia geheim zu halten. Oder den nächsten Abteilungseinsatz. Es ist Zeit, die Koffer zu packen! Es wäre Wahnsinn, wieder in ihre Reichweite zu geraten. Vielleicht ist es gut, dass niemand sie zu den aktuellen Fällen unterrichten darf - ich zumindest möchte nicht derjenige sein, der bei ihr wäre, wenn sie hiervon erführe und die gleichen Schlüsse zöge. Und ausgerechnet über meine Gedanken soll sie es erst recht nicht mitbekommen. Ich werde Bregs gleich eine Nachricht schicken und ihn darüber in Kenntniss setzen, dass er eine Zeit lang ohne mich klarkommen muss.


MINA VON NACHTSCHATTEN

Der Schuppen war alt und marode: Wurmstichige Holzpaneele bildeten die Wände, an welchen sich allerhand Gerümpel stapelte, und mehr als einer der aufstrebenden Holzpfeiler hatte eine bedenkliche Schieflage. Somit konnte es eigentlich als ein kleines Wunder gelten, dass sie die angefaulten Balken, über welchen sich die Deckenkonstruktion aufspannte, noch an ihrer Stelle hielten. Der Blick bis ganz nach oben war glücklicherweise nicht möglich und hätte wohl auch keinen ermutigenderen Anblick geboten - das Licht der wenigen Kerzen reichte gerade einmal bis zu den dichten weißen Spinnweben, welche sich wie eine Art bizarre Decke über dem Geschehen wölbten. Und doch war die Möglichkeit, der gesamte Raum könnte jeden Moment über ihren Köpfen zusammenbrechen, noch Mimosas geringste Sorge. Es kostete sie all ihre Selbstbeherrschung, nicht im Minutentakt zu der versperrten Eingangstür hinzusehen, hoffend, ja mittlerweile bangend, Geräusche von dort zu vernehmen, welche ihre Erlösung aus der momentanen Situation ankündigten. Wo blieben die Kollegen nur? Sie war sich ganz sicher, nicht zu vage in ihren Angaben gewesen zu sein, welche sie am Morgen in Form eines kleinen Zettels in der moosüberwachsenen Mauerritze am Buttermarkt verstaut hatte. Hatscha hatte Bescheid gewusst, sie musste die Nachricht längst abgeholt haben. Warum tat sich also verdammt nochmal nichts?
Der Blick der Obergefreiten irrte über die restlichen Anwesenden im Raum, welche sich über mehrere Papiere auf einem notdürftig improvisierten Tisch gebeugt hatten und lautstark diskutierten. Es war so perfekt... allerdings nur, falls das vorgesehene Ende eintraf. Ansonsten wäre Joseph Scurrick am Ende des Tages nicht nur der Einnahmen des letzten Monats sondern auch des größten Teils der Warenbestände seines Juweliergeschäfts ledig.
"Und ich bin immer noch der Ansicht, der Hintereingang ist eine ganz dumme Idee", echauffierte sich in diesem Moment ein wahrer Hüne mit kurzem schwarzem Haar, direkt auf der Mimosa gegenüberliegenden Seite des Tisches. Mit ein wenig Aufwand und entsprechenden Mengen an steingrauer Farbe hätte man ihn problemlos als kleineren Troll maskieren können: Mungo Kreuchler, die Nummer zwei in der Bande. "Warum machen wir es nicht wie immer und gehen vorn rein? Unverfroren und effektiv?"
"Weil wir die letzten Male zu unvorsichtig waren und sie genau das erwarten werden, darum." Der wesentlich kleinere Mann schloss entnervt die Augen und atmete deutlich sichtbar durch, bevor er den Blick wieder hob. Auch wenn er ansonsten viel auf die Meinung des anderen gab schien es ihm heute schwer zu fallen, den penibel gepflegten Dolch, welcher ihm bei anderen Gelegenheiten ohnehin nur sehr locker an der Hüfte saß, nicht als Argumentationshilfe einzusetzen. "Ich weiß überhaupt nicht, warum ich das immer und immer wiederholen muss! Drücke ich mich so undeutlich aus? Oder bin ich nur von Schwachköpfen umgeben?!" Er schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte - diese senkte sich kurzzeitig ein Stück zu seiner Seite hin, blieb dann aber auf dem Fass, welches als Tischbein diente, liegen. Ein rattengesichtiger Hagerer beeilte sich, die verrutschten Dokumente und Stifte wieder in Position zu bringen, dann sah er den anderen an, als erwarte er eine Belohnung. Doch dieser war viel zu sehr damit beschäftigt, Mungo mit Blicken regelrecht aufzuspießen, als dass er die Bemühungen seines Untergebenen überhaupt wahrgenommen hätte. Es war bekannt wie sehr er es hasste, wenn es jemand wagte ihn vor versammelter Mannschaft offen zu kritisieren. Der Mann war sowohl führender Kopf der gesamten Unternehmung als leider auch Choleriker: Terenz Bleifuß.
Mungo hob abwehrend die Hände und trat einen Schritt zurück. "Ich dacht ja nur..."
"Genau das ist das Problem! Du solltest das Denken anderen überlassen!", zeterte der Chef. "Da kommt man mit einem Plan, einem schönen, ausgetüftelten Plan bei dem absolut nichts schiefgehen kann und dann ist man umgeben von Nichtsnutzen und Hundsköpfen, Schleimern und Waschlappen!" Er schnaubte zornig und breitete die Arme aus. "Ist hier vielleicht noch jemand, der meint es besser zu wissen? Nur zu!" Etliche der Anwesenden zogen sprichwörtlich den Kopf ein in der Hoffnung, der Zorn des Chefs möge über sie hinwegrauschen. "Nein? Dann können wir wohl weitermachen, ja?"
Einstimmiges Gemurmel erklang und Mimosa bemerkte, wie sie ganz von selbst darin einstimmte, ihr Gesicht zu einer reumütigen Maske verzogen. Darüber brauchte sie schon gar nicht mehr nachzudenken; ein kleiner Fisch im Schwarm zu sein hatte sich als die mit Abstand beste Taktik für diesen Einsatz herausgestellt. Sie war sich beinahe sicher, dass Terenz noch nicht einmal ihren Namen kannte.
"Natürlich..."
"Wenn du das sagst, Boss..."
"Auf jeden Fall..."
"Wir stehen alle hinter dir, Chef." Rattengesicht. Natürlich. Die Aufmerksamkeit, welche ihm nun von Seiten Bleifuß' zuteil wurde, schien ihm dann allerdings auch nicht zu gefallen.
"Ist das so?", zischte der Kriminelle. Dann hielt er kurz inne, dachte nach und richtete sich schließlich abrupt auf, wobei seine Wut mit einem Schlag von ihm abfiel. "Aber wie könnte ich auch daran zweifeln, nicht wahr? Schließlich seid ihr alle hier Eingeweihte, treue Weggefährten auf die ich mich", er stockte kurz, "mehr oder weniger, stets verlassen konnte. Ja, ich würde wirklich ungemütlich werden, käme mir zu Ohren, einer von euch würde mich, sagen wir... hintergehen." Er nickte gönnerhaft. "Es wäre in der Tat tragisch, verriete ich den finalen Teil meines genialen Plans, unwissend, dass jemand von euch eigentlich auf eigene Rechnung arbeitet..."
Äußerlich ganz die aufmerksame Handlangerin hatte Mimosa nun doch begonnen, hinter ihrem Rücken nervös an den Fingernägeln herumzuspielen. Wenn der Chef der Bande seine obligatorische Ansprache hielt, dann dauerte es für gewöhnlich nicht mehr lange, bis sie ausrückten. Dieses Mal würde sie mitkommen müssen und dann konnte sie nur noch hoffen, der Verstärkung auf dem Weg zum Tatort zu begegnen, bevor noch ein Bürger brutal seiner Einkommensgrundlage beraubt wurde. Was lief hier nur schief? Eigentlich sollten sie zu diesem Zeitpunkt schon alle verhaftet und in Handschellen abgeführt worden sein!
"...sich so des Vertrauens unwürdig erweisend, welches ich in ihn gesetzt habe", setzte Bleifuß unterdessen seinen Monolog fort. "Aber glücklicherweise besteht ja kein Grund zur Sorge, nicht?" Eine dramatische Pause. Der Anführer sah jedem seiner Untergebenen einzeln ins Gesicht und die verdeckte Ermittlerin konnte einen kurzen Schauder nicht unterdrücken, als sich sein Blick kurz in den ihren bohrte. "Oder etwa doch?" Nur ein Flüstern. Dann legte Terenz in einer übertrieben theatralischen Geste den Zeigefinger an die Nase und tippte nachdenklich zweimal dagegen. "Denn ich habe da tatsächlich von einer unschönen Sache gehört."
Der zweite Schauder innerhalb der letzten Sekunden und die Obergefreite musste sich zusammenreißen, um trotz allem keine Miene zu verziehen. Das konnte nicht sein! Sie war so vorsichtig gewesen. Sie spürte, wie sich eine eiskalte Faust in ihrer Brust zusammenballte.
Fang jetzt ja nicht an zu zittern, beherrsch dich gefälligst! Es besteht keinerlei Anlass zur Beunruhigung. Was ist denn nur los mit dir?
Aber dieser Blick hatte etwas derart Stechendes gehabt...
"Tommi!", bellte Bleifuß in diesem Moment und ein schmaler Junge von zwölf Jahren wurde von den um ihn Herumstehenden in die erste Reihe geschubst. So viel zum Thema Loyalität innerhalb der Gruppe. Etwas verloren stand der so ins Licht der allgemeinen Aufmerksamkeit Gezerrte nun innerhalb eines Rings aus Kriminellen und starrte auf seine Zehenspitzen, während Terenz Bleifuß ihn umrundete wie ein Raubtier seine Beute.
"Tommi, Tommi, Tommi", seufzte er. "Ich will gar nicht lange um den heißen Brei herumreden: Mir fehlen ein paar nicht ganz wertlose Steinchen aus der letzten Lieferung. Kleinigkeiten im Vergleich zu Gesamterlös, aber dennoch." Er legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter. "Wahrscheinlich muss ich deiner lieben kleinen Schwester danken, dass ich sie überhaupt zurückbekommen habe. Du solltest das nächste Mal besser darauf achten, zu welchem Hehler du sie schickst. Möchtest du etwas dazu sagen?"
Das Gesicht des Jungen hob sich und die blanke Panik, welche sich in seinen Zügen widerspiegelte, machte jedes weitere Wort überflüssig.
Der Chef der Bande zuckte mit den Schultern und stieß ihn zurück in die Arme seiner Komplizen.
"Kümmert euch um ihn", murmelte er gleichgültig, während ein ängstliches Wimmern sich nach und nach in der Tiefe des Raumes verlor.
Mimosa fiel ein ganzes Gebirge vom Herzen, auch wenn sie sich ihrer Erleichterung im nächsten Moment doch ein wenig schämte. Sie würden ihm nichts tun - nicht allzu viel zumindest - trotzdem war die verdeckte Ermittlerin hin- und hergerissen. Sie hatte schon manchmal blaue Flecken und Platzwunden an dem Jungen gesehen und es ging ihr gehörig gegen den Strich, einen Wehrlosen dieser Bande zu überlassen. Aber auf der anderen Seite, was konnte sie tun, ohne ihre Tarnung zu gefährden?
"Anna, möchtest du vielleicht etwas sagen?" Bleifuß Stimme riss sie aus ihren Überlegungen. Sie fühlte die Bewegung in der Gruppe um sich herum und auf einmal war sie es selbst, die umzingelt in der Mitte stand. Noch immer ein wenig zu entspannt von der gerade erst abgewendet geglaubten Bedrohung brauchte ihr Verstand einen kleinen Moment, um zu dieser neuerlichen Entwicklung aufzuschließen.
"Äh..."
"Nicht sehr wortgewandt, meine Liebe. Mungo hat dich ganz anders beschrieben." Er griff in seine Jackentasche. "Aber wie es scheint ziehst du es ja generell vor, Leute zu täuschen." Seine Hand kam wieder zum Vorschein und mit Schwung entfaltete sich ein Blatt Papier darin, auf welchem Mimosa zu ihrem Entsetzen ihre eigene Handschrift erkannte. "Denn das hier ist doch recht aussagekräftig, wenn man weiß, worum es geht."
Hände zerrten ihr die Arme auf den Rücken und sie selbst aus der Gruppe heraus bis sie knapp vor der Wand gegen einen Körper stieß, welcher sie in unerbittlichem Griff umfing. Die Wärme und das regelmäßige Atmen in ihrem Rücken waren panikauslösend. Gefangen! Ohne die kleinste Chance sich aus eigener Kraft herauszuwinden.
Bleifuß schlenderte näher und zog wie beiläufig seinen Dolch hervor. "Das tut mir wirklich weh", meinte er wie im Selbstgespräch, "Nicht nur dieser Verrat, sondern auch dass Mungo in der Wahl seiner Helferlein wohl langsam nachlässig wird. Aber um ihn kümmere ich mich später."
Ein leises besorgtes Brummen erklang schräg über dem Ohr der Wächterin. Dann tat der Chef der Bande ein paar schnelle Schritte und Mimosa fühlte kaltes Metall an ihrer Wange. Bleifuß' Augen trieften vor Hass.
"Ich kann euch Parasiten einfach nicht ausstehen, ihr mischt euch in Angelegenheiten ein, die ihr ohnehin nicht beherrschen könnt", bellte er ihr ins Gesicht. "Gib mir einen guten Grund, nur einen, warum ich nicht..."
"Herr, ich weiß absolut nicht, wovon du..." presste Mimosa in einem sinnlosen Versuch hervor, doch dann drückte ihr ein Unterarm die Luft ab, sodass der Rest des Satzes zu einem Gurgeln verkam.
"Ach nein, das weiß sie nicht." Bleifuß lachte böse. "Ich denke, ihr Schnüffler wisst immer alles."
Der verdeckten Ermittlerin wurde abwechselnd heiß und kalt; verzweifelt versuchte sie an der Umklammerung ihrer Arme zu rütteln, um sich zu treten - ohne Erfolg. Zudem begann langsam ihre Sicht zu verschwimmen, denn egal wie sie sich anstrengte, sie bekam einfach keine Luft! Wie von fern erklang die Stimme des Kriminellen an ihrem Ohr:
"Sag deinen Leuten, dass mich die Information zu dieser Mauerspalte einen Haufen Geld gekostet hat und ich es ganz und gar nicht mag, so viel auf einmal auszugeben."
Dann kam ihr auf einmal schwungvoll der Boden entgegen und ihre Hände schabten über Schmutz und Staub. Sie spürte das Brennen der aufgerissenen Haut, doch vollkommen egal: Da war wieder Luft, da war Platz und Raum um sie herum. Sie musste weg hier, sie musste auf die Beine kommen! Mimosa hustete und zwang sich ihren Blick zu fokussieren. Eine Wand aus Körpern auf der einen Seite - und die Tür im Rücken. Aber das war doch zu einfach...
Terenz Bleifuß warf ihr den zerknüllten Zettel vor die Füße.
"Verschwinde und strapaziere meine Güte nicht damit, mir noch einmal unter die Augen zu treten!", knurrte er mit gefährlich ruhiger Stimme, die irgendwie noch viel schlimmer war, als sein übliches Herumgebrülle.
Die Wächterin zögerte noch einen kurzen Augenblick, misstrauisch und verwirrt, bevor ihr Überlebensinstinkt die Kontrolle übernahm und entschied, dass eine schnelle Flucht in dieser Situation wirklich angebracht war. Hätte die verdeckte Ermittlerin einen letzten Blick zurück riskiert wäre ihr aufgefallen, wie Bleifuß einem seiner Handlanger zunickte, welcher daraufhin eine Armbrust hob und diese mit routinierten Bewegungen lud...


OPHELIA ZIEGENBERGER

"... wodurch, wenn alles glatt läuft, dein Geist gereinigt und von eventuellen schädlichen Einflüssen befreit werden sollte. Wie eine Mischung aus heilender Salbe und desinfizierendem Ausräuchern auf geistiger Ebene. Ophelia? Ophelia! Hörst du mir überhaupt noch zu?"
Sie schreckte aus ihren Gedanken auf.
"Oh, entschuldige bitte! Ich war kurzfristig abgelenkt."
Die Aussage war eine Untertreibung. Eigentlich hätte die Aussicht, in wenigen Minuten das neuerliche Wagnis einzugehen und sich auf eine magische Einflussnahme zur Auslotung ihres Zustandes einzulassen, mehr als ausreichend sein müssen, um ihre Aufmerksamkeit zu binden.
War sie aber nicht.
Etwas ging im übrigen Wachhaus vor sich und niemand weihte sie ein! Das Gefühl, nicht zu wissen was geschah, wäre an sich schon genug gewesen, um sie nervös zu machen. Die Intensität dieses Gefühls jedoch war enervierend. Sie wäre am liebsten zu Mina ins Büro hinüber gestürmt, um diese mit der Frage zu konfrontieren, was es mit den heiß und kalt über sie hinweg brandenden Wellen aus Angst, Wut, Frustration und Hilflosigkeit auf sich hatte. War irgendein Einsatz fehlgeschlagen? Hatte es Ärger mit Zivilisten gegeben oder war gar einer der Kollegen verletzt worden? Ging es allen ihren Mitarbeitern noch gut? Wurde ihre Abteilung bedroht? War Romulus im Haus, um Mina in einer Notsituation, wie sie eingetroffen zu sein schien, zu unterstützen? Sollte sie selber ihre Hilfe anbieten? Vielleicht würde der Kommandeur eine Ausnahme bewilligen, wenn...
Ophelia versuchte, die emotionalen Streiflichter, die wie blendende Blitze über sie hereinbrachen, zu verdrängen. Sie durfte sich nichts vormachen. Sie konnte mit unerschütterlicher Gewissheit davon ausgehen, nicht nur keine Antworten zu erhalten, sondern obendrein zu einer Belastung für Mina zu werden, wenn sie jetzt darauf bestünde, mit ihr zu sprechen. Was auch immer vorgefallen war, es würde ganz genau zu den Dingen gehören, über die niemand mehr mit ihr reden durfte - erst recht nicht die neue Stellvertretende! Sie musste Vertrauen in die Kollegin haben! Sie selber hatte Mina doch für den Posten vorgeschlagen! Sie wusste, dass die Vampirin alle Voraussetzungen mit sich brachte, um auch mit dem Unvorhergesehenen fertig zu werden. Wenn sie jetzt an Mina zu zweifeln beginnen würde, dann würde diese es über ihrer beider Verbindung fühlen. Sie wäre ihr alles andere als eine Hilfe damit. Nein, sie musste sich dringend ihre Zuversicht und ihre Gelassenheit bewahren. Mina würde damit zurechtkommen - was immer es auch sein mochte.
Ophelia konzentrierte sich so gut es ging auf die aktuelle Situation, die hauptsächlich darin bestand, dass sie gemeinsam mit Rea in der Mitte ihres Büros auf dem frei geräumten Boden saß. Der in die Dielen eingekokelte Bannkreis, des vor einigen Tagen gescheiterten okkulten Versuches, umschloss sie beide ebenso zufällig wie bedrohlich, gleich einer stummen Mahnung, sich dieses Mal keinen Fehler zu erlauben. Laiza war zwar ebenfalls anwesend, saß aber relativ unbeteiligt auf einem Stuhl etwas abseits. Sie würde das Geschehen beobachten und zur Not eingreifen. Nur für den Fall, dass abermals etwas aus dem Ruder laufen sollte. Was natürlich nicht vorgesehen war.
Rea beugte sich in ihrem Schneidersitz etwas vor und stellte in feierlicher Geste eine flache Schale zwischen ihnen beiden ab. Das tönerne Pochen, mit dem die Schale auf die Diele traf, war in diesem Moment das einzige Geräusch im Raum gewesen.
Die Hexe atmete tief durch.
"Bist du bereit?"
Die ehemalige Stellvertretende nickte unsicher, fügte dann aber mit scheinbar festerer Stimme hinzu:
"Ja. Bringen wir es hinter uns!"
Rea Dubiata begann nach und nach, von den neben ihr bereit liegenden Dingen zu nehmen und diese zu dem entstehenden Zauber hinzuzufügen, indem sie getrocknete Blätter, Blüten, Stängel und Wurzeln zwischen den Fingern zerrieb und sie sachte auf die Schale rieseln ließ. Ihre Augenlieder waren dabei halb geschlossen. Sie wisperte die Sinn gebende Litanei in tiefer Konzentration vor sich hin.
"Löwenzahnwurzel mit Kraut... vertreibt Schatten der Seele, erbaut... Krauseminze und Goldrute... stärken in dir nur das Gute... Weiße Wurzel, Ginkoblatt... böse Geister im Schachmatt..."
Das Häufchen zerbröselter Kräuterbestandteile wuchs beständig an und ein frischer, wenn auch durchdringend herber Geruch begann das Zimmer zu füllen.
Die Hexe griff zu dem ebenfalls bereit liegenden Ritualdolch und streckte ihr fordernd die freie Hand entgegen.
Ophelia zögerte merklich, rang sich dann jedoch dazu durch, der Aufforderung Folge zu leisten und ihre eigene Rechte ebenfalls vorzustrecken.
Rea umschloss ihr Gelenk mit festem Griff und zog die geöffnete Hand direkt über die Ritualschale. Dort setzte sie mit dem Dolch am Daumenballen an und zog mit einer leichten Geste blitzschnell die Klinge über die frei liegende Haut. Der Schnitt war nicht einmal zu sehen - bis er sich mit dem austretenden Blut füllte und die charakteristischen roten Perlen an ihm herabzulaufen begannen. Die Abteilungsleiterin der SEALs kippte Ophelias Hand in die Senkrechte und die warmen Blutstropfen fielen auf die Kräuter.
Ein feiner Rauchfaden kringelte sich von dort aus aufwärts in die Luft.
Rea legte wortlos ein Tuch über den Schnitt und wickelte ein anderes darüber, welches sie abschließend verknotete. Sie bedachte Ophelia mit einem intensiven Blick.
"Das muss jetzt erst einmal Zeit zum Einwirken bekommen. Es wird nicht allzu lange dauern. Aber man darf auch nicht drängeln. Schließe die Augen und atme das Räucherwerk tief ein! Öffne die Augen erst wieder, wenn ich es dir sage, in Ordnung?"
Etwas an dieser Anweisung erschien ihr zwar merkwürdig aber da Laiza ihre Ängste und Bedenken bis zu einem gewissen Grad zu teilen schien und dennoch keinen Einwand erhob, ließ Ophelia sich mit einem lautlosen Seufzer darauf ein.
"Sehr gut! Ich nutze die Wartezeit einfach mal, um dir einige Fragen zu stellen. Vergiss nicht, dabei weiter die Dämpfe zu inhalieren, ja?"
Etwas raschelte leise, dann war da für eine Sekunde lang ein Geräusch, als wenn Seide über Seide gezogen würde. Rea murmelte kaum hörbar ein leises Wort und in der nächsten Sekunde wurde der Kräuterduft um ein Vielfaches intensiver.
Am Beistelltisch hörte sie die Okkultismusexpertin schnell einatmen.
Sie legte lauschend den Kopf schief und gab zumindest soweit ihrer Neugier nach, dass sie mit weiterhin geschlossenen Augen fragte:
"Was war das?"
Reas Stimme klang beinahe amüsiert, als diese antwortete.
"Mein Haarband. Denk nicht weiter darüber nach! Wo waren wir stehen geblieben? Richtig! Du sollst brav durchatmen. Und ich stelle dir Fragen."
Sie tat, wie ihr geheißen.
"Was möchtest du wissen?"
"Als wir den Versuch mit dem Bannkreis gemacht haben, da gingen wir vor allem anderen davon aus, dass wir es mit einer Beschädigung deines Geistes, deiner Persönlichkeit oder deines Wesens zu tun haben könnten. Ein Leck, im Sinne von einem Durchbruch, der dein Innen dem Außen preisgibt. Diese Möglichkeit besteht zwar immer noch, wir konnten das nicht ausschließen. Es kommen aber auch noch andere in Frage. Beispielsweise könnte es sein, dass sich etwas in deinem Geist eingenistet hat, was dort nicht hingehört und einen schädlichen Einfluss hat: ein Dämon."
Ophelia zuckte bei den Worten unwillkürlich zusammen.
"Gibt... gibt es eine Möglichkeit, das genauer herauszufinden?"
Rea lachte leise.
"Du meinst, ohne gleich zu einer schmerzhaften Austreibung zu greifen? Nun ja… das habe ich mich auch gefragt und bin zu dem Schluss gekommen, dass man es wenigstens mal hiermit versuchen könnte. Nein! Nicht gucken! Lass die Augen zu! Du musst nichts weiter tun. Die Reinigungszeremonie lässt sich gut mit dem Test verbinden, das kann einfach beides gleichzeitig laufen, dabei sollte sich nichts in die Quere kommen. Ich habe das Ritual auf dich zugeschnitten. Atme weiter die Kräuter ein, während ich nebenbei vor mich hin werkel. Genau so! Also… lass uns mal schauen, ob deine Gedanken uns vielleicht ganz von alleine Hinweise geben!"
Die Situation fühlte sich nicht gut an. Nicht sehen zu dürfen, was um sie herum geschah, keine Informationen zu bekommen, dazu das unerträglich heftige Gefühl von einsetzender Verzweiflung, die...
Ophelia hielt inne, kurzzeitig vollständig von der Erkenntnis vereinnahmt, dass dieses Gefühl nicht ihr eigenes war.
Mina? Was um Himmels Willen geht hier vor sich?
Reas Stimme holte sie mit einer Frage zurück.
"Gibt es einen Groll, der in dir schlummert?"
Sie konnte spüren, wie ihre Augenbrauen sich zusammenzogen. Sie ließ den Kopf leicht nach vorne sinken.
Solche Fragen? Ich bin es so leid! Als wenn Araghast und Romulus sie nicht schon zur Genüge gestellt hätten. Nun denn...
"Zu Beginn des über mich verhängten Hausarrests war ich mir nicht sicher, ob diese Methode in ihrer Strenge als angemessen bezeichnet werden konnte. Daher gab es zu diesem Zeitpunkt ab und an Momente, in denen ich dem Kommandeur heimlich eine gewisse Willkür zugetraut habe. Inzwischen bin ich nicht mehr dieser Ansicht. Also würde ich sagen, nein."
"So, so! Weiter! Fühlst du dich manchmal fremdgesteuert?"
Sie dachte ernsthaft über diese Frage nach, auch wenn sie sie keinesfalls mit dämonischem Einfluss in Zusammenhang brachte.
Links von sich hörte sie die Okkultismusexpertin abwertend schnaufen und von gegenüber murmelte laut vernehmlich Rea ein:
"Das wundert mich jetzt nicht..."
Ophelia fühlte sich schlagartig verunsichert.
"Was..."
Rea unterbrach sie mit einem Seufzer.
"Schon gut. Die Frage brauchst Du nicht zu beantworten. Aus der Reaktion hier ist herauszulesen, dass dir dazu als erstes Romulus' und Bregs' Einfluss in den Sinn kommen. Nicht überraschend aber auch nicht das, wonach wir suchen."
Diese Eröffnung traf sie unvorbereitet. Scham und Schuld hielten sich die Waage. Sie spürte ihr Erröten bis in den Haaransatz und hätte diesen Versuch am liebsten sofort unterbrochen oder zumindest die Augen geöffnet.
"Habe ich dich jetzt etwa auch noch angesteckt, Rea? Oh, bitte, bitte nicht auch noch du! Wie konnte das denn bloß passieren? Ich habe es diesmal nicht einmal gemerkt, keine Rückkopplung mit deinen Gedanken, die..."
"Ho, Ophelia! Ganz ruhig! Alles ist gut! Oder zumindest so gut wie vorher. Keine Angst! Ich kann weder deine Gedanken lesen, noch du meine. Was hier gerade passiert, ist etwas ganz anderes, eine Visualisierung. Deine Gedanken werden mit Hilfe meiner Magie zu Bildern. Die sind nicht mal besonders deutlich aber um Rom und Bregs zu erkennen hat es gereicht. Also beruhige dich! Alles gut. Können wir weiter machen?"
Ein nur zu gut bekanntes Gefühl dehnte sich in ihr aus; die Angst davor, etwas zu denken, mit dem sie versehentlich Andere verletzen, kompromittieren, verlegen stimmen oder schockieren könnte. Sie hätte sich am liebsten abgeschirmt und versteckt vor all den neugierigen Augen um sie her.
Nur mit Mühe gelang es ihr, zu nicken.
"Gut. Vielleicht eher so: Zeige mir, zu wem du alles eine Verbindung hast!"
Ophelia fühlte einen weiteren emotionalen Schub seitens Minas und dieses Mal schwangen ihrer beider Gefühle im fatalen Gleichklang: Hilflosigkeit.
Wie sollte sie dieser Aufforderung Folge leisten?
Während sie noch darüber nachdachte, wurde ihr die bedeutungsvolle Stille um sie her bewusst.
"Ähm... Rea? Laiza? Seid ihr noch da?"
Die beiden Frauen antworteten ihr synchron. Ihren Stimmen war eine gewisse Abwesenheit anzuhören.
"Ja, sind wir."
Nach einigen Sekunden ergänzte Laiza vom Fenster aus mit ungläubigem Staunen in der Stimme:
"Hast du so etwas schon einmal gesehen?"
Rea brauchte einen Moment, um zu antworten.
"Nein. Dass einige Menschen mehr Kontakte haben, als andere, das ist ganz normal. Aber so etwas..."
Ophelia räusperte sich nervös.
"Rea, ich weiß nicht genau, wie ich auf deine Forderung antworten soll. Kannst du mir vielleicht etwas genauer..."
"Schon gut. Das hat sich erledigt."
"Ähm... ach so. Wenn das so ist..."
Sie wartete auf eine neue Frage, die aber nicht kam. Stattdessen mischte sich wieder Laiza von der Seite her in den Versuch ein.
"Das ist zu viel, richtig? Ich meine... selbst wenn man die Zeit hätte, jedes einzelne Band bis zu seinem Ursprung zu verfolgen... womit man Jahre beschäftigt wäre! Also, selbst wenn... man hätte deswegen noch lange nicht herausgefunden, ob irgendeine dieser Verbindungen eine Gefahr birgt!"
Rea erwiderte nachdenklich:
"Das ist richtig. Nein, so geht es nicht. Aber vielleicht… Ophelia, gibt es einen Einfluss in deinem Leben, den du als ungewöhnlich oder vielleicht sogar gefährlich ansehen würdest? Möglicherweise eine lange zurück liegende oder sogar verdrängte Verbindung, eine flüchtige Bekanntschaft aus den Augenwinkeln, bei der dein Körper eventuell mit Frösteln oder sogar Angst reagiert, wenn du dich daran zu erinnern versuchst?"
Sie konnte nicht verhindern, dass ihr bei dieser Frage augenblicklich Racul als gesichtsloser Unbekannter vor Augen stand. Und ebenso direkt war ihr klar, dass er es ihr niemals verzeihen würde, wenn sie ihn in diesem Moment preisgäbe. Er mochte weit weg sein. Aber deswegen war er nicht weniger real oder gefährlich. Ein beängstigender Gedanke blitzte durch ihren Sinn und schloss es rigoros aus, die Frage hier und jetzt ehrlich zu beantworten.
Nicht nur für mich. Vielleicht würde er sogar so weit gehen...
Ihr war mit einem Mal kalt, sehr kalt. Und noch ehe Rea weiter nachhaken konnte, ließ sie ihre Mimik zu unschuldiger Ahnungslosigkeit werden und verneinte die Frage.
"Nicht, dass ich wüsste."
Rea Dubiatas Stimme klang skeptisch.
"Bist du dir sicher?"
Ophelia zitterte innerlich. Trotzdem schaffte sie es, mit einer Überzeugung zu antworten, die sie nicht wirklich empfand.
"Wenn ich es doch sage! Und jetzt denke ich, dass dieser Versuch zu weit gegangen ist. Mir ist kalt und ich möchte mir etwas überziehen, wenn du also gestatten würdest..."
Und damit öffnete sie trotzig die Augen.
Das Zimmer lag in dämmrigem Zwielicht, als wenn sich vor den Fenstern ein Unwetter anbahnte. Und sowohl Rea, als auch Laiza nahmen ihr widerspenstiges Verhalten nur beiläufig zur Kenntnis, so gebannt sahen sie hinter sie.
"Was ist?"
Ein innerer Widerstand hielt sie noch kurz auf, dann jedoch drehte sie sich langsam um.
Und sah dort einen undurchdringlich schwarzen Schatten stehen, als wenn dieser aus dem Boden entwachsen wäre. So sehr die Konturen auch verschwammen und an Flammen im Wind erinnerten - die Form kantiger Schwingen, die über die Schultern hinaus ragten, war unverkennbar.
"Was..."
Laiza schluckte schwer.
"Das frage ich mich auch."
Reas Stimme klang eisig.
"Es tut mir leid, das sagen zu müssen. Aber so wie es aussieht, haben wir vielleicht die Ursache zu deinem Problem gefunden. Und dagegen helfen auch die Kräuter und das Reinigungsritual nicht, das sieht dafür eine Nummer zu groß aus. Das ist jetzt zwar nur eine bildliche Projektion deiner unterbewussten Gedanken als Antwort auf meine Frage, also nichts, was materiell Bestand hätte. Das lässt sich deswegen auch nicht hier und gleich bekämpfen. Aber wir haben nach einem Dämon gesucht. Und das gefunden. Ich würde sagen, wir sollten uns mit den andern beraten und Bregs Bescheid geben, bevor wir jetzt irgendwas Unüberlegtes tun. Und dann... tja, Laiza, dann bist vielleicht doch wieder du an der Reihe, mit einem zweiten Bannversuch."
Sie murmelte einige leise Worte und schnippste mit den Fingern und der Schatten verblasste vor Ophelias Augen. Der Raum wurde wieder heller.
Rea schüttete die Aschereste von der Schale in einen Krug, den sie mit einem Deckel verschloss, dann räumte sie nach und nach alles in eine Kiste.
Ophelia erhob sich und stellte sich ans Fenster, um nicht im Weg zu stehen. Sie wich den kurzen Blicken beschämt aus.
Was mache ich nur? Das ist alles so falsch! Ich will die Bemühungen doch gar nicht unterwandern, ich müsste ihnen von ihm erzählen, nicht wahr? Aber was, wenn ich sie damit in Gefahr bringe? Er kann ja auch gar nichts mit dieser ganzen Sache zu tun haben, immerhin ist es für ihn genauso unerträglich wie für mich. Wenn er daran Schuld trüge, würde er es sofort unterbinden, so sehr, wie er darauf hinfiebert, unseren Kontakt zu... beenden...
Kurz darauf waren die beiden Kolleginnen fort. Die würzigen Dunstschwaden tief unter der Decke waren geblieben.
Ophelia merkte nicht einmal, wie sie nervös im Zimmer auf und ab zu gehen begann.


MINA VON NACHTSCHATTEN

"Hmm, ich bin neugierig: Wer ist denn dieser ominöse Kontakt?"
Sie stockte so heftig mitten in der Bewegung und versuchte gleichzeitig die Richtung zu wechseln, dass sie ins Straucheln geriet und sich nur mit Mühe am nächstgelegenen Möbelstück abfangen konnte. Nicht schon wieder diese Stimme, es durfte nicht von vorn losgehen, was sie vor nur wenigen Tagen dermaßen und vor aller Augen aus dem Gleichgewicht geworfen hatte!
"Nicht doch, wer wird denn gleich! Begrüßt man so alte Bekannte?" Ein Lachen erklang in den Gedanken der Wächterin. "Obwohl ich ja wirklich nicht davon ausgehen konnte, du hättest mich vermisst."
Ihr erster Impuls war es, um Hilfe zu rufen, jemanden zu informieren, damit die Angelegenheit gar nicht erst größere Ausmaße annehmen konnte. Doch wurde dieser Plan sogleich von dem darauffolgenden Gedanken zunichte gemacht:
Er ist nicht da. Vielleicht nicht einmal in der Stadt.
Valdimier van Varwald hatte kurzfristig Urlaub eingereicht, aus familiären Gründen. So lautete zumindest die offizielle Version, welche man ihr erzählt hatte. Im Gegensatz zu Mina, die ihre Frustration über diesen Umstand nur schwer hatte verbergen können, fühlte Ophelia nichts als Verständnis für den Kollegen, wenn auch eines, das eine gewisse Leere zurückließ.
Doch wie könnte ich es ihm übel nehmen? Irgendwann mussten die Opfer, die sie bringen, ihre Bereitschaft zu helfen übersteigen.
"Oh, wie rührend, hat da jemand seinen treuen Wachhund verloren?" Die Stimme des fremden Vampirs in ihren Gedanken seufzte gespielt betroffen auf. "Wie tragisch! Dabei hätte er mich das letzte Mal beinahe erwischt."
"Er ist nicht mein...", dachte Ophelia in einem Anflug von Trotz zurück, zwang sich dann aber selbst dazu, innezuhalten - je mehr sie auf diese Verbindung einging, desto stärker gewährte sie dem Anderen Zugriff auf ihre Gedankenwelt und das war ja genau das, worauf der Angreifer abzielte.
Als wäre es ein Stichwort gewesen - und vielleicht sah er es tatsächlich als solches - meldete sich eben dieser nun erneut zu Wort.
"Lass dich in deinen Grübeleien nicht stören, aber ich würde mich einfach schon ein wenig... umsehen. Ich weiß, das ist nicht besonders höflich, aber so lukrativ! Du glaubst gar nicht, was manche Leute für interne Wacheinformationen zu zahlen bereit sind."
Als Reaktion auf diese Worte fühlte Ophelia nun etwas, was sie seit Wochen nicht mehr gespürt, sich aber mehr als einmal herbeigesehnt hatte: Einen vollkommen leeren Kopf. Jedoch besaß dies nicht den erlösenden Effekt, welchen sie sich erhofft hatte. Als hätte ihr jemand einen Hieb mit einer Keule versetzt starrte sie wie blind auf einen Punkt an der Wand, während sich das Gefühl der Taubheit weiter in ihr ausbreitete. Allerdings dauerte dieser Zustand nur wenige Sekunden an, bevor der Fluss der Gedanken mit voller Macht zurückkehrte und sich Möglichkeiten, Befürchtungen und Konsequenzen des eben gehörten geradezu zu überschlagen begannen. Begleitet wurden diese von einem ersten ansatzweisen Verstehen der ihr unbekannten Vorgänge im Wachhaus, über die sie sich vorhin noch den Kopf zerbrochen hatte. Sah sie sich etwa einer neuerlichen Schuld gegenüber, welche sie zu tragen, zu verantworten hatte?
"Du... du verkaufst diese Informationen?", dachte sie über all dem fassungslos und diesmal direkt an ihr Gegenüber gerichtet.
So etwas wie ein beleidigtes Schnauben war die Antwort.
"Na, was hast du denn erwartet? Dass ich sie mir zu meiner persönlichen Erbauung aufschreibe? Ich dachte, ich hätte mich bei unserer letzten Begegnung deutlich genug ausgedrückt, was das betrifft, und so ein schlechtes Gedächtnis hast du doch wirklich nicht." Ein Seufzer. "Na ja, wahrscheinlich die Panik. Das ist so menschlich, nicht?"
"Aber du setzt damit die Leben Unschuldiger auf's Spiel!"
"Na und? Was sollte mich das kümmern?"
"Du hast gar keine Vorstellung davon, was du alles auslösen könntest!"
"Oh doch, meine Liebe, ich glaube ich habe sogar eine sehr gute Vorstellung davon."
"Aber..."
"Aber, aber, aber!" Dem Fremden gelang das Kunststück, sie in Gedanken täuschend echt nachzuäffen. "Du hörst dich an wie ein verweichlichtes Waschweib. Der einzige Grund für dich zu jammern besteht in den ganzen Möglichkeiten, welche du dir durch die Finger gehen lässt, weil deine seltsame Moralauffassung dir verbietet mit mir zusammenzuarbeiten."
Ophelia biss so stark die Zähne zusammen, dass ihr ganzer Kiefer schmerzte und versuchte die Tränen zurückzudrängen, welche schon wieder ihre Sicht verschwimmen ließen. Ihr war schlecht. Sie wusste genau, dass es nicht helfen würde sich schlicht das Denken zu verbieten, aber was konnte sie denn sonst noch tun? Verflucht, war sie wirklich so hilflos? Die langsam einsetzenden Kopfschmerzen ignorierend sah sie sich auf der Suche nach einem Anhaltspunkt in ihrem Zimmer um, wobei ihr Blick an einem bestimmten Buch hängen blieb, welches zugeklappt am fernen Ende ihres Tisches lag. Einige Passagen konnte sie mittlerweile im Schlaf... Und wozu plagte sie sich eigentlich mit all diesen Übungen zur mentalen Kontrolle, wenn sie es im Ernstfall nicht fertigbrachte, wenigstens den Versuch zu unternehmen, diese anzuwenden?
Du hast keine Ahnung ob es funktioniert und in Sachen Gedanken ja auch keine zuverlässige Möglichkeit der aktiven Kontrolle mehr, jetzt da Valdimier...
Die Wächterin schob den leisen Zweifel energisch beiseite; Wut auf sich selbst, auf ihre Untätigkeit, ihr Zögern, gab ihr die Kraft, sich von dem fremden Ziehen in ihrem Geist weit genug zu lösen um sich bewusst ins Gedächtnis rufen zu können, was sie sich gemerkt hatte. Irgendetwas musste ja schließlich irgendwann einmal Wirkung zeigen, diese ganzen obskuren Autoren konnten sich das alles doch nicht nur aus den Fingern gesaugt haben! Ophelia atmete tief durch, einmal, zweimal, ein und aus und versuchte so, ihren Puls wenigstens ein wenig zu beruhigen. Es war niemand da, sie war ganz für und bei sich. Dann begann sie, sich ihre Gedankenwelt als eine nach außen abgeschlossene Kugel vorzustellen und eine harte, undurchdringliche Schicht nach der anderen darüber zu legen. Stück für Stück alles hinauszudrängen, was nicht zu ihr gehörte...
Das stechende Gefühl in ihren Schläfen ließ nach und eine wohltuende Stille senkte sich auf ihren Geist herab. Ophelia blinzelte irritiert. Konnte das wirklich sein? So einfach? Oder zahlten sich die Stunden der Übung nun endlich aus? Ängstlich horchte sie auf der Suche nach einer zweiten Präsenz in sich hinein und der kleine Funke Hoffnung schickte sich an, zu einer größeren Flamme zu werden.
"Sag mal, gehst du gerade wirklich nach Lehrbuch vor?"
Die bittere Enttäuschung war so allumfassend, dass sämtliche Schutzschilde, welche die junge Frau vielleicht begonnen hatte um sich aufzubauen, mit einem Schlag zu Nichts zerfielen. Warum nur musste jeder Lichtblick auf der Stelle zu Asche werden; warum wurde ihr jeder kleine Schritt in Richtung einer Heilung versagt? War es denn ihr unabänderliches Schicksal, sich ewig nur fügen zu müssen? Ein ungewohntes Verlangen danach, etwas zu zerschlagen stieg in der Wächterin auf. Vielleicht sollte sie tatsächlich einfach ins nächstbeste Büro laufen und um Hilfe betteln oder noch besser, dem Kommandeur selbst ihre Unfähigkeit gestehen, ein weiteres von zu vielen Malen in der letzten Zeit!
"Also, der Ansatz ist ja nicht dumm", registrierte sie dumpf die geistige Stimme des Eindringlings in ihren Gedanken. "Aber du bist viel zu verkrampft. Dir fehlt die intuitive Note. Hör doch einfach auf darüber nachzudenken, warum du das tust, sondern mach es einfach."
Ratschläge von der Person zu bekommen, welche ihr garantiert am allerwenigsten helfen wollte, machte es nicht einfacher. Eher aus purer Verzweiflung als aus Glaube an Erfolg versuchte Ophelia erneut, eine mentale Mauer zu errichten und fühlte sich dabei wie jemand, der die unzähligen Scherben eines zerbrochenen Teeservice vom Boden aufsammelte.Wenn sie doch nur diese Stimme nicht mehr hören müsste!
"Neeein, das ist ja so, als wolltest du mit Sandkörnern ein Mauerloch stopfen. Oder gleich einen ganzen Troll verwenden, um einen Haarriss im Fensterglas zu reparieren, such dir eine Variante aus. Schätzchen, ein bisschen Talent gehört natürlich auch dazu, aber so wird das erst recht nichts." Der stechende Schmerz in ihrem Kopf setzt wieder ein, noch stärker als zuvor. "Aber nachdem was ich hier so sehe - bei diesen Lehrmeistern erstaunt mich das eigentlich nicht. Wie verzweifelt seid ihr?" Kurzes Schweigen. "Oh, doch so sehr?"
"Verschwinde einfach!"
"Warum denn, es wird doch gerade so interessant! Eins muss man euch lassen, ihr gebt euch wirklich Mühe. Aber was haben wir denn hier? Du verschweigst ihnen etwas?" Die Gedankenstimme des fremden Vampirs kiekste kurz vor Begeisterung. "Das wird mich doch nicht etwa auf meine anfängliche Frage zurückbringen? Du erlaubst, wenn ich mir diesen Nebenzweig kurz etwas näher betrachte? Das könnte sich als wahre Goldgrube erweisen."
Der Vampir begann erneut eifrig ihr Bewusstsein zu durchsuchen, aber bevor Ophelia auch nur die Zeit fand in noch größere Panik als zuvor auszubrechen - geschweige denn einen bewussten Gedanken des Widerspruchs zu formulieren - erhob sich eine wohlbekannte Kälte am anderen Ende ihres Geistes. Alt, machtvoll und mit einer Geschwindigkeit, die Ophelia kurz um Atem ringen ließ, breiteten sich die eisigen Finger der Präsenz aus und schienen sie ganz und gar zu vereinnahmen. Dennoch besaß die Wächterin gerade noch genug Geistesgegenwart, nicht an seinen Namen zu denken.
"Du musstest es also soweit kommen lassen?", hallte seine Stimme in der nächsten Sekunde durch ihren Kopf, ebenso kalt wie seine Anwesenheit und voll tödlicher Wut. "Ich bitte um nicht viel und doch erdreistest du dich, meinen Langmut mit dir derart auf die Probe zu stellen, in deiner verantwortungslosen Naivität? Und du", mit einem spürbaren Ruck wandte sich seine Aufmerksamkeit der zweiten fremden Präsenz in Ophelias Geist zu, "Kind, in deiner Gier. Hüte dich davor, dich in Dinge zu verstricken, deren Tragweite du nicht zu erkennen in der Lage bist!"
Ein scharfer, präziser Schmerz, der zwar nicht ihr galt aber dennoch rücksichtslos ihr Bewusstsein für den Übergang benutzte, durchzuckte Ophelia. Sie schrie auf und das Geräusch fand sein Echo im Schrei des Angreifers.
"Du zwingst mich, nun dies zu tun!", war das letzte, was sie selbst noch hörte, bevor... man konnte es nicht anders beschreiben, als dass ihr Geist regelrecht ausgeschaltet wurde, von einer fernen anderen Kraft zusammengepresst und zur Einstellung seiner Tätigkeit gezwungen. Ihr wurde schlagartig schwarz vor Augen. Wie eine Marionette, deren Fäden man durchgeschnitten hatte, sank Ophelia Ziegenberger zu Boden.

Da war Holz unter ihren Fingern und ihrer Wange, doch es war seltsam mühselig über diese Empfindung hinaus noch etwas anderes wahrzunehmen. Fast schien es, als hätten noch nicht alle Teile ihres Selbst zu ihr zurückgefunden oder sich wieder zu dem Ganzen zusammengesetzt, welches sie ausmachte. Ophelia wusste nicht, wie lange sie in diesem Dämmerzustand festhing, bevor das Gefühl für die Realität soweit in sie zurückgekehrt war, dass sie auch nur daran denken konnte, die Augen einen Spalt weit zu öffnen. Doch selbst dann war dies noch eine schlechte Idee: Das Zimmer drehte sich langsam aber stetig und es brauchte noch einige Minuten und Versuche hinzusehen, bevor es auf der einen Seite stehenblieb. Angestrengt runzelte die Wächterin die Stirn. Das war doch immer noch falsch, der Dielenboden sollte sich unter ihren Füßen und nicht auf der rechten Seite befinden... Dann kam Ophelia richtig zu sich: Sie lag nach wie vor auf der Stelle, wo sie vorhin das Bewusstsein verloren hatte. Seltsam, normalerweise ging man davon aus, in solch einem Zustand gefunden und dann fürsorglich auf eine wesentlich weichere Lagerstatt gebettet zu werden. Doch sie war allein. Vollkommen. Ausnahmsweise befand sich wohl keine der Personen, die vielleicht etwas von ihrem Zustand hätten erahnen können, in der Nähe. Und wer verirrte sich schon zufällig in ihre Räumlichkeiten?
Langsam stemmte sich Ophelia mit ihrem gesunden Arm nach oben und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Einen Moment noch verharrte sie in sitzender Position, bevor ihre kalten und vom langen Liegen steifen Glieder ihr ein Erheben in den Stand gestatteten. Verloren blickte sie sich um.
Der Angreifer war aus ihrem Kopf verschwunden und auch von Raculs übermächtiger Anwesenheit war nichts mehr zu spüren. Vielleicht sollte sie doch eher dankbar sein, dass niemand in der Wache etwas von der Szene mitbekommen hatte. Denn ob sie dann noch hätte schweigen können? Die Erinnerung an das eben Geschehene glich dabei einer stummen Warnung: Sie durfte es nicht mehr soweit kommen lassen! Denn was Racul tun würde sollte sie jemals - wenn auch ungewollt - sein Inkognito preisgeben, das wollte Ophelia sich nicht vorstellen.

~~~ oOo ~~~


Sie bemerkte schon beim Betreten des Treppenhauses, das etwas nicht stimmte: Die Luft war in seltsam kräuselnder Bewegung, so als wäre eben erst etwas Großes hindurch getragen worden, und auch der Staub hatte sich noch nicht wieder absetzen können - in feinen Flocken tanzte er träge vor ihren Augen auf und ab. Außerdem roch es, anders als noch am Morgen, vermehrt nach... Holz? Mina senkte den Blick und bemerkte die feine sandartige Schicht, welche sich unregelmäßig durch den gesamten Flur zog, von der Kellertreppe bis zum Absatz zu den oberen Stockwerken. Sacht schob sie ein Häufchen mit der Stiefelspitze zusammen, hockte sich dann hin und nahm etwas davon zwischen die Fingerspitzen. Sägemehl? Hatte Frau Schrapnell die Lust am Renovieren überkommen? Aber soweit sie sich erinnerte war die Vermieterin noch bis zum Ende der Woche bei ihrer Schwester in Sto Lat...
Ein schlurfendes Geräusch erregte die Aufmerksamkeit der Vampirin nur Momente bevor ein kleiner buckliger Mann in ihrem Blickfeld erschien; schnaufend trug er einige lange schmale Bretter unter dem einen Arm, während die Hand auf der anderen Seite einen Hammer hielt. Seine Höflichkeit reichte gerade mal zu einem Nicken, als Zeichen, dass er sie bemerkt hatte, dann machte er sich auch schon an den Aufstieg in die höheren Etagen. Aber diesen Mangel an Umgänglichkeit war Mina mittlerweile von ihm gewohnt; vielmehr beschäftigte ihre Aufmerksamkeit die Frage, was er mit dem mitgeführten Material anzustellen gedachte. Denn nach oben, das war die Richtung, welche bezüglich des Bestimmungsortes nur wenige Möglichkeiten offen ließ und die sich mit dieser Erkenntnis verbindenden Vorahnungen gefielen der Vampirin ganz und gar nicht.
"Igor, was hast du damit vor?", erkundigte sich Mina, während sie sich langsam wieder aufrichtete.
Der Diener gab ein unwilliges Schnauben von sich.
"Ich führe lediglich die Anweifungen ihrer Ladyfaft auf", meinte er knapp, ohne dabei stehen zu bleiben.
"Und was sind das für Anweisungen?"
"Fie hat mich nicht inftruiert, darüber Aufkunft fu erteilen."
"Sagst du es mit trotzdem?"
Er schien kurz darüber nachzudenken.
"Ich führe Arbeiten durch, auf Anweifung ihrer Ladyfaft", erwiderte der Igor dann, nicht ohne einen unüberhörbaren Anflug von Gereiztheit in der Stimme.
Mina seufzte. Mehr würde sie aus ihm nicht herausbekommen - das Verhältnis zum Untergebenen ihrer Großmutter konnte man bestenfalls als angespannt bezeichnen. Was hatte sich die alte Vampirin jetzt schon wieder in den Kopf gesetzt?
Mit wachsender Ungeduld schloss sie sich dem Igor auf dem Weg nach oben an; um sich vorbeizudrängen war die Treppe schlicht zu eng. Erst recht, wenn der mit unhandlichen Teilen schwer beladene Vordermann genau in der Mitte ging... Wie schön musste es sein, solche Situationen einfach umgehen zu können, indem man den Weg nach oben in Fledermausform zurücklegte? Oder noch einfacher, indem man so etwas wie ein normales Maß an Respekt von seinem Gegenüber erwarten konnte? Doch es war die Unmöglichkeit von beidem, welche eigentlich schon auf den einen Teil des Problems hinwies und damit nichts, was sich ohne Weiteres aus der Welt schaffen ließ. Mina trommelte gereizt mit den Fingern auf das dunkle Geländer zu ihrer Linken. Trotz allem, ein wenig schneller zu gehen wäre doch wirklich nicht so schlimm!
Als schließlich und endlich der obere Treppenabsatz erreicht war, hatte Mina gerade noch Zeit zu registrieren, dass jemand die Eingangstür aus den Angeln gehoben und an die Wand daneben gelehnt hatte, bevor der Anblick der somit offen liegenden Räumlichkeiten sie derart abrupt innehalten ließ, als sei sie gegen eine Wand gelaufen. Bestürzenderweise war dieses Bild gar nicht allzu weit hergeholt: Sämtliches Mobiliar war auf die eine Seite des Raumes gerückt worden und in einem Korb ganz obenauf türmten sich alle lose Objekte, die wohl irgendwo offen herumgelegen hatten, während einem der Blick auf die andere Seite... mehr oder weniger versperrt war. Eine äußerst stabil wirkende Holzkonstruktion ragte etwa bis zur Hälfte in das Zimmer und teilte es der Länge nach von der Decke bis zum Boden; herausragende Balken und noch mehr Bretter ließen darauf schließen, dass der Aufbau noch bis zur gegenüberliegenden Wand fortgesetzt werden sollte. Am vorderen Ende war ein Durchgang ausgespart, provisorisch verhangen durch eine Stoffbahn, welche Mina stark an einen der Umhänge aus ihrem persönlichen Fundus erinnerte. Genau dahinter verschwand jetzt auch der Igor; ein Poltern kündete davon, dass er den Bestimmungsort seiner Last erreicht hatte.
"Was bitte soll das hier werden?", flüsterte Mina fassungslos, eher zu sich selbst, als das sie von jemandem eine Antwort erwartet hätte.
"Einige dringend notwendige, kleinere Anpassungen", ging dennoch jemand darauf ein. Mit energischen Schritten kam Gloria hinter der halbfertigen Wand hervor, das bisherige Ergebnis der Arbeit ihres Dieners kritisch musternd. "Wenn ich mich hier weiterhin aufhalten soll, ist ein Separee unerlässlich. Trotz der Vorhänge, diese... Kammer ist tagsüber einfach zu hell." Gloria verzog missbilligend das Gesicht, während sie neben ihrer Enkelin Position bezog. "Du kommst heute aber frühzeitig." Sie schaffte es, selbst diese Bemerkung wie einen Vorwurf klingen zu lassen.
Mina ignorierte den Kommentar.
"Danke, dass du mich in deine Entscheidung mit einbezogen hast", murmelte sie stattdessen, während sich die erste Überraschung rasch in Ärger zu wandeln begann. Das hier konnte einfach nicht wahr sein!
Die Alte gab ein verächtliches Geräusch von sich.
"Du musst nicht sarkastisch werden, ich habe dir wirklich mehr als genug Zeit eingeräumt, selbst in dieser Hinsicht tätig zu werden. Schließlich habe ich oft genug darauf hingewiesen, dass ich mich hier unter den gegebenen Umständen nicht sonderlich wohl fühle und ein ansprechenderes Ambiente als Notwendigkeit erachte. Mach mir also dein mangelndes Interesse daran nicht zum Vorwurf. Das Platzangebot an sich ist schon Zumutung genug."
"Und da sorgst du spontan für... sowas." Die verdeckte Ermittlerin wies auf den hölzernen Aufbau. "Ja, natürlich, warum auch nicht."
Mina stemmte die Hände in die Seiten und atmete tief durch.
"Kannst du dir vorstellen, was die Schrapnell mit mir anstellt, wenn sie... das hier sieht?", wollte sie dann in erzwungen ruhigem Tonfall wissen. Die Vermieterin reagierte in der Regel schon verstimmt wenn sie herausfand, dass ein Nagel an der falschen Stelle in die Wand geschlagen worden war
"Darüber besteht kein Grund zur Besorgnis, die entsprechenden Absprachen sind längst getroffen. Die gute Dame ist finanziell entschädigt worden und das nicht eben knapp."
"Warum kaufst du nicht gleich das ganze Haus?"
Gloria sah sie groß an.
"Was ist denn das für eine Frage? Was wollte ich denn damit? Welch absurde Idee." Die Alte schüttelte den Kopf. "Außerdem wird die Fertigstellung dieser Kleinigkeit hier auch noch einiges an Kosten verursachen; ich habe da ein sehr klassisches Bild vor Augen: dunkler Brokat und Steinoptik. Du muss zugeben, das hat einen gewissen Reiz, nicht wahr?"
"Du wirst meine Wohnung nicht in ein Mausoleum verwandeln!"
"Das ist trotz allem kein Grund, die Contenance zu verlieren. Hör auf dich so kindisch aufzuführen."
Irgendwo in ihr zerbrach etwas und das, was es freiließ, wollte nur eines: Schreien, dem Zorn freien Lauf lassen und am besten noch all den angestauten Frust der letzten Zeit gleich mit, ob er etwas hiermit zu tun hatte oder nicht - mit diesem letzten Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte... aber dann schloss Mina den Mund unverrichteter Dinge wieder und vergrub den Drang mit einiger Mühe wieder dort, wo er hergekommen war. Es war nicht der richtige Moment dafür, die Beherrschung zu verlieren - nicht heute, nicht nach diesem Tag und dieser ganzen furchtbaren Woche, welche wieder einmal nur gezeigt hatte, wie unsäglich hilflos man manchen Entwicklungen ausgesetzt war; die als Paradebeispiel dafür stand, dass es eben doch immer noch schlimmer kommen konnte. Außerdem musste sie sich konzentrieren, schließlich hatte sie in einigen Stunden einen Einsatz zu bewältigen, der ihre volle Aufmerksamkeit verlangen würde. Da half es nicht weiter, sich in etwas hineinzusteigern, was sich zur Sekunde nicht ändern ließ, und daran Kraft zu vergeuden, die sie... ja, die sie im Moment einfach nicht hatte. Allerdings bedeutete das nicht, dass keine Entscheidung getroffen werden musste.
"Schön", meinte Mina einfach, griff in ihre Tasche und holte den Schlüsselbund hervor. "Weißt du was? Bitte, tu was du nicht lassen kannst, ich werde dich nicht weiter davon abhalten. Aber dann betrachte dich auch in die Pflicht genommen, die Wohnung in Zukunft finanziell allein zu tragen."
Gloria betrachtete überrascht den Schlüssel, welchen ihre Enkelin ihr nun in die Hand drückte - sie schien fest mit einem wie auch immer gearteten Ausbruch gerechnet zu haben. Allerdings hielt dieser Zustand bei ihr nie lange an.
"Und was wirst du tun? In dein Büro einziehen?", wollte die alte von Nachtschatten wissen. "Ich kann mir kaum vorstellen, das ein 24-stündiger Aufenthalt unter Menschen das wert sein soll. Vor allem nicht unter den aktuellen Zuständen." Sie machte ein vielsagendes Gesicht.
"Zum einen muss das nicht deine Sorge sein und zu anderen habe ich eine... Alternative." Mina nickte nachdrücklich. "Wenn du mich dann entschuldigst: Ich habe heute Abend noch etwas vor. Meine Sachen hole ich morgen." Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und verließ die Wohnung. Aus dem Durcheinander ihrer - nun wohl ehemaligen - Bleibe das Nötigste herauszusuchen würde wer weiß wie lange dauern und sich jetzt damit aufzuhalten, dazu fehlte ihr jede Lust.
Kalter Wind schlug ihr entgegen, als die Vampirin auf die Straße trat. Immerhin blieb ihr so noch genug Zeit sich mit Ophelia zu unterhalten und auf deren kürzlich gemachten Vorschlag zurückzukommen: Ab jetzt würde es für sie wohl tatsächlich Fünf-Und-Sieben-Hof 1 heißen. Nun gut... wenigstens erstmal vorübergehend. Mina kniff frustriert die Augen zusammen. Was genau in ihrem Leben war denn momentan eigentlich nicht vorübergehend gedacht gewesen?


OPHELIA ZIEGENBERGER

Die Wächterin stand vor dem kleinen Spiegel der Waschecke und bemühte sich mit nur einer Hand gleichzeitig die kunstvoll gerollte Haarsträhne zu halten und eine störrische Haarnadel dazu zu nutzen, um eben diese festzustecken. Der Versuch gelang ihr erst im dritten Anlauf aber immerhin. Sie atmete erleichtert auf und betrachtete sich kritisch in dem sehr begrenzten Ausschnitt der reflektierten Realität, der ihr zur Verfügung stand. Hätte sie den Standspiegel hier gehabt, der derzeit daheim nutzlos einstaubte...
Sie lächelte bei dem Folgegedanken.
Doppelt nutzlos, wo nicht einmal Mina ihn dort gebrauchen kann! Allerdings spricht ihre Anwesenheit dafür, dass er nicht wortwörtlich einstauben wird.
Ophelia richtete den eng anliegenden Stehkragen ihrer Bluse. Das fehlende Armgeschirr über ihrer Abendgarderobe ließ sie so unversehrt wirken, so... normal.
Sie errötete bei dem Gedanken und wandte sich schnell von dem Spiegel ab.
Rach hatte zwar nichts in dieser Richtung verlautbaren lassen aber sie hatte aus seinen flüchtigen Blicken und seiner Mimik in unbedachten Momenten herauszulesen geglaubt, dass er die lederne Armschiene zumindest als irritierend, wenn nicht sogar als störend empfand. Sie selber hatte sich ja nur aus praktischen Erwägungen heraus daran gewöhnt. Es war nicht so, als wenn sie darauf angewiesen gewesen wäre, sie zu tragen. Dazu kam das starke Bedürfnis danach, ihm zu gefallen. War es verwerflich, wenn sie sich dazu anschickte, eine Gewohnheit in seiner Gegenwart wortwörtlich "abzulegen", um seinen - unausgesprochenen - Wünschen entgegen zu kommen?
Der Gedanke verunsicherte sie etwas.
Sie lenkte sich damit ab, einen Blick durch den Raum schweifen zu lassen, um zu sehen, ob alles für den Abend mit Rach bereit wäre.
Natürlich war es das längst! Mit der Spitzentischdecke, die sie sich erst heute früh von daheim hatte mitbringen lassen, wirkte der gesamte Raum wesentlich wohnlicher. Die frischen Blumen, die Mina zusätzlich dabei gehabt hatte, leuchteten im warmen Gelbton mit den hohen Kerzen um die Wette.
Ophelias Blick verharrte am Fenster. Es war zwar länger schon dunkel gewesen, doch inzwischen brannten, entzündet von den späten Heimkehrern, in den vielen, von hier aus sichtbaren Fenstern auf Gebäuderückseiten und in Dachschrägenkammern, die Flämmchen der Öllampen. In weiter Ferne war die Kontur des Palastes zu erahnen, ebenfalls freundlich ausgeleuchtet. Und darüber: Sternschnuppen, ein wahrer Schauer weit entfernt fallender Sterne, die glitzernde Goldbahnen zogen, ehe sie lautlos verglühten!
Wunderschön!
Eine innere Ruhe senkte sich auf sie herab und sie atmete tief durch.
Gleichgültig, wie viel sich in unseren Leben hier unten auch ändert... die gewaltigen Naturkräfte und Kreisläufe um uns herum bleiben immer gleich. Wir sind so klein, im Vergleich zu Groß A'Tuin und den Vieren, so unbedeutend! Es ist eine Laune der Götter, eine unvergleichliche Gnade, leben zu dürfen. Ich sollte mir noch mehr Mühe geben, all den Hindernissen die Stirn zu bieten, um diese kostbare Gabe zu genießen! Trotz der Umstände!
Es klopfte in verwegenem Rhythmus an der Tür und sie beeilte sich, die lange erwartete Person noch im Umwenden zum Eintreten aufzufordern.
"Komm' herein, es ist offen!"
Und da stand es auf ihrer Schwelle: Das Leben in seiner zauberhaftesten Form!
Er grinste sie über das ganze liebreizende Gesicht spitzbübisch an.
"Ophelia, ich hoffe, du hast mich ebenso vermisst, wie ich dich, sonst wäre es ungerecht aufgeteilt gewesen!"
Sie lachte und eilte ihm entgegen.
"Objektiv betrachtet waren es doch nur einige wenige Stunden, die wir uns nicht gesehen haben! Was soll denn aus uns werden, wenn wir uns so gehen lassen? Was, wenn einmal etwas dazwischen käme, so dass wir uns einige Tage lang nicht mehr sehen könnten? Meinst du nicht, wir sollten uns zügeln, Rach?"
Sie strafte ihre Worte Lügen, indem sie viel zu schnell und zu nahe an ihn heran trat, um mit fast anrüchigem Funkeln in den Augen zu ihm aufzusehen, während er ihre Hand an seine Lippen führte. Der Moment schien ewig anzudauern, so sehr widerstrebte es ihnen beiden, den Blickkontakt auch wieder zu lösen.
Er schüttelte sacht den Kopf.
"Nein, davon halte ich gar nichts, Madame! Im Gegenteil!"
Da er noch immer ihre Hand in der seinen hielt, konnte Ophelia sich nicht die errötenden Wangen verdecken. Stattdessen schlug sie die Lider nieder.
Rach lachte leise und sie warf ihm schmunzelnd einen empörten Blick zu. Er führte sie zu dem Tisch, wobei er das Arrangement mit einem zufriedenen Blick kommentierte.
"Sage jetzt nicht, dass du heute noch jemanden erwartest, Ophelia. Welcher Schuft würde es wagen, sich klammheimlich in dein Herz schleichen zu wollen, wo es doch schon reserviert ist!"
Sie setzte sich, wie offenbar von ihm angedacht.
"Rach! Also wirklich!"
Er stellte sich händeringend vor sie. Die Signale, die er dabei durch Gestik und Mimik übermittelte, waren verwirrend. Er wirkte wie ein übermütiger Schuljunge auf sie, den man auf frischer Tat bei einem Streich ertappt hatte. Und gleichzeitig schien er auf eine Weise besorgt, die von der Last der Verantwortung kündete.
Das ist neu.
Sie lächelte ihm beruhigend zu.
"Was ist es heute, Rach? Welchen Schabernack hast du dir erdacht? Du brauchst nicht so ernst zu schauen! Du weißt, dass du in keiner Weise dazu verpflichtet bist, mich dermaßen zu umsorgen und zu unterhalten. Warum also dein Zögern? Selbst wenn da nichts käme, würde ich immer noch überaus deine Gesellschaft genießen."
Er knetete nervös seine Hände, gab sich dann aber einen Ruck.
"Keinen Schabernack. Ich…", er gab einem frustrierten kleinen Impuls nach, indem er über sich selber die Augen rollte. "Na gut! Ich hoffe, du änderst nicht gleich deine Meinung."
Er eilte zur Tür und griff nach draußen, um sofort darauf einen unhandlichen Kasten herein zu heben. Während er diesen zu ihrem frei geräumten Schreibtisch trug und damit begann, die Abdeckung von dem trichterförmigen Aufbau zu heben, eine Kurbel seitlich in den Kasten zu stecken und aus dem Fach an dessen Seite eine längliche, zerkratzte Wachswalze herauszuheben, um diese aus dem Seidenpapier zu wickeln und dann einzuspannen, erklärte er mit nervösem Unterton in der Stimme:
"Du hast letztes Mal gesagt, dass es dir fehlt, in ein Café, eine Galerie oder eine Taverne zu gehen, um bei Bedarf den Auftritt einer Musikgruppe erleben zu können. Dass dir die Musik hier im Wachhaus fehlt. Und da dachte ich mir..."
Er grinste sie fast unsicher an, doch da konnte sie ihn augenblicklich beruhigen. Wie konnte er auch nur einen Moment lang daran zweifeln, ihr mit dieser charmanten Idee eine Freude zu machen?
"Du hast mir Musik mitgebracht?"
Er nickte freudestrahlend.
"Ja, habe ich. Lass uns hoffen, dass es nun auch die richtige Art von Musik ist. Viele Walzen hatten sie nicht zur Auswahl."
Er zog den Mechanismus mit schnellen Drehungen der Kurbel auf und kurz darauf begann sich auch die Tonwalze zu drehen. Er setzte den Nadelarm auf und richtete den Trichter in ihre Richtung aus.
Das leise Rauschen und Knistern des Gerätes wurde von der einsetzenden Melodie übertönt und Ophelia saß mit staunendem Blick auf ihrem Stuhl.
Er macht so viel für mich... und ich kann es ihm, außer mit meiner uneingeschränkten Zuneigung, nicht einmal vergelten!
Er hatte sie nicht aus den Augen gelassen und trat mit leisem Flüstern auf sie zu.
"Darf ich bitten, Madame?"
Sie legte ihre Hand fragend in die seine und ließ sich vom Stuhl hochziehen.
"Du möchtest mit mir tanzen?"
Er schmunzelte auf diese unnachahmliche Weise, bei der sie ihm schlichtweg nichts abschlagen können würde, sollte er es jemals darauf anlegen, etwas dabei von ihr zu erbitten.
"Spricht etwas dagegen, dass die schönste Frau in diesem Gebäude mit dem verliebtesten Mann in diesem Gebäude tanzt?"
Sein Blick verschlug ihr die Sprache und so verneinte sie die Frage mit einem verlegenen Seitenblick, ließ sich näher zu ihm ziehen und versuchte lediglich, nicht allzu offensichtlich schneller zu atmen, als er sie mit einer Hand an der Hüfte fasste und mit der anderen ihre gesunde Hand ergriff. Sie war plötzlich sehr froh darüber, dass sie heute auf das Armgeschirr verzichtet hatte. Der quer geschnallte Arm vor ihrem Körper hätte ansonsten jetzt zwischen ihnen "gestanden". So hing er fast wie natürlich an ihrer Seite herab.
Sie begannen mit einem langsamen Wiegeschritt, um ihre Körper allmählich in den Rahmen der Melodie finden zu lassen, ehe er ihr mit einem fast unmerklichen Druck der sanft aufliegenden Fingerspitzen zwischen den Schulterblättern und einer kaum zu erahnenden Neigung seines Oberkörpers die Richtung vorgab, in die er sie zu führen gedachte. Die folgende Drehung kam so selbstverständlich zustande, so fließend und elegant, als wenn sie ihr Leben lang nichts anderes getan hätten, als gemeinsam zu tanzen. Ein Schritt folgte dem nächsten und eine Drehung auf die andere. Sie brauchte nichts weiter machen, als seinen kleinen Führungshilfen zu folgen und das war auch gut so, denn sie tanzten weniger einen klar zu benennenden Tanz, den sie hätte kennen können, als vielmehr eine willkürliche Kombination verschiedener Figuren, wie sie von einer Sekunde zur nächsten zum Takt passen mochten. Und doch ergab sich eine Choreographie daraus, wie sie sich diese nicht schöner hätte vorstellen können. Der Raum war nicht groß. Trotzdem wich er geschickt Tisch und Stuhl aus und setzte die immer schwungvoller werdenden Drehungen so selbstverständlich ein, dass sie das Gefühl hatte, mit ihm über ein weites Parkett zu schweben, ja, fast schon zu fliegen.
Er ist ein großartiger Tänzer!
Eine Sekunde lang sah sie ihm in die Augen. Die Emotionen jedoch, die darin brannten, ließen ihre Knie weich werden, so dass sie schnell durch den immer schmaler werdenden Spalt zwischen ihrer beider Körper zu Boden sah.
Eine neuerliche Drehung, sie wirbelte um ihre eigene Achse, während er sie am ausgestreckten Arm stoppen ließ, nur um sie sofort wieder einzuholen und in eine sichere Umarmung heimkehren zu lassen. Sie stockten in der Mitte des Zimmers und das berauschende Gefühl, mit ihm gemeinsam der Schwerkraft getrotzt zu haben, so dermaßen glücklich zu sein, dass es fast schon schmerzte, ließ sie lachen. Sie schmiegte sich eng an seine Brust und flüsterte bewegt:
"Rach, ich liebe dich! Ich weiß, das habe ich dir bereits einmal gesagt. Aber es muss auch gestattet sein, das bei passenden Gelegenheiten zu wiederholen, meinst du nicht?"
Seine Arme schlossen sich fester um sie und er legte seine Wange auf ihr ab, als er nach einem Räuspern erwiderte:
"Das beruht auf Gegenseitigkeit, meine Liebste. Und ich denke ebenfalls, dass das gestattet sein muss."
Ophelia atmete verträumt den frischen Stärkegeruch seines Hemdes und den herben Duft seiner Haut ein. Einem Mann, diesem Mann, so nahe zu sein und sich dabei so wohl zu fühlen...
Unbewusst griff sie die Melodie auf und summte sie mit.
Rach lachte und das Geräusch klang im leichten Beben seines Brustkorbes an ihrer Wange nach.
"Du kennst das Stück? Mir hatte es im Laden gar nichts gesagt, als der Verkäufer es empfahl, auch wenn ich es für diese Gelegenheit als sehr passend empfand."
Sie schloss lächelnd die Augen, während sie aneinandergelehnt nur noch mit winzigen Schritten auf der Stelle tanzten.
"Ja, ich kenne es. Eigentlich ist es kein Instrumentalstück zum Tanzen, sondern eine wunderschöne, quirmianische Ballade. Vielleicht fällt mir sogar noch der Text ein, wenn ich mir Mühe gebe? Eine meiner Freundinnen aus Kindertagen, zu der wir immer für die Damenschule hinüber gegangen sind, hatte eine Vorliebe für solche Lieder - und ein Kindermädchen, welches ihre übermäßig romantischen Tendenzen unterstützte. Wenn Großtante Pätrischa davon gewusst hätte, wäre sie niemals so unnachgiebig dafür gewesen, uns jede Woche zu ihr zu schicken."
Die Geborgenheit seiner Umarmung fühlte sich wundervoll warm und sicher an. Sein sanfter Atem in ihrem Haar... so richtig.
Die Worte fielen ihr wieder ein und sie begann leise mitzusingen, von Liebe und Verlust, von dem Lied einer Geliebten, so berührend, wie der sanft fallende Schnee, so tröstend wie ein Hauch von Sommer in der Luft, so schmerzlich ersehnt und doch so unfassbar wie tanzende Schatten in der Nacht.
Ihre Bewegungen glichen sich ebenso aneinander an, wie ihre langsamer werdenden Atemzüge und die Herzschläge.
Die Melodie endete und ebenso Ophelias Gesang. Einen Moment lang war sie besorgt ob dessen Qualität, bis sie sich an die lobenden Worte des damaligen Gesanglehrers erinnerte. Sie schmiegte sich noch etwas mehr an Rach und ließ die vertrauensvolle Stille zwischen ihnen auf sich wirken.
Seine Haltung änderte sich leicht, dann spürte sie seine Hand vorsichtig über ihr Haar streichen. Dass er es damit durcheinander bringen und ihre langwierigen Mühen zunichte machen würde, war ihr gleichgültig.
"Ein ziemlich tragischer Text, oder?"
Sie lächelte mit weiterhin geschlossenen Augen, während sie an ihn gelehnt antwortete.
"Ja, das ist er. Aber er ist auch hoffnungsvoll. Immerhin wartet der Liebende darauf, wieder mit der Geliebten vereint zu sein und die Zuneigung der Beiden ist so aufrichtig, dass er die Erinnerungen bis dahin an sie aufrechterhält."
"Aber wäre es nicht besser gewesen, wenn sie gleich beisammen geblieben wären, anstatt aufeinander zu warten und dabei zuzulassen, dass Alltag und andere Gefahren sich zwischen sie drängen?"
Sie spürte eine gewisse Anspannung durch seine Körperhaltung rieseln und löste sich von ihm, um ihn anschauen zu können. Die Innigkeit in seinem Blick bestätigte ihre Vermutung: Es ging ihm jetzt um mehr, als nur um den Text eines Liedes. Sie zögerte mit ihrer Antwort, weil es ihr nicht leicht fiel, die richtigen Worte zu finden.
"Rach... wenn wir von der gleichen Sache sprechen, dann... manchmal sind die Umstände so schrecklich falsch. Natürlich, ich denke, dass Liebe viele Hindernisse überwinden kann. Wenn nicht sogar alle. Du hast mich sogar aus dem Bann der Dornenhecke damit befreit! Wer wüsste das also besser als du. Nur..."
Er sah sie unnachgiebig an.
"Hättest du Angst vor einem Leben mit mir? Davor, deine Zuneigung auf eine Person festzulegen? Davor, mit mir so viele Dinge zu sehen und zu erleben, dass wir gemeinsam alt werden würden?"
Sie brauchte nicht lange zu überlegen.
"Ich hätte keine Angst davor, bei dir zu sein und mein Leben mit dir zu teilen, ganz bestimmt nicht. Ich hätte aber vielleicht Angst davor, dich Gefahren auszusetzen oder deinen Respekt zu verlieren, wenn Probleme auftauchen würden, die sich als echte Prüfung unserer Gefühle füreinander herausstellen könnten. Und du weißt, in Anbetracht der aktuellen Situation um mich, kann man getrost davon ausgehen, dass es in naher Zukunft nicht einfacher werden wird."
Warum nur zwingt er mich dazu, das auszusprechen? Es ist schmerzhaft genug, das nur zu denken!
Doch er sah sie nur weiter mit ernstem Blick an und beharrte darauf.
"Ophelia, nennen wir es beim Namen: Was sollten die Umstände an der Liebe ändern? Was können andere Menschen unseren Gefühlen füreinander anhaben, wenn wir uns einig sind? Ich sehe, dass die Umstände auf rein praktischer Ebene unser Beisammensein einschränken können, natürlich. Aber sie können doch nicht verhindern, was du mir und ich dir, was wir uns gegenseitig, aus freien Stücken eingestanden haben!"
Sein fast schon unbeherrscht frustriertes Auftreten und das charakteristische Zurückstreichen des Haars mit der Hand, brachten ihr Herz zum Glühen. Sie musste schwer schlucken.
Rach fasste sie an beiden Schultern.
"Zeit sollte bedeutungslos sein, wenn man die Nähe des Anderen nicht mehr missen will."
Sein Blick begann fast zu flackern, von all den Emotionen, die sich darin aufstauten.
Sie fühlte sich schwindlig.
Etwas ging in ihm vor sich, etwas, das sie nicht hatte kommen sehen, Etwas, das so groß und überwältigend war, dass sie es sich selbst jetzt nicht einzugestehen traute, für den Fall, dass sie ihn missverstünde und lediglich ihren kindlichen Träumen von rettenden Prinzen und glücklichen Enden anheim fallen würde, für den Fall, dass sie als erwachsene Frau einem Märchen hinterher trauern würde, während in der Realität...
Er ließ seine Hände zärtlich über die Schultern und an ihren Armen hinabgleiten, bis seine Finger die ihren gefasst hielten, den Umstand ignorierend, dass eine ihrer Hände dies nicht empfinden konnte. Dann ging er langsam vor ihr auf ein Knie, ohne dabei den Blick abzuwenden.
Sie atmete zittrig ein.
"Ophelia, ich will dich nicht drängen. Ich weiß, dass die Gegebenheiten uns Grenzen setzen und Romantik schwer machen. Ich weiß, dass eine Zeit des Wartens und Sehnens auf uns zukommen mag. Aber ich weiß auch, dass ein Versprechen mehr ist, als bloße Hoffnung. Willst du solange gemeinsam mit mir warten? Willst du ebenso sehr mit mir zusammen sein, wie ich mit dir? Willst du die guten Zeiten mit mir teilen, ebenso wie die schlechten, meine Familie kennen- und ertragen lernen? Mit anderen Worten: Willst du meine Frau werden?"
Sie traute sich kaum, sich zu bewegen, geschweige denn zu atmen. Noch immer hielt er ihre Hände in den seinen gefasst und der Gedanke schien plötzlich so nahe liegend, dass er sie nie mehr wieder loslassen würde. Gefühle und Erinnerungen, Ängste und Hoffnungen überschlugen sich in ihrem Sinn und sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Er will mich heiraten! Er - will - mich - heiraten! Alle Mühen, die er schon mit mir mitgemacht hat in den letzten Monaten und keine davon hat ihn abgeschreckt? Darf ich solch ein Glück überhaupt annehmen, während um mich herum immer mehr Schranken fallen und Unheil seinen Lauf nimmt?
"Oh, Rach! Ob ich mit dir zusammen sein will? Mit all meinem Sein! Nur... ich bringe Kummer, selbst wenn ich mir die größte Mühe gebe, es zu verhindern, das weißt du. Wir haben keinen Moment wirklich für uns allein... und... und ich würde dich nicht unglücklich machen wollen, im Gegenteil!"
Er schien die eine Hälfte ihrer Antwort gar nicht gehört zu haben, so deutlich leuchtete in seinen Gesichtszügen Freude auf. Er griff mit einer schnellen Bewegung in seine Jackettasche, zog ein kleines Klappdöschen hervor, drehte es ihr zu und öffnete es. Darin befand sich ein filigraner Goldring mit einem glitzernden Diamanten.
"Nicht nur dein Alltag birgt Gefahren. Ich nehme dieses Argument daher zwar zur Kenntnis, du wirst es aber nicht schaffen, mich damit abzuschrecken. Die Chancen stehen für uns gut, dass ein Leben miteinander nicht langweilig werden sollte. Du möchtest mich glücklich machen? Dann nimm einfach meinen Antrag an!"
Sie musste lachen, was sich merkwürdigerweise wie ein Schluchzen anhörte.
Er erhob sich wieder und nahm den Ring aus dem Döschen.
Pures Glück überschwemmte Ophelias Inneres. Sie hatte das Empfinden, in diesem intensiven Gefühl regelrecht zu ertrinken, rang immer wieder nach Atem, lachte und weinte zugleich und konnte sich kaum entscheiden, was sie sagen sollte.
Rach schien es ähnlich zu gehen, auch wenn er dabei deutlich gefasster wirkte.
Der Ring glitt auf ihren Finger und sie sah unter Freudentränen zu ihrem frisch Versprochenen auf. In Ermangelung passender Worte sank Ophelia in seine wartende Umarmung. Ihre Lippen suchten sehnsüchtig und ohne die geringste Scham die seinen und die Welt um sie herum verging in Bedeutungslosigkeit, als sie sich zu küssen begannen.


MINA VON NACHTSCHATTEN

Den Raum nur als verraucht und laut zu beschreiben wäre eine glatte Untertreibung gewesen: Aus einer ausladenden Kiste gleich neben der Tür dröhnte ohne Unterbrechung Schwerstein-Musik und man brauchte mit einiger Sicherheit mehr als nur einen Dämon, um einen derartigen Lärmpegel zu erzeugen. Der allgegenwärtige Qualm aus Pfeifen und Zigaretten erhielt tatkräftige Unterstützung durch einige Wasserpfeifen in einer Ecke und den Mienen der Konsumenten nach zu urteilen war das, was sie da inhalierten, bestenfalls illegal. Wohl dem, für den das Atmen in dieser Atmosphäre optional war. Das restliche Mobiliar machte einen zusammengewürfelten und improvisierten Eindruck: Einige niedrige, wenn auch massive Schränke dienten als Ablage für allen möglichen Krempel und den dunklen Flecken auf den zerkratzten Oberflächen nach zu schließen wohl auch als gelegentlicher Aschenbecherersatz. Stilistisch stammten sie wohl aus dem letzten Jahrhundert und vertrugen sich dennoch optisch auf sonderbare Weise mit der alles dominierenden und ebenso mitgenommen aussehenden Sitzecke auf der linken Raumseite. Dieser gegenüber hatten jemand versucht so etwas ähnliches wie eine Theke zusammenzuzimmern, bestehend aus einigen Fässern sowie einem breiten Balken, welcher sich unter der Last der darauf abgestellten Flaschen bog. Nichts passte wirklich zusammen und genau das war es wohl, was die Einrichtung zu einem ganz eigenen, geschlossenen Ensemble machte. Es ergab ein Bild. Wobei das nicht zwingend positiv gemeint war.
Nicht minder vielfältig präsentierte sich die Schar der Anwesenden hinsichtlich Spezies und Herkunft; es herrschte reger Zulauf und noch immer trafen neue Gäste ein, die sich mit größter Selbstverständlichkeit unter die anderen mischten. Auch in diesem Fall ließ sich ein verbindendes Element ausmachen: Sie alle einte die Begeisterung für als Musik getarnten Lärm, sehr lederlastige Kleidung, schnelle Pferde, diverse kriminelle Umtriebe - und sie gehörten zu einer Gruppierung, die sich als "Unterweltdämonen" bezeichnete. Diese organisierte Bande machte sich seit einiger Zeit in diversen Stadtvierteln breit und somit anderen Gruppierungen wie der lokalen Muffia zunehmend das Revier streitig. Stets beritten und gut bewaffnet reichte die Palette ihrer Aktivitäten von Drogen über Glücksspiel und Schutzgelderpressung bis zum illegalen Pferderennen. Damit waren sie nicht nur dem ein oder anderen Paten ein Dorn im Auge, auch die Gilden, deren Geschäftsfelder sich mit denen der Dämonen überlagerte, waren nicht übermäßig begeistert. Allerdings war es die dritte Partei in diesem Spiel, welcher es gelungen war der Bande am dichtesten auf die Pelle zu rücken und das sogar, ohne das diese etwas davon merkte. Zumindest blieb dies zu hoffen, denn ansonsten hätten sich die beiden verdeckten Ermittler der Stadtwache demnächst mit sehr ernsten Problemen konfrontiert gesehen. Aber bisher war alles glatt gelaufen... vielleicht sogar ein wenig zu glatt...
Mit spitzen Fingern zupfte Mina ein wenig Füllmaterial aus einem Loch in der Armlehne des Sessels und schnippte den Flusen zu Boden - eine Geste, die unbewusst genug wirkte, um von den Umstehenden nicht sofort als Zeichen von schlechter Laune gedeutet zu werden. Probleme... ja, sie hatte hier ein paar ganz spezielle von der Sorte. Die Vampirin hatte sich immer für eine angemessen tolerante und geduldige Person gehalten und es gehörte auch einfach zur Professionalität ihres Tschobs, in derartigen Situationen die Fassade aufrecht zu erhalten und trotz allem freundlich zu lächeln. Zumal sie nicht undankbar für die Gelegenheit zum Außeneinsatz gewesen war und damit der Möglichkeit, der angespannten Situation in der Wache für ein paar Stunden zu entgehen. Aber das Bedürfnis, aus irgendeinem Grund das Weite zu suchen wuchs proportional zu der Zeit, die sie hier verbrachte. Daran war besonders die Gesellschaft, in der dies geschah, nicht ganz unschuldig.
Ein Glas mit einer stark riechenden, klaren Flüssigkeit erschien in ihrem Blickfeld. Wahrscheinlich sollte kein lebendes Wesen, dem etwas an seinem Magen lag, auch nur in Erwägung ziehen, diese Zeug zu schlucken, aber hier trank die versammelte Mannschaft davon, als wäre es Wasser. Wahrscheinlich Gewohnheit und Abhärtung. Gleich nach Gruppenzwang und Machogehabe.
"Darrrf ich dirrr eine kleine Errfrrischung anbieten, meine Schöne?"
Sie wandte sich dem breit grinsenden Vampir zu und nahm ihm in einer großen Geste das Glas aus der Hand.
"Wie nett, dass endlich einmal jemand auf diesen Gedanken kommt", meinte sie in dem herablassenden Tonfall, der zu ihrer Rolle passte, allerdings entging dem Gegenüber der damit verbundene Subtext gänzlich. Doch damit war er nicht allein - die beiden anderen Herren, welche sich um die Vampirin versammelt hatten, ärgerten sich sichtlich, nicht zuerst die Initiative in dieser Hinsicht ergriffen zu haben. Claudius van Dusterfluss, so der Name des ersten Vampirs, aber warf sich sichtlich in die Brust und seinen Konkurrenten triumphierende Blicke zu. Hätte er geahnt, dass er hier versuchte mit einer von Nachtschatten anzubandeln, das Lachen wäre ihm wohl im Hals stecken geblieben. Die Familien pflegten seit jeher das, was man gemeinhin ein schwieriges Verhältnis nannte und waren das liebste Opfer der jeweils anderen, wenn es darum ging, eine kleine Intrige zu schmieden. Aber dieser Umstand war momentan nicht von Bedeutung, ging Claudius doch fest davon aus, mit Desdemona Yesenia zu sprechen - Minas Identität für diesen Einsatz. Was hätte ihn also davon abhalten sollen, dem Ruf der Männer seiner Familie als Frauenhelden gerecht zu werden? Nur wäre es in ihrem Interesse gewesen, wenn er es damit nicht ganz so übertrieben hätte, denn seine bisherigen Bemühungen hatten wiederum seine Mitbewerber angespornt und Mina fragte sich im Stillen, wann der Punkt sowie der Alkoholpegel erreicht war, dass sie sich gegenseitig an die Kehle gehen würden. Diese ganze Aufmerksamkeit gefiel einer Desdemona zwar außerordentlich - Mina hingegen war heilfroh, sich für diesen Abend für die ledernen Reithosen und gegen einen Rock entschieden zu haben. Das machte ihren Aufzug zwar nicht weniger provokativ - auch schmal geschnittene Oberteile und eng anliegende Lederjacken trug man nicht eben, wenn man seine Figur verstecken wollte - aber im Vergleich zu einigen anderen anwesenden Damen war sie geradezu züchtig gekleidet. Nichtsdestotrotz, es lief jedem Instinkt zuwider, sich hier, auf diesem alten Sessel, sowohl möglichst vorteilhaft als auch dekorativ zu drapieren, auch wenn das die kleine Herrenrunde um sie herum überaus gesprächig machte. Wenn sie nun noch etwas Ermittlungsrelevantes von sich gegeben hätten, dann wäre dieser kleine Ausflug wenigstens lohnend gewesen... Doch es war rein gar nichts Interessantes aus den Kerlen herauszubekommen, lediglich mit ihren diversen Erfolgen bei gesetzwidrigen Rennveranstaltungen hatten sie hinreichend geprahlt. Mina unterdrückte einen kleinen Seufzer. Nun gut, sie würde sich zusammenreißen und solange gute Miene zu diesen Spielchen machen wie eben nötig. Dennoch konnte sie sich einen raschen, prüfenden Blick quer durch den Raum nicht verkneifen, allerdings war von dem Gesuchten noch immer keine Spur zu entdecken. Nicht, seit er mit der rechten Hand des Anführer der Unterweltdämonen in einem Nebenzimmer verschwunden war. Und da das hier sein Fall war...
Er bekommt das schon hin, ganz bestimmt. Sonst wäre das Geschrei bereits losgebrochen, versuchte sich die verdeckte Ermittlerin zu beruhigen. Sie hatte noch allzu deutlich die ernsten Worte ihres Abteilungsleiters im Ohr: Sie solle dafür sorgen, dass ihr Auszubildender seine Ausbildung schnellstmöglich zu einem Abschluss brachte. Sie würden die zusätzliche Kraft viel zu dringend benötigen. Dann hatte der Werwolf ihr eben diesen Fall vor die Nase gelegt und gemeint, das wäre doch etwas für diesen Anlass. Immerhin habe Ettark selbst von einem ehemaligen Kontakt die ersten Informationen zu der zu infiltrierenden Bande bekommen. Es war auch weniger kompliziert gewesen als erwartet, an Informationen über die nächste, von den Dämonen geplante Rennveranstaltung zu gelangen, sowie darüber, dass diese von einigen angeheuerten Gildenhandlangern aufgemischt werden sollte. Das war ihr Einstieg in die Ermittlung gewesen.[4] Ein guter Einstieg, wie die Vampirin zugeben musste. Trotzdem wäre es ihr besser gegangen, wenn Ettark vor diesem Einsatz noch ein wenig Zeit geblieben wäre, in der neuen Spezialisierung wirklich sicher zu werden. Aber wie auch immer - schloss er diesen Fall erfolgreich ab, dann würde er den Status eines vollwertigen verdeckten Ermittlers erhalten. Sie war heute im Grunde nur hier, um ein Auge auf das Geschehen zu haben und im Notfall einzugreifen. Was sich natürlich nicht ganz so einfach gestaltete, solange sich der Schutzbefohlene in einem anderen Raum aufhielt... aber die "Freundin" des angehenden Bandenmitgliedes hatte nun einmal keine Veranlassung, an geheimen Planungsrunden im Hinterzimmerchen teilzunehmen.
Eine Berührung am Ellenbogen holte sie aus ihren Gedanken zurück in den verqualmten Raum. Der Vampir zu ihrer anderen Seite hielt den Moment offenbar für geeignet, sich nun selbst stärker in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit zu rücken, zumal Dusterfluss gerade von einer blondhaarigen Menschenfrau abgelenkt wurde. Einfach klein beizugeben schien für keinen der Anwesenden eine Option darzustellen. Er sagte irgendetwas, was man leider über dem Lärm nicht verstand. Aber immerhin konnte Mina die Bewegung, mit der sie sich zu ihm umwandte nutzen, um den Inhalt ihres Glases verborgen vor Claudius' Blicken im Topf einer gelbblättrigen Pflanze zu entleeren. Der andere schien das wiederum als gutes Zeichen zu sehen und damit als Anlass, sich noch stärker aufzudrängen. Wenn sich aus diesen Tändeleien doch wenigstens irgendetwas Sinnvolles ergeben hätte! Aber besah man es mal bei Lichte - zumindest metaphorisch gesprochen, die dämmrige Beleuchtung in den verqualmten Räumlichkeiten konnte kaum als solches durchgehen - was stellte sie sich eigentlich so an? Es gaben sich doch alle hier die größte Mühe, wirklich zuvorkommend zu sein, selbst der unsägliche van Dusterfluss. Vielleicht sollte sie sich einfach ein wenig entspannen und all das nicht ganz so ernst nehmen. Zumal der Vampir, dem sie nun gezwungenermaßen ihre volle Aufmerksamkeit schenkte, gar nicht mal so übel aussah. Besonders für jemanden, der noch vor ein paar Stunden aus vollem Galopp und mitten in der Verwandlung in einen Fledermausschwarm auf der Straße aufgeschlagen war. Möglicherweise konnte man hier ja auch tanzen, irgendein Takt würde sich aus dem Gedröhne schon heraushören lassen... Das erste echte Lächeln des Abends begann sich auf Minas Gesicht auszubreiten - und erstarb auf halbem Wege. Irgendetwas... war... falsch. Natürlich waren das gerade ihre eigenen Überlegungen gewesen, doch es fühlte sich ganz und gar nicht richtig an. Woher kam auf einmal diese seltsam gute Laune? Hatte sich irgendetwas verändert? Sie schnupperte vorsichtig. Nein, wenn es an dem Zeug liegen würde, dass die anderen hier rauchten, dann hätte die Wirkung schon eher eingesetzt. Das, was sie derart aus dem Konzept brachte befand sich nicht in unmittelbarer Reichweite... es war vielmehr... Ophelia?
Keine Selbstbeherrschung der Welt hätte Mina davor bewahren können, für einen Moment vollkommen die Fassung zu verlieren; sie war sich nur zu bewusst, dass sie ihr Gegenüber schockiert anstarrte und konnte gleichzeitig nichts tun um aufzuhalten, was da über sie hereinbrach. Das durfte einfach nicht passieren, nicht hier, nicht jetzt! Die Vampirin versuchte eilig auf die Füße zu kommen, doch einer Welle gleich vereitelte der fremde Einfluss dieses Vorhaben; ihr wurde schwindelig und kurz darauf fand sie sich erneut auf den Polstern wieder.
"Ist alles in Orrrdnung?"
Mina blinzelte irritiert, doch das, was sie eben noch dazu veranlasst hatte, sich derart blamabel aufzuführen, war verschwunden. Gut so! Schließlich lag es ihr fern, irgendjemandem durch derlei Kinkerlitzchen den Abend zu verderben. Sie lachte glücklich, streckte sich bequem aus und konnte sich nicht vorstellen, was die verwirrten Gesichter um sie herum zu bedeuten hatten. Es war doch alles wunderbar!
"Claudius? Sei ein Schatz und bring mir noch was zu trinken, ja?" Sie wedelte mit dem Glas vor der Nase des nun wieder ausschließlich auf sie konzentrierten Vampirs herum und zwinkerte ihm zu. "Aber diesmal was Stärkeres, du verstehst?"
Dusterfluss überschlug sich beinahe, ihrem Wunsch nachzukommen und verschwand rasch außer Sicht.
"Und wo waren wir beiden Hübschen stehen geblieben?", wandte sie sich wieder ihrem anderen Gesprächspartner zu. Sein Name war ihr wohl entfallen, aber das war ja auch nicht weiter schlimm, oder? Die Vampirin wollte sich gerade noch ein Stückchen weiter hinüberlehnen, um wenigstens dieses Mal die Worte des anderen zu verstehen - abgesehen davon, dass die veränderte Pose ihre Gestalt besser zur Geltung bringen würde - als jemand hinter den Sessel trat und ihr die Hände auf die Schultern legte.
"Mona, Liebste?", fragte derjenige und Mina konnte gar nicht anders, als Ettark anzustrahlen, der so unverhofft wieder aufgetaucht war.
"Da bist du ja wieder." Sie setzte sich zurecht und schaute, den Kopf weit in den Nacken gelegt, nach oben.
"Ja, da bin ich wieder... darf ich dir unseren Gastgeber vorstellen, Paulus?“ Ettark - oder wie war sein Rollenname noch gleich gewesen? Sie war heute aber auch vergesslich! - nickte knapp zu einer zweiten Person hinüber, die neben ihm stehen geblieben war.
"Oh. Hallo." Mina ließ sich zu einem Winken herab, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem anderen Wächter zu. Das war schließlich viel wichtiger.
"War's nett bei euch?", wollte sie wissen. "Also ich hatte es sehr nett." Die Vampirin wies in die Runde. "Eine überaus angenehme Gesellschaft, wir sollten hier wirklich öfter herkommen. So viel Spaß hatte ich schon lange nicht mehr."
"Tja, dann... schön." Er hob fragend eine Augenbraue.
"Ja. Weißt du was wirklich schön wäre? Ein bisschen mehr Begeisterung deinerseits." Die Vampirin zog einen Schmollmund. Was für eine Laus war dem denn über die Leber gelaufen? "Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?"
Ettark hielt einen Moment inne, er überlegte sich wohl eine diplomatische Antwort.
"Schatz? Was hast du getrunken?", meinte er dann langsam, bevor er nach einem Blick auf das leere Gefäss in ihrer Hand zornig zu den Umstehenden herumfuhr. "Was habt ihr ihr zu trinken gegeben, ihr..."
Ein Finger legte sich auf seine Lippen.
"Och, Ettie, nun sei doch nicht so ein Spielverderber! Wir sind doch hier nicht in der Wache." Die Vampirin tätschelte ihm die Wange und kicherte albern.
"Etti? Wache?" Paulus warf ihrem Auszubildenden einen neugierigen Blick zu.
"Das ist kurz für... Eduardo", murmelte Ettark irgendeine Erklärung. Wie unnötig! Was machte es denn schon, wenn ihre neuen Bekannten die Wahrheit erfuhren? "Zweitname... Meine Mutter war als Jugendliche ganz begeistert von den Romanen von Stefanía Major..."
Paulus schien das ebenfalls komisch zu finden - vor Lachen konnte er sich kaum halten. Der Mann war ihr sympathisch.
"'Tschuldigung, aber... das ist einfach zu gut", meinte dieser schließlich, noch immer unter Lachtränen "Kein Wunder, dass du diesen Namen nicht jedem verrätst."
Auf Ettark allerdings verfehlte all das sowohl seine belustigende als auch irgendeine beruhigende Wirkung.
"Also?" fragte er und in seinen Augen blitzte es mörderisch auf. "WAS! HABT! IHR! BASTARDE! IHR! GEGEBEN?!"
Die Umstehenden wichen wie ein Mann zurück.
"Nur Muttermilch... das ist Knieweich, Gewürze und etwas Kuhmilch... und nur ein Glas...", stammelte jemand, aber er hatte keine Chance, den Satz auch zu beenden.
"Bei Io, sie verträgt keinen Knieweich...", fluchte Ettark und griff nach ihrer Hand, um sie aus dem Sessel zu ziehen. "Tut mir leid Paulus, ich muss sie ins Bett bringen, bevor sie völlig ausklinkt..."
Was um alles auf der Scheibe redete der Mann da, sie war doch völlig klar! Es ging ihr gut. Ach was, mehr als das, sie fühlte sich fantastisch! Es gab absolut nichts, was diesen Abend hätte trüben können. Doch Ettark ließ sich nicht beirren und so begab sich die Vampirin widerstrebend in eine aufrecht sitzende Position. In einer anderen Situation hätte sie ihren Auszubildenden vielleicht zusammengestaucht, aber heute war ihr einfach nicht danach. Sollte er doch murren, sie würde sich das hier ganz gewiss nicht verderben lassen.
In diesem Moment erschien Claudius wieder an ihrer Seite und tauschte flink das alte Glas gegen ein neues, gefülltes aus.
"Genau zum richtigen Zeitpunkt, besten Dank!" Mina schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. "Dafür ist noch Zeit." Sie schwenkte die Flüssigkeit einen Moment hin und her, während sie erneut sinnierend zu Ettark hinaufsah. Es gab da etwas... warum war ihr das nicht schon eher aufgefallen? "Hat dir eigentlich schonmal jemand gesagt, dass du unglaublich schöne Augen hast?"
Sprachs und leerte schwungvoll das Glas.
Ein Eimer kaltes Wasser hätte nicht wirkungsvoller sein können. Geruch und Geschmack von Blut trafen gleichzeitig auf ihre Sinne und zerrten Mina erbarmungslos in die Wirklichkeit und somit in ihr eigenes Selbst zurück. Leider tilgte das nicht die Erinnerung an die vergangenen Minuten. Ihre Augen wurden groß und sie schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund, während das Glas klirrend auf dem Boden aufschlug.
"Oh mein..."
Dann setzte die Übelkeit ein. Rabiat, aber heilsam.
"Ich glaube, wir sollten wirklich gehen", presste sie undeutlich zwischen den Lippen hervor.
Sie ließ es zu, dass er sich ihren Arm um die Schulter legte und sie aus dem Haus brachte. Dem was hinter ihr geschah schenkte sie dabei keinerlei Beachtung mehr, viel zu sehr beschäftigte sie der Gedanke an das, was gerade vorgefallen war. Was für eine Katastrophe! Draußen angekommen atmete Mina zunächst ein paar Mal tief durch und als sie sich sicher sein konnte, nicht mehr allzu wackelig auf den Beinen zu sein, machte sich die Vampirin von dem Kollegen los, um die nächsten Meter allein zu bewältigen. Schritt für Schritt, kein Problem, immer schön langsam... Eine neuerliche Welle aus Übelkeit überkam sie, die Welt kippte ihr entgegen und... Nein! Sie würde hier keinesfalls vor ihrem Auszubildenden zusammenbrechen, das alles war so oder so schon peinlich genug! Sich mehr oder weniger ausschließlich an Geräuschen sowie einigen besonders auffälligen Lebensfunken orientierend, bewegte sich Mina weiter stur geradeaus und es war erlösend, irgendwann das Fell eines der beiden beschlagnahmten Pferde, welche sie für diesen Einsatz hatten leihen können, unter den Fingern zu spüren. Die Vampirin griff entschlossen nach den Zügeln. Sie würde allein auf den Rücken des Tieres kommen, selbstverständlich... nur einen Moment noch... Ettark saß bereits im Sattel und maß sie mit skeptischen Blicken. Oder halt, war das so etwas wie Sorge, was sie da zu erkennen glaubte? Unwahrscheinlich, in Anbetracht dessen, dass sie ihm gerade die erste richtige verdeckte Ermittlung gründlich verpfuscht hatte.
"Ich bin in Ordnung, gib mir nur fünf Minuten", murmelte der Korporal trotzdem.
Da diese Party der Unterweltdämonen ein gutes Stück vor den Toren der Stadt stattgefunden hatte, würde ihr im Grunde sogar der ganze Rückweg bleiben, um sich wieder zu fassen. Und währenddessen vielleicht eine aussagekräftige Erklärung zu formulieren. Die Vampirin hievte sich alles andere als elegant in den Sattel und verharrte dort noch einige Augenblicke reglos, um ganz sicher zu gehen, nicht gleich wieder auf der anderen Seite hinunterzufallen. Dann setzte sie ihr Reittier wortlos in Bewegung.
Die Nacht war sternenklar und sowohl der kühle Wind als auch das Wiegen des dahin trottenden Pferdes wirkten ungemein beruhigend. Auch wenn das die Sache an sich nicht unbedingt verbesserte: Zum generellen Elend als Folge der massiven Reizüberflutung gesellte sich bald Ärger auf die eigene Person. Um ein Haar hätte sie sie beide auf dem Silbertablett ausgeliefert! Soweit durfte es einfach nicht kommen, Beeinflussung von außen hin oder her. Sie würde ganz dringend mit Ophelia sprechen müssen, am besten sofort nach ihrer Rückkehr. Aber bis dahin...
Minas Blick wanderte hinüber zu dem schweigsamen Kollegen auf seinem Reittier, nur um Armeslänge entfernt. Ettark musste sie doch für vollkommen verantwortungslos halten, unter diesen Umständen in den Einsatz gegangen zu sein! Zwar hatte er noch keine Anstalten gemacht nachzufragen, aber die Vorkommnisse vollkommen unkommentiert zu lassen widerstrebte ihr zutiefst. Zumal die Stille langsam eine drückende Qualität annahm.
"Nun... das ist nicht ganz so gelaufen, wie geplant...", begann die Vampirin schließlich verhalten.
Keine Antwort.
"Es... also vor allem... es tut mir leid. Das hätte so nicht passieren dürfen. Nicht hier draußen - auf diese Entfernung."
Der Hauptgefreite verlangsamte sein Pferd ein wenig und trotz der eher sanften Zügelführung schnaubte das Tier und warf unwillig den Kopf nach hinten. "Geruhsam" war offensichtlich nicht unbedingt die bevorzugte Geschwindigkeit des Fuchses.
"Was denn bitte für eine Entfernung?", knurrte Ettark verdrossen, aber der fragende Charakter klang merklich durch. "Was hat das denn damit zu tun, wenn die dort irgendwelches gepanschtes Zeug reichen?"
Nun war es an ihr, fragend den Kopf schief zu legen.
"Gepanschtes... oh." Mina hätte sich am liebsten die Hand vor die Stirn geschlagen, wenn ihr nicht ohnehin schon der Kopf weh getan hätte. Wie naiv war sie denn bitteschön? Woher nahm sie eigentlich die Selbstverständlichkeit von vornherein davon auszugehen, er wüsste über die Ursache genau so gut Bescheid wie sie selbst? War sie mittlerweile einfach blind für so etwas oder grenzte das schon an Ignoranz? "Nein, das hatte damit eher... weniger zu tun", fügte sie schnell hinzu. Offenbar hatte sie der Abend doch mehr mitgenommen, als befürchtet.
Daraufhin erfolgte erneut eine Weile gar keine Reaktion, bis Ettark ihr schließlich einen langen, schwer zu deutenden Blick zuwarf.
"Und was war das dann?"
Sie zögerte einen Moment.
"Das war... Ophelia."

~~~ oOo ~~~


Dumpf pochten die breiten Absätze der ledernen Stiefel die Treppenstufen hinauf in die zweite Etage und nicht viel anders verhielt es sich, oben angekommen, auf dem Flur. Vielleicht war es aber auch nur die umgebende Stille, welche das Geräusch besonders betonte - um diese Zeit war das Wachhaus bereits wie leergefegt. Aber das war Mina eigentlich ganz recht so: Somit bestand keine Gefahr auf Fragen antworten zu müssen, welche ihr Aufzug in Verbindung mit ihrem Gesichtsausdruck zweifelsohne provoziert hätten. Es reichte in der Tat vollkommen, die Sache nur einmal und dann einer bestimmten Person darlegen zu müssen.
Entschlossenen Schrittes näherte sich die Vampirin ihrem Ziel, dabei immer noch darum bemüht, die nun wieder stärker wahrnehmbaren Emotionen Ophelias in den Hintergrund zu drängen. Es war zwar kein Vergleich mehr zu vorhin, aber immer noch lästig genug und der Konzentration damit nicht unbedingt zuträglich - zumal der Zustrom ungewöhnlich stetig und mit einer Beharrlichkeit auf sie eindrang, welche die Frage aufwarf, ob der Kollegin wohl daran gelegen war den Vorrat an romantischen Gefühlen nicht nur der ganzen Stadt sondern auch für die nächsten Wochen aufzubrauchen. Ganz bestimmt war Rach bei ihr, anders war dieses enervierende rosa Gewaber nicht zu erklären.
Sei nicht so ungnädig. Er ist so ziemlich das einzig Positive, was sich momentan in ihrem Leben finden lässt, meldete sich eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf zu Wort, fand aber nur wenig Gehör. Ja, das mochte wohl so sein. Doch wenn es ihnen nicht bald gelang, der darüber schwebenden unglückseligen Angelegenheit einen Riegel vorzuschieben, wer wusste schon, wie lange sie selbst das noch haben würde? Sie alle hatten in den letzten Wochen versucht, trotz der Dringlichkeit, den Druck auf Ophelia selbst so gering wie möglich zu halten. Mina betrachtete das auch jetzt, im Rückblick, nicht als Fehler... nur vielleicht war es nun doch an der Zeit, die Samthandschuhe auszuziehen. Der Preis, den das Problem der ehemaligen RUM-Stellvertretenden mittlerweile auch für deren Umfeld forderte, war einfach zu hoch geworden und wie lange Breguyar sich das noch mit ansehen würde, nun, das stand ohnehin in den Sternen...
Fingerknöchel trafen auf Holz, doch Mina wartete die Antwort gar nicht erst ab. Wenn man genau spürte, dass die Person, welche man aufzusuchen gedachte, sich hinter der betreffenden Tür befand, verlor der Akt des Anklopfens jeglichen fragenden Charakter und wurde zu einer bloßen Frage der Höflichkeit.
"Es tut mir leid, euch stören zu müssen", begann Mina, noch bevor sie zur Gänze im Zimmer stand, "aber bestünde die Möglichkeit eines Vier-Augen-Gespräches mit Ophelia? Jetzt gleich?"
Sie nickte den - wie erwartet beiden - Menschen zur Begrüßung zu, welche doch reichlich überrascht wirkten. Natürlich war zu dieser Stunde nicht mehr mit anderweitigem Besuch zu rechnen gewesen. Ihre Blicke wandten sich wieder einander zu und es folgte ein Moment der wortlosen Verständigung, welchen Rach dadurch beendete, dass er Ophelias Hand von seiner Schulter löste und die junge Frau sanft aus der Umarmung schob, in welcher er sie eben noch gehalten hatte.
"Ich sollte mich wohl tatsächlich langsam auf den Weg machen", meinte er. Sein Gesicht verriet dabei nicht, was er selbst von diesem Vorschlag hielt; die deutliche Enttäuschung welche von Ophelia ausging zeigte hingegen zweifelsfrei, dass diese ganz und gar nicht einverstanden war.
"Denkst du wirklich? Es handelt sich bestimmt um nichts, was du nicht auch hören könntest." Sie sah hoffnungsvoll zu Mina hinüber. Die Anspannung und Ungeduld der Vampirin schien immer noch nicht bis zu ihr durchgedrungen zu sein.
"Nein, das ist schon in Ordnung", kam Rach dieser mit einer Antwort zuvor, "Uns bleibt doch noch mehr als genug Zeit. Zumindest ist das nichts mehr, worüber wir uns Sorgen machen müssten."
Daraufhin lachte Ophelia glücklich, fiel ihm erneut um den Hals und Mina fühlte sich wie die einzige Person im Raum, die einen Witz nicht verstanden hat. Die Verabschiedung nahm noch einige weitere Augenblicke in Anspruch, bevor Ophelia den jungen Mann tatsächlich gehen ließ.
"Spätestens morgen sehe ich dich wieder?" Sie drohte ihm spielerisch mit dem Zeigefinger, was er mit einer galanten Verbeugung beantwortete.
"Gewiss Madame."
Dann entschwand er mit einem Nicken aus dem Zimmer -
"Korporal."
"Herr Flanellfuß."
- und Ophelia riss sich sichtlich zusammen, um ihre Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.
"Also, was gibt es denn so Dringendes?", seufzte sie. Dennoch war der kurze Anflug von Unzufriedenheit schon wieder aus ihrer Haltung verschwunden: Aufrecht stand sie mitten im Zimmer, mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen. Hätten die Dinge nicht so gelegen wie sie es nun einmal taten, es wäre Mina wahrscheinlich unmöglich gewesen, sich von der guten Laune der anderen nicht anstecken lassen. Herrje, was für einen Abend war sie da gerade im Begriff zu ruinieren? Aber nun hatte sie es einmal begonnen und es aufzuschieben würde auch nichts mehr ändern!
"Er war schon eine Weile hier?", begann die Vampirin dennoch eher zögerlich mit einer Gegenfrage.
"Ja, warum?"
"Und ich nehme an, ihr hattet recht... angenehme Stunden?"
Ein Strahlen.
"Ja, das habe ich gemerkt." Mina ging an Ophelia vorbei zum Tisch und ließ sich auf einem der Stühle nieder. "Ungünstigerweise war ich zu diesem Zeitpunkt gerade mit Ettark unterwegs... und zwar außerhalb der Stadt."
Man konnte förmlich zusehen, wie das Funkeln in Ophelias Augen erlosch, während ihr die volle Bedeutung dieser Worte klar wurde. Dann fuhr die Hand der ehemaligen Stellvertretenden in jähem Schrecken zum Mund.
"Oh..."
"So kann man das auch sagen."
"Aber... aber es ist doch nichts passiert, ich meine..." Sie presste die Lippen zusammen.
"Passiert? Nun ja, das kommt wohl darauf an wie man es betrachtet." Mina trommelte mit den Fingern einen unregelmäßigen Rhythmus auf die Tischplatte. Wie viel durfte sie ihr offenbaren, ohne gegen die Auflagen zu verstoßen, aber gleichzeitig den Schärfegrad der Lage nicht herunterzuspielen? "Um es ganz kurz zu machen: Ich habe gerade einen Einsatz vollständig ruiniert. Und ich habe Ettark schöne Augen gemacht." Ja, das trifft es sogar ziemlich genau... Die verdeckte Ermittlerin warf Ophelia einen vielsagenden Blick zu. "Für einen Moment war ich weder ich selbst, noch hatte ich mich irgendwie unter Kontrolle."
Betretenes Schweigen folgte dieser Eröffnung, Ophelia schien einen längeren Moment zu benötigen, um das Gesagte richtig aufzunehmen und zu entscheiden, welcher der beiden Aspekte der schwerwiegendere war. Also fuhr Mina unterdessen fort:
"Zugegeben, es ist schon eine Weile so, dass ich dich und mich, nun ja, gelegentlich nicht mehr gut auseinanderhalten kann. Aber alles was mit Rach zusammenhing ließ sich bislang immer zuordnen. Bis heute Abend..."
"Du warst doch aber viel zu weit weg!", fiel ihr Ophelia abrupt ins Wort; auf ihren Zügen zeichnete sich nunmehr Bestürzung ab. "Das kann doch gar nicht sein!"
"Das hatte ich auch angenommen, ansonsten wäre ich niemals in diese Ermittlung gegangen. Eine solche Reichweite... das konnte ja niemand erwarten... meine Güte, was war denn eigentlich los, dass es eine derartige Euphorie deinerseits gerechtfertigt hat?", fuhr Mina mit ihrer letzten Äußerung auf, senkte die Stimme aber wieder, als sie Ophelias nunmehr verzagten Gesichtsausdruck bemerkte. "Tut mir leid, ich... stehe wohl immer noch ein klein wenig neben mir", murmelte die Vampirin entschuldigend, dann räusperte sie sich. "Auf jeden Fall komme ich wohl nicht umhin, in nächster Zeit von sämtlichen verdeckten Außeneinsätzen abzusehen. Ettark muss allein klarkommen. Vielleicht kann ich ihm jemand anderes zur Seite stellen, oder... ach, ich weiß es auch noch nicht!" In einer müde wirkenden Geste fuhr sie sich über's Gesicht.
"Aber... was sagt denn Romulus dazu?", warf Ophelia zögerlich ein.
"Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen, das erledige ich morgen als Erstes." Mina zuckte mit den Schultern. "Doch was sollte ihn dazu bewegen, anderer Meinung zu sein? Immerhin haben wir keine Ahnung, ob und wann es wieder passieren könnte."
Schon während ihres Berichts hatten ihr anfänglicher Ärger und die Aufregung begonnen, einer seltsamen Ruhe zu weichen und als die Bilder nun durch das neuerliche durchleben in Form des Erzählens in klares Licht gerückt waren und sie an diesem letzten Punkt angekommen, blieb eigentlich nicht mehr viel anderes übrig als reine Desillusion. Dabei war das erst der Anfang gewesen.
"Vielleicht handelte es sich aber wirklich um eine einmalige Sache?" Ophelia schien bemüht, irgendeinen Ausweg aufzuzeigen, klang dabei allerdings selbst nicht sonderlich überzeugt.
"Ich kann mich nicht daran erinnern, wann wir in dieser Hinsicht das letzte Mal Glück hatten." Mina lehnte sich zurück und schloss erschöpft die Augen. "Es ist ja auch nicht nur das und dieser eine Einsatz, das wäre noch zu verschmerzen gewesen... nun, mit viel Schadenbegrenzung zumindest, aber irgendwie bestimmt. Doch wir haben momentan mit... einigen weiteren Schwierigkeiten zu kämpfen. Bestimmten... Vorkommnissen. Natürlich ist noch lange nicht gesagt, dass diese in irgendeiner Weise mit dir zusammenhängen!", beeilte sich die Vampirin hinzuzufügen, als Ophelia zu einer Erwiderung ansetzten wollte. Das stimmte ja auch. So in etwa. Wenn man die Selbstjustizfälle im Zusammenhang mit den Ergebnissen aus den HIRN-Akten einmal ausklammerte. "Obwohl wir, sollte dem nicht so sein, uns Gedanken über eine andere undichte Stelle im Wachhaus machen müssten." Sie stützte den Kopf in die Hände und betrachtete ihr Gegenüber nachdenklich. "Hat sich der oder die mysteriöse Unbekannte eigentlich wieder einmal gemeldet?", wollte sie dann wissen.
Die Schuldgefühle waren Antwort genug, noch bevor Ophelia genickt hatte, den Blick dabei fest auf die Tischplatte geheftet.
"Oh, verdammt." Damit hatte die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhangs zu dem eben erst angesprochenen Problemkreis einen großen Schritt von einem eher vagen "möglich" in Richtung eines schon weitaus souveräneren "vermutlich" getan.
"Ich wusste nie, was genau er... was sie... also, in meinem Kopf für Informationen liest, daher hielt ich es nicht für nötig noch mehr Aufregung zu verursachen, als augenblicklich ohnehin schon besteht", versuchte sich Ophelia zu rechtfertigen, doch ihre Stimme zitterte.
"Trotzdem hättest du es erwähnen können." Mina schüttelte unglücklich den Kopf. Auch wenn es vielleicht in der jeweiligen Situation nicht sofort weiterhalf: Derartige Informationen waren wichtig. Selbst wenn man sie nur zu den anderen hinzufügen und hoffen konnte, dass das Puzzle in naher Zukunft ein Bild ergeben würde. Sie zögerte noch einen Moment, dann traf sie eine Entscheidung, auch wenn sie sich damit auf dünnes Eis bewegte, was die verhängte Informationssperre anging. "Ich will ehrlich zu dir sein: Wir haben allein in den letzten Tagen fünf tote Briefkästen verloren. Irgendjemand gibt Standortangaben weiter und bevor das ganze System kollabiert werden wir es nun wohl komplett umstellen müssen. Ein Unglücksfall reicht." - Und das sage ich dir jetzt nur in der Hoffnung, dass es vielleicht aufgeschnappt und von den entsprechenden Personen geglaubt wird, um uns so noch ein wenig Zeit zu verschaffen. Denn sämtliche Briefkästen von heute auf morgen auszutauschen... das ist schon rein praktisch nicht möglich.
Es war eine ziemlich geringe Chance, zugegeben, denn Ophelia würde sich als ehemalige Stellvertretende und verdeckte Ermittlerin dieses Umstandes nur allzu gut bewusst sein und die entsprechende Einschätzung im Zweifelsfall wohl verknüpft mit dem anderen Gedanken weitergeben. Aber in diesem Moment schien sie vor allem ein einzelner Aspekt besonders aus der Bahn zu werfen.
"Unglücksfall???" Die Stimme der jungen Frau überschlug sich beinahe und ihr Gesicht verlor jeden Rest an Farbe. "Sag mir bitte, dass das nicht wahr ist! Oh, ich habe es befürchtet, aber das nun tatsächlich jemand deswegen Schaden erlitten hat... ich hatte so gehofft, es würde nicht soweit kommen!" Sie biss sich auf die Unterlippe und ihre gesunde Hand umklammerte die Tischkante so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. "Um wen geht es? Mir sagt ja keiner etwas, hätte ich es geahnt..."
"Es geht ihr gut, keine Sorge", versuchte Mina die andere zu beruhigen, bemerkte ihren Fehler aber im gleichen Moment, in dem die Worte über ihre Lippen gekommen waren. So viele verdeckte Ermittlerinnen hatte die Abteilung ja nun wirklich nicht... Dann konnte sie nun auch mit dem Rest herausrücken. "Ein Streifschuss, Rea hat sich darum gekümmert. Sie wird wieder."
Der Feldwebel holte tief Luft.
"Dann sollten wir uns wirklich schleunigst etwas einfallen lassen, nicht wahr?"
"Natürlich. Und ich bin nach wie vor der Meinung, dass wir es hinbekommen werden. Aber weißt du, die Sache ist die: Langsam gehen uns die Ideen aus. Wirklich, wir wären für jeden neuen Ansatzpunkt dankbar." Die Vampirin schwieg einen Moment und überlegte, wie sie das Folgende formulieren konnte, ohne dass es wie eine Anschuldigung klang, die es nicht war. "Wenn es also irgendetwas gibt, was du uns vielleicht noch nicht erzählt hast, irgendein Detail, egal wie banal oder lächerlich oder vielleicht auch unwichtig es dir vorkommen mag... dann wäre wohl jetzt ein guter Zeitpunkt dafür. Es ist vollkommen egal was es ist, aber gib uns etwas, mit dem wir weiterarbeiten können!"
Ihr Gegenüber starrte sie noch einen Moment entsetzt an und ein wahres Durcheinander an Gefühlen brandete hinüber, erneut in einer Intensität, die es unmöglich machte dagegen anzugehen.
"Es tut mir leid", murmelte Ophelia dann, hörbar um Fassung bemüht. "Wenn ich könnte, dann..."
"Ja, ich weiß. Aber vielleicht fällt dir ja noch etwas ein." Die Vampirin legte den Kopf schief. "Allerdings solltest du wirklich aufhören, dich für Dinge zu entschuldigen, an denen du keine Schuld trägst. Es ist ja nicht so, dass du das mit Absicht machst."
Die Kollegin warf ihr einen fragenden Blick zu und leise Verwirrung, welche Mina nicht so ganz zuordnen konnte, durchzog das emotionale Geflecht... bevor sich ein entschlossener Ausdruck auf Ophelias Gesicht legte. Sie straffte ihre Haltung und erhob sich, auch wenn die Bewegung ein wenig mechanisch wirkte.
"Unter diesen Umständen werde ich es nicht länger aufschieben", meinte sie entschieden, ging zu ihrem Schreibtisch und förderte aus dessen Schublade eine kleine Schachtel zutage.
Trotz ihrer nun wiedererlangten äußerlichen Ruhe konnte sie die starke innere Anspannung nicht verbergen und die Tatsache, dass es sich dabei nicht nur um Nervosität sondern um Unruhe an der Grenze zur Angst handelte, ließ nichts Gutes ahnen. Das unauffällige Behältnis fest mit den Fingern umschlossen kehrte sie zu Mina zurück und platzierte es genau mittig auf der Tischplatte.
"Was ist das?" Zögernd griff die Vampirin nach der Schachtel, deren innerer Teil sich schon durch sanften Druck aus der Außenhülle herausschieben ließ. Ein paar kleine grüne Kügelchen kamen zum Vorschein.
"Ehrlich gesagt weiß ich es nicht genau", gestand Ophelia und strich sich in einer fahrigen Geste den Rock glatt. "Ein Bekannter von Araghast, der an der Unsichtbaren Universität arbeitet... ich soll es einmal ausprobieren. Vielleicht hilft es ja."
Wenn nicht schon bei der Bemerkung Ophelias, sie wisse es nicht, so schrillten spätestens bei der Erwähnung des magischen Lehrinstituts sämtliche Alarmglocken in Minas Kopf los und ließen die kugeligen Dinger mit einem Mal sehr viel unheilvoller wirken.
"Nur damit ich das richtig verstehe", meinte sie gedehnt, "Du weißt nicht was es ist oder was es bewirkt, von unerwünschten Begleiterscheinungen ganz zu schweigen... aber du ziehst in Erwägung es zu nehmen, weil so ein Zauberer meint, das sei eine gute Idee?"
"Und weil der Kommandeur angeordnet hat, alles Denkbare gegen mein Problem zu unternehmen."
Ruckartig ließ die stellvertretende Abteilungsleiterin die Schachtel wieder zuschnappen und beförderte sie mit Schwung zurück auf die Tischplatte.
"So verzweifelt sind wir noch nicht!"
"Ich denke schon. Ich habe mich bisher davor gescheut sie zu nehmen, denn auch ich habe meine Bedenken. Aber so wie die Dinge liegen und nach dem, was du mir gerade erzählt hast..."
"Aber das heißt doch noch lange nicht, dass du blauäugig irgendwelchen... Drogenexperimenten zustimmen musst. Außerdem... Zauberer? Wenn denen ein Versuch missglückt, dann zucken die nur mit den Schultern und gehen erstmal Mittagessen."
"Aber Araghast... ich meine... ich muss einfach. Es ist eine Anordnung. Was soll ich denn sonst tun?" Sie sah ihre Kollegin mit großen Augen an. "Ich würde allem zustimmen, damit das endlich aufhört."
Mina gab ein frustriertes Schnauben von sich. Das lief ja wunderbar, hätte sie bloß den Mund gehalten! Was für ein Plan, der anderen nur ein noch größeres schlechtes Gewissen aufzubürden, ohne darüber nachzudenken, was die - in Ophelias aktueller Gemütsverfassung nicht unbedingt verwunderliche - Reaktion sein würde? Aber dass sie dabei schon so nah an der völligen Selbstaufgabe war - das übertraf selbst die schlimmsten Befürchtungen des Korporals.
"Ophelia, du bist so ein... so ein... Opfer!", platzte es aus der Vampirin heraus. "Du sagst zu allem ja, du lässt alles mit dir machen, völlig arglos und ohne es zu hinterfragen. Du bist mittlerweile zu vollkommen absurden Risiken bereit. Eigentlich kein Wunder, dass du ständig mit der Aufmerksamkeit von allen möglichen Vampiren zu kämpfen hast, so wie du die Instinktpalette bedienst. Das reinste Bilderbuchbeispiel! Das ist eine hochgradig gefährliche Tendenz, die du da zeigst, und du solltest dir das wirklich, wirklich schleunigst wieder abgewöhnen. Ein klein wenig Egoismus kann durchaus lebensverlängernd wirken. Was übrigens auch auf diese Sache", sie wies in Richtung der Pillenschachtel, "zutrifft." Sie warf ihrem Gegenüber einen eindringlichen Blick zu. "Lass es bleiben. Das ist es nicht wert."
Ophelia hielt den Arm vor den Körper gepresst und sah alles andere als überzeugt drein. Wenn überhaupt etwas, so hatte der Ausbruch von gerade eben ihr nur neuen Aufwind gegeben.
"Aber Araghast...", hob sie erneut an.
"...ist nicht das Maß aller Dinge. Und wahrscheinlich der letzte, der sich momentan um dein persönliches Wohl sorgt."
"Es geht hier ja auch nicht nur um mich. Ich werde mich keiner Möglichkeit verweigern, solange dabei eine Chance besteht!"
"Würdest du dafür dein Leben riskieren?"
"Ja." In Ophelias Augen funkelte der Trotz.
"Oh, wie schön. Warum geben wir uns dann eigentlich noch solche Mühe?" Mina verschränkte abwehrend die Arme und ließ dafür ihrem Ärger freien Lauf. "Ist dir eigentlich schonmal in den Sinn gekommen, dass es Leute gibt, die sich um dich Sorgen machen, auch unabhängig von irgendwelchen Ermittlungen oder Wachebelangen? Denen daran gelegen ist, dass es dir besser geht?"
Die andere hatte währenddessen eigensinnig das Kinn vorgeschoben, doch geriet die Geste durch einen deutlich spürbaren Schwall Dankbarkeit weniger überzeugend als vielleicht beabsichtigt. Auch wenn das emotionale Durcheinander nun um eine Facette reicher geworden war - diese würde nicht ausreichen, ein Einlenken seitens Ophelias zu erreichen. Denn genau so schnell wie sie aufgetaucht war verebbte die Empfindung wieder, fast so, als habe die Kollegin sie mit voller Absicht in den Hintergrund gedrängt, um sich durch nichts von ihrem eingeschlagenen Kurs abbringen zu lassen.
"Das mag sein", antwortete Ophelia nun bedächtig und obwohl sie jedes der Worte einzeln betonte, so klangen diese doch irgendwie hohl und wollten nicht so recht zu ihrer immer noch sehr aufrechten Haltung passen. "Aber du irrst dich. Denn ich treffe sehr wohl meine eigenen Entscheidungen, ich allein und niemand sonst. So wie auch niemand die Verantwortung für das tragen soll, was ich in diesem Zusammenhang beschließe zu tun. Lediglich wenn ich es lassen würde - dann wäre gewiss, dass nicht nur ich die Konsequenzen zu spüren bekäme. Und das zu rechtfertigen bin ich weder fähig noch steht es mir zu, dergestalt die Hilfe derer mit Füßen zu treten, die bereits ihr Leben riskiert haben, um das meinige zu bewahren!"
Mina öffnete den Mund um darauf etwas zu erwidern - aber da kam nichts. Wenn sie noch irgendeine brillante Argumentation in petto gehabt hatte, dann war diese restlos verschwunden, schlicht beiseite gewischt von der nachdrücklichen Überzeugung und dem festen Glauben Ophelias an die Dinge, die sie gesagt hatte. Nichts würde diesen Standpunkt heute Abend mehr erschüttern können. Zumal sie selbst sich dessen wohl bewusst war, denn grimmiger Triumph brach sich Bahn und hatte in seiner plötzlichen, rabiaten Art mehr etwas von einer Ohrfeige als von einer versöhnlich ausgestreckten Hand. Keiner hatte während des vorangegangenen Gesprächs übermäßig die Stimme erhoben, aber die hinter all dem stehende Anspannung auf beiden Seiten, gespeist aus verschiedenen Quellen, drohte die Situation nun doch noch in eine äußerst ungute Richtung kippen zu lassen. Und geschah dies, war sich Mina nicht sicher, ob es nicht den gleichen überwältigenden Effekt haben würde, wie schon einmal an diesem Abend - nur dass jetzt die Kontrolle zu verlieren eine noch fatalere Wirkung haben konnte als zuvor. Sie musste zusehen, dass sie hier herauskam.
"Dann mach doch was du willst", hörte sie sich selbst sagen, bevor sie mit einem Ruck aufstand und erst kurz vor dem Ausgang erneut einen Moment inne hielt. "Aber vielleicht... nicht mehr heute. Wir sehen uns morgen."
Als sie die Tür schwer ins Schloss fallen hörte war Mina schon auf halbem Weg zur Treppe und in Richtung nächtliches Ankh-Morpork unterwegs, bemüht die allzu gereizte Stimmung hinter sich zu lassen. Hoffentlich konnte sie jetzt für eine gewisse Zeit genug Abstand zwischen sich und Ophelia bringen, bis sie sich sicher sein konnte, wieder sie selbst zu sein.

Die Gefangene im Wachhaus starrte noch eine ganze Weile in die Richtung, in welche die Vampirin verschwunden war, ganz und gar beschäftigt mit ihren eigenen Gedanken und sich dabei doch nicht sicher, was genau das gerade gewesen war. Sie hatte Recht mit ihrer Auffassung, dessen war sie sich gewiss, und es war richtig gewesen, sich durchzusetzen. Was blieb ihr auch anderes übrig, nun da die Dinge wie in einer rasenden Abwärtsspirale immer schneller immer schlimmer zu werden schienen? Was konnte sie noch tun, als alles daran zu setzen, dies aufzuhalten? Sie hatte schon zu viele enttäuscht... Auf der anderen Seite war sie sich der Sorge Minas vollauf bewusst und es verhielt sich nicht so, als wäre ihr dies vollkommen gleichgültig. Doch war es die lauernde Panik, welche jedes Mal an Stärke gewann, wenn sie sich die aktuellen Geschehnisse um ihre Person deutlich vor Augen führte, die ihr bewusst machte, dass die Zeit für drastischere Maßnahmen nun wohl gekommen war. Ophelia fröstelte. Nun, zumindest wäre es sie allein die den Zeitpunkt dafür bestimmte.
Ihr Blick flackerte unruhig zu der Schachtel vor sich auf dem Tisch. Ein Opfer? War sie das tatsächlich? Vielleicht auch, weil sie keine andere Wahl hatte? Doch was, wenn der Wille das Gegenteil zu beweisen und selbst zu bestimmen sich in diesem Fall als die falsche Wahl erwies und in einer noch größeren Katastrophe endete? Ophelia schob diesen Gedanken erschrocken beiseite; wenn sie sich darauf einließe wäre sie am Ende komplett handlungsunfähig. Die junge Frau fühlte sich mit einem Mal furchtbar müde und erschöpft. Womöglich war es doch keine schlechte Idee, noch einmal eine Nacht darüber zu schlafen. Andererseits... Sie streckte die Hand aus und griff nach dem Kästchen, drehte es unsicher hin und her. Wie wahrscheinlich war es eigentlich, dass überhaupt etwas passieren würde?


OPHELIA ZIEGENBERGER

Musik! Pure Melodie, Freude, ein Auf und Ab wogender Noten, die sich umeinander rankten und jubilierend in Schwindel erregende Höhen glitten, wie Schwalben im Wind, wie Bussarde auf sonnigen Strahlenbahnen, frei, juchzend vor Glück!
Sie wandte ihr Gesicht mit geschlossenen Augen der hellen Wärme zu und lachte unbeschwert.
Farben und Licht ergossen sich in sie hinein und füllten sie von innen heraus aus, knisternd, prickelnd, wie kitzelnde Entladungen unter der Haut.
Sie drehte sich schneller werdend um ihre eigene Achse. Wind! Überall um sie herum! Schwerelosigkeit! Schnelligkeit!
Ophelia öffnete die Augen und flog schnurgerade wie ein Pfeil mit den Falken. Azurblaue Weite! Sie streckte beide Arme von sich und Windböen ließen die Ärmel flattern. Es gab so viel zu sehen!
Der Schwarm der Falken, Bussarde und Adler, die um sie herum mit ihr flogen, wuchs stetig an und die charakteristisch lang gezogenen Schreie der Raubvögel ließen Ophelias Puls vor Aufregung rasen.
Gemeinsam querten sie einen Regenbogen, zogen dessen buntes Funkeln wie einen Schweif hinter sich her, stoben durch einen Nebel winziger Sternengalaxien, tauchten direkt dahinter in das krachende Spektakel einer Gewitterwolke ab. Blitz und Donner, Feuerfinger, die nach ihnen griffen und sie doch spielerisch verfehlten.
Ophelia legte den Kopf lachend in den Nacken und ließ ihr Haar im Luftzug hinter sich peitschen.
Die Vögel fächerten auf und schossen wie auf ein geheimes Kommando hin in die Höhe.
Sie versuchte, ihnen zu folgen, doch sie hatte den Moment verpasst. Stattdessen flog sie direkt auf den lichten Wirbel im Zentrum der Szenerie zu. Sie versuchte, dagegen anzusteuern, konnte die Richtung jedoch nicht revidieren.
Glücklicherweise war sie sich sicher, dass das nicht schlimm war.
Sie überließ sich dem rauschenden Sog des Windes und winkte dem Schwarm lächelnd hinterher. Dann durchbrach sie mit aufstobendem Funkenschlag eine unsichtbare Barriere. Das laute Tosen der Luft wurde augenblicklich leiser, bis es verstummte. Der Sog der drängenden Vorwärtsbewegung verebbte. Sie strandete langsamer werdend im Auge des Sturmes, schwebte im warmen Aufwind. Die Musik vom Anbeginn der Reise umschloss sie erneut spielerisch, neckend, sanft.
Ophelia blickte in dem Trichter der wetterleuchtenden Wolken auf, die um die Sonne zu rotieren schienen. Sie legte den Kopf schief und folgte einem Impuls – indem sie mit den Fingern schnipste.
Der Sturm fiel herab, zersplitternd in Abertausende von Rosenblüten. Ein Meer aus roten Samtblättern schmiegte sich um ihre nackten Füße. Sie sah an sich herab und erkannte den gerüschten Saum ihres besten Leinennachthemdes.
Die Musik erinnerte sie an etwas Schönes. Ihr Herz begann heftig zu schlagen und schon meinte sie, den Duft des einen Mannes zu erahnen, den sie sich mehr als alles andere an ihre Seite wünschte. Sie schloss verträumt die Augen, atmete Rosenduft und seine Präsenz tief in sich ein, während sie die Arme um sich legte und langsam die Schritte nachzutanzen begann, die er sie geführt hatte.
Leicht! Mit ihm zusammen gab es keine Sorgen mehr, sie wurden bedeutungslos, verblassten, der Ballast fiel von ihr ab und ließ sie schweben… fliegen… so, wie es sein sollte.
Frei von den Fesseln der erdgebundenen Sterblichkeit, ewig dem Himmel so nahe!
Ihre Füße bahnten sich von selbst den Weg und ein herrlicher Gedanke entstieg den Tiefen ihrer Erinnerungen, ein Bild der lange, sehr lange zurückliegenden Vergangenheit: Samtige Nacht über den Dächern der Stadt, ein Blick, so weit der Horizont reichte und alles dort unten, tief, tief unter ihm, würde eines Tages den Seinen gehören, seiner alteingesessenen Familie und somit auch gewissermaßen ihm, dem Erben.
Die Erinnerung verrutschte, doch das Gefühl blieb.
Zu lange! Warum hatte er sich mit der Gruft und der sternenlosen Dunkelheit begnügt, anstatt die Schwingen auszubreiten und wieder die Magie des Augenblicks zu genießen?
Ophelia lachte amüsiert.
Ja! Warum? Fliegen war unglaublich! Sie sollte es unbedingt wieder machen!
Aus reinem Übermut drehte sie bei dem Gedanken eine kleine Pirouette, knickste zwinkernd vor dem hölzernen, mannshohen Kartensoldaten, drückte ihm freundschaftlich die Klinkenhand und schummelte sich behände um ihn herum.
Alles was sie brauchen würde, wäre eine Anhöhe, ein Hügel, dem Himmel näher, um ihr einen guten Startpunkt zu bieten. Es war einfach zu lange her, dass sie geflogen war. Außer natürlich gerade eben. Aber das war etwas anderes gewesen. Immerhin hatte sie da gefiederte Begleiter gehabt!
Sie kicherte bei dem überaus logischen Gedanken.
Die wundervolle Musik umschmeichelte sie und bunte Bänder wiesen ihr flatternd links und rechts den Weg hinauf. Schmetterlinge umschwirrten sie wie glückliche Diamanten und Ophelia folgte den blinkenden Pfeilen aus winzigen achatenen Feuerwerken in der Wiese zu ihren Füßen. Bis plötzlich eine mächtige Eiche in ihrem Weg stand und diesen nicht freigab.

~~~ oOo ~~~


Ettark las sich das Geschriebene noch einmal durch, ehe er die Akte zuklappte und in seinem Schreibtisch verschloss. Er griff sich seine Jacke, blies die Kerze aus und verließ das nächtliche Büro tief in Gedanken versunken.
Ich sollte in die Absteige zurückgehen und dort übernachten. Sicher ist sicher, wie Mina sagen würde…
Der Gedanke ließ ihn unwillig schnaufen. Zu sehr störte ihn nach dem Vorfall vor wenigen Stunden, die Ironie daran. Als wenn es in der Wache für irgendwen noch so etwas wie Sicherheit gab, seit das wandelnde Gedankenleck sie alle gefährdete. Sein aktueller Ausbildungsfall konnte spätestens seit dem heutigen Abend als Negativbeispiel herhalten.
Eine erfreuliche Ablenkung wäre nett gewesen und in der Tat musste er nicht lange nach einer suchen. Der Einsatz hatte ihn bereits mehrere Tage der Stadt fern gehalten und es war ihm gar nicht recht, eine bestimmte Person dazu im Unklaren gelassen zu haben – zwangsläufig.
Er zog die Jacke enger um sich und murmelte leise:
"Ab in die Galeone, hab’ Lena ewig nicht mehr gesehen..."
Ein weißer Schemen schwebte in seinen Weg und ließ ihn aufblicken.
Ihm gegenüber stand Ophelia im nächtlichen Gang des Wachhauses, lächelnd und nur dürftig in ein gerüschtes Nachthemd gehüllt.
"Was zum..."
Natürlich war ihm bewusst, dass sie das Gebäude generell nicht verlassen durfte - also auch nachts hier sein musste. Aber weder hatte er damit gerechnet, ihr heute noch über den Weg zu laufen, noch hatte er sie jemals zuvor in einem so freizügigen Aufzug gesehen. Ihre Schultern lagen ob der heruntergerutschten Träger frei, ihr Haar war vom Schlaf halb geöffnet und ihre nackten Füße wirkten auf dem grob gescheuerten Bodenbelag des Wachhauses fast obszön.
Sie lächelte ihn unbefangen an, was ihm in Anbetracht der letzten Ereignisse provokativ vorkam, ehe sie sich etwas zur Seite lehnte, um nach einem Weg an ihm vorbei Ausschau zu halten.
"Wärst du vielleicht so lieb, mich passieren zu lassen?"
Ihr Lächeln prallte wirkungslos an ihm ab. Im Gegenteil!
"Hast du heute nicht genug Unheil angerichtet? Ich bin mir ziemlich sicher, dass du dein Zimmer nicht verlassen sollst!"
Sie sah ihn im ersten Moment erschrocken an, kicherte dann aber.
"Du klingst wie der heimatlose Prinz."
Ihre Reaktion verwirrte ihn.
Fast gelangweilt wandte sie sich von ihm ab und hob ihren Nachthemdsaum an, um sich umständlich an ihm vorbeizudrängeln.
"Entschuldige bitte…"
Sie stützte sich an ihm ab, als wenn imaginäre Hindernisse sie dazu zwingen würden, beim Passieren der Enge dichter an ihn heran zu rücken. Er schüttelte ihre Berührung angewidert ab.
"Was genau soll ich entschuldigen? Dass du gerade einen über Wochen geplanten Einsatz beinahe zum Scheitern gebracht hast? Oder lieber, dass du fast die von Nachtschatten und mich umgebracht hast?"
Die Kollegin blickte bewundernd zu ihm auf, ihre Fingerspitzen kurz vor seiner Schulter schwebend.
"Stattlich gewachsen bist du..."
Er hielt inne und legte den Kopf schief.
Das ist selbst für die Ziegenberger ein sehr seltsames Verhalten...
Die kleine Frau drehte sich leise summend von ihm fort und schritt beschwingten Schrittes dem Treppenaufgang entgegen.
"Hast du was geraucht?"
Ettark lief ihr nach und hielt sie grob am Arm fest. Er drehte sie zu sich um und beugte sich zu ihr herunter, um ihr in die Augen zu sehen.
Sie lachte leise. Ihre Stimme klang amüsiert und milde befremdet.
"Oh… nicht doch!"
Ihr Verhalten ließ gewisse Rückschlüsse zu, welche von den - selbst im Schummerlicht der Nachtbeleuchtung - winzigen Pupillen unterstrichen wurden. Er murmelte missmutig:
"Das würde allerdings Minas Verhalten von vorhin noch besser erklären."
Ophelia lehnte sich so weit wie möglich von ihm fort.
"Ich kann jetzt wirklich nicht. Ich muss auf das Dach. Lass mich ziehen!"
"Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist."
Er drehte sie von sich fort und schob sie bestimmt in Richtung ihres Zimmers den Flur hinauf.
"Aber..."
"Nix aber!"
Sie wollte umkehren und widersprechen.
"Ich wollte doch..."
"...ab in dein Zimmer!", beendete er ihren Satz in einem Tonfall, wie man diesen eher von einem treu sorgenden, wenn auch gestrengen Vater erwartet hätte, niemals hingegen vom berüchtigten Hauptgefreiten Bergig. Er schob sie durch die geöffnete Tür ins Zimmer und blickte sich sogleich suchend um.
"So! Was hast du genommen?"
Er stellte sich ihrem Bemühen, an ihm vorbei zur Tür zu gelangen, in den Weg und schnupperte neugierig in die Luft, ohne etwas Verdächtiges riechen zu können.
Sie blickte ihn erstaunt an.
"Sowas aber auch! Hat dir schon mal jemand gesagt, dass sich solch ein Verhalten für Bäume nicht ziemt?"
"Setz’ dich!"
Ihm war klar, dass sie im Moment wohl nicht als zurechnungsfähig durchging und es daher auch keinen Sinn machen würde, sie ungeduldig anzublaffen. Das Wahrscheinlichste, was er damit bewirken würde, wären Panik und Aufregung weit über den Grad hinaus, in dem er sich damit befassen wollte. Es wäre eindeutig besser, den Schlamassel so hinzunehmen, wie er nun mal war, und sich zusammenzureißen.
Sie stand unentschlossen neben dem Schreibtisch. Dann lachte sie plötzlich, als wenn die Situation zu absurd wäre, um sie ernst zu nehmen.
Weggetreten schön und gut aber wessen Schuld war es denn bitteschön, dass er sich mit ihr in diesem Zustand abgeben musste! Was auch immer sie für Zeug genommen hatte, mit ihm hatte das nichts zu tun! Und trotzdem konnte er sie so wohl kaum sich selbst überlassen.
Auf’s Dach, Himmel noch mal! Vielleicht sollte ich einfach nach Stricken suchen und das Zimmer von außen absperren?
Doch so verlockend der Gedanke war, sein verfluchter Beschützerinstinkt war längst angesprungen und hatte ihn fest im Griff.
Er drückte sie frustriert auf die Sitzfläche herunter.
Sie sprang empört auf und hob stolz den Kopf.
"Wage es nicht, mich zu berühren! Ich habe beschlossen, zu fliegen, alsdann werde ich auch fliegen!"
Er schüttelte seufzend den Kopf und strich gedanklich den Besuch in der Galeone.
"Nein, heute ist kein Flugwetter. Also setz dich!"
Sie machte sich wieder auf den Weg zur Tür.
Er stellte sich ihr in den Weg und sah sie streng an.
"Ich habe gesagt hinsetzen!"
Die leichte Drohung, die er in seiner Stimme mitschwingen ließ, unterbrach ihre Suche nach einem Weg um ihn herum und sie blickte ihn irritiert an.
Er zeigte demonstrativ zum Stuhl und sie wich sowohl seinem Fingerzeig, als auch seinem Blick seitwärts aus.
"Du stellst meine Selbstbeherrschung ernsthaft auf die Probe, weißt du das?" Er packte sie wieder bei den Schultern und schob sie zu dem Stuhl zurück. "Du setzt dich jetzt genau DA hin und erzählst mir gefälligst, was du genommen hast!"
"Was ich genommen habe?"
Er hielt ihr mahnend den Zeigefinger vors Gesicht, was ihre Aufmerksamkeit zu hundert Prozent zu fesseln schien.
"Sitzen bleiben! Ganz genau. Also?"
Sie besah sich den Finger und begann zu grinsen. Dann kicherte sie und hielt sich schnell die Hand vor den Mund, wie eines dieser albernen Schulmädchen.
Er blickte sich resigniert um und schließlich blieb sein Blick an einer kleinen Schiebeschachtel auf dem Tisch hängen.
"Sitzen bleiben!"
Ophelia versuchte ernst zu gucken, was ihr jedoch nur leidlich gelang. Sie beobachtete ihn mit zuckenden Mundwinkeln neugierig, als er zum Tisch ging, nur um sofort darauf mit der Schachtel zu ihr zurück zu kommen.
Er öffnete das schmale Behältnis. Darin befanden sich kleine grüne Pillen. Er entnahm eine, betrachtete sie eingehend und leckte probeweise daran.
Pfui, Spinne!
Er spuckte in einer instinktiven Reaktion auf den Zimmerboden aus und schüttelte sich. Er ging damit vor Ophelia in die Hocke und hielt ihr die grüne Pille vor die Nase.
"Hast du das hier genommen?"
Sie sah fast sofort an dem Kügelchen vorbei und fixierte ihren Blick stattdessen lächelnd auf ihn.
"Du magst mich nicht. Du bist auch gar kein Baum. Du hattest dich nur versteckt. Aber ich habe dich durchschaut."
Er seufzte leise und murmelte ironisch:
"Woran das wohl liegt?" Er drehte die gepresste Kugel zwischen den Fingern und dachte nach. "Was auch immer das ist... ich bin mir sicher, dass es nicht gesund ist."
Ophelia dehnte und streckte sich genüsslich auf dem Stuhl... und fiel lachend zu Boden. Sie versuchte sich umständlich aufzurappeln.
"...dachte ich es mir doch. Man muss Anlauf nehmen."
Er beobachtete das Schauspiel kurz unbewegt, zuckte mit den Achseln und ging zur Tür. "Heda! Rekruten! Ich brauch’ hier oben mal Hilfe!"
Ettark sah sich in ihrem Zimmer um und entschied sich letztlich für eines der Gläser auf dem Seitenschränkchen, neben dem Kaffeedämon. Er füllte es mit Wasser, dann suchte er weiter.
Salz... sie wird doch hier wohl auch ein paar Gewürze gebunkert haben, nicht nur hunderte Teesorten. Immerhin ist der Kantinenfraß ungenießbar...
"Ah!"
Er schüttete eine ordentliche Portion der hellen Kristalle ins Wasser und rührte kräftig darin herum, während er sich der ehemaligen Stellvertretenden zuwandte.
Die es inzwischen immerhin geschafft hatte, wieder auf die Beine zu kommen. Sie war sogar bis zum Fenster getappert und hatte es geöffnet, um sich weit hinaus zu beugen und Ausschau zu halten.
"Ganz schön dunkel..."
Er beeilte sich, zur Tür hinaus zu rufen, während er das Glas außerhalb von Ophelias Reichweite abstellte und schnell hinter sie trat.
"Rekruten! Jetzt sofort!"
Er schlang seine Arme um ihre Hüfte, hob sie kurzerhand hoch und trug sie rigoros zum Stuhl zurück.
"Wir wollten doch sitzen bleiben..."
Er ging zum Fenster hinüber, um es zu schließen, entschied sich dann aber dagegen.
Frische Luft dürfte gleich Mangelware sein...
Er hörte es hinter sich fast lautlos tapsen und als er sich schnell umdrehte, huschte Ophelia kichernd und auf Zehenspitzen zur Tür. Er merkte, wie die Adern an seinen Schläfen langsam zu pochen begannen.
Vom Gang her erklang das zaghafte Rufen eines Rekruten.
"Hallo?"
Das wurde aber auch Zeit!
Ophelia lugte um die Tür herum und rief zurück.
"Hallohoooooo!"
Er fasste sie am Arm und schleifte sie wieder ins Zimmer hinein, zum Stuhl zurück.
"Na endlich! Hier rein, Rekrut! Deine Dienste werden benötigt!"
Der Jungspund betrat den Raum und Ettarks erster Gedanke war, dass es wenigstens nicht einer dieser dürren Spargel war, denen man nicht mal das Hantieren mit einer Gabel zutraute. Er war groß und kräftig und würde den Zweck erfüllen. Zumindest, wenn er ihn zur Mitarbeit motivieren könnte.
"Äh, also, mit Verlaub gesagt, Sör? Ich bin allein unten am Tresen. Der Kollege ist gerade mal... nicht am Platz jedenfalls. Und... also, wir sollen den Tresen ja nicht unbeaufsichtigt lassen, wenn ich mich richtig erinnere?"
Der Rekrut stand unentschlossen im Türrahmen.
Der verdeckte Ermittler in Ausbildung ging schnellen Schrittes auf ihn zu.
"Hab’ ich bitte gesagt? Los! Sorg dafür, dass die... Kollegin Ziegenberger sitzen bleibt!"
Ophelia regte sich leicht hinter ihm und aus dem Augenwinkel sah er, wie sie dem Rekruten fröhlich zuwinkte.
Er handhabte den grünäugigen Trottel in gleicher Weise wie die Ziegenberger und schob ihn ins Zimmer, ehe er ihm einen drohenden Blick schenkte.
Der Bengel sträubte sich etwas.
"Also, wenn ich das richtig sehe, dann bist du ja noch bei den Mannschaften und darfst mir noch gar keine Befehle geben? Versteh’ das jetzt nicht falsch aber ich..."
"Willst du das jetzt ausdiskutieren?"
Sie standen neben der Ziegenberger, die das Geschehen belustigt verfolgte.
"Einfache Aufgabe: Sorg dafür, dass sie nicht aufsteht! Das sollte doch selbst ein Rekrut hinbekommen, oder?"
Ettarks Stimme war gefährlich leise geworden und er konnte zu seiner Befriedigung regelrecht dabei zusehen, wie sich dem Rekruten die Nackenhaare langsam aufrichteten.
Ophelia zwinkerte dem Rekruten verschwörerisch zu.
"Er ist ein Prinz."
Sie faselte munter merkwürdiges Zeug und es fiel ihm immer schwerer, ihren Worten keinerlei Bedeutung beizumessen. Dafür wusste sie inzwischen zu viel über ihn.
"Also irgendwie jedenfalls."
Der Rekrut sah verwirrt zwischen ihnen hin und her.
"Ein Prinz? Aha..."
Ophelia nickte bedächtig.
"Irgendwie auch nicht. Naja, und dann auch noch ohne Land. Und ohne Untertanen." Sie sah ihn fragend an. "Gilt das dann noch?"
Er ignorierte sie weiterhin und sprach nur in betont schlichter Formulierung mit dem Rekruten.
"Ganz offensichtlich geht es ihr nicht so gut. Sie braucht also unsere Hilfe."
Ophelia widersprach entrüstet.
"Das stimmt nicht! Es geht mir sehr gut."
Der Rekrut nickte langsam.
Ettark ergänzte seine Aussage mit einem leiseren Murmeln.
"Und ich bin mir fast sicher, dass sie nicht beißt…"
Er sah sich noch einmal im Zimmer um und entdeckte zu seiner grimmigen Freude eine ausladende Waschschüssel. Während er sie herüber holte, hörte er Ophelias Stimme vertraulich wispern.
"Er ist immer schlecht gelaunt. Das liegt bestimmt an dem "ohne Untertanen"."
Der Rekrut brummte zweifelnd einen Laut der Zustimmung.
Ettark stellte die Schüssel schwungvoll neben den Stuhl und rieb sich die Hände.
"Soooo! Jetzt der komplizierte Teil. Rekrut!"
"Ich heiße Steinschleifer, Nathan Steinschleifer, Sör."
"Wie auch immer. Halt schon mal die Schüssel bereit!"
Der Rekrut angelte nervös nach der Schüssel und hielt sich an ihr fest.
"Was hast du vor, Sör? Also, nur, damit ich weiß, was ich zu tun habe und so."
Ettark nahm das Glas, rührte dessen Inhalt noch einmal kräftig um und ging damit auf eine Ophelia zu, die sichtlich abgelenkt etwas beobachtete, was nur sie zu sehen vermochte. Sie lächelte verträumt.
Das wird sich gleich geben...
Er hockte sich wieder vor sie hin und hielt ihr das Glas vor die Nase.
"Ophelia?"
"Hm?"
Sie sah ihn fragend an.
"Du musst das hier trinken. Und zwar auf einmal. Wenn du das schaffst, lass ich dich auch auf’s Dach, ok? Aber das schaffen nur große Mädchen, ich weiß nicht, ob du schon alt genug bist..."
Ophelia blickte ihn nachdenklich an.
"Ettark! Du weißt schon, dass ich erwachsen bin, oder? Und ich bin auch deine Vorgesetzte."
Es fehlte nicht mehr viel, bis dass ihm der Geduldsfaden reißen würde. Er schnaufte genervt und setzte das Glas an ihre Lippen an.
"Ja klar, das bist du. Mund auf!"
Er drückte mit dem Glas nachdrücklich gegen ihre Lippen, so dass sie den Kopf widerwillig immer weiter zurück bog.
"Du musst das hier jetzt trinken!"
Ophelia schüttelte unwillig den Kopf.
Ettark seufzte.
"Rekrut! Lass die Schüssel noch mal stehen und halt ihren Kopf fest!"
Der Angesprochene folgte der Anweisung nur zögerlich und halbherzig.
"Aber... wir tun ihr damit nicht weh oder so, oder?"
Ophelia schien zu spüren, dass es nun doch ernst wurde. Unruhig rutschte sie leicht auf dem Stuhl beiseite.
Glücklicherweise musste er dem Burschen nicht alles haarklein vorgeben. Der Junge legte seine Hände zu beiden Seiten an ihre Schläfen und so blieb ihm nicht mehr zu tun, als mit der einen Hand das Glas zu führen und ihr mit der anderen die Nase zuzuhalten.
Ophelia versuchte zwar um sich zu schlagen aber zum einen stand ihr dafür ja nur eine Hand zur Verfügung und zum anderen schnappte sie auch instinktiv nach Luft und der Überraschungsmoment tat sein Übriges, sodass er sie nun doch dazu zwingen konnte, den Inhalt des Glases komplett auszutrinken. Wie zu erwarten holte sie keuchend und hustend Luft und begann keine zwei Sekunden später zu würgen.
Er trat schnell hinter sie und winkte jovial dem Rekruten zu.
"Wenn ich du wäre, würde ich jetzt die Schüssel nehmen."
Der Junge tat, wie ihm geheißen und trat näher an die Kollegin heran, wobei er sich mit zweifelndem Blick zu Ettark auf die Unterlippe biss.
"Das ist jetzt nicht gegen irgendwelche Vorschriften, oder?"
Ophelia schüttelte sich würgend und bog ihren Oberkörper weit vornüber.
Mit einem leisen Seufzer folgte Ettark der Bewegung und griff nach ihren offenen Haaren, um sie ihr aus dem Gesicht zu halten.
Die Geräuschkulisse wurde unschön und Steinschleiffer schaffte es gerade noch so, die Schüssel in ihre Reichweite zu halten.
Ettark tätschelte beruhigend Ophelias Rücken, während diese sich immer wieder neuerlich über die Schüssel krümmte.
"Komm schon! Da ist sicherlich noch was drin."
Die Tortur nahm ihren Lauf.
Ettark hielt ihr Haar weiter aus der Schusslinie und rieb ihr kräftig den Rücken, was dazu führte, dass er jede Regung des zittriger werdenden Körpers durch den dünnen Stoff hindurch spürte.
"Ja, gut so!"
Einen Moment lang war er abgelenkt gewesen von der leidenden Kreatur in seiner Obhut, da zuckte der Rekrut angewidert zusammen und ließ die Schüssel auf einer Seite los.
Ettark hatte blitzschnell seinen Schuh fortgezogenen und dann beschlossen, dass alles andere nicht sein Problem sein würde. Er ignorierte den unbeholfenen Burschen demonstrativ und konzentrierte sich auf Ophelia, die benommen und keuchend auf dem Stuhl hing. Ihre Stimme klang inzwischen kleinlaut und elend.
"Ich… ich möchte das nicht!"
"Ist ja gleich vorbei." Er wartete noch einen Moment ab, bevor er den ungeschickten Rekruten beiseite winkte. "Gut. Das scheint dann wohl alles gewesen zu sein."
Ophelia schluchzte leise.
Er half ihr, aufzustehen und bugsierte sie in Richtung Bett.
"Rekrut? Hol ihr ein Glas Wasser… und Eimer und Lappen. Und wenn du auf dem Weg bist, guck doch mal in der Küche nach, ob du Zitronen findest... oder Orangen... oder so etwas halt."
Er brauchte nicht einmal hinzusehen, um zu wissen, dass dem Burschen jeder Vorwand recht gewesen wäre, um so schnell wie möglich aus dem Zimmer zu hasten.
Die Kollegin hielt sich an seinem Ärmel fest, während er sie stützte, die Decke beiseite schlug und ihr auf das Bett half. Sie flüsterte schwach.
"Es wird alles wieder gut, nicht wahr?"
"Ja, alles wird gut. Bestimmt."
Aber erst mal wird es vermutlich schlimmer werden. Bleibt nur zu hoffen, dass der Steinschmeißer irgendeine brindisianische Frucht findet.
Er suchte ihr ein neues Trinkgefäß vom Bord, füllte es mit Wasser aus der Karaffe und stellte es ihr hin.
Hinter ihm polterte und schepperte es, als der Rekrut mit Eimer und Putzzeug ins Zimmer stolperte. Es brauchte Überzeugungsarbeit, um ihn zum Putzen zu bewegen, zumal der Junge dämlich genug gewesen war, das Wasser zu vergessen und nun zu stur war, das zuzugeben. So zu "wischen" würde natürlich noch weniger Spaß machen.
Ettark widmete sich der schimmligen Zitrusfrucht, die der Junge mitgebracht hatte, und presste ihr so viel säurehaltige Flüssigkeit ab, wie nur möglich. Nach kurzem Zögern füllte er die Zitronensäure mit klarem Wasser auf. Er stützte sich auf seine Knie vor und hielt Ophelia die Tasse hin.
"Hier! Trink das, dann geht es dir besser."
Ophelia war derweil so sehr in ein merkwürdiges Zwiegespräch mit einem Unsichtbaren vertieft, dass sie ihm die Tasse mit einem beiläufigen Nicken abnahm.
Ettark unterbrach sie mit leiser aber bestimmter Stimme.
"Austrinken!"
Ophelia führte die Tasse an die Lippen, als ihr etwas einfiel und sie stattdessen die Argumentation weiterführte, mit der Tasse in der Schwebe.
"Wir leben in einem fortschrittlichen Zeitalter. Es gibt doch inzwischen sogar das Klackernetzwerk!"
Ettark seufzte.
"Ophelia? Erst trinken, dann reden!"
Sie blickte ihn verwirrt an.
"Ja?"
"Ja! Ist wie Limonade."
Nur ohne Zucker...
Sie nickte, dankbar für den Hinweis und trank endlich zwei Schlucke. Und keuchte laut auf. Sie hustete und hielt die Tasse mit verzogenem Gesicht weit weg.
"Das tut weh!"
Der Rekrut meldete sich fast ängstlich zu Wort.
"Ich wäre dann fertig mit dem Aufwischen. Werde ich hier noch gebraucht?"
Sein Blick über die Schulter offenbarte Ettark einen ziemlich verschmierten Boden.
Nicht mal vernünftig wischen können die Rekruten heutzutage...
"Nein, ich denke mal, ich komme hier klar. Wenn allerdings einer vom Ziegenberger-Rettungszirkel auftauchen sollte, schick ihn ruhig hier hoch!"
"Der Ziegenberger-Rettungsz... äh, ja. Schon klar!"
Und weg war er, den angehenden Verdeckten Ermittler mit der ausgesprochen mitgenommenen ehemaligen Verdeckten Ermittlerin allein lassend.
Ettark wandte sich Ophelia in dem Moment zu, als diese sich mit alarmiertem Gesichtsausdruck im Bett aufrichtete, ihn entsetzt anstarrte und in einer instinktiven Reaktion die Tasse mit dem Zitronenwasser an die Wand schleuderte.
Es klirrte und dann hörte man nur noch leises Tröpfeln.
Ettark konterte ihren Blick, ehe er sich erschöpft die Augen rieb und tief in sich drinnen den Wunsch aufkommen spürte, dieser Möchtegern Flachfuss würde auftauchen und ihm die Arbeit mit ihr abnehmen.
"Na gut. Wenn du nicht willst... deine Sache. Es wäre zu deinem Besten gewesen."
Ophelia rappelte sich panisch auf, flüchtete auf der Wandseite aus ihrem Bett heraus und stolperte zu der Truhe am Fußende. Sie riss den Deckel auf und langte nach dem zuoberst liegenden Dolch, um ihn sich schützend vor die Brust zu halten, während sie sich mit dem Rücken zur Wand zurückzog.
Ettark atmete tief durch.
"Das hatten wir doch schon..."
Sie stammelte nervös und ließ den Blick dabei nicht von ihm.
"Du... du willst mich vergiften!"
Er stand von dem Stuhl auf, den er sich neben ihr Bett gezogen hatte und ging dann gelassen zu ihr hinüber. Er ergriff ihr Handgelenk und entwand ihr die Waffe schlichtweg. Für solche Aktionen war sie inzwischen nicht nur zu langsam und verwirrt, sondern nach den letzten Minuten in seiner Obhut auch zu entkräftet.
"Nein, das hast du ganz alleine geschafft."
Ophelia schaute ihn verwirrt an, einen Ausdruck in den Augen, der Verunsicherung und Hilflosigkeit zu gleichen Teilen in sich vereinte. Allein die Berührung seiner Hand ließ sie bereits zusammenzucken und er konnte dabei zusehen, wie echte Angst in ihr aufzusteigen begann.
Es geht los. Hat ja nicht lange gedauert. Besser ich beeile mich und sorge für klare Verhältnisse.
Er trat an ihre Seite und hob sie schwungvoll auf seine Arme. Er musste sich nur dem Bett zuwenden und sie dort wieder inmitten der Kissenberge platzieren, doch der Auslöser hatte gereicht, um sie aufschreien zu lassen und der lauernden Panik in ihrem Kopf Raum zu geben. Er hob schnell die Decke vom Boden auf und steckte sie ihr rundum unter dem Körper fest.
Ophelia zitterte vor Angst unter der Decke und begann zu schluchzen.
Er selber setzte sich zu ihr auf den Rand des Bettes und hielt sie mit einer aufgelegten Hand sanft auf die Matratze niedergedrückt.
"Jap. Dagegen hätte der Zitronensaft Wunder gewirkt..."
Er entsann sich an den ‚Rahtgebär bei der Entgifftunk’ und seufzte.
"Reden Sie beruhigend auf den Patienten ein und erinnern Sie ihn an schöne Dinge... sehr lustig!"
Ophelias Stimme schwankte zwischen Wimmerlauten und kleinen Schreien puren Entsetzens. Ihr Flehen um Verschonung, vor welchen Gräueltaten auch immer, die sie in ihrem Sinnesrausch vorhersehen mochte, ging ihm unangenehm unter die Haut.
Ettark gab sich wirklich Mühe, in beruhigendem Tonfall auf sie einzureden.
"Was macht Ihr hier?"
Minas Stimme schnitt scharf durch den Raum und er blickte wahrhaft erleichtert auf. Sie stand im Zugang und versuchte, die Situation zu erfassen.
"Mina! Genau zum richtigen Zeitpunkt!“
Die Kollegin war mit ein paar schnellen Schritten neben dem Bett und sah entsetzt auf Ophelia hinunter.
"Ich hoffe wirklich, du kannst mir das erklären. Und es sollte eine gute Erklärung sein."
"Unser Abteilungs...problemchen wollte sich scheinbar selber lösen..."
Mina fühlte der Kollegin die Stirn, doch Ophelia zuckte bei der Berührung zusammen und schrie laut auf. Die Vampirin zog die Hand zurück.
Ettark stand vom Bett auf und ging auf den Schreibtisch zu. Dort nahm er die Schachtel und trug sie zu den beiden Wächterinnen.
"’Ne Ahnung, woher das Fräulein Ziegenberger das hier hat? Und was das genau ist?"
Mina nahm ihm die Schachtel aus der Hand und schloss kurz die Augen, um tief durchzuatmen.
Ophelia währenddessen schaffte es vor Erschöpfung nicht bis zur Bettkante und blieb kraftlos eingerollt liegen. Sie weinte nur noch leise.
Er ging zum Bett, schob die rothaarige Kollegin in dessen Mitte zurück und steckte die Decke wieder fest.
Mina kommentierte das Behältnis zwischen ihren Händen mit einem monotonen Flüstern, das er dennoch hörte.
"Ich hätte sie ihr doch wegnehmen sollen..."
Er blickte sie fragend an.
"Du wusstest davon?"
"Ja, schon. Nur, ich war wirklich der Annahme, dass sie über genug gesunden Menschenverstand verfügt, die Dinger nicht zu schlucken."
"Und was genau ist das? Auf der Straße wird das sicher nicht verkauft, sonst würde ich es kennen."
Mina sah ihn frustriert an.
"Ehrlich? Keine Ahnung. Etwas, das Bregs ihr von einem Zauberer organisiert hat."
Ophelia flüsterte schluchzend in die Kissen.
Ettark war geschockt und das war etwas, das ihm nicht oft passierte.
Mina ignorierte ihn erst einmal und hockte sich stattdessen neben das Bett. Sie griff nach Ophelias Hand, als diese weinend in die Kissen wisperte.
"...lass mich nicht allein... ich sterbe... wieder..."
Ettark wusste nicht, wie er diese Information verarbeiten sollte.
Zaubererschlacke! Er hat ihr die Anweisung gegeben, sich mit solch unkontrollierbarem, giftigem Zeug abzufüllen? Das ist Mord auf Raten, langsam, feige und grausam!
Er blickte beinahe mitleidig zu Ophelia, an deren Seite Mina sich darum bemühte, diese zu beruhigen.
"Schht, nein, du stirbst nicht, keine Angst!"
Er schüttelte den Kopf.
"Vergiss es! Sie hört dich nicht. Sie hat eine "schlechte Reise", wie die Süchtigen das nennen. Die meisten Drogen verursachen so etwas. Einerseits können sie glücklich machen... andererseits..." Er blickte bedeutungsvoll zu Ophelia und zuckte bedauernd mit den Schultern. "Na ja, du siehst es ja."
Die Vampirin zog ihre Jacke aus. Sie schleuderte das lederne Fundus-Stück zornig auf einen der Stühle.
"Verdammt, ich hab’ ihr gesagt, sie soll es lassen!"
Ettark konnte ihre Wut gut nachempfinden.
"Ich hoffe mal, ich habe wenigstens den größten Teil davon aus ihr rausbekommen, was auch immer das ist..."
Die untote Kollegin sah ihn mitleidig an.
"Ich frage jetzt nicht danach, was genau du dafür mit ihr angestellt hast."
Ophelia verstummte.
Ettark warf einen Blick zum Bett.
Man konnte sehen, dass ihr ganzer Körper sich unter den Laken in reglose Starre legte.
"Ophelia?"
Er ging hinüber und kniete sich auf die Matratze.
Ophelia versuchte zu atmen, schaffte es aber irgendwie nicht richtig.
Ettark sah betroffen auf sie herab.
Bregs hat das hier in Kauf genommen... Wo sind unter diesen Umständen noch die Grenzen zu ziehen?
Ophelias Qualen waren nicht zu übersehen. Schon rang sie wieder mühevoll nach Atem. Ihr schlanker Körper bog sich dabei von der Liegefläche empor und wirkte unendlich zerbrechlich.
Ettark befühlte erst ihre Stirn, bevor er an ihrem Hals nach dem Puls tastete.
"Alles klar. Sie krampft einfach..."
Ophelias Blick flackerte panisch durch den Raum, so unstet, dass es offensichtlich war, dass sie weder ihn, noch Mina wahrnahm.
Als von der anderen Seite des Bettes ein beinahe ebenso mühevolles Atemgeräusch erklang, blickte er auf.
Mina beugte sich leicht vornüber, blind nach einer Stütze tastend. Ihr Gesichtsausdruck kündete von Überraschung und Angst. Und sie zitterte wie Espenlaub.
Er erfasste die Parallelen und hastete fluchend um das Bett herum.
"Oh, verdammt! Brich Du mir hier nicht auch noch zusammen!"
Der Verdeckte in Ausbildung ließ seine wackelige Vorgesetzte vorsichtig auf den herangezogenen Stuhl sinken. Er stand etwas hilflos zwischen den beiden Frauen, deren Verhaltensweisen sich sichtlich aneinander anglichen. Während Ophelia keuchte, richtete Mina sich verzweifelt auf, um die Kehle frei zu bekommen, ein Agieren, wie sie es als Vertreterin ihrer Art nicht nötig gehabt hätte, wie ihm nur zu bewusst war.
Die bleiche Kollegin presste ihre Antwort regelrecht zwischen den Zähnen hervor.
"Geht... gleich... wieder..."
Ettark gab sich seufzend einen Ruck und trat näher an sie heran, um zu überprüfen, wie weit die mentale Verbindung zwischen den Frauen wirklich gehen mochte. Mina sah zu ihm auf und ihrer beider Blicke trafen sich. Er meinte, wieder ihre von Musik-Mit-Steinen-Drin untermalte Stimme zu hören.
Hat dir eigentlich schonmal jemand gesagt, dass du unglaublich schöne Augen hast?
Er registrierte fast beiläufig, dass ihre Augen wie immer aussahen. Soweit er das beurteilen konnte. Er hatte ihr schließlich nie bewusst länger in selbige gesehen. Grau und unscheinbar, wenn auch auf schwer zu beschreibende Art seltsam leblos... eben vampiresk.
Der Bergiger schüttelte die Erinnerung von sich.
Seine Ausbilderin hatte unter Fremdeinfluss gestanden und ihm selber war ganz sicher nicht daran gelegen, diese Sache wieder zur Sprache zu bringen.
Mina holte tief Luft und löste dabei den Blickkontakt. Sie riss sich sichtlich zusammen. Ophelia keuchte laut auf und als er seine Aufmerksamkeit wieder auf sie richtete wurde klar, dass die Symptome ihres Drogenrausches sich zu verlagern begannen. Ihre Hilflosigkeit wandelte sich in Aggression, die sich vor allem darin zeigte, mit welch verbissener Intensität sie den Kampf gegen die sie umschlingenden Laken aufnahm. Ein Knurren löste sich aus ihrer Kehle.
"Ihr... bekommt... mich... nicht!"
Er wusste, was dieser Stimmungsumschwung bedeutete und blickte zweifelnd zu Mina hinab. Würde diese dem zerstörerischen Drang widerstehen können oder hätte er gleich ein doppeltes Problem?
"Geht es wieder?"
Die Vampirin erhob sich mit leichtem Schwanken, doch festerer Stimme als zuvor. Sie deutete auf das Bett.
"Du an ihre linke Seite, ich an ihre rechte?"
Wortlos trat er um die Liegestatt herum und kniete sich neben Ophelia auf die Matratze. Er befeuchtete eines der herumliegenden Kleidungsstücke, um es ihr auf die Stirn zu legen. Sie schüttelte es beiseite aber in der Zwischenzeit hatte er die Decken wieder festgesteckt und drückte sie an der Schulter sanft in die Kissen zurück. Etwas, was Mina auf der anderen Seite ebenfalls tat.
Ophelia warf sich unwillig gegen den Zwang. Sie fauchte sie regelrecht an:
"Meine! Sie gehören allein MIR! KEINER hat das Recht, mir meine Gedanken wegzunehmen!"
Mina strich Ophelia die wirren Haare aus der Stirn und diese blinzelte. Die Berührung schien sie genug zu verwirren, um sich etwas zu beruhigen.
Die Stimme der Vampirin klang bedrückt.
"Ich hätte sie hier nicht allein lassen dürfen."
Ettark setzte sich ans Fußende des Bettes und betrachtete das Ganze.
"Das kann noch die ganze Nacht so weitergehen."
Ophelia holte zitternd Luft und ihre Augenlider flatterten müde.
Mina sah in fragend an.
"Aber sie hat das Zeug... komplett von sich gegeben, ja?"
"Komplett sicher nicht. Aber all das, was sie noch im Magen hatte, bestimmt."
Ophelia seufzte leise und er sah, wie Mina zusammenzuckte und abwehrend den Kopf schüttelte.
Eine leichte Brise wehte durch das angelehnte Fenster in das muffige Zimmer herein und er war dankbar für die frische Kühle. Aufbruchstimmung machte sich in ihm breit.
Die Kollegin ihm gegenüber nickte entschlossen.
"Dann weiß ich ja, was ich in den nächsten Stunden vorhabe."
Er war mehr als nur einverstanden damit, diese spezielle Bürde an sie weiterzureichen.
"Eigentlich hilft jetzt nur noch, beruhigend mit ihr zu reden und dafür zu sorgen, dass sie sich nicht selbst verletzt. Auch wenn sie die Worte nicht versteht, bekannte Stimmen helfen meistens. Und halte ihre Stirn kühl."
Mina nickte und legte Ophelia erneut versuchsweise die Hand auf die Stirn. Diese zuckte zwar fröstelnd zusammen, hielt dieses Mal aber still.
"Sooo...", er sah seine Chance gekommen. "Wenn sie was essen will, soll sie das tun, dann geht es ihr morgen nicht ganz so dreckig. Und viel Trinken."
Mina sah zu ihm auf.
"Du gehst also?"
Er zog bedeutungsvoll die Taschenuhr vor.
"Ich muss morgen wieder zu den Dämonen, schon vergessen?"
Ophelia flüsterte:
"...Reisende soll man ziehen lassen... ziehen... wie die Zugvögel... ich wäre so gerne wieder geflogen..."
Er warf Ophelia einen nachdenklichen Blick zu und sagte, an Mina gewandt:
"Wenn ich zeitig aufstehen will, habe ich noch ganze vier Stunden Schlaf. Wenn ich sie nach heute Abend überhaupt wiederfinde! Paulus kam leider nicht mehr dazu, mir zu sagen, wo das nächste Treffen stattfindet."
Mina presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.
"Ich werde dich bei dieser Ermittlung nicht mehr unterstützen können. Ein solcher Außeneinsatz unter diesen Umständen wäre verantwortungslos."
Er seufzte zum wiederholten Mal an diesem Abend.
Ophelia flüsterte unheilsschwanger in das Schweigen hinein:
"...verdeckt... versteckt... verreckt..."
Ich frage mich, ob es klug ist, in ihrer Anwesenheit so offen zu reden. Wieviel von dem Gesagten bekommt sie noch mit?
Ophelia kicherte, was Mina damit quittierte, dass sie ihr neuerlich mit dem kühlen "Lappen" über die Stirn fuhr.
Er steckte seine Uhr weg.
"Hatte ich mir schon gedacht. Aber vielleicht besprechen wir das besser, wenn wir unter uns sind..."
Die blasse Frau unter der Decke griff seine Worte auf.
"...unter uns..."
"Gute Nacht... euch beiden!"
Ophelia kam offenbar ins Grübeln.
"...unter uns die Scheibe, eine Welt voll Leid und Dreck. Warum nur? Warum leben wir?"
Ettark salutierte mit zwei Fingern und wollte das Zimmer verlassen, als Mina ihn mit einem Ruf zurückhielt.
"Ach ja, Ettark?"
Die Liegende wälzte selbstversunken existentielle Fragen in ihrem Sinn.
"Leben wir denn?" Sie kicherte und beantwortete sich ihre Frage selbst. "Ich nicht."
Ettark blieb in der Tür stehen und drehte sich um.
Mina lächelte ihm knapp zu.
"Danke!"
Er zuckte mit den Schultern, bevor er endgültig ging. Als er die Tür leise hinter sich schloss, begann Ophelia soeben wieder erschöpft zu weinen. Er hörte ihre Stimme flehentlich darum bitten, dass es aufhören möge.
"Es dreht sich alles. Zu viele Farben! Das kann doch nicht echt sein... mir ist so schlecht!"
Und er hörte Minas Antwort, deren mitfühlender Tonfall selbst zu schwanken schien, als sie der Kollegin empfahl, die Augen zu schließen.
Keine gute Idee. Das dürfte sich ungünstig mit ihren Schwindelattacken kombinieren...
Und wirklich folgte dem leisen Gespräch prompt ein gequältes Stöhnen und das hektische Rascheln der Decken.
Er drückte seine Schultern durch und verließ entschlossenen Schrittes das Wachhaus.

~~~ oOo ~~~


Lautes Pochen gegen Holz und eine drängende Stimme, die um Aufmerksamkeit buhlte.
"Ma'am? Bitte! Der Kommandeur schickt mich und es ist wichtig!"
Mina schnellte von der harten Stuhllehne vor und blinzelte sich die Trägheit aus den Augen.
Ich bin wirklich und wahrhaftig eingeschlafen?
Ihr Blick richtete sich auf die Zimmernische links der Tür und auf das dort stehende Bett. Ophelia lag zwar bewegungslos in den zerwühlten Decken, doch ihr schlafender Geist sandte Mina in beruhigender Regelmäßigkeit prickelnde Wellen aus Verwunderung und Erschöpfung.
Verstehe. Sie hat mich "mitgenommen" in den Schlaf.
Ihre Gedanken kamen langsam wieder in Schwung und sofort bemühte sie sich, das eigene Erwachen aus der gefühlsmäßigen Bindung herauszuhalten, um Ophelia noch etwas Schlaf zu gönnen.
Die penetrante Person an der Bürotür boykottierte Minas Rücksichtnahme mithilfe eines Rüttelns an der Türklinke.
"Hallo? Ma'am, es ist dringend!"
Die Vampirin eilte zur Tür, entriegelte diese hastig und kam einem neuerlichen Anklopfen zuvor.
Eine schmächtige junge Frau mit strähnigem Haar zuckte ob ihres strengen Gesichtsausdrucks zurück. Und vielleicht auch ein wenig aufgrund ihrer ungewöhnlichen Aufmachung, wie Mina bewusst wurde.
Oh, ich sollte mich vermutlich umziehen und abschminken, sobald sich die erste Gelegenheit dazu ergibt.
Sie ignorierte diesen Umstand erst einmal, es gab Wichtigeres. Auch wenn sie ernsthaft daran zweifelte, dass ausgerechnet ein Anliegen des Kommandeurs dazu gehören mochte. Was wollte er? Noch mehr Unheil anrichten? Dass er jemanden Dritten zu Ophelia schickte, anstatt sich selber hierher zu begeben, um eine seiner Anweisungen zu übermitteln, war wieder mal so typisch. Wenn es nach Mina gegangen wäre, hätte er die letzte Nacht gerne mit ihnen zusammen verbringen dürfen.
"Himmel noch einmal, was gibt es denn so schrecklich wichtiges? Sie hat eine schlimme Nacht hinter sich und ist gerade erst zur Ruhe gekommen, also etwas leiser, wenn ich bitten darf!"
Der weibliche Laufbursche räusperte sich und antwortete flüsternd:
"Ma'am, ich muss leider... also... sie soll... der... der Kommandeur besteht darauf, dass sie auf der Stelle alles daran setzt, die Gerüchte in den Griff zu bekommen. Eine Richtigstellung. Wegen des Ansehens der Wache. Und für sie selber. Er sagt, das sei ja wohl in ihrem eigenen Interesse."
Jedes der gestammelt vorgebrachten Worte trieb ihr mehr den Zorn in die Glieder. Und vermutlich musste man ihr das ansehen, denn die Rekrutin wurde noch leiser, als sie ohnehin schon begonnen hatte und verstummte zum Schluss ganz, um sie verstört anzusehen.
"Sie soll die Gerüchte in den Griff bekommen? In ihrem eigenen Interesse? Soll das eine Warnung sein oder was?"
Sie konnte nur ungläubig gucken und bemerkte erst verzögert, auf den ängstlichen Seitenblick der jungen Frau hin, dass sie mit ihren Fingerspitzen Dellen im Türrahmen hinterließ. Unter ihren manikürten Nägeln gab das Holz nach. Sie rief sich innerlich zur Ordnung und lockerte ihre Haltung. Einmal tief durchzuatmen konnte nicht schaden, zumal es auch Ophelia nichts Gutes einbringen würde, wenn sie sich nun gehen ließe und es sich dadurch mit Breguyar verscherzte. Betont ruhig und akzentuiert fragte sie daher:
"Wir tun alles in unserer Macht stehende, um der Problematik gerecht zu werden. Das sollte er wissen. Wie also kommt es dazu, dass er es für nötig erachtet, kurz nach dem Morgengrauen extra eine Anweisung dazu herrauszugeben?"
Hat er nichts anderes zu tun, oder wie?
Die Rekrutin lief tiefrot an und schien zu überlegen, wie sie darauf möglichst diplomatisch antworten sollte. Oder ob überhaupt.
Mina war mit einem Schlag hellwach und misstrauisch. Sie ließ die Rekrutin nicht aus den Augen und in ihrem Tonfall eine gewisse Schärfe mitschwingen.
"Was für Gerüchte?"
Die jüngere Kollegin vor ihr wich dem stechenden Blick aus und murmelte ausweichend:
"Das hat er nicht gesagt, Ma'am."
Ins Schwarze!
"Du weißt aber offensichtlich trotzdem ganz genau, welche er gemeint haben wird. Also? Muss ich ein zweites Mal nachfragen? Sie kann ja wohl kaum gegen etwas vorgehen, wenn sie nicht einmal weiß, was gemeint ist."
Die Mitwächterin fasste sich nach letztem Zögern ein Herz und sah fast trotzig auf.
"Hast du heute schon ins Fratzenbuch geguckt, Ma'am?"
Mina war irritiert. Was sollte denn jetzt diese Frage? Wollte die Rekrutin sie etwa vom Thema ablenken? Der herausfordernde Blick der Jüngeren hielt dem ihren jedoch unnachgiebig stand und dann dämmerte ihr eine schreckliche Ahnung. Die Rohrpostdämonen waren in den letzten Tagen verdächtig still gewesen.
Sie schüttelte langsam den Kopf.
"Nein, habe ich nicht. Sollte ich das vielleicht besser?"
"Vielleicht, ja."
"Was würde ich dort vorfinden? An Gerüchten?"
Der trutzige Blick geriet ins Wanken, doch die Rekrutin erwiderte mit nahezu emotionsloser Stimme:
"Dass eine gewisse hochrangige Kollegin innerhalb des Wachhauses Rauschmittel konsumiert vielleicht. Oder auch, dass sie die Nächte mit Orgien durchfeiert und sich nicht im Griff hat. Dass sie...", die folgenden Worte waren wohl doch zu kompromittierend, um dem prüfenden Blick einer Vertrauten standhalten zu können, "...dass sie wohl schwanger ist und deswegen schnell heiraten muss und froh sein kann, einen Dummen gefunden zu haben, der ja gesagt hat."
Mina verschlug es die Sprache. Für einen kurzen Augenblick erinnerte sie sich an den Moment in der vergangenen Nacht, als sie selber von Ophelias Verlobung erfahren hatte. Die Anspannung im Raum hatte ihr zusammen mit Ophelias Herzschlag zugesetzt gehabt und sie war daher zum Fenster gegangen, um den Emotionen wenigstens kurz den Rücken zu kehren. Was hatten sie nicht alles zusammen durchgestanden! Eingebildete Horden riesiger Spinnen! Einmal hatten Ophelias Nervenbahnen dermaßen verrückt gespielt, dass diese davon überzeugt gewesen war, ihr gelähmter Arm würde in Flammen stehen! Und ab und an hatte es merkwürdige "Sendelücken" seitens Ophelias gegeben, während derer sie fast wie eine andere Person agierte. Mina war sich nicht sicher gewesen, ob sie das plötzliche Ausbleiben und Wiedereinsetzen der Emotionen willkommen heißen oder nur noch mehr fürchten sollte. Als sie sich jedenfalls wieder dem Bett zuwandte, hatte sie das leere Schmuckdöschen auf dem Tisch stehen sehen. Eines von der Sorte, die im gesamten Multiversum unverwechselbar waren. Sie hatte es mit zu ihr genommen, sie angesprochen und es ihr vor Augen gehalten. Und Ophelias Reaktion war eindeutig gewesen. Selbst noch gefangen in den Illusionen und Schmerzen ihres Kampfes gegen die Droge, hatte sich der Gedanke an ihren Künftigen als Anker herausgestellt. Sie hatte inne gehalten und lächelnd auf ihre Hand mit dem Ring hinab gesehen und plötzlich hatte für Mina so vieles im Vorlauf zur Katastrophe des Abends mehr Sinn gemacht. Ein so wundervolles, bedeutsames Ereignis, das Ophelia mit niemandem angemessen hatte teilen können, bevor es nur Stunden später im Chaos unterging! Mina war dankbar gewesen für die emotionale Atempause, die ihr statt Entsetzen und Leid einen warmen Gefühlsschauer aus stiller Freude bescherte, als Ophelia gedanklich offenbar bei Rach verweilte. Bis die Halluzinationen wieder einsetzten und überhand nahmen. Sie hatte Ophelias Entsetzen vor Augen und erinnerte sich aus eigenem Erleben heraus nur zu gut an die herzzerreißende Qual, als die Substanz im Kreislauf der Kollegin dieser vorgaukelte, das kostbare Kleinod des Verlobungsringes würde ihr vom Finger schmelzen! Ophelia hatte zu diesem Zeitpunkt fest daran geglaubt gehabt, dass ihr Verlobter sie womöglich nicht mehr heiraten wollen würde, wenn sie sich nicht im Stande sähe, auf sein Geschenk aufzupassen! Sie hatte die Bilder in ihrem Kopf nicht aufhalten können und dementsprechend viele Tränen vergossen. Wobei sie nicht die Einzige gewesen war.
Nein, wahrlich nicht. Die Sache hat mich zwangsläufig ebenso mitgenommen.
Die Vampirin drehte sich der Wand zu und fand ihren Verdacht bestätigt.
Und in keiner einzigen Stunde dieser finsteren Nacht hat auch nur einer von uns auf die Rohrpostklappe geachtet, die geöffnet ins Zimmer wies...
Mina konnte nichts daran ändern, dass sie die Überbringerin der schlechten Nachrichten mit eisigem Tonfall und noch kälterem Blick bedachte.
"Rekrutin...?"
Die junge Frau salutierte lässig.
"Ambrosia Fernlicht, Ma'am!"
"Lass mich raten: Reggie und Aaps?"
Ein Nicken, das von schlechtem Gewissen kündete.
"Warum sollten wir den sprachlichen Ausdünstungen dieser beiden Furunkel Gewicht beimessen? Jeder weiß, dass sie Müll reden! So ist sie nicht!"
Die Rekrutin schien sich da nicht so sicher zu sein aber auch nicht direkt widersprechen zu wollen. Sie zuckte nur leicht mit den Schultern.
"Jedenfalls haben ihre Eltern wohl auch von den Gerüchten erfahren. So wie es aussieht, haben die sich beim Kommandeur angekündigt, von wegen Besuchsrecht und so."
Mina trat einen kleinen Schritt zurück und blickte um die Ecke. Ophelia schlief tief und gleichmäßig.
Vielleicht bleibt ihr noch etwas Zeit daf...
"Die sind gleich hier. Die Eltern. Oh, genau!" Die Rekrutin kramte in ihrer Uniformjacke und zog eine reichlich zerknitterte Klackernachricht hervor, die sie ihr mit schiefem Grinsen überreichte. "Da! Das ist die Nachricht, die ich ihr noch geben sollte. Die von den Eltern, wo sie sich ankündigen. Bin gerade erst dazu gekommen, tut mir leid. War heute schon viel los, unten."
Nicht gut. Das ist gar nicht gut. Selbst, wenn ich sie rechtzeitig wach bekommen sollte, ein vorzeigbarer Zustand dürfte das kaum werden.
Sie bedankte sich geistesabwesend und sah sich schon mit kritischem Blick in dem Chaos des Zimmers um. Kleidungsstücke und benutzte Gläser lagen und standen auf den Ablageflächen herum, ebenso wie auf dem Boden. Schmierstreifen auf selbigem kündeten von der 'Entgiftung', die Ophelia über sich hatte ergehen lassen müssen. Und über allem hing ein muffiger, leicht säuerlicher Geruch.
Lüften! Und Wischen! Und dann...
Sie wies die Rekrutin an, jemanden mit Wischzeug hoch zu schicken, bevor sie sie bereits in Eile entließ.
Nun gut. So leid es mir tut. Aber dann muss ich sie jetzt wohl doch wecken. Hoffentlich hat sie es hinter sich.
Sie trat an das Bett heran und sah auf die schlafende Kollegin hinab, ehe sie sich einen Ruck gab und sie vorsichtig und mehr als widerwillig an der Schulter wachzurütteln versuchte.
"Ophelia?"
Wie absehbar gewesen, erhielt sie keinerlei Reaktion von dieser. In den frühen Stunden des Zwielichts von der völligen Erschöpfung überwältigt, hatte der Schlaf sie tief, sehr tief in seinen Bann gezogen.
Sie intensivierte ihre Bemühungen mit echtem Bedauern.
Aber wenn ich sie nicht rechtzeitig auf die Beine bekomme, wird das Kommende für sie nur umso demütigender. Das muss wirklich nicht sein.
"Ophelia, komm schon! Es tut mir ja leid aber du musst jetzt wirklich wach werden. Deine Eltern werden gleich hier sein. Sie wollen mit dir über Rach reden. Ist das nicht ein schönes Thema, für das es sich aufzustehen lohnt, hm?"
Tatsächlich regte sich etwas in der emotionalen Verbindung zur Kollegin, ein träger Impuls, langsam und untergründig, wie eine ausrollende Welle, die erst beim Versanden im Strand sichtbar wird.
An der Tür zum Zimmer klopfte es rabiat an und die Rekrutin trat nach kurzer Aufforderung missmutig mit dem Putzzeug ein.
"Ich soll mich selber drum kümmern, ist grad etwas stressig unten. Aber deswegen muss ich mich auch beeilen. Wenn's gründlicher sein soll, müsstest du vielleicht selber nochmal drübergehn, Ma'am."
"Rekrutin Fernlicht, wir alle müssen ab und an Aufgaben übernehmen, die nicht dem entsprechen, was wir uns wünschen. Trotzdem wirst du diese so ordentlich erledigen, wie deine Fähigkeiten es dir gestatten und erst dann wieder gehen. Außerdem wirst du neues Trinkwasser für die Karaffe und den Kaffeedämon holen und die Waschschüssel wieder so herrichten, dass es ihr möglich ist, sich frisch zu machen." Sie kam dem Luftholen der jungen Frau zuvor. "Nein! Keine Diskussion! Ich habe deine Arbeitsanweisung erweitert und ich bin dazu definitiv berechtigt. Du weißt um den Zeitdruck für sie, also reiß dich zusammen und spute dich!"
Sie wandte sich der Schlafenden zu und klopfte ihr sachte auf die Wange.
"Komm schon! Etwas Mitarbeit wäre großartig! Wach werden!"
Ophelia wandte den Kopf leicht ab und der Strom der Gefühle machte einen bockigen Sprung.
Mina setzte sich auf die Bettkante, beugte sich über die ehemalige Stellvertretende, umarmte sie und zog deren Oberkörper damit von den Kissen. Sie stützte schnell den nach hinten sackenden Kopf ab, legte sich einen der Arme um die eigenen Schultern und hielt sie dieserart fest, um dann vorsichtig aufzustehen. Sie zog Ophelia mit sich, verlagerte den Griff etwas, wandte sich mit ihr an der Seite rückwärts und ließ so sie sich beide wieder setzen, wobei sie leise auf Ophelia einredete.
"Dann eben so. Jetzt noch die Beine über die Bettkante, richtig und daaaaann..."
Sie saßen nunmehr dem Zimmer zugewandt, die noch immer schlafende Ophelia an ihrer Schulter lehnend.
Mina fing einen mehr als skeptischen Blick der wischenden Rekrutin auf.
"Wenn du eine bessere Idee hast, dann bitte! Ich bin ganz Ohr!"
"Kalter Waschlappen. Wirkt meistens ganz gut."
"Dazu bräuchte es wohl frisches Wasser und du bist noch mit etwas Anderem beschäftigt. Aber ich sehe dieser Option frohgemut entgegen."
Die Rekrutin zuckte mit den Schultern und wischte weiter.
Ophelia regte sich. Sie versuchte halbherzig ihr Gesicht von dem Körper abzuwenden, an den sie da lehnte und auf mentaler Ebene traf Mina ein ansteigendes Gefühl von Unwohlsein. Die Kollegin murmelte undeutlich vor sich hin.
"...hast du nur gemacht, Rach? Das... nicht schön... Zigaretten? Und... Alkohol? Mit Freunden trinken… mir schlecht! Bestimmt... wie hieß er? Der dich mitgenommen... der mit dir wohnt... weißt schon..."
Mina schloss kurz die Augen und atmete tief durch.
Ja, ich weiß! Ich muss mich umziehen. Netter Hinweis. Bloß, dass ich immer noch nicht dazu komme... erst recht nicht, wenn du dich hiermit so schwer tust!
Sie bemühte sich um einen fröhlichen Tonfall in der Stimme.
"Ah! Na, wer sagt es denn? Wer wird denn da wach? Sehr gut, weiter so!"
Sie legte Ophelia die Hand unters Kinn und hob deren Gesicht an.
"Ophelia? Ophelia, deine Eltern werden gleich hier sein. Du solltest dich etwas mehr beeilen. Werd' wach!"
Es war ein merkwürdiges Gefühl, sie so im Arm zu halten und jede Regung des schmächtigen Körpers zu fühlen.
Hat sie wirklich dermaßen abgenommen in den letzten Wochen? Warum ist mir das nicht früher aufgefallen? Isst sie etwa nicht genug? Hätte ich mehr darauf achten sollen, ihr etwas mitzubringen? Ich hatte doch aber betont, dass sie nur Bescheid zu sagen braucht, wenn die Vorräte zur Neige gehen, damit sie nicht in die Kantine muss! Hat sie das auch wieder verschwiegen, um niemandem zur Last zu fallen? Oder ist das einfach nur die logische Konsequenz aus dem Stress der letzten Zeit? Kein Wunder, dass Ettarks Behandlung sie so überraschend schnell von den Füßen geholt hat. Das gestern, das konnte man nicht wirklich Gegenwehr nennen. Sie war ja vorher schon schlank aber das… sie ist richtig dünn geworden. Ich könnte das Handgelenk bestimmt mit nur zwei Fingern umfassen… und gefasst halten! So schwach...
Ophelia murmelte leise und nahezu unverständlich einige Worte. Mina verdankte es nur ihrem besonderen Gehör, dass sie das Gesagte erahnen konnte.
"...gerade rechtzeitig... unerträgliche Durst... bringt mich um den Verstand..."
Eine erwartungsvolle Anspannung schlich sich in den schlafenden Körper, ehe sie wieder versackte.
Und dann war da wirklich so etwas wie drängender Durst, ein Gefühl, als wenn ihr Innerstes verdörren würde.
Was zum...
Eine weitere Regung gesellte sich dieser ersten hinzu, sehr viel zielstrebiger. Sie machte selbst vor der Müdigkeit nicht Halt und bahnte sich ihren Weg mit dem rücksichtslosen Recht eines pirschenden Ur-Instinkts. Dieses Empfinden entsprang gleichzeitig ganz eindeutig ihr selbst und der Übertragung seitens Ophelias, was vollkommen ausgeschlossen hätte sein müssen, da diese gar nicht über diese speziellen Instinkte eines Untoten verfügen sollte! Es schwang zwischen ihnen beiden hin und her, wie ein Ton, der sich zwischen zwei Hauswänden verfangen hatte, keinen Ausweg fand, sich wie ein irrlaufender Bolzen empor katapultierte und verstärkte.
Das darf ja wohl nicht wahr sein...
Mina registrierte fasziniert und entsetzt zugleich, dass sie den Griff um Ophelia dazu genutzt hatte, diese minimal näher an sich heran zu ziehen. Sie nahm wie in Trance die freie Hand von deren Kinn und strich ihr stattdessen das offene Haar aus dem Gesicht... an der Schläfe herab. Sie führte die langsame Bewegung weiter aus und strich damit das Haar über die freiliegende Schulter zurück. Was ganz vortrefflich Ophelias Hals freilegte. Sie betrachtete neugierig die Narben des so knapp überlebten Vampirangriffs... umrahmt von samtweicher, bleicher Haut.
Nein, nein, nein, nein, nein... Sie macht es schon wieder! Sie schafft es wirklich, jedes verdammte Quentchen Klischee zu bedienen! Das perfekte Opfer! Vertrauensvoll und wehrlos. Sie spielt ungewollt die volle Bandbreite, reizt und triezt und... ich trinke nicht einmal Blut! Und selbst bei mir springen die Instinkte an! Man könnte es fast nicht mehr übel nehmen, falls irgendwann… irgendwer... nein, ich will nicht einmal daran denken!
Mina spürte den Blick der Rekrutin regelrecht, die mitten in der Bewegung innegehalten hatte und nun mucksmäuschenstill mit dem Lappen am Wischeimer kniete.
Ruppiger als beabsichtigt klopfte sie Ophelia auf die Wange.
Der gedankliche Sog fiel in sich zusammen.
Ophelia blinzelte.
"Was..."
"Es wurde aber auch Zeit!"
Mina räusperte sich und schob Ophelia betont, mit ausgestreckten Armen, in eine aufrechte, selbständig sitzende Position.
Diese sah sie blinzelnd an und es dauerte einen langen Moment, ehe sich der Blick aus diesen grauen Augen auf sie zu fixieren begann.
"Mina?"
Sie lächelte optimistisch.
"Ganz genau richtig! Bist du jetzt wach? Verstehst du, was ich dir sage?"
Ophelias Gesichtsausdruck wirkte dafür immer noch viel zu verträumt und eine nennenswerte Reaktion erfolgte auch nicht.
Den Umständen entsprechend entschied Mina trotzdem, dass sie schon so weit war.
"Gut, gut! Hör mir zu! Offenbar haben die Rohrpostdämonen heute Nacht ihren Spaß gehabt..." Sie warf der auffällig gründlich putzenden Rekrutin einen Blick zu, doch diese hielt den Kopf gesenkt - und die Ohren gespitzt. In diesem Gebäude muss man sich nicht nur vor den Rothäutigen in Acht nehmen... Sie sparte Details und Vermutungen kurzerhand aus, indem sie zum Kern des Problems kam. Oder kommen wollte. Ophelia fiel ihr mitten ins Wort.
"Mina? Letzte Nacht... Ettark und du? Wirklich?"
Die Vampirin war augenblicklich mehr als nur froh darüber, ein Erröten nicht nötig zu haben. Sie konnte hingegen nicht verhindern, Ophelia einen deutlichen Anstieg an Nervosität zu übermitteln. Sie versuchte, das durch eine verächtlich emporgezogene Augenbraue und einen strengen Tonfall wieder wett zu machen.
"Du erinnerst dich dann auch noch daran, was ich dir über Fremdgefühle gesagt hatte?"
Die schlanke Frau saß leicht schwankend auf der Bettkante und dachte darüber nach. Dann nickte sie vorsichtig.
"Ich... ich war... bin mir nicht mehr sicher, was ich... was davon..."
Mina folgte seufzend einem Impuls und legte ihre Hand tröstend auf Ophelias.
"Schon gut. Jetzt müssen wir dich erst einmal in einen vorzeigbaren Zustand bekommen." Sie durchbohrte die lauschende Rekrutin fast mit einem Blick. "Rekrutin Fernlicht? Du kannst jetzt damit aufhören! Bring das Dreckwasser weg und hole frisches. Wir sind gleich soweit." Der nächsten Frage, diesmal wieder an Ophelia gewandt, maß sie besondere Bedeutung zu. "Kannst du aufstehen?"
Ophelia schien ihr nur mit halbem Ohr zuzuhören. Aber immerhin kämpfte sie sich auf beide Beine und schwankte ins Zimmer, während sie missmutig und noch immer reichlich verwirrt feststellte: "Ich fühl' mich nicht so gut. Kann ich nicht liegenbleiben? So ein Hunger!" Sie griff sich an den Hals. "Und Kopfschmerzen." Die Hand wanderte zum Magen. "Und irgendwie ist mir nicht so gut..."
Mina beeilte sich, der ehemaligen Verdeckten Ermittlerin durch den Raum zu folgen. Sicherheitshalber zog sie im Vorbeigehen schnell noch die Vorhänge vor das Fenster, welches zum FROG-Bereitschaftsraum hinüber zeigte.
Dass wir auf solche Sachen gestern Nacht nicht geachtet haben! Aber gut... da gab es auch andere Dinge, die unsere Aufmerksamkeit beansprucht haben.
Wo sie schon mal dabei war, verschloss sie die Rohrpoströhre mit einem Batzen zusammengerollten Almanachs von dem kleingerissenen Altpapierstapel im Stehregal, stülpte ein Glas darüber und band alles zusammen mit einer Paketschnur fest, die sie ebenfalls aus einem der Körbchen im Regal entnahm.
Da habt ihr es! Erstickt meinetwegen an eurer Neugier!
Sie nahm eine der dünnen Decken, die sie im Laufe der Nacht aussortiert hatten, sah sich suchend um... und entschied sich dann, das herumliegende Mischmasch aus Geschirr und Kleidung in eben jene Decke zu werfen und alles zusammen kurzerhand in die Truhe am Bettende zu stopfen. Es brauchte einige Versuche, deren Deckel bündig zu schließen.
Ophelia war währenddessen einfach stehen geblieben, als wenn sie vergessen hätte, warum sie überhaupt aufgestanden war.
Mina nahm sie sanft beim Arm und führte sie zu dem Stuhl am Schreibtisch.
"Das geht also auch wieder. Lass es uns nicht gleich übertreiben. Wir heben uns vielleicht besser ein bisschen was für nachher auf, wenn sie da sind. Bleib' einfach sitzen und dann schauen wir mal, wie wir das Desaster auf deinem Kopf wieder gebändigt bekommen, in Ordnung?"
Sie holte schnell einen Kamm und begann damit, das noch immer relativ kurze Haar zu glätten.
Reden... wenn ich sie nicht am Reden halte, schläft sie mir schlicht im Sitzen wieder ein.
"Da, schau! Ganz bezaubernd! Die Augenringe sind natürlich nicht so ansehnlich. Da werden wir gleich mal schauen, was sich mit dem Puder machen lässt, sobald die Rekrutin mit dem Wasser da ist. Weißt du denn schon, was du anziehen möchtest?"
Ophelia holte tief Luft. Sie sah zu ihr auf und endlich, endlich war wieder so etwas wie erwachende Aufmerksamkeit in ihren Augen zu erahnen.
"Anziehen? Du hast gesagt, dass irgendwer herkommt, oder? Jetzt?"
Mina lächelte aufmunternd.
"Richtig. Deine Eltern werden gleich hier sein. Sie haben über die Klackernachrichten von den... unschönen Unterstellungen zu dir erfahren. Und wohl auch von deiner Verlobung. Breguyar wünscht übrigens noch eine öffentliche Richtigstellung durch dich, wenn ich das richtig verstehe. Sobald du dich soweit fühlst."
Ophelia senkte den Blick und versuchte sich offenbar angestrengt zu konzentrieren. Es dauerte eine Weile, bis die Aussagen in ihrem Sinn Wurzeln schlugen, dann aber konnte man den Moment daran ablesen, dass sie sich mit einem Stöhnen die Hand vor die Augen hielt. Sie vermied es, aufzusehen. "Ich kann mich kaum noch an etwas erinnern. Ich habe diese Tabletten genommen... oder?"
"Ja, das hast du."
Sie ließ ihr die Zeit zum Erinnern und Schlussfolgern und kämmte dabei lediglich weiter die Knoten aus.
Ophelias Stimme klang dumpf und verunsichert.
"Habe... habe ich mich wirklich auf Ettarks Schuhe erbrochen?"
Mina hielt kurz inne.
Davon hatte er nichts gesagt gehabt.
"Gehen wir mal davon aus, dass das hier und jetzt egal ist, in Ordnung? Selbst wenn es so gewesen wäre... er hätte dafür Verständnis gehabt, ganz bestimmt. Er war überaus freundlich und hilfsbereit dir gegenüber."
Ophelia stieß einen noch inniglicheren Frustrationslaut aus und murmelte:
"Das verzeiht er mir nie. Niemals! Oh, Mina... du hattest ja so Recht! Ich wollte es richtig machen. Aber ich habe wieder alles falsch gehandhabt. Und ihr habt es ertragen müssen! Es tut mir so, so leid! Und dann auch noch meine Eltern und..." Sie blickte entsetzt auf. "Oh nein! Über die Fratzenbuchnachrichten? So ganz öffentlich? Wie schrecklich! Dann wird Rach das auch lesen! Bei Annoia! Mina, ich muss das richtigstellen! Egal was sie behauptet haben, es kann nichts Gutes gewesen sein. Wenn schon Araghast deswegen... oh gute Güte! Was soll ich denn jetzt machen?"
"Ich würde vorschlagen, die Ruhe bewahren. Und dich anziehen. Und dann sehen wir weiter."
Das frische Wasser wurde gebracht und die kalte Luft unterstützte Mina in dem Bemühen, Ophelia in einen Zustand zu versetzen, in dem diese zumindest einen oberflächlichen Erstkontakt zu deren Eltern überstehen sollte. Alles Weitere würde sich finden.
Es klopfte an die Tür, gerade als Mina die Puderdose zur Hand nehmen wollte, um die nächste Stufe der Fassadenarbeiten einzuleiten.
"Ma’am? Ich bin’s noch mal. Keine Ahnung, warum ich mir die Mühe mache aber… egal. Wollte nur vorwarnen. War grad eine Klackernachricht zum Kommandeur bringen und… naja… ihre Familie fängt gerade mit dem großen Händeschütteln an und wird gleich hier sein."
Ophelia blickte erschrocken zu ihr auf und sie brauchte keine hellseherischen Kräfte, um zu wissen, dass die ehemalige Verdeckte noch nicht soweit war. Und dass diese Tatsache nicht nur mit deren Augenringen zu tun hatte.
Mina ließ Ophelia nicht aus dem Blick, als sie der überraschend hilfreichen Rekrutin dankte. Als die Tür wieder geschlossen war, flüsterte sie:
"Was jetzt?"
Ophelias Reaktion hätte ihren Zustand nicht noch deutlicher unterstreichen können. Sie blickte flehentlich zu ihr auf.
"Hilf mir! Bitte!"
Meine Güte... sie hat sich sterbend mit einem Igor einen Sarg geteilt, inmitten einer Horde mordender Vampire ermittelt, lange Zeit über ihre Kollegen bei einer Belagerung der Stadt koordiniert und ist bereit gewesen, sich im Alleingang gegen eine große Organisation zu stellen und sich dafür Bregs Zorn zuzuziehen... und nun sitzt sie wie ein Häufchen Elend vor mir, kann sich kaum aufrecht halten und hat Angst davor, dass ich sie mit ihrer Familie alleine lassen könnte? Diese Zaubererpillen sind Dämonenzeug! So lange schon betone ich ein ums andere Mal, dass sie mir nur etwas zu sagen braucht... wie könnte ich ihr da jetzt meinen Beistand verwehren? Ich lasse mir etwas einfallen!
Sie nickte fast automatisch und sofort wurde sie mit einem emotionalen Schwall aus Erleichterung belohnt.
Bloß was?
Sie trommelte unbemerkt einen nervösen Rhythmus auf die Platte des Schreibtisches neben sich.
"In Ordnung. Wir machen es so: Du versuchst selber noch so viel zu retten, wie zu retten ist. Ich lasse dir Spiegel und Kohlestift hier stehen, siehst du? Das bekommst du hin. Atme tief durch und immer mit der Ruhe! Und ich... ich lenke sie etwas ab, solange mir das möglich ist. Wenn du soweit bist, lasse ich sie durch und bleibe so lange bei dir, wie du das möchtest, ja? Wir sagen... hm, keine Ahnung. Was sagen wir? Die Rekrutin hat gemeint, dass die Dämonen dir unkontrollierten Konsum irgendwelcher Rauschmittel unterstellt haben. Wir formulieren das um! Du hast etwas Ungutes gegessen, ja? In Ordnung?"
Die blasse Kollegin nickte verunsichert.
"Gut! Ich halte sie hin und versuche dir etwas Zeit zu verschaffen. Bis gleich!"
Sie eilte zur Tür und sah nur kurz zurück. Das Zimmer wirkte wieder ordentlich und auch die Luft war wieder atembar, wenn auch merklich zu kühl. Ophelias Hand zitterte so deutlich, als sie die Quaste aus dem Döschen an ihr Gesicht hob, dass das Puder eine staubige Spur durch die Luft zog. Sie stockte und drehte sich mit der erhobenen Puderquaste in der Hand leicht auf dem Stuhl um.
"Mina?"
"Ja?"
"Ist Ettark bewusst, dass du gestern, also, dass... ich meine, nicht dass er vermutet... du hast wirklich ausgerechnet ihm schöne Augen gemacht?!"
"Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für sowas, wirklich nicht. Du musst dich beeilen! Wir reden ein andermal darüber!"
Mina flüchtete aus dem Raum und eilte auf die Gangecke des Wachhausflures zu.
Alles andere hat sie vergessen, nur das nicht? Was bin ich doch für ein Glückspilz! Die Gelegenheit, darüber zu reden, werde ich zu vermeiden wissen. Was sollte ich auch sagen? Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ernst er den Vorfall nimmt! Und ich bin auch nicht darauf erpicht, diese Sache neuerlich zu thematisieren, falls er mein unangemessenes Verhalten schon als bedeutungslos abgetan hat!
Allein diese Überlegungen ließen sie nervöser werden, als sie es sollten.
Um der Ahnen Willen! Wie lächerlich! Diese schleichenden Gedanken... man beginnt nicht aus einer sich… aufdrängenden Laune heraus und ohne jede Grundlage urplötzlich, jemanden anzuhimmeln! Das ist doch absurd! Wieso nur hält sie so daran fest?
Hinter der Kurve öffnete sich die Tür zu Araghasts Büro. Mehrere Stimmen traten heraus und erlösten sie von den quälenden Fragen. Der Kommandeur klang ungewohnt freundlich.
"... denke ich, werte Frau Ziegenberger, dass du deine Tochter bestens bei uns aufgehoben vorfinden wirst. Und falls noch irgendetwas sein sollte, dann sage einfach Bescheid. Du weißt ja, wo du mich findest. Frau Kasta, Herr Ziegenberger... auf Wiedersehen!"
Die Tür fiel ins Schloss und Mina konnte im allgemeinen Klangteppich aus den unteren Stockwerken ein triumphierendes "Hatte ich es nicht gesagt?" heraushören.
Dann trat sie auch schon selbst um die Ecke.
Sie hätte Ophelias Familie auch ohne einen Hinweis darauf, dass diese sich im Wachhaus befände, sofort erkannt. Die selbstbewusste Menschenfrau mittleren Alters, die ihr auf dem Flur entgegen kam, beidseitig von einem Herrn und einer deutlich jüngeren Frau eskortiert, ließ keinen Zweifel daran. Sie hatte die gleichen sanft geschwungenen Augenbrauen, die gleichen nebelgrauen Augen wie Ophelia und sie trug auch den gleichen schimmernden Bordeaux-Farbton im kunstvoll hochgesteckten Haar, genauso wie ihre Tochter wenige Schritte entfernt. Nur der Gesichtsausdruck der Mutter unterschied sich deutlich von demjenigen der Anderen. Diese Frau machte keinen Hehl daraus, dass sie bekam, was sie wollte. Und zwar sofort!
Uuuh, das wird keine leichte Aufgabe werden.
Mina trat entschieden auf die Dame zu, reichte ihr die Hand, strahlte sie über’s ganze Gesicht an und ignorierte deren sekundenschnellen und extrem kritischen Ganz-Körper-Blick.
"Eine Verwechslung ist nicht möglich; die Familie Ziegenberger! Herzlich willkommen im Wachhaus am Pseudopolisplatz. Ophelia hat mir ihr Kommen bereits angekündigt und mich gebeten, sie für einige Minuten zu vertreten. Von Nachtschatten mein Name, es ist mir eine Freude, die werten Eltern kennen zu lernen! Und natürlich ihre Schwester, wenn ich richtig vermute?"
Die jüngere der beiden Damen nickte mit einem distanzierten Lächeln und knickste.
Ophelias Vater deutete einen Diener an und hätte dazu vermutlich auch dem Impuls stattgegeben, ihr in alter Schule einen Handkuss zu entbieten – wenn seine Frau sie losgelassen hätte! Doch die Dame hielt Minas Hand kräftig umschlossen mit ihren schmalen Fingern. Gar nicht ängstlich zog sie sie daran etwas näher zu sich heran. Sie hob Minas Arm etwa auf Schulterhöhe von sich, als wenn sie ein kleines Kind zu einer spielerischen Pirouette auffordern wollte. Der taxierende Blick, der sie nun gründlich von Kopf bis Fuß musterte, wollte nicht so recht zu den Worten der Menschenfrau passen. Ophelias Mutter erinnerte Mina in ihrem gesamten Gebaren erschreckend an die eigene ältere Verwandte daheim, an Gloria.
"Von Nachtschatten also? Sie sind die... Dame, die in die Räumlichkeiten meiner Tochter Einzug gehalten hat, seitdem diese sie aufgrund der Umstände nicht mehr nutzen kann?"
Mina brauchte einen Moment, um das fest betonierte Lächeln auf ihrem Gesicht zu halten und die richtigen Worte zu finden. Die Worte, die das Gespräch am Laufen halten würden. Sie musste sich Mühe geben, gleichgültig, wie müde sie war. Sie hatte es Ophelia versprochen!
"Ja, eben jene. Mina ist mein Vorname."
Frau Ziegenberger warf ihrem Mann einen bedeutungsvollen Blick zu, ehe sie ihre Hand mit spitzen Fingern losließ und mit deutlicher Überbetonung anmerkte:
"Du scheinst zur rechten Zeit am... günstigsten Ort gewesen zu sein. Um ihr eine Hilfe zu sein. Vermute ich. Eventuell. Auch wenn ich beim besten Willen nicht verstehen kann, wie Ophelia ausgerechnet eine... eine weitere Kollegin als Ersatz für diese Igorina dazu auswählen musste!"
"Kathrine! Ich bitte dich!"
"Ja, ja... ich weiß schon. Ich soll dankbar sein, für die Fürsorge hier, die sie meiner Kleinen zukommen lassen. Lächeln und Winken. Selbstverständlich."
Mina spürte ein selten empfundenes Gefühl in sich aufkommen: Wut! Es war nicht zu überhören gewesen, dass Ophelias Mutter anstelle des Begriffes "Kollegin" ein abwertendes "Vampirin" hatte einfügen wollen. Sie war intelligent genug, um Vorurteile zu erkennen, wenn sie ihnen begegnete.
Na toll! Auch das noch! Mir bleibt heute aber auch nichts erspart.
Sie konzentrierte sich auf den Grund dafür, die Familienangehörigen nicht einfach mitten auf dem Flur stehen zu lassen und wandte sich stattdessen schlicht den beiden anderen zu, zuvorderst dem Vater.
"Soweit ich weiß, wart ihr noch nicht oft zu Gast im Wachhaus? Ich darf euch auf einen kleinen Rundgang durch unsere Abteilungen begleiten. Wenn du mir folgen würdest, Herr Ziegenberger? Das Büro des Kommandeurs kennt ihr ja jetzt schon. Was übrigens ein ziemliches Privileg ist. Der Kommandeur lässt nicht jeden vor, normalerweise nimmt er Gespräche mit anderen Bürgern eher in den Verhörzellen oder am Tresen in Empfang. Dort haben wir auch einen kleinen Besprechungsraum an der Seite. Ich zeige euch gerne, wie es dort aussieht..."
Und damit schritt sie ihnen kurzerhand voran. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie den wortlosen Schlagabtausch zwischen Herrn und Frau Ziegenberger, der so viel besagte wie: "Ich will aber zu Ophelia, warum soll ich damit warten? Ich weiß doch, wo ihr Zimmer liegt." Und "Nun führe dich bitte nicht wieder dieserart auf! Gib dem Mädchen doch eine Chance, nett zu uns zu sein. Unsere Tochter läuft uns hier schon nicht weg."
Mina beschloss spontan, fortan vor allem mit ihm zu reden.
So gut die Idee eines Rundgangs ihr als Notfalllösung zuerst erschienen war, desto mehr wurden ihr nach und nach deren Nachteile bewusst, je länger die Führung andauerte. Zum einen mochte das an der generellen Scheu der Kollegen liegen, so direkten Einblick in ihre Arbeit zu ermöglichen. Mehr als eine Tür schloss sich schneller wieder vor ihnen, als sie sie hatte öffnen können. Zum anderen würde sie gegen Abend dann vermutlich selber gegen Vorurteile zu kämpfen haben, den Blicken der Kollegen nach zu schlussfolgern, die von verwundert, über schockiert, verwirrt, hilflos, beschämt bis hin zu anzüglich reichten. Sie gab es innerlich auf, sich heute noch schnellstmöglich umziehen zu wollen.
Nun ist es auch egal...
Wenn dann aber zu allem Überfluss auch noch Ophelias Name ins Spiel kam und sie ihren Gesprächspartnern die Gäste als deren Eltern vorstellte...
"Nimm es mir bitte nicht übel, Fräulein von Nachtschatten, aber ich werde jetzt meine Tochter aufsuchen. Es fällt sicherlich mehr in deinen Aufgabenbereich, darüber Bescheid zu wissen, wo in diesem grässlichen Raum namens Kantine das Geschirr abzugeben ist oder welche Maultiere in diesem stinkenden Stall neben den noch übler riechenden Aborten stehen... aber gewiss nicht in den unseren. Ich habe die Besuchserlaubnis deines Vorgesetzten und warum auch immer du uns von meiner Kleinen fernhalten möchtest, es ist genug! Sei es mit deren Zustimmung oder ohne, wir werden uns nicht länger hinhalten lassen."
Mina sandte, ohne dies verhindern zu können, einen stark frustrierten Impuls aus und wollte schon nach neuen Argumenten suchen, um die Sippschaft der Kollegin aufzuhalten, als sie unterschwellig so etwas wie einen emotionalen Stupser fühlte. Gab Ophelia ihr auf diesem Wege etwa zu verstehen, dass sie ihr die Bürde nun abnehmen wollte? Sie war sich nicht sicher. Aber da die Mutter ohnehin zu allem entschlossen schien, nahm sie es erleichtert an.
Sie nickte und wies den Weg zurück.
"Wie du wünschst, Frau Ziegenberger. Dann eben hinauf."
"Und ob ich wünsche! Darauf kannst du Gift nehmen, Fräulein!"
Sie konnte gar nicht so schnell gucken, wie die Dame auf dem Absatz kehrt machte und nun rigorosen Schrittes voranschritt. Sie schaffte es mit Müh und Not, Ophelia auf mentalem Wege mit einem drängenden Habachtgefühl vorzuwarnen, als Frau Ziegenberger bereits an der Tür anlangte und diese nach minimalem Anklopfen schwungvoll öffnete.
Ophelia stand geradezu vor dem Fenster, als wenn sie nur darauf gewartet hätte, sie alle zu begrüßen.
Eine minimale Bewegung linkerhand dieser Szene verriet Mina, dass das vermutlich eher daran lag, dass Ophelia soeben noch den kleinen Spiegel wieder an seinen Platz dort gehangen haben musste.
Frau Ziegenberger eilte ihrer Tochter entgegen und schloss sie herzlich in die Arme.
"Ophelia, mein Schatz!"
Die ehemalige Verdeckte Ermittlerin erwiderte die Umarmung deutlich zaghafter und lächelte matt. Sie sah ihnen über die Schulter der Mutter hinweg entgegen und Mina kam nicht umhin, in ihrem Blick all die Gefühle gespiegelt zu sehen, die ihr seit dem Betreten des Zimmers auch wieder sehr viel direkter entgegen schlugen: Hilflosigkeit, Mattigkeit, Verwirrung und Schuld. Aber vielleicht sah nur sie selber diese so deutlich?
Ophelias Mutter trat einen Schritt von dieser zurück und hielt deren Arme seitlich an den Händen gefasst in die Höhe, ähnlich der Geste, die Mina eben über sich hatte ergehen lassen müssen.
"Gut schaust du aus, Kleines! Hast du etwa abgenommen? Das sieht mir doch fast so aus! Eine Nummer oder sind das sogar zwei? Da lässt sich ja einiges enger schnüren. Das gibt eine schöne Taille!"
Sie trat wieder näher und tätschelte der ehemaligen stellvertretenden Abteilungsleiterin von RUM die Wange, dann ließ sie von ihr ab und gab damit ihrem Mann und der älteren Tochter die Gelegenheit, Ophelia ebenfalls mit Umarmungen zu begrüßen.
Mina beobachtete die familiäre Szene mit einem merkwürdigen Gefühl im Magen, wie der Vater seine Jüngste dabei dermaßen an seiner Brust barg, als wenn er ein Küken vor dem Unheil der Welt schützen wolle. Und wie die große Schwester der jüngeren die Hand mit intensivem Blick an die Wange legte und ihr tief in die Augen sah, ehe sie ihr die losen Strähnen hinter das Ohr strich.
Frau Ziegenberger hatte die Zeit inzwischen genutzt, um ihren Mantel abzulegen und dabei in einem endlosen Strom leicht vorwurfsvoll klingender Worte ihre Ansichten kund zu tun.
"Du hättest dich wirklich regelmäßiger melden können. Weißt du eigentlich, wie wir uns Sorgen machen? Erst recht jetzt, mit all diesen schrecklichen Gerüchten! Pätrischa wäre ja zu gerne mit uns mit gekommen, um dir die Leviten zu lesen, das kannst du dir denken, nicht wahr? Aber selbstredend kam das nicht in Frage. Du weißt ja, wie sehr sie diese Einrichtung mit all dem Trubel und Abschaum verabscheut. Unser Glück! Sie wäre sonst vermutlich außerordentlich anstrengend geworden."
Die rothaarige Dame wandte sich ihr zu und winkte sie mit abfälligem Blick fort.
"Vielen Dank, meine Liebe, wir kommen zurecht. Du kannst jetzt gehen."
Seitens Ophelia überflutete Mina eine Welle heißen Schamgefühls und die junge Frau unterbrach ihre Mutter augenblicklich.
"Nein... Mutter, ich würde gerne... mir geht es immer noch nicht so gut und Mina hatte sich dankenswerterweise angeboten, ein Auge auf mich zu haben. Sie war überaus freundlich zu mir, als es mir in den letzten Stunden so auf den Magen geschlagen hat, dieses... nicht so Gute."
Ophelias Beistand heischender Blick besänftigte Mina augenblicklich wieder, ebenso wie deren einsetzenden Dankbarkeits-Schauer.
Frau Ziegenberger blickte sie skeptisch an.
"Ach? Ist das so? Du möchtest ausgerechnet so eine bei dir haben, um nicht alleine mit uns reden zu müssen?"
Sie konnte spüren, wie Ophelia um eine unverfängliche Formulierung rang – und daran scheiterte. Ihr sonst beinahe sprichwörtliches Talent, Ausreden und Halbwahrheiten in ihren Einsätzen zu kunstvollen Wortgebilden zu verflechten, deren Gehalt trog, war ihr offenbar durch die Strapazen der letzten Stunden vollständig abhanden gekommen. Sie flüsterte nur betroffen:
"Mina ist nicht so, wie du denkst."
Kathrine ließ sich nicht erweichen.
"Sie ist also kein Vampir?"
"Doch, natürlich ist..."
"Du meinst also, dass du inzwischen unverwundbar bist? Oder dass das jetzt keine Rolle mehr spielt? Ich frage mich, wann du an dem Punkt angekommen bist, dass du es als richtig empfindest, wenn ein Untoter ein Auge auf dich hat? An guten Erfahrungen kann es jedenfalls nicht liegen."
Der Moment war bereits vertan, doch die Vorwürfe der Mutter stürzten Ophelia merklich in immer größere Erklärungsnot, ohne dass sie die dazu nötige Konzentration hätte aufbringen können. Mina bemühte sich, zu Ophelias Gunsten einzugreifen und die Mutter von ihr abzulenken.
"Sie hat etwas Verdorbenes gegessen gestern Abend, was ihr gar nicht gut bekommen ist. Ich bin bei ihr, um aufzupassen, ob sie noch etwas braucht. Ich nehme nicht an, dass du die Schüssel halten möchtest, falls sie einen Rückfall erleiden sollte?"
Der Blick der Mutter war so sengend wie Drachenatem. Dann schien Kathrine Ziegenberger von einem Moment auf den nächsten zu entscheiden, dass sie ihrer Aufmerksamkeit nicht mehr würdig wäre. Sie wandte sich ihrer jüngsten Tochter zu, die es gerade so noch schaffte, mit einer einladenden Geste der Wortflut zuvor zu kommen, so dass sie sich unauffällig auf einen der Stühle fallen lassen und sich den Fragen sitzend "stellen" konnte.
"Ophelia, wir haben Grauenvolles vernommen! Du weißt, dass ich von diesem neumodischen Kram, mit den Klackernachrichten an diesen öffentlichen Bekanntmachungsbrettern, noch nie etwas gehalten habe. Aber was deine Schwester uns da heute zum Frühstück an Neuigkeiten kredenzte, das verschlug mir die Sprache! Was bitteschön, mein wertes Fräulein, treibst du hier, wenn ich das mal so deutlich fragen darf? Und glaube mir: Ich darf! Ich bin deine Mutter. Deine Mutter! Und ich erfahre quasi von der Straße, dass du ein uneheliches Kind mit diesem Grobling erwartest, diesem glatzköpfigen Kollegen da, mit dem du dich angeblich nicht einmal gut verstanden hast?! Ich bin empört, junge Dame, empört!"
Sie ist schwanger? Von Ettark?!?
Das Gefühl schockierten Entsetzens hallte im Raum wieder, wie ein Echo, das immer und immer wieder von Felswänden zurückgeworfen wurde. In der nächsten Sekunde schüttelte Mina innerlich über sich den Kopf.
So ein unglaublicher Unsinn! Was für eine dreiste Lüge! Reggie und Aaps, wenn ich die beiden in die Finger bekomme!
Und dann:
Wenn Ettark von diesen Gerüchten erfährt…
Sie stellte sich unweigerlich die Reaktionen der Kollegen vor. Selbst wenn man voraussetzte, dass diese davon wussten, dass an dem Hören-Sagen nichts Wahres dran sein konnte...
Der Ärmste! Jetzt rächt sich seine Hilfsbereitschaft auch noch auf diesem Wege. Ophelia hat vermutlich Recht. Das wird er ihr nachtragen.
Mina sah durch den Raum zu Ophelia. Vermutlich kam diese soeben zu dem gleichen Schluss, denn dem Blinzeln gesellte sich ein schweres Schlucken hinzu. Sie schüttelte fassungslos den Kopf und wollte irgendetwas entgegnen, als ihr Vater sich über den Tisch vorbeugte und ihre Hand beruhigend mit der seinen umfasste. Er unterbrach seine Frau mit ruhiger aber bestimmter Stimme.
"Kathrine, du siehst doch, dass das Unsinn ist. Du hast vor noch nicht einmal fünf Minuten selber festgestellt, dass sie regelrecht abgemagert ist, wie soll sie da nun plötzlich ein Kind erwarten? Phillie, nimm es mir bitte nicht übel, mein Herz. Aber im Gegensatz zu deiner Mutter habe ich nicht den Eindruck, dass es dir gut geht. Nicht, wegen eines verdorbenen Abendessens. Du bist viel zu dünn geworden und noch blasser als sonst. Haut und Knochen. Und dieses ganze Farbzeug in deinem Gesicht kann mich nicht davon ablenken, dass du deutlich übernächtigt bist. Du zitterst sogar! Nein, ich weiß, wie sich die Schwangerschaften auf deine Mutter auswirkten und selbst mit der obligatorischen Morgenübelkeit... Ich weiß ja, dass du es derzeit nicht leicht hast und dass diese Behandlungen sein müssen, um dich zu schützen. Das hat uns der Kommandeur freundlicherweise bereits gut erklärt. Aber ich habe Sorge, dass ihr es vielleicht etwas übertreibt. Du bist immer noch mein Augenstern, Kleines. Du siehst nicht gut aus. Phillie, du bist einfach nicht gesund genug dafür, ein heranwachsendes Leben in dir zu tragen. Allein deswegen gehe ich davon aus, dass auch alle anderen Gerüchte böswillige Unterstellungen sind und nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen. Es wäre natürlich trotzdem gut, wenn du uns erklären könntest, wie es zu einem dermaßen öffentlichen Rufmord an dir kommen kann. Ohne, dass du reagierst und etwas dagegen unternimmst!"
Mina spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen und stählte sich augenblicklich, gegen Ophelias emotionale Springflut.
Diese zuckte sofort zusammen und schaute zu ihr hinüber.
Entschuldige, aber ich werde ganz sicher nicht vor deiner Mutter in Tränen ausbrechen!
Auch wenn Ophelia diesen Gedanken nicht hören konnte, sie mühte sich sichtlich, ebenfalls Haltung zu bewahren. Vielleicht, um es ihr leichter zu machen? Mina meinte fast so etwas wie Glorias Kommentar dazu zu vernehmen: Und du willst mir weismachen, du hättest noch einen objektiven Blick auf das Geschehen? Das, worauf du dich da eingelassen hast, das nennt sich Freundschaft! Etwas, was man unsereinem vorbehalten sollte. Ich bitte dich: Freundschaft mit einem Menschen? Du schaufelst dir dein eigenes Grab, Mina!
Noch bevor Ophelia auf die vernünftige Bitte ihres Vaters eingehen konnte, meldete sich ihre Schwester zu Wort. Dschosefien Kasta legte ihre Handtasche in einer entschiedenen Geste auf den Tisch vor sich ab.
"Ophelia, ich muss dir leider sagen, dass du ein echtes Problem hast. Wer auch immer für diese Lügen verantwortlich ist – er muss zur Rechenschaft gezogen werden! Öffentlich! Es muss ein klares Dementi deinerseits geben, in welcher Form auch immer. Die Gerüchte haben sich in Windeseile ausgebreitet und es ist beileibe nicht nur dein eigener Name, oder der unsere, der damit in den Schmutz gezogen wird. Ich möchte den Wortlaut ganz sicher nicht wiederholen aber er hängt mir seit dem frühen Morgen in mehreren verschiedenen Variationen in den Ohren. Vor etwa anderthalb Stunden erhielt ich sogar eine entsprechende Nachricht von meinem Mann, aus dem Palast, der mich darin fassungslos fragte, ob es denn wahr sei, was man sich in den Sekretärstuben über Herrn Flanellfuß und dessen Geliebte erzählen würde? Ob meine Schwester diesem außerordentlich zuverlässigen Gentleman leichtfertig die Narrenkappe aufgesetzt und ihm ein Kuckucksbalg untergeschoben hätte? Wirklich, Liebes, wenn dir auch nur das Geringste an ihm liegt, dann unternimm etwas!"
Mina fühlte sich mit einem Male so schwach in den Beinen, dass sie sich an der geschlossenen Tür hinter sich anlehnen musste.
Ophelia wisperte mit schwacher Stimme:
"Ja, natürlich. Ich werde was unternehmen. Ich muss... ich... werde auch etwas schreiben. Dagegen. Mir liegt viel an Rach."
Hätte Mina nicht zufälligerweise genau in diesem Augenblick in deren Richtung gesehen, wäre ihr wohl das triumphierende Aufblitzen in den Augen der Mutter entgangen. Aber selbst dann... die schnelle Bewegung, mit der Kathrine sich näher beugte, sagte mehr als tausend Worte.
"Sind denn ausnahmslos alle Gerüchte substanzlos? Oder gibt es Ausnahmen? Erfreuliche Ausnahmen? Gegen die Verlobung einer gewissen Tochter mit einem gewissen Herrn aus gutem Hause hätte ich natürlich nichts einzuwenden. Und hat er sich heute bereits gemeldet? Denn eines muss dir klar sein, Ophelia: Falls er diese kleine Tändelei mit dir wirklich so unerwartet verbindlich angehen möchte und das auch immer noch... dann halte ihn dir auf jeden Fall warm! Nach diesem nächtlichen Desaster, diesem schrecklichen Skandal, bist du nun auf dem Heiratsmarkt chancenlos. Ich meine, seitdem dieser Tschentowitsch sich an dir vergangen und diese Narben hinterlassen hat, hätte es so oder so eines Wunders bedurft, um noch eine einigermaßen ansehnliche Partie für dich zu finden. Aber ich bin ja treusorgende Mutter mit Herz und Seele und habe die Hoffnungen für dich nie aufgegeben. Immerhin spricht bis auf deine Sturheit ja zumindest dein Charakter für dich..."
Es klopfte hinter ihr am Holz und Mina fuhr erschrocken auf, um die Tür zu öffnen. Die Rekrutin von zuvor grinste sie entschuldigend an.
"Ich bin’s wieder. Ich soll nur vom Kommandeur daran erinnern, dass es immer noch in ihrem Sinne wäre, wenn sie die Gerüchte richtig stellen würde. Ähm, ja, hab’ ich hiermit ausgerichtet, ne? Und weiter viel Glück da drin und so!"
Ophelia wartete das Türenschließen ab, um mit einer gewissen Aufregung von dem einzig positiven Aspekt des Abends zu berichten, als es hinter ihr an der Fensterscheibe flatterte, dagegen schlug und pochte.
"Was...."
Mina war bereits durch das Zimmer geeilt, hatte das Fenster geöffnet und nach der Taube gegriffen. Sie kontrollierte deren Fuß und las vom Röhrchen den Empfänger ab. Sie sah erstaunt auf.
"Ophelia? Post vom Boucherie? Warum bekommst du... also, ich meine, darfst...", sie blickte verunsichert zu den aufmerksamen Eltern und hielt inne.
Ophelia lächelte schief.
"Das ist nur Mistvieh. Senray schreibt mir ab und an. Vermutlich fragt sie wieder nach irgendeinem Kleidungsschnitt. Du kannst die Nachricht auf dem Schreibtisch ablegen. In der Schublade findest Du Körner zur Belohnung. Sie fliegt auch ohne Antwort wieder zurück."
Dschosefien Kasta wirkte verärgert über die Störungen, Ophelias Mutter hingegen vor allem verwirrt über den Umstand des Schreibens.
"Eine Kollegin belästigt dich mit solchen Fragen, als wenn du ihre persönliche Schneiderin wärest?"
Ophelia löste ihre Hand aus der ihres Vaters und rieb sich erschöpft damit über das Gesicht.
"Nein, nicht in der Art. Wir tauschen uns aus über..."
Die beiden Damen in der Tischrunde schnappten gleichzeitig nach Luft und Ophelias Mutter klatschte sich vor Entzücken in die Hände.
"Ich wusste es! Wie hätte er meiner kleinen Ophelia auch widerstehen können? Oh, Dschosie, siehst du den Ring? Das ist ein echter Stein! Und die Fassung ist auch antik! Hat er dir zu diesem Anlass etwa ein Erbstück anvertraut? Mein armes, schwaches Herz! Das ich das noch erleben darf!"
Und die große Schwester hielt sich beide Hände vor den Mund, während sie hoffend und mit viel zu schnellem Atem fragte:
"Ophelia, stimmt es wirklich? Hat er um deine Hand angehalten? Hast du ja gesagt?"
Ophelia blickte verwirrt auf und für einen winzigen Sekundenbruchteil war es nur für Mina deutlich, dass sie nicht nur so tat, als wenn sie den Faden in der Konversation verloren hätte. Das alles war einfach zu viel für sie.
Dann war es ihr Vater, der sie mit leiser Stimme ins Hier und Jetzt zurückholte.
"Liebst du ihn, mein Herz?"
Ophelia sah ihren Vater an und nickte.
"Mit allem was ich bin und was ich habe, Vater. Und er liebt mich. Ich... ja, ich hatte seinen Antrag angenommen."
Während Ophelia und deren Vater sich wie in einer Seifenblase gefangen schweigend aber lächelnd ansahen, waren ihre Mutter und ihre Schwester kreischend aufgesprungen.
Die Taube flatterte der Vampirin erschrocken aus den Händen und begann, dicht unter der Zimmerdecke panische Kreise zu ziehen und Federn zu lassen, die wie flaumiger Schnee von oben herabfielen.
Mina hielt sich schnell die Ohren zu, gleichgültig, wie unhöflich es wirken musste.
Kreischende Frauenstimmen und polterndes Gehopse aus dem Zimmer 214. Genau, was uns noch gefehlt hatte. Man hat sich ja sonst nichts zu erzählen.
Hätte sie noch vor der Tür gestanden, so wäre ihr diese nun in den Rücken geschlagen. Denn gehört hätte sie es nicht, dass diese sich in eben diesem Moment öffnete.
Rach Flanellfuß stand im Rahmen und sein Blick suchte den Ophelias.
Ophelia stand schnell auf, vermutlich nicht einmal mit einem klaren Vorsatz vor Augen. So oder so hätte dieser sich erübrigt, denn sie war für ihre körperliche Verfassung nach der letzten Nacht eindeutig zu schnell aufgestanden – und fiel prompt in Ohnmacht.
Mina reagierte in derselben Sekunde, in der sie ihr Bewusstsein schwinden spürte und war zur Stelle, um sie aufzufangen.
Ihr Vater rief erschrocken und auch die beiden Frauen schnappten nach Luft.
"Phillie!"
"Was hat sie denn?"
"Ophelia?"
Rach war keine Sekunde darauf ebenfalls an ihrer Seite und fühlte bereits ungefragt Ophelias Puls.
"Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte."
Er warf Mina einen besorgten Blick zu, aus dem sie tausende Fragen abzulesen meinte, die er sich aber in Anbetracht der anderen Anwesenden nicht zu stellen traute.
Sie atmete tief durch.
"Keine Sorge! Sie ist nur zu schnell aufgestanden. Nach der letzten Nacht ist ihr Kreislauf nicht der beste. Sie hat etwas... Verdorbenes zu sich genommen und bereits Einiges hinter sich. Aber es geht ihr schon deutlich besser. Ich bring sie wieder ins Bett, das wird wohl das Beste sein."
Rach streckte ihr beide Arme entgegen.
"Ich kann das machen!"
Doch sie schüttelte nur grinsend den Kopf.
"Es geht schon. So schwer ist sie nicht. Mir wäre es lieber, wenn ihr euch miteinander bekannt machen könntet."
Sie hob Ophelia vorsichtig auf ihre Arme und trug diese zum Bett hinüber. Dabei nickte sie von Rach, der sich soeben wieder aufrichtete und den Anzug glatt strich, zu den anderen drei Anwesenden.
"Herr Ziegenberger, darf ich dir Herrn Flanellfuß vorstellen?"
Ophelias Vater zuckte unmerklich zusammen. Dann sah er seinem voraussichtlichen Schwiegersohn ernsthaft entgegen und ging nach einem letzten Zögern mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. Die beiden tauschten schweigend einen festen Händedruck und auf Kathrine Ziegenbergers Gesicht breitete sich ein seliges Lächeln aus. Der Ältere der beiden Herren räusperte sich mühsam.
"Auch wenn das bei einem solchen... ersten Treffen gewiss kein üblicher Gesprächseinstieg ist... ich gehe davon aus, dass du, junger Mann, von den... Dingen gehört hast, die man meiner Tochter heute Nacht unterstellt hat. Zumindest würde es deinen ungewöhnlich frühen Vormittagsbesuch hier bei ihr erklären. Immerhin giltst du meines Wissens als vielbeschäftigt. Jedenfalls... es ist mir ein dringendes Anliegen, dir zu versichern, dass an diesen Gerüchten nichts Wahres dran ist! Ophelia ist kein leichtfertiges Ding, so habe ich sie nicht erzogen! Sie hat in ihren Briefen der letzten Zeit deutlich gemacht, dass es neben dir keinen Anderen gab, um den ihre Gedanken sich in dieser Art von Zuneigung drehen. Sie...", er musste sich offensichtlich dazu zwingen, den Blick aufrecht zu erhalten, auch wenn seine Stimme bei den Worten zu kippen drohte, "Meine Tochter ist... sie ist nicht... schwanger!"
Mina bettete Ophelia sachte auf den Kissen, die gerade erst etwas hatten lüften können. Dabei blickte sie zu den Ziegenbergers hinüber, die unter höchster Anspannung auf Rach Flanellfuß´ Reaktion warteten.
Dieser stand sehr aufrecht vor dem familiären Dreiertribunal und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
"Herr und Frau Ziegenberger, Madame Kasta! Es ist mir eine Ehre, diejenigen Menschen kennenzulernen, die Ophelia am nächsten stehen. Du gehst recht in der Annahme, dass ich wegen dieser unverschämten Scheußlichkeiten hergeeilt bin, um nach ihr zu sehen. Und selbstverständlich war mir bewusst, dass das alles Lügen sind, die da zu ihren Lasten verbreitet werden. Bis auf eine Sache..."
Der junge Mann grinste plötzlich.
"Das mit der Verlobung stimmt."
Ronald Ziegenberger musste sich deutlich hörbar räuspern und zwinkerte hastig, als wenn ihm ein Staubkorn ins Auge geflogen wäre. Die beiden Damen hinter ihm warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu.
Der junge Mann straffte sichtlich die Schultern und wurde ernst.
"Herr Ziegenberger... ich kann mir keine bessere Gelegenheit vorstellen, um deiner Tochter das Versprechen zu geben, dass alles sich zum Guten wenden wird. Ich bin fest entschlossen meinen Anteil dazu beizutragen. Ich liebe Ophelia und daran werden auch doppelt so viele Schmierfinken nichts ändern. In diesem Sinne... darf ich bei dir um die Hand deiner Tochter anhalten?"


MINA VON NACHTSCHATTEN

In gespannter Erwartung saß Diez hinter dem Wachetresen und wartete darauf, dass etwas passierte. Irgendetwas. Eine Kleinigkeit vielleicht, das wäre vollkommen ausreichend, solange sie dazu beitrug, ein wenig Licht in gewisse Vorgänge zu bringen. Tatsächlich war die Haltung des Rekruten am ehesten mit der gespannten Feder eines frisch aufgezogenen Uhrwerks zu vergleichen: Irgendwann würde es ermüdend werden, mit gespitzten Ohren jeden vorbeigehenden Kollegen genau zu taxieren - nach Möglichkeit auch noch unauffällig - doch dieser Zeitpunkt lag ein gutes Stück in der Zukunft. Jetzt lauschte er aufmerksam, bereit noch jedes Fitzelchen an Information aufzunehmen, zu analysieren, auszuwerten. Selbst die verhältnismäßige Ruhe im Wachhaus konnte Diez nicht von seiner Überzeugung abbringen, dass Dinge geschahen. Zumindest redete er sich das selbst ein, verbunden mit dem Eingeständnis, dass eben diese Dinge ihn eigentlich nichts angingen. Aber verflixt, dies war so viel spannender als der öde Tresendienst! Außerdem hätte er dann in der Kröselstraße etwas zu erzählen! Obwohl die Ausläufer der Gerüchteküche ihren Weg auch in diese Außenstelle der Stadtwache fanden - man war eben nicht am unmittelbaren Puls der Ereignisse. Auf der anderen Seite konnte man allerdings auch wesentlich offener tratschen und spekulieren; die Chance, dass ein Vorgesetzter um die Ecke kam und dieses Gemunkel mit einem strafenden Blick quittierte, war um ein Vielfaches geringer als hier. Und seit Ambrosia und Nathan mit derart sonderbaren Berichten der gestrigen Nacht sämtliche Aufmerksamkeit unter den Rekruten auf sich gezogen hatten, war man an weiteren Details definitiv interessiert. Natürlich, die Geschichten wiesen einige Löcher auf und der Rest waren nach wie vor Gerüchte, deren Quellen hinsichtlich Vertrauenswürdigkeit zum Teil fraglich waren... aber es tat doch keinem weh, versuchte man diese Lücken zu füllen. Das nannte man Recherche oder so. Konnte zu Richtigstellungen führen. Ganz abgesehen davon war Diez auch viel zu neugierig, um die Sache einfach abzutun. Einmal angesteckt gab es kein Halten mehr. Er kannte sich zu gut, um auch nur zu versuchen, dagegen anzugehen.
Der Rekrut warf dem mit ihm diensthabenden Wächter einen scheelen Seitenblick zu. Barlor Kurzbart döste. Obwohl, eigentlich war das nicht ganz richtig – dieses Stadium hatte der Zwerg schon vor einigen Minuten hinter sich gelassen und war nunmehr vollends ins Traumland hinüber geglitten. Es war wohl seiner geringen Körpergröße zuzuschreiben, dass noch niemand Notiz von ihm und seiner Art und Weise genommen hatte, die Zeit auf diesem Posten totzuschlagen. Selbst das leise Schnarchen hatte anscheinend genau die richtige Frequenz, um sich glaubhaft als unschuldiges Hintergrundgeräusch zu tarnen, welches vom Gebäude an sich einfach geschluckt wurde. Er war Diez keine große Hilfe.
Nichtsdestotrotz, immerhin wäre so ein Ansprechpartner am Tresen anzutreffen, zumindest was körperliche Anwesenheit betraf. Allerdings hatte sich während ihrer heutigen Schicht noch kein Bürger hierher verirrt und mit ein wenig Glück würde das so bleiben. Diez spähte in die Runde, glitt dann von seinem Schemel herunter und ging einige wenige Schritte, durch die Schwingtür, tiefer ins Innere des Wachhauses. Er hatte festgestellt dass, wenn er sich an einer bestimmten Stelle in unmittelbarer Treppennähe platzierte, Gespräche aus den oberen Etagen gelegentlich bruchstückhaft bis ins Erdgeschoss drangen. Es bedurfte selbstredend auch der glücklichen Positionierung der sich unterhaltenden Kollegen, aber das Echo im Treppenhaus war auf seine Art leidlich zuverlässig. Man musste nur wissen, wie man es anstellte. Auch heute schon hatte es so manches Wort an Diez Ohren transportiert... aus denen er zwar auch nicht viel schlauer geworden war, aber immerhin:
"Es... nur so... überlegt, den... heute..."
"...noch einmal versuchen? Nachdem..."
"...lieber... lassen... Wahl? Breguyar... anders als..."
"Denkst du..."
"Ich... Bestes..."
"...mir Bescheid..."
Dann war Chief-Korporal Holm um die Ecke gebogen und der Rekrut hatte schnell so tun müssen, als würde er sich nur mal eben die Füße vertreten. Er hatte die Stimmen natürlich nicht zuordnen können und es bestand auch kein Anlass davon auszugehen, dass es bei dem kurzen Austausch nicht um irgendeinen Fall gegangen war. Aber es konnte auch genauso gut der Ziegenberger-Rettungszirkel gewesen sein, der sich über seine nächsten Schritte absprach. Die Möglichkeit stand doch immerhin im Raum, oder? Diez fuhr sich nachdenklich über seine Bartstoppeln. Der Ziegenberger-Rettungszirkel - jetzt schon ein geflügeltes Wort. Zu gern hätte er mehr gewusst...
Der junge Wächter hatte seinen Lauschposten mittlerweile erreicht und horchte mit angehaltenem Atem nach oben. Doch alles was bis zu ihm durchdrang war das Geräusch von Schritten und das Klacken einer zufallenden Tür. Daneben wummerte irgendwo dumpf die Presse der Rohrpost, verstummte aber nach nur wenigen Augenblicken wieder. Nun ja, man konnte eben nicht jedes Mal Glück haben. Diez überlegte gerade, ob er es riskieren konnte, noch eine Weile hier zu verharren, als eine Stimme seine Aufmerksamkeit in den Eingangsbereich des Wachhauses zurücklenkte.
"Äh... Verzeihung, hallo?"
Es überlief den hochgewachsenen Wächter kurz nacheinander heiß und kalt und er beeilte sich, seine Schritte zum Tresen zurückzulenken. Hatte eines der Geräusche eben von der sich schließenden Wachhaustür hergerührt? Ein Blick reichte, um diese Überlegung zur Gewissheit werden zu lassen und gleichzeitig schickte Diez ein stilles Dankgebet an die Gottheit, die gerade zuhörte, dass kein Vorgesetzter auf ihn wartete: Vor dem Wachetresen stand ein junger Mann in einer schwarzen Livree, mit rotblondem, sorgfältig nach hinten gekämmtem kurzen Haar und Sommersprossen im Gesicht. Er knetete nervös seine weiß behandschuhten Finger und blickte etwas hilflos auf den zwergischen Rekruten hinab, der anscheinend nur langsam wieder in einen wachen Zustand zurückfand. Barlors erster schlaftrunkener Blick galt hingegen dem Kollegen und man sah regelrecht, wie sich hinter seiner Stirn die Rädchen in Bewegung setzten. Sie verrichteten heute schließlich nicht zum ersten Mal gemeinsam Dienst.
Diez griff unterdessen wahllos ein Formular aus einem der Fächer in seiner Reichweite und angelte sich zudem einen Stift aus dem kleinen Becher daneben.
"Ich erzähl's dir später", raunte er Barlor zu, bevor er das typisch starre Tresenlächeln aufsetzte und sich dem Besucher zuwandte. "Guten Tag, willkommen bei der Stadtwache, wie können wir Ihnen denn behilflich sein?"
Der Zwerg schüttelte indessen langsam den Kopf.
"Weißt du, du bist... also normalerweise machen sowas alte Frauen, die den kanzen Tak am Fenster stehen und sonst nichts zu tun haben... oder Waschweiber..." Brummelnd richtete er seinen Helm.
Diez ignorierte den Kommentar, ebenso wie der junge Mann, der offensichtlich einfach nur froh war, sein Anliegen endlich jemandem vortragen und dann wieder verschwinden zu können.
"Ich komme aus der Oper", begann er und räusperte sich nervös. "Also vielmehr schickt mich mein Chef. Um etwas auszurichten. Oder vielmehr anzuzeigen."
"Ja?"
"Nun." Der Livreenträger atmete tief durch und schloss dann die Augen, offenbar konzentriert einen genauen Wortlaut wiederzugeben. "Ihr sollt dieser himmelschreienden Dreistigkeit Einhalt gebieten. Der Sachverhalt sei absolut indiskutabel. Noch nie während seiner gesamten Laufbahn wäre ihm eine solche Impertinenz untergekommen."
"Aha..." Nach anfänglich eifrigem Mitschreiben hatte Diez den Stift nun wieder sinken lassen, in Erwartung, dass sein Gegenüber auf den Punkt kam. Dieser sah ihn nun beinahe entschuldigend an, sich anscheinend des wenig hilfreichen Gehalts seiner Aussage bewusst.
"Es geht um... widerrechtlichen Kunstgenuss", kürzte er seine Ausführungen ab und zuckte mit den Schultern. "Ich weiß, ihr habt wahrscheinlich Wichtigeres zu tun..."
"Er bestimmt." Barlor gähnte. "Aber leken Sie uns die kanze Keschichte doch einfach von vorn dar." Je schneller du fertig bist, desto eher kann ich weiterschlafen, schwang als unausgesprochener Nebensinn in dieser Aufforderung mit.
Der Rothaarige schaute irritiert zwischen den beiden Rekruten hin und her, schien aber ebenfalls zu dem Schluss zu kommen, dass eine rasche Abhandlung der Angelegenheit für alle Beteiligten das Beste wäre.
"Seit kurzem kommt es immer wieder zu Beschwerden durch einige unserer, nun, sensibleren Zuschauer. Jemand oder etwas oder, hmm, wie beschreibt man das? Also es ist wohl so eine Art Wispern im Hintergrund, welches von... mental empfänglichen... also Vampire und so. Die hören das. Zum einen lenkt sie das natürlich von der Vorstellung ab und zum anderen finden sie es nicht rechtens, dass über diesen Weg offenbar jemand der Musik lauscht, ohne eine Karte dafür gekauft zu haben. Keine Ahnung, wie das funktionieren soll. Aber ich glaube, dieser letzte Punkt stört sie sogar noch mehr als der erste."
Diez bemerkte, wie er sich interessiert immer weiter nach vorn gebeugt hatte und nun bereits halb über dem Tresen hing. Rasch richtete er sich wieder auf, schließlich musste eine gewisse Distanz gewahrt werden. Allerdings konnte er es sich nicht verkneifen, seinem Kollegen einen triumphierenden Blick zuzuwerfen, welchen dieser mit dem Verdrehen der Augen quittierte. Etwas Neues! Endlich! Das wusste bestimmt noch keiner.
"Na ja, auf jeden Fall sollt ihr euch darum kümmern. Denjenigen festnehmen. Das Ganze unterbinden. Außerdem möchte mein Chef das entgangene Eintrittsgeld eintreiben, wenn es soweit ist. Er bittet also darum, im Opernhaus..."
Den Bewegungen seiner Lippen zufolge beendete der Mann den Satz - doch kein Ton drang mehr darüber. Gleichzeitig war auch jeder andere Laut verstummt, wie Diez registrierte, während er automatisch die freie Hand hob, um sein Ohr zu betasten. Man konnte es nicht als drückende Stille beschreiben - es handelte sich vielmehr um die vollkommene Abwesenheit von Geräuschen. Die Welt hielt nicht nur den Atem an, es schien vielmehr, als dass sie ihn einsog, hin zu einem Punkt außerhalb jeder Reichweite, dabei nichts als Leere hinterlassend und gleichzeitig den Zweifel säend, ob sich jemals wieder etwas daran ändern würde. Aber bevor Diez die Möglichkeit hatte, auch nur ansatzweise Besorgnis in seinem Bewusstsein zuzulassen, barst der seltsame Kokon, ein rasendes Kribbeln durchfuhr ihn von den Zehenspitzen bis hinauf zum Haaransatz und dann kehrte die Welt zurück. Mit einem machtvollen Schlag spie sie dem Wächter die Wirklichkeit wieder entgegen, sie umtoste ihn wie ein Strudel, viel zu schnell, viel zu laut. Glas barst, Mauerwerk ächzte, irgendwo schrie jemand in namenlosem Schrecken auf. Dann war es vorbei.
Der schockierte Gesichtsausdruck Barlors war ihm Versicherung, dass er sich das eben nicht nur eingebildet hatte, ebenso wie die kleinen Putzbröckchen auf dem Helm des Zwerges. Wie miniaturisierte Schneeflocken rieselten immer noch einige von ihnen von der Decke gen Boden und vermischten sich dort mit den Staubflusen. Eher beiläufig realisierte der menschliche Rekrut, dass er die Hand immer noch auf halbem Wege zum Ohr erhoben hielt.
Schließlich war es der Zwerg, welcher zuerst seine Sprache wiederfand.
"Was bei den tiefsten Stollen der...", ächzte er, doch da wurde irgendwo eine Tür aufgerissen und eine hysterische Stimme gellte durch das Wachhaus.
"Nein! Das war's! Ich mach da nicht mehr mit! Das ist Wahnsinn! Ist mir egal, was der Kommandeur sagt!"
Eine kurze Stille, jemand schien etwas zu erwidern, wohl in gemäßigterem Tonfall. Dann ein überschnappendes Lachen, welches den Anwesenden am Wachetresen eine Gänsehaut verursachte.
"Nichts passiert? Das nennst du nichts passiert? Wir könnten alle tot sein! Was, wenn beim nächsten Mal nicht nur der Schutzkreis implodiert? Gesprungene Scheiben wären dann noch das geringste Problem!"
Polternde Schritte kamen die Treppe hinab, dann stürmte eine Frau in SUSI-Uniform durch die Eingangshalle. Die schwarzen Locken auf ihrem Kopf waren ein einziges Chaos, das Gesicht leichenblass. Ohne Notiz von den drei Herren zu nehmen hielt sie auf den Ausgang zu.
"Das war das letzte Mal. Einfache Dämonenaustreibung? Pah! Bei dem Kaliber braucht sie eine ganze Rotte an Exorzisten!"
Es vergingen noch einige Minuten, bevor das Leben im Wachhaus es wagte, sich langsam wieder in Bewegung zu setzen. Doch noch immer starrten zwei Rekruten und ein Opernangestellter fassungslos der entschwundenen Wächterin hinterher. Erst als der Geräuschpegel um sie herum auf ansteigende Hektik schließen ließ, räusperte sich letzterer verhalten.
"Ich... gehe dann mal..." In seinen Augen stand der Horror. "Viel Glück und so..." Wie in Trance setzte er sich in Bewegung, sein Ziel war ebenfalls der Pseudopolisplatz.
Barlor kratzte sich an der Nase, dann sah er zur Uhr über dem Schwarzen Brett.
"Dienstende", stellte er fest, "Ich brauch was zu trinken. Kommst du mit?"
Diez bemerkte, dass er nickte. Es hatte immer noch das Gefühl, als würde er sich selbst von außen betrachten - denn dann würde ihn all das hier nur herzlich wenig angehen. Ein ebenso verlockender wie trügerischer Gedanke, aber er war nur zu bereit, sich noch eine Weile dahinter zu verstecken. Unversehens war er sich gar nicht mehr so sicher, ob er wirklich mehr darüber herausfinden wollte, was da in den oberen Etagen vor sich ging.


OPHELIA ZIEGENBERGER

Sie hätte bemerken müssen, dass etwas vor sich ging. Und die Schlussfolgerung, dass dieses Etwas, wenn man so darum bemüht war es vor ihr zu verheimlichen, nur mit der unerträglichen Situation um sie selber zu tun haben konnte, wäre daraufhin nahe liegend gewesen. Zumindest hatten sie es lange genug vor ihr verborgen gehabt, bis sie sie vor vollendete Tatsachen stellen konnten. Mitten in der Nacht! Und noch immer war niemand dazu bereit, ihr zu sagen, worum es hierbei ging und was sie erwartete.
Sie sind offenbar nicht dazu berechtigt. Araghast hat vielleicht nicht einmal ihnen erklärt, was hier vor sich geht. Und selbst wenn er das hat... er will verhindern, dass diese Informationen bis zu mir vordringen.
Der erste Gedanke, der ihr in schlaftrunkener Hektik gekommen war, nachdem man sie aus dem Tiefschlaf gerissen und sie mit dem Ankleiden zur Eile gedrängt hatte, war vor allem von Misstrauen geprägt gewesen.
Wollte der Kommandeur sie etwa verschwinden lassen? Zu dieser Zeit war schließlich nicht einmal Mina im Wachhaus, Valdimier schien noch immer nicht von seiner Beurlaubung zurück zu sein und auch niemand sonst aus dem Kreis der Vertrauten wäre im Stande, ihr zur Hilfe zu eilen!
Dann aber kämpfte sie bewusst gegen diese haarsträubenden Ängste an.
Solch ein Unfug! Trotz der ungewöhnlichen Geheimhaltung sind doch immer noch auch andere Kollegen an dieser Aktion beteiligt, die er nicht einfach mundtot machen könnte.
Je wacher sie geworden war, desto gründlicher schalt sie sich innerlich selbst und gemahnte sich zu Geduld und Genügsamkeit.
Er ist der Kommandeur, kein Verbrecher! Nach allem, was er für mich getan hat! Wie kann ich ihm da auch nur gedanklich so etwas Verwerfliches unterstellen?
Und als sie die Schuhe geschnürt, das Armgeschirr festgezurrt und sich ein Schultertuch um den Hals gewickelt hatte, war sie bereits wesentlich gefasster.
Es hat niemand etwas von Gepäck gesagt, ich werde also im Anschluss an... was auch immer wieder hierher zurück gebracht werden. Araghast wird seine Gründe haben. Ich kann mich glücklich schätzen, dass er mich überhaupt noch im Wachhaus duldet. Erst recht nach dem letzten Fehlschlag. Er hat uns lange genug Zeit eingeräumt, das Problem auf alle erdenklichen Arten zu untersuchen. Wir können keine nennenswerten Erfolge vorweisen, somit ist es gut, wenn er scheinbar eigene Ideen zu dieser Sache beisteuern möchte. Was habe ich erwartet? Er kann das Alles nicht auf sich beruhen lassen! Nun ist seine Geduld wohl verständlicherweise am Ende angelangt und er will es auf seine Art machen. Gut! Ich werde mich um größtmögliche Mitarbeit bemühen. Das muss ein Ende haben! Es ist zu unser aller Besten. Wenn er Schweigen anordnet, werde ich keine unnötigen Fragen stellen.
Sie zog den schweren Umhang fröstelnd enger um ihre Schultern, während sie dem Kollegen durch den spärlich beleuchteten Gang folgte. Sie passierten gemeinsam den Schlafsaal und das Lazarett, dann traten sie auf den Innenhof hinaus.
Ophelia stoppte mitten in der Bewegung und brachte es nicht über sich, auch nur einen Schritt weiter zu gehen. Die Szenerie jagte ihr Angst ein, so sehr sie das auch vor sich selber zu leugnen suchte.
Eine ziemlich teuer aussehende, tiefschwarze Kutsche stand inmitten des Innenhofes bereit. Es war eine dieser Kutschen, die vor allem von adligen Untoten für längere Reisen genutzt wurden. Nicht nur war das Glas der Fenster gerußt, jene waren auch mit nachtdunklen Stoffen von innen verhangen. Gezogen wurde sie von einem Vierergespann, das bereits ungeduldig auf der Stelle trat.
Unzählige Blicke richteten sich auf sie und Ophelia erkannte in der unsteten Beleuchtung der Hoffackeln eine ganze Ansammlung von Kollegen. Mit vielen von ihnen hatte sie in den letzten Jahren dienstlich eher weniger zu tun gehabt. Auf einem Pferd nahe dem Tor saß die junge Verwandte des Kommandeurs, Nyria Maior. Diese hatte deutlich damit zu kämpfen, ihr Reittier ruhig zu halten, während sie sich ein Zündholz für die Zigarette anzureißen versuchte. Seitlich der Kutsche kontrollierten Rea Dubiata und deren dienstältester Abteilungskollege, Cim Bürstenkinn, soeben das Zaumzeug ihrer Pferde. Am Schlag der Kutsche stand Rabbe Schraubenndrehr und sah ihr finster entgegen, bevor sie Ophelia mit verächtlichem Schnaufen den Rücken kehrte und einstieg. Dagomar von Omnien verharrte noch immer an der Klappstufe und knetete nervös seine Hände. Er scheiterte an dem Versuch, Ophelia ein aufmunterndes Lächeln zu schenken.
Eine Eskorte!
"Wohin... wohin werdet ihr mich bringen?"
Die kalte Nachtluft hallte von dem Klappern und Scharren der ungewöhnlich vielen Pferdehufe auf den Steinen wieder. Die Gesichter ihrer Kollegen jedoch wandten sich in einhelligem Schweigen ab, so sehr hatte ein jeder von ihnen plötzlich mit seinen eigenen Interessen zu tun.
Eine Hand legte sich an Ophelias Arm und sie zuckte zusammen. Sie sah auf.
Menelaos war neben sie getreten und wirkte betroffen. Sein Duft erinnerte sie an einsetzenden Herbstregen.
Sie beeilte sich, möglichst gefasst zu lächeln.
"Tut... tut mir leid! Ich sollte wohl lieber keine Fragen stellen. Ich verstehe das. Keine Sorge, ich werde nicht mehr fragen."
Der athletische Kollege schien einen Moment lang mit sich zu ringen. Sein abwägender Blick huschte zu den beiden Vorgesetzten, die sich in die Sättel aufschwangen, dann entschied er sich.
"Ophelia, wir passen auf dich auf. Ich darf dir nicht viel sagen aber wir sind deine Begleitung und werden die Strecke möglichst frei hal..."
"Hauptgefreiter Schmelz!" Reas Stimme schnitt scharf durch die Luft. "Die Anweisungen des Kommandeurs gelten für uns alle gleichermaßen... an deinen Platz! Ophelia? Steig ein! Wir haben ein enges Zeitfenster und wollen die Dämmerstunde ausnutzen, um dem Trubel auf den Straßen auszuweichen. Vielleicht bekommen wir dich so möglichst störungsfrei durch die Stadt, selbst wenn uns jemand in den Weg geraten sollte, der auf deine Problematik anspringt."
Neben dem Kutschenschlag streckte ihr Dagomar einladend die Hand entgegen. Er half ihr den Tritt hinauf.
Kurz bevor sie sich vorbeugte, um einzusteigen, sah sie zum Kutschbock auf. Von dort nickte ihr blass und mit ernstem Blick Kanndra zu.
Sie wirkt völlig übermüdet. Nur wegen mir müssen sie alle zu so früher Stunde raus.
Ophelia ließ sich auf die gepolsterte Sitzfläche fallen - und sah sich Rabbes Abscheu ausgesetzt. Sie presste die Lippen zusammen, als ihr unweigerlich die vorwurfsvollen Worte der jungen Wächterin in den Sinn kamen, die ihr Verrat unterstellt hatten.
Schnell wandte sie den Blick ab, um stattdessen aus dem Fenster zu sehen, doch die Vorhänge verwehrten ein Ausweichen. Sie blickte betroffen auf ihre im Schoß abgelegte Hand hinab.
Dagomar stieg in die Kutsche – und setzte sich mit leise gemurmelter Entschuldigung ebenfalls ihr gegenüber.
Der freie Raum auf ihrer eigenen Sitzbank wirkte anklagend.
Als wenn man vorsichtig sein müsste, um sich nicht an mir anzustecken...
Sie sah mit erzwungenem Lächeln auf.
Rabbe verzog genervt die Mundwinkel, nur um mit einem Arm über sich gestreckt auszuholen und mit geballter Faust kräftig gegen die Rückwand hinter sich zu schlagen.
Der Wagenschlag fiel im selben Moment mit einem Knall zu, in dem Kanndra das Gefährt mit einem harten Ruck in Bewegung setzte.
Von der Wagendecke baumelte eine gläserne Petroleumlampe, die den Innenraum erleuchtete und Ophelia konnte nicht umhin daran zu denken, dass gewisse Statistiken besagten, dass Wagen dieser Klasse bei neun von zehn Zwischenfällen in Flammen aufgingen. Wobei natürlich immer auch berücksichtigt werden musste, dass Wagen dieser Klasse überdurchschnittlich häufig gefährliche Streckenabschnitte in Überwald befuhren und vermutlich auch ebenso häufig nicht in wirkliche "Unfälle" verwickelt waren. Dennoch!
Der Wagen schaukelte langsam voran. Von außerhalb konnte sie die Stimmen der Kollegen hören, das schwere Rattern des Metalltores, wie es erst geöffnet wurde, um sie passieren zu lassen und dann hinter ihnen wieder geschlossen ward. Sie hörte rund um die Kutsche die schweren Metallhufe der Wachepferde auf das Kopfsteinpflaster aufschlagen, voran eilen, zurückfallen und wieder aufschließen.
Eine Peitsche knallte und dann nahmen sie schnell Fahrt auf.
Ophelia konnte Rabbes Blick und die darin unverhohlen glimmende Verachtung nicht länger ertragen. Sie wich ihm, so gut es ging, aus. Die Ohren zuhalten konnte sie sich jedoch nicht, ohne extrem unhöflich zu werden. Und da ihre Erziehung ihr solch ein Benehmen verbot, blieb ihr nicht viel anderes übrig, als dem zuzuhören, was diese von sich gab.
"So, so! Unsere Ex-Stellvertretende macht also einen kleinen Ausflug. Fast schon romantisch, hm, so mit Privatgarde? Manch einer würde ja sagen, dass das etwas viel Aufwand ist aber ich sag' mir, hey! Bisschen frische Luft kann weder den SEALS, noch den FROGs schaden! Wir kommen ja so selten an die frische Luft. Vor allem in letzter Zeit. Ist ja fast nichts los!"
Der Püschologe neben Rabbe räusperte sich hörbar.
"Wir haben ein gemeinsames Ziel, so dass unnötige Feindseligkeit fürwahr Fehl am Platze scheint."
Ophelia sah dankbar zu ihm auf. Er erwiderte ihren Blick begütigend. Doch der kurze Moment des Zuspruchs wurde augenblicklich zunichte gemacht.
"Haben wir das, Dagomar? Ein gemeinsames Ziel? Möglichst schnell aus dieser Kutsche rauszukommen vielleicht, um sich nicht mehr gegenseitig auf die Pelle zu rücken."
"Also wirklich! Es dünkt mir, bei aller gebotenen Höflichkeit, dass es der Gelegenheiten zur unvoreingenommenen Aussprache zwischen den beiden Damen nicht viele gegeben haben kann? Woher diese unversöhnliche Haltung? Wäre es nicht ratsamer einander in einvernehmlichem Bemühen die Hände zu reichen, gegebenenfalls auch schlicht bildlich gesprochen – um etwas Gutes zu bewirken? Wodurch sonst sollten wir alle einen Streif der sehnlichst erwarteten Hoffnung am Horizont aufscheinen sehen, wenn nicht begründet im Bund der Kameradschaftlichkeit?"
Rabbe rollte genervt mit den Augen.
"Kameradschaft bedeutet für jeden etwas anderes, Omnien. Darüber werden wir jetzt nicht diskutieren. Also lass’ den Quatsch!"
Es entstand ein mehr als unangenehmes Schweigen.
Ophelia schloss die Augen und versuchte, gelassen zu atmen.
Das ist alles so unerträglich! Kein Argument der Welt wird sie versöhnlich stimmen... es hat keinen Sinn, es auch nur zu versuchen!
Raculs Stimme schnitt durch ihren Sinn und sie konnte nicht verhindern, dass sie erschrocken nach Luft schnappte und zusammenzuckte.
"Und warum sollte dir auch daran gelegen sein, es zu versuchen? Sie ist ein nörgelndes Kind, ständig unzufrieden und es nicht wert, dass du auch nur einen weiteren Gedanken an sie verschwendest. Reiß dich zusammen, Frau! Es gibt jetzt weitaus Wichtigeres zu bedenken! Was hat es mit dieser Nacht-Und-Nebel-Aktion auf sich? Du hast Bedenken, dass dein Vorgesetzter dich aus dem Weg räumen will?"
Rabbe war aufgesprungen und hatte sich zu der kleinen Gesprächsluke umgedreht, die nach vorne zum Kutscher hinaus zeigte. Sie bemühte sich nicht einmal darum, sonderlich leise zu sprechen, als sie hinaus fragte:
"Alles klar bei euch? Sie hat eben komisch reagiert. Nicht, dass wieder irgendwas passiert?"
Kanndras Stimme rief nach der vorausreitenden Nyria und Ophelia konnte deutlich die Kutsche schwanken spüren, als Menelaos auf dem hinteren Tritt sein Gewicht verlagerte, um sich besonders gründlich umzusehen. Reas Stimme wechselte sich mit der Cims ab, doch alle gaben in knappen Worten die Rückmeldung, dass nichts Außergewöhnliches zu sichten sei.
Vom gegenüberliegenden Sitz richtete sich die Stimme des Püschologen mit deutlich besorgtem Tonfall an sie:
"Ist alles in Ordnung?"
Sie öffnete die Augen erzwungenermaßen wieder. Es wäre leichtsinnig gewesen, ausgerechnet die Anfragen des Wachepüschologen ignorieren zu wollen. Wer konnte schon wissen, ob der Kommandeur davon erfahren würde? Araghast würde ihr sonst womöglich noch Widerstand gegen seine Maßnahmen vorwerfen! Und davon abgesehen mochte der junge Omnier sie, er würde ihr nichts Böses wollen.
Racul lachte spöttisch in ihren Gedanken.
"Nichts ist in Ordnung!"
Ophelia schluckte schwer, nickte aber eilig.
"Ja, alles... alles in Ordnung. Ich...", sie suchte nach einer unverfänglichen Wahrheit, mit deren Hilfe sie von der größeren Wahrheit ablenken konnte. "Der gestrige Versuch... ich bin etwas ungünstig gelandet, als mich die Druckwelle umgestoßen hatte. Der Knöchel macht sich ab und an noch bemerkbar."
Die leichte Verfärbung an ihrem Fußgelenk war nichts, im Vergleich zu dem eisigen Ziehen hinter ihren Schläfen.
"Konzentriere dich! Gibt es irgendeinen Anhaltspunkt dafür, wohin sie dich bringen? Was hat Havelocks Hund mit dir vor? Kannst du das unauffällig aus ihnen herausbringen? Wir dürfen kein Risiko eingehen! Dir darf nichts geschehen – und wenn du dafür aus der Kutsche fliehen musst!"
Die Forderung hinter seinen Worten verschlug ihr für einen Moment selbst innerlich die Sprache.
"Du würdest von mir verlangen, aus einer fahrenden Kutsche zu springen?"
Raculs körperlose Anwesenheit in ihren Gedanken schien bildlich gesprochen die Schultern zu straffen.
"Zu deinem eigenen Besten, wohlgemerkt, junge Dame! Wenn du unbedingt darauf bestehst, dann räume ich natürlich ein, dass das bedeuten würde, unschöne Risiken einzukalkulieren. Es wäre eine alles andere als optimale Aktion. Aber... als Alternative zu schlimmeren Szenarien durchaus denkbar. Würdest du dich etwa ohne Gegenwehr zu deiner eigenen Inhumierung chauffieren lassen? Gewiss, die Assassinen sind nicht ganz billig. Aber in Anbetracht der Tragweite deiner Problematik... Ich weiß, dass deine seltsam anhängliche Loyalität dem Kommandeur viel zu viel Spielraum darin gewährt, dich zu schädigen, wenn es ihm in den Sinn käme. Den Beweis hast du ja längst erbracht, nicht nur einmal. Er zieht für meinen Geschmack zu weit gefasste Grenzen in seiner Experimentierfreude. Ich werde jedenfalls nicht tatenlos dabei zusehen, wie du offenen Auges abermals in eine Situation läufst, die sich auch nur annähernd so katastrophal auf mich auswirkt, wie diese grünen Pillen es getan haben."
Der Empörung gesellten sich Bilder hinzu. Bilder, die der alte Vampir ganz sicher nicht zu teilen beabsichtigt hatte.
"Du hast die Auswirkungen mit mir getragen? Das war mir nicht bewusst! Diese Entscheidung hätte eigentlich allen um mich herum die Last der Verantwortung von den Schultern nehmen sollen. Nicht nur Mina, Ettark und Rach, sogar du..." Sie fühlte sich schuldig. "Dein Diener, dieser Sebastian, hat sich um dich gekümmert? Wenn er nicht gewesen wäre... Jetzt verstehe ich auch, warum ich deine Gedanken seit dieser Nacht nicht mehr in gleicher Weise gespürt habe..."
Raculs Anwesenheit verharrte missmutig lauernd.
"Das sind Dinge, die dich nichts angehen. Es ist richtig, dass mein Getreuer mich vor Schlimmerem bewahrt hat. Diese leichtsinnige Stimmung war unerträglich! Und selbst die späteren Stunden... es kostet mich noch immer viel zu viel Kraft, meine Gedanken klar strukturiert beieinander zu halten. Dementsprechend werde ich es nicht dulden, wenn du dich unversehens in die nächste Unbedachtsamkeit stürzt. Finde gefälligst heraus, was vor sich geht. Jetzt sofort!"
Ophelia blickte wie gebannt auf ihre Hand hinab und versuchte, sich nichts von der heimlich geführten Konversation anmerken zu lassen. Oder von diesem ungewohnt heiß in ihr aufsteigenden Zorn dem Vampir gegenüber.
Sie hatte all das nicht gewollt! Konnte er denn nicht wenigstens ein klein wenig Verständnis für ihre Situation zeigen, sich durch ihre anhaltenden Bemühungen milder stimmen lassen? Stattdessen konfrontierte er sie nur andauernd mit Forderungen und Vorwürfen!
Dagomar von Omnien erinnerte sich beklagenswerterweise ausgerechnet in diesem Moment an seine Rolle als umsorgendes Ablenkungsmanöver.
"Hm, tja, nun... Rabbe! Darf ich mich nach deinem werten Befinden erkundigen? Unsere Dienstzeiten weichen derart weit voneinander ab, dass es mir in letzter Zeit verwehrt blieb, mich an deiner Anwesenheit zu... erfreuen."
Der Lance-Korporal warf ihm einen abwertenden Blick zu.
"Kannst du endlich damit aufhören, Omnien? Die Situation ist für uns alle hier scheiße und sie wird durch deinen zwanghaften Drang alles zu bereden nicht besser. Ich will nur meinen normalen Dschob machen. Die weiß nicht mal, was wir mit ihr vorhaben. Und du willst doch bestimmt eigentlich lieber noch schlafen oder was weiß ich. Wenn du mich unbedingt fragen musst, wie es mir geht, dann heb’ dir das für die Kantine oder so auf! Mitten in einer Mission, mit der da im selben Boot… geht gar nicht! Verkneif’s dir einfach!"
Ophelia war nicht böse darüber, dass die beiden Menschen in ihrer Begleitung sich anscheinend etwas in die Haare bekamen, beachteten sie sie dadurch doch weniger als zuvor.
Was ihr die Gelegenheit gab, Racul an seine Grenzen zu erinnern - auch wenn dieser nicht einmal wahrhaben wollte, dass solch ein Konzept auf ihn Anwendung finden könnte.
“Du hast keinerlei Recht dazu, Handlungen von mir zu fordern, die eindeutig den Intentionen des Kommandeurs zuwider laufen!“
Racul unterbrach ihre Ausführung mit eisiger Missbilligung.
“Was sage ich? Lächerlich! Breguyar steht dir nicht einmal ansatzweise so loyal gegenüber, wie du ihm. Er hat diese Treue nicht verdient! Im Gegensatz zu mir, der ich ständig dein Wohl vor Augen habe!“
Ophelia konterte mit bitterer Note.
“Der Kommandeur hat sich meine Loyalität zumindest mit dem verdient, was er in der Vergangenheit für mich getan hat. Nur weil es jetzt schwieriger geworden ist, seinen Wünschen entgegenzukommen, heißt das schließlich nicht, dass es rechtens wäre, ihm mit Trotz entgegenzutreten. Du hingegen bist es gewohnt, dass man dir aus Furcht vor den Konsequenzen Folge leistet, die du bei einer Weigerung androhst. Und mein Wohl berührt dich nur insoweit, wie es deine Interessen betrifft. Das ist etwas ganz und gar anderes! Und weißt du was? Ich bin es leid, von dir als unmündige Belastung behandelt und herumkommandiert zu werden!“
Dagomar lächelte plötzlich strahlend von ihr zu Rabbe und wieder zu ihr zurück.
"Wie wäre es mit einer unschuldigen kleinen Übung, einem humorvollen Gesellschaftsspiel, zur Beruhigung der Gemüter? Die Fahrt wird gewiss nicht mehr lange dauern aber ein kleiner Zeitvertreib in Ehren... Wäre eine Runde Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst den Damen genehm?"
Ophelia blickte ihn entgeistert an und Rabbes Gesichtsausdruck schien anzudeuten, dass diese ernsthaft an seinem Verstand zu zweifeln begann. Die übergangsweise FROG hob eine Hand bedeutungsvoll, um die Umgebung, in der sie sich befanden zu betonen und unterstrich ihre "Aussage" mit einer spöttisch angehobenen Braue.
"Ernsthaft jetzt, Omnien?"
Er errötete und räusperte sich verhalten.
"Ähm, dann also vermutlich eher nicht. Nun ja, ich muss eingestehen, dass die beengte Räumlichkeit, erst recht in ihrer monotonen Einfarbigkeit und durch einen eklatanten Mangel an dekorativen Elementen, nicht viel Grundlage für diese Art der Betätigung bietet. Ich dachte ja auch nur..."
Rabbe murmelte etwas Unverständliches, bei dem sich nur der genervte Tonfall heraushören ließ.
Ophelia warf Rabbe einen vorwurfsvollen Blick zu und diese hob provokativ ihr Kinn.
"Was?"
"Diese Unfreundlichkeit einem Kollegen gegenüber ist unnötig und nicht rechtens, Rabbe."
"Mir würden gleich mehrere Punkte einfallen, die ich am Verhalten anderer Leute als "nicht rechtens" empfinden würde. Zum Beispiel, den Moralapostel spielen zu wollen, obwohl man jeden Funken Anstand längst über Bord geworfen hat. Die Gelegenheit ist günstig, wollen wir das jetzt gleich ausdiskutieren?"
Bevor Ophelia etwas erwidern konnte, wurde die Kutsche merklich langsamer und kam dann zum Stillstand.
Rabbe stand unverzüglich auf und wandte sich der Sprechluke zu.
"Sind wir da?"
Kanndras Stimme klang leicht angespannt, als sie antwortete.
"An der hinteren Pforte, ja. Bleibt einfach sitzen! Rea muss noch mit der Torwache sprechen."
“Deine letzte Gelegenheit! Renn! Eine Torwache verheißt nichts Gutes. Die Wegstrecke passt von ihrer Länge in etwa zum Palast. Nicht, dass die Skorpiongruben auf dich warten!“
Ophelia war übel vor Nervosität und Angst, doch sie war entschlossen, sich dem alten Vampir gegenüber, so weit irgend möglich, die Selbstbestimmung zu bewahren.
Breguyar war Wächter, wie sie selbst auch. Er war Rechenschaft schuldig, er diente der Stadt! Er würde sie nicht verraten...
Sie hob stolz den Kopf und harrte mit möglichst gelassenem Gesichtsausdruck der Dinge, die da auf sie zukommen mochten.
“So stur! Du treibst mich noch in den Wahnsinn, Frau!“
Reas Stimme hallte durch die klare Morgenluft.
"Stadtwache! Wir kommen mit Weisung des Kommandeurs und wurden angekündigt. Wir bitten um Einlass!"
Eine männliche Stimme fragte mürrisch nach.
"Ihr seid die Truppe vom Pseudopolisplatz? Ist sie dort drinnen?"
Ophelia vergrub ihre Hand unauffällig in den Röcken, damit die beiden Kollegen nicht sahen, dass ihre Finger zu zittern begannen.
Der folgende Wortwechsel wurde leiser geführt, so dass sie nur die Worte "Anschreiben" und "längerer Aufenthalt" darin verstehen konnte. Dann machte die Kutsche einen Ruck und die Torwache ließ sie passieren. Das Geräusch der metallbeschlagenen Räder echote kurzfristig um den Wagen herum, dann kamen sie neuerlich zum Halt. Der Wagenschlag wurde geöffnet. Fackelschein vergoldete die Metallbeschläge und leuchtete unstet ins Innere der Kutsche.
Sie schluckte trocken, ehe sie langsam den Blick hob.
"Fräulein Ziegenberger..."
Ihre Augen weiteten sich überrascht, als sie die überaus schlanke Gestalt des Mannes wiedererkannte.
"Herr Quetschkorn!"
Er schien darauf zu warten, dass sie ausstieg. Natürlich.
Araghast hat mich in die Unsichtbare Universität bringen lassen? Was...
Rabbe gab ein undefinierbares Geräusch von sich und kam ihr zuvor, indem sie sich an ihr vorbei aus der Kutsche drängelte. Dagomar folgte Rabbe, wandte sich dann aber im Ausstieg zu Ophelia um. Er reichte ihr mit freundlichem Nicken die Hand.
Sie beugte sich vor und nahm seine Unterstützung in Anspruch, um im schwankenden Gefährt das Gleichgewicht zu wahren und sich durch die niedrige Öffnung hinaus zu bücken. Ihre Schuhe trafen knirschend auf den dichten Kies eines weiten Innenhofes. In ihrem Sinn jagten einander verängstigte Fragen und düstere Befürchtungen.
Raculs Schwarzmalereien machten es nicht besser.
“Die Zauberer! Er hat dich zu diesen Irren schaffen lassen! Das verheißt nichts Gutes. Wir sollten nach einem Fluchtweg Ausschau halten, definitiv!“
Sie blickte sich instinktiv nach dem Weg um, der sie hierher geführt haben musste. Hinter der stehenden Kutsche lag eine kurze Auffahrt, die aus einer massiv gemauerten Einfahrt heraus und in den weiten Innenhof hineinführte. Der kurze Tunnel endete an einem sehr hohen Holzportal, welches dem Aussehen nach mindestens einer Horde verschiedenster Kerkerdimensionsmonster standhalten konnte. Und dies vielleicht auch bereits getan hatte. Die Brüller legten soeben zu zweit den schweren Balken wieder vor, den sie hatten entfernen müssen, um die Kutsche samt Eskorte einzulassen.
Ophelia merkte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Racul sah im selben Moment wie sie selbst die Unmöglichkeit für sie ein, diesen Ort einfach so hinter sich zu lassen. Seine Nervosität schlug allmählich in Zorn um.
"Ich hatte dich gewarnt!"
Die distanzierte Stimme des jungen Zauberers holte sie ins Hier und Jetzt zurück.
"Ich nehme an, dass Bregs dich einigermaßen im Unklaren gelassen hat, weswegen er dich herschickt, Fräulein Ziegenberger?"
Sie schaffte es, zu nicken.
Seine Antwort entbehrte jeglicher Emotion.
"Dein Vorgesetzter hat mir von deinem Problem berichtet. Und wie wir beide wissen, bleiben ihm nicht mehr viele Möglichkeiten, um seiner Verantwortung gerecht zu werden. Er möchte wissen, woher das Problem rührt. Er möchte Antworten auf bestimmte Fragen im Zusammenhang damit und er möchte eine Lösung aufgezeigt bekommen. Und ich denke, dass wir in der UU ihm in allen diesen Punkten weiterhelfen können."
Ophelia räusperte sich.
"Das... es wäre schön, eine Lösung zu finden. Darf ich mich danach erkundigen, wie genau du das machen möchtest?"
"Mit Tests natürlich. Aber zuvor... würdest du mir bitte folgen? In den letzten Berichten stand vermerkt, dass deine Kolleginnen bei ihren Versuchen kürzlich erst einen einfachen Schutzkreis gesprengt haben. Die Aufzeichnung kam zu dem Schluss, dass du von einem Dämon besessen sein könntest. Ich bin mir nicht sicher, ob das nur der typischen Unfähigkeit von Hexen zuzuschreiben ist oder ob mehr dahinter steckt. Aber das lässt sich ja glücklicherweise leicht feststellen. Mit Dämonen kennen wir uns hier aus. Es macht einen Unterschied, ob man leichtfertig mal eben so mit Kräften herumspielt, die man nicht einmal analysiert hat oder ob man sich bereits über Jahre hinweg gründlich mit den thaumaturgischen Wissenschaften auseinandersetzt."
Ophelia folgte ihm automatisch, als er mit wehendem Übermantel voranschritt.
"Was genau hast du vor, Herr, um das herauszufinden?"
Die nächtliche Szenerie wirkte absolut surreal auf sie, ebenso wie die hagere Gestalt vor ihr. Wie in einem Traum bekam sie die gedämpften Anweisungen Reas an den Rest der Truppe mit, in denen sie die Kollegen anwies, zum Wachhaus zurück zu fahren und für den Rückweg auf eine Nachrichtentaube zu warten. Als Ophelia in das düstere Universitätsgebäude mit seinen wuchtigen Mauern eintrat, folgten ihr nur noch Rea und Dagomar, zu hören an dem leisen Schleifen ihrer Kleidung und dem dumpfen Auftreten ihrer Stiefel auf den Steinplatten.
Der Zauberer blickte sich nicht einmal nach ihr um. Er gestikulierte vage mit der Hand.
"Wir halten auf dem Weg zum hochenergetischen Trakt kurz in der hinteren Halle. Dort gibt es kaum Möbel und die Wandbehänge stören nicht. Ein Schutzkreis sollte schnell gewirkt sein, dann wissen wir Genaueres."
Sie erinnerte sich an die letzten Ereignisse im Wachhaus, an Laizas verzweifelten Abgang und an die Blicke der Kollegen, die beim anschließenden Aufräumen geholfen hatten.
"Es... vielleicht ist das keine so gute Idee? Das letzte Mal..."
Er ließ sie nicht zu Wort kommen.
"Ich weiß."
Vor ihnen endete der Gang in einem weiten Raum. Die Decke befand sich aufgrund einer umlaufenden Balustrade weit oberhalb und die Wände waren im wenigen fahlen Licht der vor den Fenstern einsetzenden Dämmerung kaum auszumachen. Der Raum war offenbar, bis auf seine Funktion als zu durchquerende Zwischenhalle, wirklich nicht genutzt.
Raistan Quetschkorn war in der Mitte der freien Fläche stehen geblieben und sah nun beinahe ungeduldig zu ihr hinüber.
"Wenn ich bitten darf?"
Ophelia konnte spüren, wie die beiden Begleiter hinter ihr entschieden, dass die Wand neben dem Durchgang nahe genug an den zu erahnenden Ereignissen lag.
Sie holte tief Luft und folgte Raistan in die Halle. Er dirigierte sie an einen Punkt, der auf sie ebenso wirkte, wie jeder andere in dem großen Raum.
"Gut. Bleib hier stehen! Das dauert nicht lange."
Damit trat er einen Schritt beiseite. Er griff in eine verborgene Tasche seines weiten Kleidungsstückes, zog eine Kreide hervor, setzte diese auf dem Boden an und lief dann in schnellen Schritten um sie herum. Ein großflächiges Zickzackmuster entstand, dessen Linien sich mehrmals kreuzten, bis sie sich in einem endlosen Muster um sie herum wanden. Er richtete sich wieder auf und kontrollierte sein Werk mit kritischem Blick.
Ophelia blickte an sich herab. Sie stand nun im Zentrum des hellen Kreidestriches. Dieser bildete einen perfekten Stern mit acht Spitzen.
Raistan entfernte sich ein kleines Stück von ihr und setzte erneut mit der Kreide an. Dieses Mal eilte er vornüber gebeugt um sie herum, die Kreide auf die Fußbodenplatten gesenkt und schuf damit einen Kreis. Das neue Rund umschloss sowohl sie selbst in ihrer Sternzeichnung, als auch einen breiten Abstandsstreifen, in dem der Zauberer sich aufhielt.
Der junge Mann nickte zufrieden. Er streckte die Arme und schüttelte seine knochigen Hände aus. Dann erfasste sein Blick sie unverrückbar. Er begann damit, seine Handflächen aneinanderzureiben, wie um sie aufzuwärmen.
"Falls du das Bedürfnis hast, zu schreien oder in Ohnmacht zu fallen, dann tu dir keinen Zwang an. Aber bitte verlass dabei unter gar keinen Umständen das Oktogramm!"
Ophelia blieb nicht einmal genug Zeit, um sich innerlich irgendwie auf das Folgende einzustimmen und sich zu wappnen.
Der Akademiker richtete in einer schwungvollen Geste seine Hände auf sie, weitete die Arme zu beiden Seiten und schien den Bereich, in dem sie standen, bildlich gesprochen umarmen zu wollen. Er murmelte leise Worte und im Gegensatz zu Laiza, die in den Momenten höchster Konzentration die Augen schloss, ließ er es sich nicht nehmen, offenen Blickes jedes noch so kleine Detail der Szenerie in sich aufzunehmen. Ophelia war sich nahezu sicher, dass er im Anschluss imstande sein würde, ein exaktes Portrait von ihr zu zeichnen, so intensiv behielt er sie im Fokus. Gleichzeitig wirkte seine Aufmerksamkeit auf merkwürdige Art desinteressiert. Sie fühlte sich in dem magischen Zirkel auf einmal wie ein festgepinnter Schmetterling - ein Studienobjekt, vielleicht sogar einzigartig und aufgrund der angelegten Untersuchungsparameter faszinierend. Aber gleichzeitig aus emotionaler Distanz betrachtet, unpersönlich, methodisch, klinisch. Raistan Quetschkorn verband nichts mit ihr, was ihn dazu veranlasst hätte, sie zu schützen. So sympathisch er ihr vor langer Zeit bei ihrer ersten Begegnung im Wachhaus noch gewesen war, hier und jetzt war der Zauberer ein Fremder für sie. Mehr als das!
Sie erwiderte seinen Blick und meinte, mit Überheblichkeit gepaarte Neugier darin zu erkennen.
Racul teilte ihre intuitive Erkenntnis:
“Ehrgeiz! Er ist für dich gefährlich!“
Minas Worte kamen ihr in den Sinn, dass sie sich aus dieser passiven Opferhaltung befreien und deutlich machen solle, wenn die Experimente eine gewisse Grenze überschritten. Sie holte nervös Luft und wollte aufmerken, eine Regung, die Raculs Wohlwollen fand.
Im selben Moment schien der Mann gegenüber ihren Entschluss zu erahnen und ihrem Einwand zuvorkommen zu wollen.
Mit einem geflüsterten Wort und minimalen Gesten der ausgestreckten Hände aktivierte Raistan den Schutzkreis um sie herum.
Der Sog, mit dem die Luft im Raum sich schlagartig verdichtete, löschte jeden Klang aus und ließ den Atem stocken. Sofort darauf löste sich das Innehalten wieder mit einem ohrenbetäubenden Knall und sagenhafte Macht preschte durch die Halle, fegte die Wandteppiche zur Seite und stieß mit reißenden Orkanböen gegen jeden noch so kleinen Vorsprung.
Ophelia stützte sich keuchend und etwas wacklig mit der freien Hand auf den Steinfließen ab.
Sie war trotz der Ahnung, was geschehen würde, von der Wucht auf ein Knie geschleudert worden. Das heftige Pochen in selbigem kündete von weiteren Prellungen und Flecken. Sie sah durch ihr zerzaustes Haar auf.
Der junge Magier stand gelassen und aufrecht noch immer an derselben Stelle. Seine weite Kleidung legte sich soeben wieder in den sachten Böen um ihn herum. Ohne weiter auf sie einzugehen oder ihr aufzuhelfen, ragte er ihr gegenüber mit wissendem Lächeln vor ihr auf.
"Sehr schön! Der Bericht stimmte zumindest, was die Richtung der Druckwelle anbetrifft. Der Schutzkreis ist implodiert! Wenn du besessen gewesen wärest, so hätte es sich stattdessen um eine gegenteilige Reaktion gehandelt. Implosionen können sie nicht handhaben, damit würden sie sich selbst sublimieren. Wunderbar! Das schließt einige mögliche Theorien aus und erleichtert die anstehenden Untersuchungen deutlich. Dann wollen wir mal! Folge mir!"
"Ophelia? Warte, ich helfe dir. Meine Güte, was für ein gefährliches Anliegen! Ich hätte nicht für möglich gehalten, einmal einen Zauberer bei der Arbeit beobachten zu müssen. Geht es?"
"Ja, danke, Dagomar."
“Lass’ dich nicht von dem Omnianer einwickeln! Diese Sache gefällt mir nicht. Das war erst der Anfang. Wer weiß, was er jetzt vorhat? Untersuchungen? Das kann alles mögliche bedeuten.“
Das Gefühl, wie durch Watte zu laufen, wurde nur von dem Pochen in ihrem Knie relativiert.
Die Flure, durch die sie kamen, zogen sich endlos hin und in ihrer Verwirrung war es Ophelia nicht einmal möglich, sich vernünftig zu orientieren.
“Für eine Frau mit deinem Werdegang eine Schande, meinst du nicht auch? Aber mache dir darum jetzt keine Gedanken. Ich habe das für uns übernommen. Sollte es nötig werden, kann ich dich den selben Weg wieder zurück lotsen.“
Rea überholte sie und sprach den Zauberer von der Seite her an.
"Wie lange wird das ungefähr dauern? Ich muss einschätzen, zu wann die Kollegen sich mitsamt der Kutsche wieder bereithalten sollen. Das Ding kostet im Verleih ein kleines Vermögen."
Der Angesprochene würdigte sie nur eines kurzen, missbilligenden Blickes.
"Das kann ich nicht so genau sagen. Das hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Welche Einstellungen wir an den Geräten verändern müssen, wie HEX auf sie reagiert, inwieweit sie mitmacht und natürlich auch davon, auf welchen Auslöser wir für ihren Defekt stoßen werden."
Die SEALS-Leiterin ließ sich nicht so leicht abschütteln.
"Ein ungefährer Wert würde mir schon weiter helfen. Eine Stunde? Zwei?"
Seine Antwort führte dazu, dass Ophelias Magen sich verkrampfte.
"Das würde nicht einmal ansatzweise ausreichen. Zwei Stunden dürften allein dafür nötig sein, sie an die Messgeräte und an HEX anzuschließen. Alles andere kommt dann ja noch dazu! Vermutlich kannst du also eher mit fünf bis sechs Stunden rechnen."
"In Ordnung. Dann können sie die Kutsche zwischenzeitlich noch mal abgeben und erst später wieder abholen."
Ophelia hörte nicht mehr so genau hin was besprochen wurde. Sechs Stunden in der Gewalt von Zauberern? Sechs Stunden umgeben von Technik, Magie, Wissenschaft und Gleichgültigkeit?
Der neue Gang war ebenso menschenleer wie all die anderen, die sie bereits durchschritten hatten. Bisher waren sie im Inneren des Gemäuers unterwegs gewesen, abgeschnitten von der Außenwelt. Dieser Flur jedoch öffnete sich, gleich einer Galerie oder einem Wandelgang, nach außen und gewährte freien Blick auf einen der riesigen Innenhöfe des Prachtbaus. Die Morgendämmerung setzte ein und auf der gegenüberliegenden Seite glitzerten die ersten Sonnenstrahlen träge auf den Turmspitzen, Regenrinnen und Glasscheiben.
Das alles war so weit weg. Als wenn es sie gar nicht beträfe.
Sie bogen wieder ins Innere des Institutes ab und nach wenigen Minuten öffnete Raistan mit einiger Anstrengung zwei massive Flügel.
Dahinter dominierte ein Ungetüm aus beweglichen, glitzernden, Glöckchen klingelnden Teilen den riesigen Saal. Selbst die unzähligen Zauberer, die hier plötzlich herumwuselten und von einer Seite des Raumes zur anderen eilten, konnten Ophelias Blick kaum von dem fast lebendig wirkenden Gerät ablenken. Bis einer der Männer freudestrahlend auf ihre kleine Gruppe zu eilte und nach kurzer Begrüßung mit gierigem Blick an sie herantrat.
"Ah, Frau Ziegenberger, es ist uns ein außerordentliches Vergnügen, an diesem Projekt teilzunehmen. Vielen Dank, dass du dich dafür freiwillig zur Verfügung stellst. Wir haben schon so lange nach einem passenden Probanden gesucht. Toll! Einfach toll! Raistan meinte gestern ganz überraschend, dass wir die Versuchsreihe aufbauen und alles vorbereiten sollen und natürlich waren wir sofort Feuer und Flamme dafür. Nicht wortwörtlich. Du weiß schon. Das könnte endlich unsere Dissertationen voran bringen! So eine Gelegenheit! "
Ophelia sah ihn mit großen Augen an, da kam bereits ein zweiter Zauberer mit wehendem Umhang und spitzem Hut auf sie zu. Seine Begrüßung fiel wesentlich kühler aus.
"Na endlich! Lass mich schnell Maß nehmen, damit wir die Schrauben schon mal vorjustieren können. Die HEX-Zeit ist limitiert und der Kanzler unversöhnlich. Die bewilligten sieben Stunden laufen bereits. Was habt ihr euch nur dabei gedacht, so herumzutrödeln!"
Er griff hart nach ihrem Kinn und zog es damit herum, ehe er ein Maßband anlegte und kreuz und quer über ihre Züge legte, dabei unzufrieden murmelte und Notizen machte.
Raculs Stimmung näherte sich einem neuerlichen Tiefpunkt.
“Schrauben? Und er nimmt an deinem Kopf Maß? Was sollen das für Untersuchungen sein? Wollen sie dich aufschneiden, um direkt nach dem Fehler zu suchen? Und weit und breit kein Igor?!“
Ein dritter Zauberer nahm sie unangekündigt beim Arm und schob sie zu einem schmal abgetrennten Eck im Raum, vor dem ein altes Bettlaken gespannt worden war. Er redete gelangweilt auf sie ein, während ihr ein überraschter Blick über die Schulter offenbarte, dass Rea und Dagomar dort am Eingang stehen geblieben waren, wo sie den Saal betreten hatten. Sie sahen ihr skeptisch - und im Fall des Püschologen sogar besorgt - hinterher, zeigten aber keinerlei Anzeichen dafür, gegen die Behandlung ihrer ausgegrenzten Kollegin einschreiten zu wollen.
"...genauso wie das Korsett, dieses Armgeschirr, irgendwelchen Haarschmuck, deine Schuhe und... überhaupt Schmuck. Wir stellen immer wieder fest, dass Metall die Ergebnisse beeinflussen kann und es wäre schade drum, diese einzigartige Gelegenheit damit zu verpfuschen."
Ophelia stockte in ihrer Bewegung, als das Gesagte ihre bewusste Wahrnehmung erreichte.
"Wie bitte? Ich soll...", sie musste schwer schlucken. "Ich soll mich entkleiden? Vor all den Männern hier?"
Der junge Zauberer sah sie erst verwirrt an, dann errötete er prompt bis zum Haaransatz. Er bemühte sich stotternd darum, den Gedanken herabzuspielen.
"Äh, also... es ist ja nicht so, als wenn wir... also, wir sind schoooon aber nicht richtig, wir sind, eben, und auch nur... ich meine... du brauchst da jedenfalls gar nicht drüber nachdenken. Schon mal gar nicht so. Wir sind... Wissenschaftler. Genau! Also wir schaffen eben Wissen und finden neues davon und werfen altes über den Haufen. Es guckt schon niemand so genau hin und du sollst dich ja auch nicht vollständig, also... entblößen... Frauenzimmer haben doch ganz furchtbar viele Schichten an und du sollst ja nur soweit... den... Zugang ermöglichen, dass wir deine Herztätigkeit überwachen können und eben deinen Kopf untersuchen und dass dabei keine Sachen aus der Kleidung in den Weg kommen und...." Die letzten Erklärungen hatte er immer schneller herunter gerattert. Als er Luft holen musste, entschied er sich sichtlich, dass diese Art Gespräch nicht zu seinem Aufgabenbereich gehörte. Er deutete kurz angebunden auf das speckige Laken an der Wand und wich ihrem Blick aus. "Dort! Dort kannst Du dich umziehen... also, Sachen ablegen. Steht auch ein Hocker dahinter. Komm einfach wieder vor, sobald du soweit bist."
Er führte sie mit fast ängstlicher Berührung am Arm in die Nische, ließ den Stoff hinter ihr zurückfallen und war verschwunden.
Ophelia stand wie versteinert in dem abgetrennten Eck. Hinter dem Tuch war das emsige Treiben all dieser Männer in Zaubererroben zu vernehmen, ab und an durch merkwürdig technische Klänge untermalt.
Bei Anoia! Was mache ich hier?
“Das frage ich mich auch. Sag ihnen, dass das alles ein Missverständnis war und du dringend gehen musst.“
Hinter dem dünnen Laken hielt ein Schatten und Rea Dubiatas Stimme klang gedämpft zu ihr durch.
"Ophelia? Alles in Ordnung? Brauchst du irgendwas oder kann ich dir helfen? Ich meine, wegen der Armschiene vielleicht oder so?"
Sie richtete sich erschrocken wieder auf.
"Nein, nein. Ich komme schon zurecht. Mach dir meinetwegen keine Gedanken. Ich... ich bin gleich soweit."
"Gut. Die Herrschaften hier sind nämlich schon ziemlich ungeduldig. Wäre vielleicht vorteilhaft, dich etwas zu beeilen. Also... ich warte hier draußen. Wenn etwas ist, dann sag einfach Bescheid."
Sie nickte matt.
"Ja, ich... ich sage dann Bescheid."
Ophelia hob die gesunde Hand mit deutlicher Überwindung an den Hals, fasste das Schultertuch und zog es langsam herab. Es fiel neben dem Hocker zu Boden, doch sie achtete nicht weiter darauf. Die metallenen Schnallen am Ledergeschirr leisteten Widerstand, als wenn sie sie von ihrem Plan abbringen wollten. Der Zug um ihren Körper lockerte sich und kurz darauf hing der gelähmte Arm frei an ihrer Seite herab. Sie ging langsam auf ein Knie und begann, die Schnürung ihrer Stiefeletten zu lösen. Als sie sie von den Füßen gestreift hatte, wandte sie sich der Bluse zu. Inzwischen zitterten ihre Finger so sehr, dass sie die kleinen Knöpfe kaum zu fassen bekam. Kurz war sie unsagbar erleichtert darüber, dass sie sich am Morgen in all der Hast für eine Kombination aus Rock und Oberteil entschieden hatte und nicht für ein Kleid. Dennoch! Der dichte Stoff öffnete sich, die Ärmel rutschten über ihre Schultern herab. Das Kleidungsstück landete auf dem anwachsenden Haufen nutzlosen Stoffes. Sie tastete mit geübtem Griff nach der Schnürung im Rücken und begann damit, Stück für Stück das Korsett zu weiten. Bald schon fiel das Atmen merklich leichter und mit einer kurzen Drehung ihres Handgelenks hebelte sie die freie Schließe in der Front auseinander. Der hauchdünne Stoff ihrer Chemise entfaltete sich ab der Höhe ihrer Schultern wieder um ihren bis eben eingebundenen Oberkörper. Das feine Gespinst legte sich federleicht über jede ihrer Konturen.
Ophelia begann hektisch um Luft zu ringen und schlug sich die Hand mit einem leisen Schluchzer vor das Gesicht.
Sie fühlte sich bereits hier, in der Abgeschiedenheit des improvisierten Sichtschirms, den Blicken preisgegeben. Das Gefühl war unerträglich! Wie sollte sie dieses Versteck jemals verlassen?
"Ophelia?"
Sie schreckte zusammen und beeilte sich, tief Luft zu holen und ihre Stimme ruhig klingen zu lassen.
"Sofort! Ich bin fast fertig."
Sie wandte sich dem Ende des Lakens zu.
“Wirklich! Deine Sorge um dein Ansehen in dieser unsäglichen Runde magischer Stümper ist lächerlich. Diese Kinder mit ihren leuchtenden Zauberstöckchen! Und wer sollte sich schon für deinen Körper interessieren? Es geht hier einzig und allein um deinen Geist! Es ist viel beunruhigender, dass sie deine Gedanken sieben und dein Innerstes ausloten wollen! Frauen! Tritt ihnen mit demselben Stolz entgegen, mit dem du mich dauernd zur Verzweiflung treibst und deine Befürchtungen entbehren sofort jeglicher Grundlagen.“
Ophelia musste unwillkürlich leise glucksen, während sie gleichzeitig fast geschluchzt hätte.
“Du hast eine merkwürdige Art, mich aufzubauen.“
Ihre Erwiderung löste kurze Verwirrung bei ihm aus.
“Ich habe dich doch gar nicht aufmuntern wollen, wie kommst du darauf?“
Doch der Moment des Zuspruchs, war er auch noch so kärglich gewesen, hatte ihr genügt, um sich wieder einigermaßen zu fassen. Wenigstens weit genug, um seinem genervten Ratschlag zu folgen. Sie holte tief Luft, straffte die Schultern und presste die Lippen zusammen. Dann trat sie hinaus, den kalten Boden nur zu deutlich unter den bestrumpften Füßen spürend.
Der alte Vampir hatte bis zu einem gewissen Grad Recht gehabt. Den Zauberern war ihre Aufmachung tatsächlich gleichgültig. Die Aussicht auf ein ungewöhnliches Objekt für ihre Studien war für sie viel bedeutsamer, als es jedes leicht bekleidete weibliche Wesen hätte sein können. Sie warfen ihr nur kurze Blicke zu, denen sie nicht viel mehr entnehmen konnte, als Erleichterung oder Ungeduld. Ganz anders hingegen stand es zumindest um eine ihrer Begleitpersonen.
Von Omniens Gesichtsfarbe wechselte stetig zwischen sachtem Erröten und Erbleichen.
Ophelia wich schnell seinem Blick aus und konzentrierte sich stattdessen auf den einzigen Zauberer im Saal, der so gelassen wirkte, als wenn die anstehenden Versuche längst in ihren Ergebnissen feststünden.
Raistan sah ihr unbewegt entgegen.
"Gut! Es wird auch wirklich Zeit, dass wir beginnen."
Er bedeutete ihr, ihm zu der gigantischen Maschinerie in den hinteren Teil des Saales zu folgen.
Sie konnte jede einzelne Fuge zwischen den Bodenplatten mit den Fußsohlen ertasten. Ein Luftzug querte ihren Weg und spielte mit dem leichten Stoff der Chemise, der sich noch enger an ihren Körper schmiegte. Sie legte instinktiv den Arm vor ihrer Brust quer und umfasste mit den Fingerspitzen für festen Halt ihren Nacken. Dieserart abgelenkt sah sie das angesteuerte Möbelstück erst in letzter Sekunde, als sie direkt davor hielten. Im Prinzip handelte es sich um einen schlichten Holzstuhl. Doch dieser war mit Geschick in etwas Neues, Abartiges verwandelt worden. Die Armlehnen wurden von Lederriemen umkränzt, die Rückenlehne reichte weiter in die Höhe hinauf als üblich und wurde von einem Geflecht aus gebogenen Metallstreifen bekrönt, die offenbar eine Art herabzulassenden Käfig bildeten, der sich mit hineinragenden Schrauben um etwas schließen ließ, das der Formgebung nach ein Kopf sein würde. Die hinteren Stuhlbeine waren mit Scharnieren an den Boden geschraubt worden.
Ophelia blickte entsetzt auf das Foltergerät.
"Es sieht nicht sonderlich einladend aus, das gestehe ich ein. Aber das liegt an der wenigen Zeit, die uns zum Vorbereiten blieb. Im Grunde ist es vor allem funktional. Bitte setz dich! Die Armriemen dienen dazu, die Kontaktflächen dicht an der Haut zu halten und ein Verrutschen zu verhindern. Also alles halb so wild."
Raculs Kommentar brachte ihre dunkelsten Ängste auf den Punkt.
“Der Kerl will dich wehrlos an eine magische Apparatur fesseln! Sind die denn noch bei Trost? Dem wirst du nicht zustimmen!“
Ophelia wich instinktiv zurück, unfähig, den Blick von dem entarteten Stuhl abzuwenden.
Da hielt sie Raistans leise Herausforderung auf.
"Bregs war der Ansicht, dass du zu deinem Wort stehen und die Tests machen würdest..."
Sein stechender Blick schlug sie augenblicklich in den Bann. Kaltes grau. Unverrückbar wie ein Fels, unnachgiebig in seinem Urteil.
Wie hatte sie nur jemals annehmen können, dass er freundlich und zugänglich sei, eine angenehme Ausnahme seiner Zunft? Eine Ausnahme war er wohl, wie er sich ihrer Reaktion so sicher neben dem Schreckensinstrument stand - doch eine angenehme? Mitnichten! Er wusste, dass sie den inneren Kampf mit der Vernunft zugunsten der eingeforderten Loyalität verlieren musste. Wie viel hatte Araghast ihm erzählt? Sah sie sich dieserart in den Fäden seines püschologischen Netzes gefangen? Der Kommandeur hatte sie lange Zeit zum Reden aufgefordert und ihr zugehört, wie kaum jemand anderer zuvor! Wie hatte sie ihm nur so leichtsinnig ihr Vertrauen schenken können?
Die Stimme des alten Vampirs zischte ungehalten in ihrem Sinn.
“Ophelia, nicht! Das ist deine letzte Chance, dieser Farce zu entkommen. Mach ihm einen Strich durch die Rechnung! Es wäre Irrsinn, sehenden Auges in...“
Sie unterbrach ihn.
“Du wirst das nie verstehen. Lass mich diesen Schritt gehen. Ich bin es ihm schuldig und er weiß das. Es wird mich nicht umbringen. Und alles andere... werde ich ertragen. Und danach sind wir quitt.“
Er wollte aufbegehren.
“Untersteh' dich, Weib! Ich habe dir verboten...“
Sie fiel ihm ins Wort.
“Und ich bin nicht deine Leibeigene.“
In Raistans Augen blitzte es wissend auf.
Ophelia trat entschlossen auf den Stuhl zu und setzte sich.
Und dann begann es. Als wenn die anwesenden Studenten nur auf ein Signal gewartet hätten, eilten sie von allen Seiten herbei oder zu der Maschine hinter ihrem Rücken fort. Ein unübersichtliches Gewusel fliegender Mäntel. Ein unverständliches Stimmengewirr erhob sich, so dass Ophelia kaum ein Wort von dem verstehen konnte, was die Zauberer einander zuriefen. Kurze Kommandos zu vorzunehmenden Einstellungen wechselten sich mit langatmigen Diskussionen voller Fachbegriffe ab. Papierbespickte Kladden wurden vorüber getragen, mit Notizen übersät, oder ihr geistesabwesend mit den Rückseiten vor das Gesicht gehalten.
Aus dem Hinterhalt griffen ihr plötzlich seitlich zwei starke Männerarme unter den Achseln hindurch um den Körper und schoben dabei ihren gelähmten Arm etwas fort. Sie zuckte erschrocken zusammen. Schon beugte sich Raistan mit fast sarkastischem Lächeln zu ihr vor und nahm die so angereichten Gurte von der Rückseite des Stuhls in Empfang.
"Die Instrumente sind sehr empfindlich. Und da die Tests einige Zeit beanspruchen werden, müssen wir gewährleisten, dass der Probant seine Position während dessen nicht nennenswert verändert, indem er es sich beispielsweise zu gemütlich einrichtet und herumräkelt."
Die Arme des verborgenen Zauberers zogen sich wieder zurück, streiften dabei aber ihren kaum verhüllten Körper.
Ophelia konnte niemandem mehr in die Augen sehen in diesem Raum. In ihrem Magen krampfte sich alles aufgrund der Schande zusammen und ihr war schlecht. Sie senkte den Kopf und versuchte nur noch, das alles möglichst reglos über sich ergehen zu lassen.
Der breite Gurt, der unter ihrem Brustkorb entlang verlegt ward, wurde von Raistan mit einem kräftigen Ruck zusammengezerrt und um ein weiteres Loch enger in der Schließe fixiert.
Ab jetzt wäre es ihr unmöglich, einfach aufzustehen und zu gehen. Sie war der Gnade der Zauberer ausgeliefert.
Ophelia rang um Atem und versuchte sich einzureden, dass es nur von dem engen Gurt herrührte, dass es ihr so schwer fiel, Luft zu bekommen.
Nur das hier durchstehen, dann bin ich ihm nichts mehr schuldig. Einige wenige Stunden... die Zauberer wissen, was sie tun. Bestimmt. Raistan ist einer der Besten, war es nicht so? Araghast hat nur in den höchsten Tönen von ihm gesprochen, was er sonst nicht tut, wenn es um Zauberer geht. Er vertraut ihm. Und Raistan hat hier eindeutig das Sagen. Es dauert nicht ewig und dann muss ich keinem seiner Vorschläge mehr zustimmen, denn dann habe ich bewiesen, wie weit zu gehen ich bereit bin. Und... vielleicht bringt es ja wirklich etwas? Genau! Die vielen Hände ignorieren, ignorieren, ignorieren... bald wissen wir Genaueres.
Bregs' Kumpan wandte sich, mit elegantem Schwung seiner Robe, ihren Armen zu. Während die Stimmen um sie herum immer lauter und hektischer wurden, schien ihm ihr Schweigen nur recht zu sein. Als er ihren linken Arm auf der Armlehne positionierte, entfernte sie sich innerlich endgültig von den Ereignissen - die Sinne übermittelten ihr nur das Bild davon, wie er den Unterarm mit dessen Innenseite nach oben gerichtet mit den Riemchen fesselte. Sie spürte nichts davon, als er mit einem stark nach Alkohol riechenden Tuch über die nackte Haut rieb, eine feuerrote Paste aufstrich und eine flache Metallscheibe aufdrückte. Die Paste quoll etwas hervor und ein scharfer Geruch umnebelte sie. An der Rückseite der Metallscheibe waren dünne Lederschnüre befestigt und ein Draht ragte heraus, der länger und länger wurde, um hinter ihr in Richtung der großen Apparatur zu verschwinden.
Der Zauberer arbeitete schnell und methodisch, indem er die Lederbändchen zusätzlich um ihren Arm legte und sie unter der hölzernen Auflage festknotete.
Als er die Prozedur an ihrem gesunden Arm wiederholte, sog sie überrascht die Luft ein. Die rote Paste brannte heftig auf ihrer Haut.
"Was ist das?"
Er arbeitete konzentriert weiter, während er ihr kurzgefasst antwortete.
"Das ist Potzblitzsoße. Frag mich nicht, warum es ausgerechnet mit ihr so gut funktioniert. Wir sind eher zufällig darauf gestoßen, dass sie über eine dermaßen ausgezeichnete Leitfähigkeit für magische Wellen verfügt. Die Messergebnisse unter ihrer Verwendung haben sich als über 30 Prozent genauer herausgestellt. Von daher..."
Ein pickliger Zauberer mit geknicktem Hut strahlte sie an und rollte ungeschickt ein Handtuch zusammen. Er trat an ihre Seite, fasste sie im Nacken und drückte ihren Kopf nach vorne, um die Stoffrolle dazwischen zu legen, ehe er seine Hand vor ihre Stirn legte und ihren Kopf so wieder zurücklehnte.
"Geht das so?"
Sie schluckte schwer, räusperte sich jedoch.
"Ja, dank..."
Er hörte ihr gar nicht weiter zu, sondern nickte nur und verschwand wieder hinter ihr.
Sie schloss kurz die Augen und versuchte, beruhigend auf sich selbst einzureden. Der Gedanke an Breguyar schmeckte bitter.
Danach bist du ihm keine weiteren Experimente mehr schuldig! Denke einfach nur dara...
Etwas schabte an allen Seiten um ihren Kopf herum, blieb kurz an den Ohren hängen, ehe es weiter herabgezogen wurde.
Sie öffnete erschrocken die Augen und blickte durch das Gitter des schraubenbewährten Metallkorbes Raistan an.
"Du kannst sie geschlossen halten. Wir müssen ihn so oder so fest positionieren und dafür auch deine Augen abdecken..."
Ihr Blick flog an ihm vorbei und zu der breiten Eingangstür des Saales, wo noch immer ihre beiden Kollegen standen. Sie wirkten in der allgemeinen Hektik etwas verloren. Auf die Entfernung konnten sie ganz sicher nicht hören, was hier besprochen wurde und so war es nicht verwunderlich, dass sie Rea unzufrieden die Stirn runzeln sah. Der omnianische Püschologe wirkte dermaßen angespannt, als wenn er beim kleinsten Hinweis darauf, dass sie ihn benötigen würde, die zwischen ihnen liegende Strecke unter regem Gebrauch seiner Ellenbogen freistoßen würde.
"Kann ich weitermachen?"
Sie rang sich zu einer Zustimmung durch.
Er faltete ein Stofftaschentuch mehrmals, bis es ein längliches, flaches Polster bildete und schob es seitlich durch die metallene Verstrebung. Es kam über ihren Augen zum Liegen. Kurz darauf spürte sie, wie sich das Gestell noch minimal weiter um ihren Kopf senkte und die angedachten Druckpunkte erreichte. Auf ihrem Scheitel schien ein schmaler Bereich als gepolsterte Stütze zu dienen. Dann erahnte sie plötzlich mehrere Personen um den Stuhl herum und das Gestell wackelte und ruckte in winzigen Bewegungen. Einzelne Punkte ihrer Kopfhaut wurden freigelegt, in dem Hände ihr das Haar dort beiseite strichen. Kleine Schwämmchen mit eisiger Flüssigkeit wurden andrückt, brennende Paste aufgetragen und die kühlen Metallscheiben untergelegt. Die Schrauben des Gestells wurden soweit eingedreht, bis sie mit ihren Spitzen auf die Platten trafen - und diese mit jeder weiteren Drehung fester andrückten. Das Messgestell schloss sich dieserart zunehmend unverrückbar um ihren Kopf, bis die Hände, die an ihr herumtupften und drückten weniger wurden.
Raistans Stimme schwebte dicht vor ihr, als er sagte:
"Das Gestell braucht noch den Gegendruck von unten, weswegen ich gleich den Riemen mit der Kinnlasche anlegen muss. Das heißt, dass du dann nicht mehr reden können wirst. Was an sich nicht schlimm sein sollte, immerhin machen wir ja die Arbeit und du brauchst nichts weiter tun, als dich ruhig zu verhalten. Aber falls du noch irgendetwas anmerken möchtest, dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür."
Sie versuchte in Windeseile, die nächsten Stunden zu überblicken. Was würde sie, gefangen in Blindheit, unbedingt benötigen?
"Es wäre... ich möchte... bitte erkläre mir, was mit mir passiert! Also, während der Tests. Ich möchte, dass du mir sagst, was vor sich geht, was es bewirken soll oder welche Erkenntnisse du dir jeweils von einer Messung versprichst. Wäre das bitte möglich?"
Seine Antwort ließ einen Moment auf sich warten und als sie erklang, hatte er sich wohl wieder aufgerichtet, denn seine Stimme kam von etwas weiter weg und von oben herab.
"Wenn es denn sein muss..."
Ein Stück rauhes Leder mit einer Einbuchtung wurde ihr probeweise ans Kinn gehalten und verschwand wieder, nur um kurz darauf, nun mit einem weiteren Stofftaschentuch gepolstert, neuerlich angelegt und dann, dem rundum zunehmendem Druck nach, mit dem Metallgestell verbunden zu werden. Der Rand der Haltelasche reichte über ihren Mund, so dass das überstehende Tuch einem angedrückten Knebel glich.
Jemand, und sie meinte, Raistans schlanke Hände wieder zu erkennen, fasste ihren Kiefer beidseitig von hinten, streckte ihren Hals leicht... und verankerte das Gestell mit einem kurzen Ruck fest in einer Halterung an der Rücklehne.
"Fertig!"
Ophelia versuchte probeweise, sich irgendwie zu bewegen. Doch die einzigen Regungen, die sie noch machen konnte, waren atmen, die Finger der rechten Hand zu strecken und zu ballen oder die Beine anders aufzustellen.
Raistans Stimme fuhr sie an.
"Es wäre gut, Fräulein Ziegenberger, wenn du dieses Gezappel sein lassen und dich der Aufgabe mit dem nötigen Ernst widmen würdest!"
Sie versteinerte regelrecht und beschränkte sich auf das Atmen.
Eine Hand mit kratziger Haut schob den bestickten Rand ihrer Chemise über ihrer linken Seite tiefer.
Sie schrie erschrocken auf und versuchte zurückzuzucken - was aber beides nicht nennenswert wahrgenommen werden konnte.
Der Unbekannte klang genervt.
"Meine Güte! Ich will doch nur die letzte Scheibe anbringen! Wir müssen ein bisschen im Auge behalten, wie es mit deinem Herzschlag ausschaut, bei den Tests! Kein Grund zum Überreagieren."
Ophelia atmete in kurzen, viel zu schnellen Zügen.
Racul war offenbar erzürnt darüber, dass sie seine Warnungen in den Wind geschlagen und es bis zu diesem Punkt hatte kommen lassen.
“Unfassbar! Du hast wirklich ein dramatisches Talent dafür, dich in ausweglose Situationen zu bringen. Es ist verantwortungslos, dich in freier Wildbahn herumlaufen zu lassen, als wenn du in der Lage wärest, auf dich aufzupassen. Glaube nicht, dass ich mir das Elend anschaue. Soweit irgend möglich werde ich mich zurückziehen. Das kannst Du schön alleine ausbaden. Und wehe, du lässt dich umbringen!“
Raistan gab seinen Kollegen Anweisungen. Es wurde ihr klar, dass er sich auf seine Tabellen und Anzeigen zu konzentrieren begann und sie bereits in der Gefahr stand, aus seinem Aufmerksamkeitsradius zu geraten. Sie musste ihn an sich erinnern, ehe er in ihr nicht viel mehr als das Versuchsobjekt in der Mitte des Raumes sehen würde.
Sie gab ein möglichst lautes, fragendes Geräusch von sich - das aber durch das Tuch und die feste Laschenumrandung vor ihrem Mund gedämpft wurde.
Hat er mich gehört? Oder ist er womöglich sogar schon gegangen und ich sitze hier allein inmitten der übrigen Zauberer?
Neben sich hörte sie ein deutlich ungeduldiges Seufzen.
"Na gut. Wir werden HEX jetzt mit dir koppeln, indem wir die Verdrahtungen mit dem Adapter verbinden und dich dann anschließen. Vermutlich wirst du ein kurzes Kribbeln spüren. Anschließend beobachten wir die Messungen etwa zehn Minuten lang einfach nur, um sozusagen Vergleichsdaten deines Ruhezustandes vorliegen zu haben."
Das "kurze Kribbeln" entpuppte sich als eine Art Energieschauer, der gleich einer kalten Dusche durch ihren Körper rieselte.
Ophelia spürte, wie sich ihr am ganzen Körper die Härchen aufrichteten, konnte sonst aber nichts weiter tun. Sie atmete noch immer viel zu schnell, das war ihr wohl bewusst. Allein... das auch zu ändern, fiel schwer. Sie horchte nach den Gesprächen der Anwesenden, nach ihren Bewegungen. Ein Räuspern hier, ein Kleiderrascheln da... bald schon hatte sie zumindest eine ungefähre Ahnung davon, wo sich jemand befand. Diese Konzentration auf Kleinigkeiten lenkte sie etwas von der Tatsache ab, dass sie nun mit dieser magischen Maschine verbunden war. Lange Zeit geschah nichts weiter, als dass sie blind dort saß und ignoriert wurde.
Ihr Puls beruhigte sich allmählich.
Ein lang gezogenes Kleiderschleifen dicht neben ihr kündete davon, dass einer der Zauberer sehr nahe an sie herangetreten sein musste. Es war Raistans Stimme, die ihre Vermutung bestätigte.
"Die Basisdaten haben wir damit. Dann beginnen wir nun mit der Testreihe. Ich bezweifle zwar, dass du verstehen wirst, was ich dir sage aber da du unbedingt informiert werden möchtest..." Er räusperte sich dezent und hub an: "Um meine Überlegungen von Beginn an aufzuzeigen... Dein Defekt betrifft den mentalen Bereich. Bregs gab mir zum Studium deines Falles die vorliegenden Akten. Die Problematik äußert sich in verschiedensten Abstufungen, nicht wahr? Von deutlich verstärkter Empathie bis hin zu klar formuliertem Gedankenaustausch ist ja wohl alles dabei. Dass du keinen nennenswerten Einfluss darauf hast, die Symptomatik also weder steuern, noch unterbinden kannst, zeugt entweder von völliger Unfähigkeit im Umgang mit geistigen Ressourcen oder von einer schadhaften Anomalie. Im Falle einer durchschnittlichen Menschenfrau geht man nun normalerweise nicht von der Fähigkeit zu einer losgelösten Intrakommunikation aus." Er legte eine bedeutungsvolle Pause ein, was seinen nächsten Worten besondere Bedeutung beimaß. "Bei Vampiren hingegen schon. Nimmt man das Wissen um deine bewegte Vergangenheit hinzu, die sich durch bemerkenswert häufige Begegnungen mit dieser Spezies auszeichnet, so zeichnet sich ein Muster ab. Zudem standen viele dieser Kontakte sogar in direktem Zusammenhang mit einem Akt der Aggression dir gegenüber? Der Schluss liegt nahe, dass wir also dort nach der Ursache des Problems suchen müssen. Ich habe die Testreihe dementsprechend ausgerichtet."
Er schien für einen Sekundenbruchteil auf ein Nicken oder eine andere Art Wohlwollensäußerung von ihr zu warten. Er räusperte sich.
"Wie dem auch sei... als erstes lassen wir HEX deinen Kopf durchkämmen." Er wandte sich seinen Kollegen zu. "Wir beginnen!"
Für einige Sekunden war ein lang anhaltendes, hartes Klackern hinter ihr zu hören. Dann wurde ihr Kopf von innen heraus merklich wärmer. Fieberwellen waberten durch ihren Sinn, brandeten gegen die Schläfen und schwappten wieder zurück. Die Ränder ihrer Gedanken schienen bei der Berührung mit dem, was jetzt in ihrem Kopf forschte, zu verschmoren. Ein schwindelerregendes Empfinden von Unendlichkeit wippte in ihrem Sinn von einem Extrem zum anderen. Ja oder nein. Schwarz oder weiß. Heiß oder kalt. Hell oder dunkel. Bewegung oder Stillstand. Richtig oder falsch. Existenz oder Nicht... Nicht... Nicht...
"Stopp! Wir müssen die Verbindung neu hochfahren. Er hat sich aufgehangen."
Die Hitze in ihren Gedanken ließ etwas nach, das Gefühl der verlorenen Mitte hingegen nicht. Sie fühlte sich wie in der Schwebe.
"So, ich habe die periphären Ameisen ausgetauscht, es sollte wieder gehen. Nächster Versuch!"
Die Hitze erblühte wieder mitten in ihre Gedanken. Diesmal jedoch schlitzte sie sich von dort aus wie eine flach gehaltene Klinge zwischen die Worte. Plötzlich schien nichts mehr Sinn zu machen. Die Bilder und Sätze zerfielen, noch bevor sie sie gedanklich formulieren konnte, bereits wieder zu losgelösten Buchstaben und Farben. Und während dessen schlitterte das glühende Untersuchungsskalpell durch immer tiefere Schichten ihrer Seele.
Ophelia erinnerte sich plötzlich an einzelne Erlebnisse ihres Lebens, sprunghaft und unvorhersehbar, sowohl im Guten, wie im Unguten, erreichte mit diesen Reminiszenzen endlich ihre Kindheit... und das leise Summen in ihr stoppte.
Von hinter ihrem Stuhl erklang die aufgeregte Stimme eines Zaubererstudenten.
"Raistan? Das erste Modul ist abgeschlossen. Gleich mit dem nächsten anfangen oder willst du erst auswerten?"
"Das kann ich auch nebenbei. Lass uns keine Zeit verschwenden und mach gleich weiter!"
"In Ordnung!"
Raistan schien sich widerwillig daran zu erinnern, dass er ihr Erklärungen zugesagt hatte. Noch knapp gefasster als zuvor merkte er also an:
"Wir bestrahlen jetzt den Bereich in deinem Kopf gezielt, der allgemein für das Formulieren und Sprechen zuständig ist. Dafür nutzen wir unterschiedliche Einstellungen und testen ein gewisses Spektrum durch."
Falls sich etwas veränderte, so spürte sie nichts davon. Lediglich ihre Verwirrung schien anzuwachsen. Dass dennoch irgendetwas geschah, ohne dass sie es benennen konnte, merkte sie erst, als sie Schwierigkeiten damit bekam, selbst das festzustellen. Die Begriffe, mit denen sie zu denken versuchte, verschoben ihre Bedeutungen!
Die Gespräche um sie herum wurden zu unverständlichen Äußerungen, wie das leise Hintergrundrauschen von Menschen, die sich auf einem weiten Marktplatz in fremden Sprachen unterhielten. Exotisch und fremd.
Ab und an sagte der unsichtbare Mann neben ihr etwas und manchmal wurde in ihr drin etwas anders. Es wurde warm oder kalt, es kitzelte sie. Ophelia verlor das Gespür dafür, wie die Zeit verstrich.
Irgendwann hörte sie die Zauberer darüber reden, dass sie essen gehen wollten und Raistan schien darüber verärgert zu sein. Er habe ihnen gesagt, dass die Tests nicht unterbrochen werden könnten und sie sich ausnahmsweise gedulden müssten. Doch mit dieser Ansicht schien er sich nicht durchsetzen zu können und so entwickelte sich ein noch unübersichtlicheres Kommen und Gehen im Saal.
Ophelia begann in ihrer erzwungenen Bewegungslosigkeit vor sich hin zu dämmern.
"Zweites Modul abgeschlossen. Ich initiiere das dritte."
Raistans Stimme schwebte diesmal links von ihr und mit einiger Mühe gelang es Ophelia, sich auf das zu konzentrieren, was er ihr erklärte.
"Wir nehmen uns jetzt die Stelle im Gehirn vor, in der wir das Zentrum der mentalen Übertragungsfähigkeit vermuten. Entspann dich einfach. Wir kommen gut voran."
Mund und Kehle fühlten sich so trocken an, dass sie keinen Ton herausbrachte. Stattdessen wollte sie nicken - bis sie durch die Umstände daran erinnert wurde, darauf verzichten zu müssen.
Das Geräusch setzte wieder ein, mit dem jede neue Testphase bisher eingeleitet worden war und das so klang, als wenn dünne Metallstängel hart auf etwas Massives geschlagen würden.
Ihr Zustand blieb unverändert.
"Ich bekomme keinerlei Reaktion. Raistan? Soll ich kalibrieren oder eher die Frequenz erhöhen?"
"Erhöhe die Rate. Denke aber daran, dass du dabei erst die Wellenlänge abkoppeln m..."
"Oh verd..."
Sie hörte ein lautes Knistern und Zischen und ein Schlag ging durch ihren Körper. Für eine Sekunde zeichneten sich hinter ihren geschlossenen Lidern die Konturen aller Gegenstände und Personen in der Halle ab, sogar die, die sich hinter ihr befanden. Dieses schwarz-weiß-graue Abbild mit den lila schimmernden Rändern verblasste wieder in Dunkelheit und das Gefühl für ihren Leib kehrte von überall her gleichzeitig zurück. Ein Kribbeln und Zwirbeln, als wenn sie falsch gelegen hätte und nun die Durchblutung wieder einsetzte, wie eingeschlafen, nur schmerzhafter. Wesentlich schmerzhafter! Das Luftholen war kaum noch möglich und im selben Augenblick setzte die Panik ein. Sie würde ersticken!
Sie krümmte sich in ihren metallenen Fesseln und wand sich, sodass sie die Schnüre und Metallkanten allerorten einschneiden spürte.
"Runterfahren! Sofort! Halte HEX an!"
Ophelia rang nach Luft, doch der Gurt um ihren Oberkörper hielt sie straff an die Rückenlehne gekettet und so sehr ihr Brustkorb sich in diesem stummen Kampf auch hob und senkte, es gelang ihr nicht, das kostbare Gut in ihre Lungen zu ziehen! Nicht genug! Es war einfach nicht genug!
Der Schwindel verstärkte sich und an den Schläfeninnenseiten blitzten Funken in grellen Lichtern.
Ihre Halsmuskeln waren bis zum Zerreißen gespannt und der zwirbelnde Schmerz im ganzen Körper ließ sie hinter dem Knebel wimmern.
"Nicht! Fass sie nicht an, sie steht unter Magie!"
"Aber..."
"Keine Widerrede! Wir haben alles unter Kontrolle. Du stehst hier nur im Wege, also geh wieder in den Aufenthaltsraum zurück! Das sieht aufregender aus, als es ist. Hast du gehört, was ich dir gesagt habe, Herr von Omnien? Aus dem Weg!"
Ophelia krallte die Fingernägel in die Faust und stemmte ihre Füße scharrend gegen Boden und Stuhlbeine. Die Welt schien aus den Angeln zu kippen...
"Verfl... Kaper, hierher! Hilf mir, sie zu halten!"
...und kam mit einem Ruck wieder zum Stehen, wenn auch in Schieflage.
"Bloß gut, dass er vom Testlauf mit Harry noch angeschraubt war. Sonst wäre er nicht einfach nach hinten gekippt, sondern sonstwohin und dann hätten wir den Salat gehabt, mit all der Verdrahtung, stimmt's?"
"Ist Hex endlich zurückgefahren?"
"Gleich, Raistan. Nur noch ein paar Sekunden. Ich beeile mich schon. Aber er braucht einen Moment."
Das scharfe Ziehen an ihren Sinnen ließ allmählich nach, doch noch immer bekam sie kaum Luft. Sie hörte ihr verzweifeltes Schnaufen überlaut in den eigenen Ohren, dann übertönten Raistans ungehaltene Vorwürfe dieses Geräusch mühelos, als er direkt neben ihr auf sie einredete.
"Fräulein Ziegenberger, ich weiß, dass das gerade unangenehm ist aber das ist kein Grund für einen solchen Aufstand! Bleibe gefälligst ruhig sitzen und reiß dich zusammen! Wir versuchen hier alles uns Mögliche, um dir zu helfen und du boykottierst unsere Arbeit dermaßen rücksichtslos!"
Ich ersticke! Wie kann ich da rücksichtslos sein?!
Sie drückte ihren Kopf in dem Bemühen, Atemluft in ihren Körper zu zwingen, mit aller Kraft nach hinten, was zusätzliche Schmerzen verursachte. Aber diese waren inzwischen kaum nennenswert, im Vergleich zu dem Brennen in ihrer Brust.
"Hörst du wohl auf damit? Sofort! Du zerstörst noch die Messplatten, wenn du so weitermachst! Das geht so nicht, wirklich! Ich wusste ja, dass du hysterische Züge hast aber dass du nicht einmal bei den paar Tests ordentlich mitarbeiten kannst! Schluss damit! Mit dem Zappeln aufhören!"
Die Welt rutschte mit einem Ruck in ihre ursprüngliche Position zurück.
"HEX ist auf Null!"
Die Blockade in ihrem Inneren löste sich auf, wie Butter in der Sonne. Die Anspannung schmolz dahin und zerann. Sie sackte in sich zusammen, hing nur noch in den Bändern und Gurten und sog die Luft begierig in sich ein. Und nochmals. Und ein weiteres Mal. Alles andere verlor an Bedeutung, einzig und allein das Atmen hielt sie in der finster flimmernden Realität.
"Wenigstens hat sie sich beruhigt."
"Wurde aber auch Zeit."
"Sollen wir abbrechen oder weitermachen?"
"Was soll die Frage? Wir machen natürlich weiter. Arden? Wir müssen HEX neu kalibrieren. Fangt sofort damit an!"
Ophelia wollte widersprechen, doch alle Möglichkeiten dazu wurden schlichtweg von den sie umgebenden Zauberern ignoriert.
"Sitzen die Messscheiben denn noch richtig?"
"Wir können da jetzt nicht dran gehen, solange sie noch angeschlossen ist. Die Werte sehen alle richtig aus. Außer natürlich der Herzschlag. Aber der pendelt sich schon noch wieder ein."
"Hmmm... so eine Reaktion gab es bei Harry nicht. Die Brandblasen sehen schon ziemlich übel aus. Aber die Werte werden trotzdem noch übermittelt, sagst du? Na, Raistan wird schon wissen, was er will. Bisher hat es ja immer geklappt."
"Jup, sehe ich auch so."
"Uh, hast du seinen Blick gesehen? Lass uns besser nicht rumtrödeln. Außerdem ist es bald Kuchenzeit, wäre gut, wenn wir wenigstens das Triangulieren noch vorher schaffen, sonst streicht er uns die Teilnahmebestätigung."
"Hast Recht. Das traue ich dem direkt zu."
Die Stimmen der gesichtslosen Studenten entfernten sich und für eine Weile war Ophelia sich selbst überlassen, sorgsam darauf bedacht, ihren Atemrhythmus zu normalisieren. Inzwischen tat ihr alles weh.
Jemand stand neben ihr und beobachtete sie. Sie wusste nicht, woran sie das erkannte aber ihr Gefühl schloss eine Fehleinschätzung aus. Sie versuchte sich an einem fragenden Geräusch, das allerdings ziemlich schwach durch Tuch und Leder der Kinnhalterung drang.
Raistan stieß entnervt Luft aus, ehe er schwer seufzte. Seine Stimme klang leise, als wenn er absichtlich nur gerade eben laut genug sprach, damit allein sie ihn hören würde.
"Bregs hatte Recht."
Ophelia wiederholte das gedämpfte Geräusch.
"Wir können gleich weitermachen. Die Einstellungen müssen nur neu eingegeben und die Fragestellung präzisiert werden."
Sie stieß heftig den leicht zu erkennenden Doppellaut für eine Verneinung aus und versuchte mit ihrer Rechten, aufzuzeigen.
Der junge Magier ließ sich Zeit mit seiner Antwort, dann beugte er sich vor, um sicherzugehen, dass seine noch leiser gewordene Stimme nur das Untersuchungsobjekt erreichte.
"Du hast deine Zustimmung gegeben. Und dabei bleibt es. Keine Rückzieher! Ich habe all die Absprachen nicht umsonst getroffen. Und die Arbeit bis hierher... wenn wir jetzt aufhören würden, hätten wir gar nichts in den Händen! Die Tests bauen aufeinander auf und endlich haben wir den Dreh- und Angelpunkt gefunden, da akzeptiere ich keine Empfindlichkeiten deinerseits, Fräulein Ziegenberger. Ich werde fortfahren und ich werde Ergebnisse liefern. Die wenigen Nebenwirkungen sind es wert. Nimm sie in Kauf, dafür, dass du danach vielleicht genauer weißt, wie du dein Problem in den Griff bekommst!"
Dann war er fort.
Sie kämpfte mit den Tränen. Alles was sie je hatte vermeiden wollen, war Hilflosigkeit gewesen. Ihre größte Angst war die wehrlose Abhängigkeit von den Entscheidungen anderer gewesen. Sie war aus ihrem behüteten Zuhause ausgebrochen, um eigene Entscheidungen zu treffen. Sie war zur Wache gegangen, um die nötige Stärke dafür zu entwickeln. Und was hatte es ihr gebracht? Isolation und Einsamkeit, Schmerzen, Verletzungen... und immer wieder das Gegenteil von dem, was sie anstrebte.
Ein winziger Lichtblick bewahrte sie vor dem Abrutschen in die endlosen Tiefen des Selbstmitleids: Rach!
Sie tastete mit ihren angewinkelten Fingern nach der Stelle, wo der schmale Verlobungsring nun gesessen hätte, wenn sie ihn nicht zuvor mit allen anderen Metallgegenständen hätte ablegen müssen.
Ihr Atem beruhigte sich etwas und sie lehnte sich innerlich in die Fesselungen zurück.
Es ist, wie es ist... alle diese Entscheidungen und Bemühungen haben mich zu ihm geführt. Wäre ich nicht Wächterin geworden, so hätten wir uns gewiss nie auf diese Weise kennengelernt...
Die Studenten hatten das, was auch immer sie angegangen waren, abgeschlossen.
"Raistan? Wir sind soweit. HEX ist wieder einsatzbereit."
"Worauf wartet ihr dann? Hochfahren!"
Ophelia atmete schnell einige Male ein und machte sich auf das Schlimmste gefasst.
Er hat Recht, auch wenn er mir dabei nicht freundlich gesonnen ist. Ich muss mein Leben in den Griff bekommen. Für Rach. Ich kann das schaffen!
Die emotionslose Stimme des federführenden Zauberers erteilte Anweisungen und nahm einmal mehr die Fäden in die Hand.
Etwas Hauchzartes fiel sehr langsam an ihrem bloßen Hals vorbei und streifte kitzelnd die freiliegenden Schultern. Sie fröstelte.
Das stete Summen der unterschwellig durch ihre Glieder fließenden Energie wurde wieder stärker und in ihrem Kopf begann etwas leise mitzuschwingen. Ein Ton sang hell und klar in ihren Gedanken, setzte aus, erhob sich von Neuem, kam in hypnotisierender Intensität näher, entfernte sich…


MINA VON NACHTSCHATTEN

Ja, sie hatte zu tun. Eigentlich mehr als genug: Dienstpläne schrieben sich schließlich nicht von selbst und wenn man bedachte, was aufgrund der Ereignisse der letzten Tage alles liegen geblieben war... Demnächst stand auch eine Fundus-Durchsicht an, komplett mit Reparatur beschädigter Kostüme und so weiter und so fort... da würden sie sich drum reißen, allesamt! Konkrete Zuweisungen waren also unerlässlich, abgestimmt auf die einzelnen Schichten und aktuell laufenden Fälle... Aber dennoch klebte Mina regelrecht am Fenster ihres Büros, starrte auf den Pseudopolisplatz hinunter, ohne wirklich etwas wahrzunehmen, und versuchte derweil, die Wut in sich klein zu halten. Sie hatten es also nicht für nötig befunden, ihr irgendetwas zu sagen, ja? War ein klein wenig Zutrauen denn so viel verlangt, dazu, dass sie keine Dummheiten machen und die Sache für sich behalten konnte? Wenn der Kommandeur derart an ihrer Vernunft und Integrität zweifelte, dann konnte er sie auch gleich ihres Postens entheben, zum Donnerwetter noch einmal! Den anderen, den Eingeweihten, nun, jenen konnte sie es ja kaum übel nehmen - wer waren sie auch, gegen eine direkte Anweisung des Oberhauptes der Wache zu verstoßen? Dennoch, ein klein wenig Loyalität von Seiten der Kollegen ihrer stellvertretenden Abteilungsleiterin gegenüber - das hätte schon gut getan. Denn so wirklich akzeptiert fühlte sie sich bislang nur in bedingtem Umfang. Aber vertrauensbildende Maßnahmen... nein, das war nichts, was noch Platz auf der Agenda gefunden hätte, auch wenn es für die Abteilung in ihrer Gesamtheit unter Umständen wohl nicht das Schlechteste gewesen wäre. Irgendwann einmal vielleicht.
Die Feststellung, welche sie am Morgen direkt nach ihrem Eintreffen im Wachhaus hatte machen müssen, war ebenso unumgänglich wie erschreckend gewesen, zumindest im ersten Moment. Zugegeben, auch im zweiten hatte sie nichts an diesen Eigenschaften eingebüßt, nur hatte sich der Schrecken da schon verlagert gehabt: Vom bloßen Registrieren der Abwesenheit einer gewissen Person hin zu der Erkenntnis über deren tatsächlichen Aufenthaltsort in eben jener Sekunde. Zudem war man offensichtlich in Sorge um das Schicksal eines etwaigen Boten gewesen, weswegen sie die diese Veränderung auslösende Mitteilung in Schriftform erhalten hatte. In Schriftform! Ein lausiger Zettel auf Ophelias Tisch. Vertrauen... ja, überwältigend, besten Dank auch! Mina betrachtete das mittlerweile recht mitgenommene Stück Papier vor sich auf dem Fensterbrett. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Breguyar die ganze Wahrheit über jene Nacht zu verschweigen, als Ophelia die Zaubererpillen geschluckt hatte. Denn dann hätte er sie sicher nicht... also vielleicht nicht... Die Vampirin biss so fest die Zähne zusammen, dass es wehtat. Doch, er hätte sie wohl selbst in diesem Wissen heute in die Unsichtbare Universität verfrachten lassen und es fiel Mina wirklich schwer, ihm keine darin liegende Bosheit zu unterstellen. Mittlerweile war ihm wohl alles egal! Und sie selbst einer Lösung derweil kein Stück näher gekommen...
Es klopfte an der Bürotür. War sie da? Oder sollte sie sich einfach selbst verleugnen, nur dieses eine Mal? Andererseits, was würde es bringen? Die Scheibe hörte ja schließlich nicht auf sich zu bewegen, nur weil gewisse Leute vollkommen unsägliche Entscheidungen trafen, deren Ergebnis andere mit einem mehr als unguten Gefühl im Magen abzuwarten verdammt waren! Nein... sie wusste, wo ihre Prioritäten zu liegen hatten. Das war der Tschob.
Dennoch konnte Mina den deutlich angespannten Unterton in ihrer Stimme nicht ganz verhindern als sie antwortete:
"Ja?"
Eine junge Frau in GRUND-Uniform erschien im Türrahmen, allerdings war Mina das dazu gehörige Gesicht mittlerweile bekannt.
"Rekrutin Fernlicht?"
Die Umstände waren um ein Vielfaches besser im Vergleich zu ihrer letzten, nun ja, Zusammenarbeit. Dennoch - der kritische Blick der Wächterin war immer noch derselbe. Aber wer wusste schon, was sie erwartet hatte? Wenn das alles so weiterging würde es sich bald hartnäckig in die Köpfe eingebrannt haben, dass bei RUM nur Verrückte arbeiteten...
"Mä‘äm." Sie salutierte lax. "Da will Sie jemand sprechen. Es ist wohl dringend oder so. Hat mir keine Einzelheiten genannt, daher..." Die Rekrutin zuckt mit den Schultern.
"Dann schick ihn rein. Danke."
Ein letzter rascher Blick nach draußen. Natürlich war immer noch nichts zu sehen, aber wenn sich daran etwas änderte würde sie das auf andere Art und Weise sehr schnell mitbekommen. Da konnte sie sich ebenso gut zunächst hierauf konzentrieren. Die Vampirin zog ihren Schreibtischstuhl zurück und setzte sich in dem Moment, als der angekündigte Besucher den Raum betrat. Doch die eigentlich angedachte Begrüßungsfloskel blieb ihr im Halse stecken, sobald sie jenem ansichtig wurde.
"Was wollen Sie denn hier?", entfuhr es der stellvertretenden Abteilungsleiterin stattdessen. War der erste unbedachte Impuls noch gewesen, ihn geradewegs wieder hinauszuwerfen, so wurde diese Regung unmittelbar darauf von einer Welle aus tiefgreifender Dankbarkeit überrollt: Wie gut, wie überaus gut, dass Ophelia gerade nicht im Haus war! Eigentlich die reine Ironie angesichts der Situation... Aber es musste wirklich nicht noch ein Vampir von deren unfreiwilliger Mitteilsamkeit erfahren und ganz speziell nicht dieses Exemplar. Darüber hinaus, hätte Mina eine Skala gehabt, auf welcher die Beliebtheit möglicher Besucher ihres Büros vermerkt war, dieser hier hätte irgendwo ganz unten gestanden. Ein Umstand, dessen er sich bewusst zu sein schien.
"Ja, ich weiß, ich habe Ihnen gerade noch gefehlt." Geziert ließ sich Anastasius Schrapnell auf einer der noch freien Sitzgelegenheiten nieder und sah sich mit abschätzendem Blick im Raum um. "Das habe ich mir anders vorgestellt. Aber was hätte ich bisher auch für eine Veranlassung gehabt, der Wache einen Besuch abzustatten?"
"Weniger Schreibstube, mehr Kellerverlies?"
"Nicht einmal das." Er trommelte mit den Fingerspitzen der einen Hand nachdenklich auf seiner auf dem Knie ruhenden anderen. "Etwas heruntergekommener vielleicht. Düsterer. Es ist beinahe... langweilig." Der blondhaarige Vampir legte den Kopf schief und sein Blick verhärtete sich. "Doch ich bin ganz bestimmt nicht hier, um über die Finessen der Inneneinrichtung zu diskutieren, so dies an solch einem Ort überhaupt einen Sinn hätte."
"Und was verschafft mir stattdessen die Ehre Ihres Besuchs?" Eigentlich hatte sie nicht die geringste Lust auf einen längeren Wortwechsel mit Schrapnell junior, zumal sein Erscheinen nichts Gutes bedeuteten konnte. Die Wahrheit war, dass sie den Gedanken an das in dieser Richtung immer noch bestehende Problem momentan einfach verdrängt gehabt hatte und auf diese Weise daran erinnert zu werden war nicht eben angenehm. Aber ihn von vornherein abzuweisen hätte ihn wohl nur dazu gereizt, seinen Aufenthalt absichtlich und unnötig in die Länge zu ziehen.
"Warum denn so sarkastisch? Also ich an Ihrer Stelle wäre wirklich etwas freundlicher zu mir, Mina." Schrapnell korrigierte unnötigerweise seine akkurat sitzenden Ärmelaufschläge. "Doch ich will es Ihnen und mir einfacher machen und mich kurz fassen. Ich befürchte, ich habe mich bei unserer letzten Begegnung nicht deutlich genug ausgedrückt: Die alte Schachtel sitzt immer noch in meinem Haus. Sollte sich daran nicht in absehbarer Zeit etwas ändern, könnte ich mich dazu gezwungen sehen, des Öfteren hier vorbeizukommen und wer weiß, was ich dann so zu erzählen habe." Er zuckte in scheinbarem Desinteresse mit den Schultern. "Und vor allem wem."
Mina seufzte und ließ sich ein Stück weit in ihrem Stuhl zusammensacken. Zugegeben, die Variante, dass er sich noch eine Weile zurückhalten würde wäre auch zu schön gewesen um wahr zu sein. Aber für derart kindische Hin- und Herspielchen fehlten ihr momentan wahrhaftig die Nerven.
"Anastasius, ich hatte eigentlich gehofft, wir hätten das hinter uns gelassen." Sie hob fragend die Augenbrauen. "Ich dachte das Ganze wäre zu... unspektakulär für Ihre Zwecke."
"Vielleicht habe ich meine Meinung ja geändert?"
"Haben Sie das?"
"Wer weiß? Wollen Sie es darauf ankommen lassen?"
Natürlich nicht. Aber sie würde sich hüten, Schrapnell einmal mehr die Gewissheit zu vermitteln, dass er die besseren Karten auf der Hand hatte. Was sie brauchte war Zeit, um all das richtig zu durchdenken; Zeit, sich eine Strategie zurechtzulegen. Die Frage war nur, ob Anastasius Schrapnell ihr diese noch zugestehen oder seine Androhungen vorher in die Tat umsetzen würde - einfach, weil er dazu in der Lage war.
Du könntest Gloria hierdurch ein für alle Mal loswerden, merkte eine kleine, boshafte Stimme in ihrem Hinterkopf an. Überleg es dir gut - das wäre die einfachste und sauberste Variante. Und was etwaige dienstliche Konsequenzen für dich angeht: Erstens sind diese zunächst noch potenzieller Natur und zweitens: Wäre es das nicht fast wert?
Mit einem energischen Kopfschütteln verbot Mina sich jedwede weiterführende Überlegung in diese Richtung. Das kam keinesfalls infrage! Abgesehen davon, dass sie Anastasius diese Genugtuung nicht gönnte! Es war irrational, aber... es handelte sich nun einmal... irgendwie... nein, nicht irgendwie, es handelte sich nun einmal um Familie, Punkt. Und dieser Gedanke ausgerechnet von mir...
"Ja, das dachte ich mir." Der junge Schrapnell hatte ihre Geste auf sich bezogen missverstanden und hob triumphierend das Kinn. " Also sind wir uns einig?"
"Können Sie die Angelegenheit nicht einfach als die Verkettung unglücklicher Umstände auf sich beruhen lassen, die sie war?" Ein letzter Versuch in einer Reihe von vielen konnte nun auch nicht mehr schaden. "Es tut mir nach wie vor leid für Sie, aber an Ihrer Situation lässt sich nun nichts mehr ändern. Selbst dann nicht, wenn Sie die", Mina stockte kurz, "Verursacherin zu einem Schicksal verdammen, welches höchstwahrscheinlich nicht nur ihr Ende, sondern auch eine Gefährdung anderer bedeuten würde." Gloria würde sich nie und nimmer widerstandslos verhaften lassen!
Anastasius Schrapnell lachte kurz und schroff auf.
"Geben Sie sich keine Mühe, Mina!"
"Es hätte auch ganz anders enden können und die Liga..."
"Die Liga!?" Mit einem Ruck erhob sich Anastasius. Er stemmte die Hände auf die Kante des Schreibtisches und beugte sich nach vorn, ein aggressives Funkeln in den Augen. "Es mag Ihnen entgangen sein, Fräulein von Nachtschatten, da es jenseits ihrer Lebensrealität liegt. Aber für jemanden wie mich ist die Liga nicht viel mehr als ein Gefängnis." Mit einer abrupten Geste riss er sich die schwarze Schleife vom Revers und knallte sie auf die Tischplatte, bevor er sich umwandte und zur Tür stolzierte. "Sie kennen nun meinen Standpunkt. Sie sollten sich schnellstens über den Ihren klar werden!"
Staub rieselte von der Decke, als die Tür viel zu heftig ins Schloss geworfen wurde und Mina konnte die lautstarken Schritte des anderen Vampirs noch hören, bis dieser über die Treppe nach unten verschwunden war. Das war definitiv keine Begegnung gewesen, die Anlass zu Optimismus gab. Sie hatte von Anfang an auf ziemlich verlorenem Posten gekämpft, das war der Vampirin klar, aber es musste doch noch irgendeine Möglichkeit geben, irgendetwas... Der Blick der stellvertretenden Abteilungsleiterin blieb an dem kleinen schwarzen Abzeichen vor ihrer Nase hängen. Die Liga... Bedächtig langte Mina nach Papier und Schreibgerät. Dann begann sie in wohl überlegten Worten einen Brief zu formulieren. Möglicherweise war es nun an der Zeit, einen noch ausstehenden Gefallen einzufordern. Denn wenn sie den Sturm schon nicht aufhalten konnte, vielleicht ließ er sich wenigstens solange eindämmen, bis man die entsprechenden Befestigungsmaßnahmen getroffen hatte. Bis ihr etwas Besseres eingefallen war.


OPHELIA ZIEGENBERGER

"Fertig!"
Raistan klang erschöpft aber zufrieden.
Ophelia saß reglos und apathisch, während sie auf den Beginn der nächsten Testphase wartete.
Aber dann verstummte das dumpfe Summen in ihren Knochen plötzlich.
"Alles klar, ihr könnt sie abkoppeln."
Der Metallkorb mit ihrem Kopf ruckelte und kam frei aus seiner Halterung an der Rückenlehne. Das unerwartete Gewicht zog ihren Kopf sofort nach vorne. Mehrere Hände zugleich begannen an den Feststellschrauben zu drehen. Der Kinnriemen wurde samt Tuch gelöst und das Tuch vor ihren Augen fortgezogen. Der Druck um ihren Schädel löste sich mit jeder Sekunde, so dass es sich so anfühlte, als wenn der Halt genommen würde und sie gleich auseinander fiele. Der Käfig wurde abgezogen, einzelne Haarsträhnen blieben ziepend hängen, wurden befreit oder einfach abgezupft. Metallplättchen fielen von ihrem Kopf ab und deren Drähte lagen kreuz und quer über ihren nackten Schultern.
Ophelia blinzelte in das grelle Licht. Die Sonne stand tief vor den hohen Fensterbögen.
Drei junge Zauberer arbeiteten zugleich daran, sie freizubekommen.
"Hast du alle Scheiben beisammen?"
"Es müssten 20 Stück sein. Ich habe hier sechzehn. Wie viele habt ihr?"
"Haut hin."
"Überall diese Haare! Ich weiß jetzt schon, wer das wieder reinigen darf, toll."
"Telemiel hat gesagt, dass er den Wassereimer und die Tücher holt, richtig?"
"Jup, hat er. Und da ist er auch schon. Ein Wunder! Er hält sein Wort!"
Die Männer lachten und kurz darauf wurden ihr die Reste der Kontaktsoße von den Armen und von den Punkten ihrer Kopfhaut gewischt. Sie beobachtete den Vorgang relativ teilnahmslos. An den Stellen, die von den Metallscheiben bedeckt gewesen waren, verblieben auf ihrer Haut brandblasenumkränzte Wunden. Sie hob ihre Hand an die Schläfe und tastete vorsichtig nach den Kontaktpunkten dort. Empfindlich glatte Haut, umgeben von weichen Bläschen. Als sie die Hand zurückzog hatten sich feine Strähnen daran verfangen und waren der Bewegung haltlos gefolgt.
Das entsetzte Flüstern einer bekannten Männerstimme ließ sie aufschauen.
"Oh, du meine Güte, du meine Güte..."
Dagomar kam dicht vor ihr zum Stehen, hinter ihm schloss Rea Dubiata auf, die kaum mithalten hatte können. Beide blickten überaus ernst auf sie herab. Die SEALs-Cheffin fragte sie rundheraus:
"Du siehst übel aus. Kannst du überhaupt aufstehen?"
Dagomar schlüpfte hektisch aus seiner Jacke, trat näher und legte ihr diese so vorsichtig um die Schultern, als wenn sie zerbrechlich wäre.
"All diese... und die... woher stammen die Schnitte? So viel..."
Seine besorgte Art hatte natürlich etwas Tröstendes an sich aber im direkten Anschluss an die letzten Stunden, in denen alle davon ausgegangen waren, dass es scheinbar nichts gäbe, was sie nicht ertragen und durchstehen könnte, wirkte es übertrieben und künstlich.
"Soll ich dir helfen? Möchtest du meine Schulter als Stütze, Ophelia? Ich könnte dir auch rasch deine Kleider hinter diesem unsäglichen Sichtschirm hervorholen?"
Sie ließ sich langsam von ihm in die Höhe ziehen.
Ihre Beine gaben nach. Halb stand sie auf seinen Arm gestützt, halb hing sie auf dem Stuhl. Und das hatte rein gar nichts mit Wollen oder Nichtwollen zu tun. Sie spürte die Beine einfach kaum noch. Und irgendwie fühlte es sich auch so an, als wenn sie vertrocknet wäre, ohne Kraft.
Rea griff beherzt zu und gemeinsam brachten sie Ophelia zum Stehen. Ein wackliger Stand aber immerhin besser als keiner.
Die Zaubererrobe geriet in ihr Sichtfeld. Raistan besprach mit Rea, dass er Bregs' die ersten Ergebnisse möglichst noch am Abend zukommen lassen würde, dass eine genaue Auswertung jedoch bis morgen warten müsse.
"Eine Aussage kann ich jedoch schon jetzt ganz klar festhalten, da lassen die Untersuchungen keinen anderen Schluss zu: Wir können in den Ablagerungen ihrer Persönlichkeitsprägung mindestens neun verschiedene Schichten Vampireinflusses ausmachen. Mindestens vier von diesen weisen eine extreme Ausprägung in irgendeinem Bereich auf. Bei dreien sticht eine aggressive Färbung hervor, die davon kündet, dass eine ernsthafte Verletzung ihrer mentalen Abwehrbarrieren stattgefunden hat. Eine der Basisregionen gar ist eindeutig aktiv und wird konstant mit Signalreizen geflutet... Was Bregs' Bedenken, bezüglich eines Informationslecks in Form der Dame, eine solide Grundlage verleiht, würde ich sagen. Inwieweit weitere Zugriffe erfolgen, lässt sich schwer einschätzen, da nicht jeder Bezug messbare Spuren hinterlässt. Für weitere Untersuchungen würde es sich anbieten, den aktiven Part näher in Augenschein zu nehmen..."
Raistan ignorierte sie völlig und schien einzig Rea Dubiata als angemessene Kontaktperson zu akzeptieren. Ophelia beobachtete, wie er sich bei seinen Erklärungen an einem der überladenen Tische anlehnte. Seine Haltung strahlte Müdigkeit aus, bis hin zur Erschöpfung. Er musste noch vor der Morgendämmerung aufgestanden sein, um alles für sie vorzubereiten. Und seither hatte er sich sowohl direkt um sie, als auch um die Leitung der chaotischen Kollegentruppe gekümmert. Er hatte die Aufsicht über die Geräte innegehabt und unter hohem Zeitdruck all die verschiedenen Messergebnisse gelistet, verglichen und ausgewertet... doch in ihrer aktuellen Situation konnte sie kein Mitgefühl für ihn aufbringen.
Raculs Präsenz schob sich mit konzentriertem Fokus in ihren Sinn. Er fühlte sich merklich unwohl und abgestoßen von ihrem Zustand und beschränkte sich auf ein klares Verbot.
“Du wirst keinen weiteren Untersuchungen zustimmen!“
Ophelia fehlten sowohl der Wille, als auch die Kraft zum Widerspruch.
Racul schien für den Moment zufrieden und seine Anwesenheit verblasste wieder.
Einer der Studenten brachte ihnen die abgelegten Kleidungsstücke. Sie hatte nur Augen für den schmalen Ring, nahm diesen schnell an sich und streifte ihn über. Sie ballte die Hand zusammen und barg sie an ihrer Brust.
Dagomar lehnte sie ebenfalls an einen der Tische an und begann zaghaft damit, ihr beim Ankleiden behilflich zu sein. Das Korsett ließ er, ebenso wie die Armschiene, nach einem abwägenden Blick auf sie wortlos beiseite. Es war eine echte Hilfe, dass er geschickt all die winzigen Knöpfe der Bluse schloss und sie dies nicht selber versuchen musste. Das Schultertuch entfremdete er ohne sie um ihre Meinung zu fragen, indem er es sorgsam als Kopftuch drappierte.
Es war gut, ihre Haut bedeckt zu wissen.
Der Umhang hingegen stellte sich als zu schwer heraus und so nahm er ihn ihr ab und legte ihn sich über den Arm. Einen kurzen Moment zögerte er, doch als sie merklich Schwierigkeiten damit bekam, auch nur an dem Möbel anzulehnen, trat er dicht an ihre Seite und legte sich ihren gelähmten Arm über die Schulter, um sie zu stützen.
Er unterbrach die ranghöhere Wächterin mit ungewohnt fester Stimme.
"Ma’am? Wir müssen los! Wenn du gestattest, gehe ich mit dem Oberfeldwebel schon mal vor."
Die vorgesetzte Wächterin und der Zauberer sahen ihn gleichermaßen missbilligend an, Rea fasste sich jedoch mit einem Blick auf Ophelia schnell wieder und nickte.
"Ja, natürlich. Ich muss das hier noch zu Ende bereden aber... Sie braucht ja ohnehin länger, wenn ich das so sehe. Lasst euch den Weg zeigen, ich komme gleich nach!"
Ophelia wusste später nicht mehr, wie sie es bis zur Kutsche geschafft hatte. Als Dagomar den Wagenschlag für sie öffnete und Rabbe heraus sah, rechnete Ophelia halb damit, dass dieser ein spitzer Kommentar auf der Zunge liegen würde. Stattdessen erahnte sie lediglich den Wechsel stummer Blicke über ihren Kopf hinweg. Alles Weitere war Schweigen.
Sie mussten nicht lange warten, ehe die Kutsche anfuhr und fast sofort rutschte Ophelia von dem seitlichen Halt an Dagomars Schulter kraftlos in sich zusammen. Er bettete ihren Oberkörper wortlos auf seinem Schoß und breitete eine warme Decke über sie.
Stimmen schlichen durch ihren Sinn, emotionale Streiflichter von Passanten.
Mina dämmerte ihr wie von Ferne entgegen, Sorge und Wärme, eine betroffene Stimme mit wissendem Blick.
"...wenn ich gewusst hätte, was er vorhatte... warst du nicht da... den ganzen Tag auf dich gewartet... befürchtet... und dann auch noch... Klackernachricht, dass er heute nicht kommen könne und eine ausführlichere Erklärung als Brief folgt... vielleicht ganz gut, wenn er dich nicht so zu Gesicht bekommt, könnte ich mir vorst..."
Und dann sank sie in ihr weiches, weiches Bett.


MINA VON NACHTSCHATTEN

"...haben wir es also neben den diversen prägenden Schichten aus ihrer Vergangenheit und Gegenwart mit einer recht konstanten, aktiven Verbindung zu einem weiteren Vertreter derselben Spezies zu tun. Auch wenn eine direkte Zuordnung zu einer bestimmten Person leider noch nicht möglich war." Rea atmete tief durch und sah in die Gesichter der Anwesenden, bevor sie ihre Zusammenfassung schloss: "Es ist nicht die letzte Gewissheit, aber mehr denn je wahrscheinlich, dass Ophelias Problem vampirischer Natur ist." Damit legte sie die Mappe mit den ausführlichen Auswertungen der Untersuchung vom Vortag vor sich ab. Es war wohl eine gute Idee gewesen, die Zauberer direkt im Anschluss um eine zweifache Ausfertigung dieser zu bitten - denn ob sie dem Kommandeur das seine Exemplar so ohne Weiteres hätte aus den Rippen leiern können, da war sich Rea alles andere als sicher. "Es steht auch alles noch einmal detailliert in Quetschkorns Bericht, falls jemand später nachlesen möchte. Beziehungsweise... so steht es auch denjenigen zur Verfügung, die heute leider verhindert waren."
Die Abteilungsleiterin der SEALS warf einen weiteren Blick in die zugegebenermaßen recht kleine Runde. Das Tagesgeschäft machte es ohnehin schwierig, einen Termin zu finden, an welchem alle Involvierten verfügbar waren. Doch befürchtete die Hexe, dass auch zunehmend eine gewisse Ernüchterung eine Rolle spielte in der Frage, wie stark man dem hier eine prioritäre Position einräumte. Nach all der Zeit, ja, da kam selbst sie nicht umhin, gelegentlich am Sinn ihrer Bemühungen zu zweifeln. Das taten sie alle. Und das ganz normale Leben ging ja trotz allem auch noch weiter...
"Und was gedenken wir nun mit dieser dienlichen Information anzufangen?" Dagomar von Omnien erwiderte auffordernd ihren Blick. Er war heute das erste Mal dabei, zum einen, weil Rea es ihm nach seiner Unterstützung in der Universität nicht hatte abschlagen können und zum anderen, weil er Ophelia immer noch püschologisch betreute. Damit bewies er schon mal mehr Durchhaltevermögen als all seine Vorgänger zusammen und das war wohl nicht zuletzt seinem mittlerweile offensichtlich persönlichen Interesse an der Sache zuzuschreiben. Voller Tatendrang war der junge Mann vorhin hier eingetreten, hatte gespannt an ihren Lippen gehangen und konnte es anscheinend gar nicht abwarten, etwas beizutragen. Das würde sich ändern, wenn er erst einigen ihrer oft stundenlangen, ermüdenden Diskussionen beigewohnt hatte.
"Nun ja, dass etwas oder jemand in ihrem Kopf ist wissen wir spätestens seit meinem Reinigungsversuch und ich bin recht froh, dass es sich dabei nicht, wie anfangs befürchtete, um eine dämonische Wesenheit handelt", erwiderte Rea zunächst. Sie nickte Laiza Harmonie zu, welche die Geste nur äußerst knapp erwiderte. Dies lag nicht nur an dem Unbehagen, welches die Kollegin bei der Erinnerung an den konturlosen Schatten, der bei dieser Gelegenheit aus Ophelias Gedankenwelt heraus in die Realität projiziert worden war, befallen musste. Die Okkultismusexpertin hatte sich nach dem letzten Fehlschlag ihrer eigenen Bemühungen nur widerstrebend dazu überreden lassen, der Runde wenigstens noch in beratender Funktion beizuwohnen. Eine aktive Einmischung lehnte sie aber vehementer ab denn je.
"Aber auch wenn ich mich damit wiederhole, wir können nicht sicher sein, damit den Auslöser aufgespürt zu haben und nicht nur irgendeinen Aspekt, vielleicht nur eine Randfacette." Rea zuckte mit den Schultern. "Wir können nur versuchen es abzustellen und werden dann sehen, ob uns das weiterbringt."
Sie hatte den Satz absichtlich im Tonfall einer Frage formuliert, in der Hoffnung, die vampirische Kollegin im Raum würde vielleicht ihre Meinung dazu äußern, doch eine Reaktion Minas blieb aus. Die Stellvertretende von RUM war heute ohnehin ungewöhnlich schweigsam: Zwar hörte sie zu, was man an einem gelegentlichen Nicken oder einer passenden Veränderung der Mimik während Reas Vortrag hatte ablesen können. Doch den Rest der Zeit verbrachte sie in dumpfem Brüten, mit einem Gesichtsausdruck, der nichts Gutes für denjenigen verhieß, welcher ihn ausgelöst hatte. Mina machte keine offenen Vorwürfe und ließ ihren Groll auch nicht an ihren Mitstreitern aus - doch Rea hatte bereits ein paar Ideen verworfen, wie man es vielleicht vermeiden konnte, dass Bregs dem Korporal heute über den Weg lief. Das wäre eine denkbar ungünstige Konstellation, wenigstens für die nächsten Stunden. Auch wenn Rea mittlerweile fand, dass die Vampirin sich emotional ein wenig zu stark in die ganze Angelegenheit involvieren ließ... aber unter den gegebenen Umständen, vielleicht konnte sie am Ende nicht einmal etwas dafür?
"Dann müssen wir den Schurken umgehend aufspüren und zur Rede stellen!" Der Gefreite von Omnien setzte den Zeigefinger nachdrücklich auf die eng beschriebenen Planungspapiere, welche vor ihnen ausgebreitet waren. "Denn wenn ich nicht irre, so ist es nur eine kurze Liste potenzieller Verdächtiger, welche uns vorliegt." Er hatte sich wirklich schnell in das Material des "Rettungszirkels" eingelesen, das musste man ihm lassen.
Kurze Blicke wurden getauscht und zumindest den anwesenden Wächterinnen drängte sich in diesem Moment der gleiche Gedanke auf. Es war Laiza, welche ihn schließlich laut aussprach.
"Also doch Ascher?" Die Okkultismusexpertin beugte sich nach vorn und überflog die Aufzeichnungen zu diesem Punkt. "Zumindest würde ich ihn ganz oben auf diese Liste setzen. Auch wenn mir nicht recht in den Sinn kommen will, was er davon haben könnte. Von einer Erpressung oder dergleichen wüssten wir mittlerweile."
"Ich bin mir nicht sicher, inwieweit jemand wie Parsival Ascher einen Grund für derartiges benötigt. Oder vielleicht ist er immer noch hinter ihr her?"
"Das hätte sie erwähnt." Mina löste die vor der Brust verschränkten Arme und man sah ihr förmlich an, wie sie sich zwang, einen vorherigen Gedanken fallenzulassen, um sich nun endlich an ihrer Diskussion zu beteiligen. "Als das noch ein Thema war verhielt er sich ja nicht gerade unaufdringlich, was das angeht." Jedoch machte ihr Tonfall deutlich, dass sie die Möglichkeit nicht von vornherein ausschloss - etwas daran hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt.
Auch Rea spürte ein leichtes Prickeln in den Fingerspitzen, sowie die innere Spannung welche immer dann entsteht, wenn man sich einer Sache auf der Spur wähnt und die Lösung nur noch eine Handbreit entfernt scheint; für den Moment verborgen und noch zu diffus, um zugreifen zu können. Aber sie war da irgendwo! Jetzt hieß es, den Faden nur nicht loszulassen!
"In den Wochen nach Rogis Tod muss Ophelia ein leichtes Opfer gewesen sein, vielleicht bot dieser Zeitraum ihm die Möglichkeit, sich dauerhaft in ihrem Geist festzusetzen", sponn die Hexe diesen nun weiter. "Auch wenn es dann immer noch an einer Erklärung mangelt, warum sie selbst davon nichts wissen sollte..."
"Doch, die gibt es!", hauchte Laiza in die darauf folgende Stille und sah ihre Kollegen mit großen Augen an. Sie hob beide Hände und unterstrich ihre folgenden Worte mit dem Sprachrhythmus entsprechenden Gesten. "Könnte es sein, dass Ophelias Gefühle für Rach Aschers Manipulationen einfach... unterdrücken? Seine Bemühungen ihr Bewusstsein nicht erreichen, aber dennoch untergründig fortwirken?" Hektische rote Flecken erschienen auf ihren Wangen. "Mina?"
"Möglich. Durchaus möglich!" Die Vampirin nickte aufgeregt. "Es würde auch erklären warum der emotionale Aspekt der Angelegenheit derart stark betroffen ist."
"Und er erweitert ihren Senderadius in der Hoffnung, ihre Aufmerksamkeit dennoch zu erlangen? Könnte er das denn?"
"Da fragst du mich zu viel."
"Vielleicht ist das auch nur eine Art Nebenwirkung."
"Nun, das ist natürlich alles sehr, sehr theoretisch..."
"Aber der erste logische Ansatz, auf den wir überhaupt gestoßen sind", brachte es Rea schließlich auf den Punkt.
"Sollte es wirklich so einfach sein?" Laiza seufzte bedrückt. "Ich meine... was wir ihr alles hätten ersparen können, wenn wir nur gleich zu Anfang einer solchen Möglichkeit genug Beachtung geschenkt hätten..."
"Manchmal sind die einfachsten Lösungen eben doch die besten." Reas Gedanken bewegten sich schon wieder in pragmatischeren Bahnen und sie rieb sich die Hände. Jetzt bestand immerhin die Möglichkeit, tatsächlich etwas zu tun! "Was wir uns als nächstes überlegen sollten..."
"Meine Damen, das ist ja alles schön und gut und ich verstehe die Aufregung, aber wenn mir eine Frage gestattet sein sollte: Warum hat bisher noch niemand ein Wort bezüglich der großen Angelegenheit an diesen Herrn Ascher gerichtet?"
Dagomar lehnte sich gemessen in seinem Stuhl zurück und legte die Fingerspitzen aneinander, eine Augenbraue nach oben gezogen. War es allerdings seine Absicht gewesen, mit dieser Frage ein betretenes Schweigen hervorzurufen, ein Innehalten und Nachdenken, so wurde er enttäuscht.
"Die Aschers sind nach Ophelias Ermittlung in ihrem Haushalt nicht sonderlich gut auf die Wache zu sprechen und es ist ein wenig heikel, ihnen etwas vorwerfen zu wollen, zu dem es bis jetzt keinen stichhaltigen Anhaltspunkt gab, dass sie überhaupt etwas damit zu tun haben. Ich nehme an du kennst die Akte?"
Der Püschologe nickte langsam und schien tatsächlich ein wenig enttäuscht, dass sein Einwurf nicht den gewünschten dramatischen Effekt gehabt hatte.
"Nun", fuhr Rea fort, "bis heute hätten sie uns also einfach abwimmeln können und wir hätten keinerlei Handhabe dagegen gehabt." Obwohl Bregs wohl mit Freuden eine nähere Untersuchung zu dieser Familie bewilligt hätte, bei dem Groll, welchen er seit der ganzen Sache auf den Clan hegt, fügte die Hexe gedanklich hinzu.
"Ich befürchte immer noch, sie werden es als Schikane ansehen", meinte Laiza, "Eine gute Kooperation werden wir nicht erwarten können und ob sie uns überhaupt zeitnah empfangen, ich weiß nicht."
"Doch, das werden sie." Mina machte ein entschlossenes Gesicht. "Meine Familie ist älter als die der Aschers. Wenn sie auch nur ein klein wenig auf Konventionen geben, müssen sie mich vorlassen", erklärte sie, bevor einer der anderen eine entsprechende Frage stellen konnte. "Vielleicht nur, um mich dann gleich wieder vor die Tür zu setzen, aber sie müssen zunächst irgendwie reagieren. Alles andere bedeutet einen Affront gegen die Anstandsregeln unserer Gesellschaft und einen solchen werden sich die Aschers nicht leisten wollen."
"Eure Spezies, eure Regeln." Rea hob die Hände, nicht ganz unglücklich, sich nicht selbst mit einer traditionellen Vampirfamilie herumschlagen zu müssen. "Wann gehst du hin?"
"Ich denke heute, zum späten Abend. Ich werde ihnen vorab eine schriftliche Ankündigung zukommen lassen, so können sie auch mir keinen Formfehler entgegenhalten, der sie berechtigen würde, das Treffen zu unterbinden. Es wird alles ganz offiziell ablaufen."
"Dass eingestaubte Gepflogenheiten tatsächlich einmal hilfreich sein können!" Laiza grinste.
"Aber du bist auch gleichzeitig Wächterin..." Rea ließ den Satz unvollendet, doch es war kein Geheimnis, was sie damit andeuten wollte. Jedes Mitglied der Stadtwache sah sich hin und wieder mit den Nachteilen konfrontiert, die es mit sich brachte einem Tschob nachzugehen, durch den man dem Bodensatz der städtischen Gemeinschaft zugeordnet wurde.
Mina zuckte mit den Schultern.
"Das Risiko muss ich wohl eingehen."
"Ich werde dich begleiten, wenn du es gestattest, Mä'äm." Dagomar gab seine Lord-Vetinari-Positur auf, machte aber dennoch nicht den Eindruck, als sei er zu seinem eben gefällten Entschluss sonderlich diskussionsbereit. "Denn ohne mich selbst loben zu wollen, so bin ich ich doch sehr geübt, was das tadellose Betragen in der guten Gesellschaft angeht."
"Ich halte das für keine gute Idee", wurde er umgehend ein weiteres Mal enttäuscht. "Denn bei allem Respekt: Du bist ein Mensch, Dagomar, und damit kaum jemand, den ein Parsival Ascher als gleichberechtigten Verhandlungspartner ansieht", meinte Mina und ergänzte dann rasch, "Das bin ich in seinen Augen zwar ganz bestimmt auch nicht, aber ich denke, ich habe bessere Chancen, gehe ich allein."
"Dennoch, ich könnte vor dem Anwesen..."
"Und ihnen damit einen Grund geben, uns zu verdächtigen, irgendwelche Hintergedanken zu hegen? Nein." Die Vampirin schüttelte den Kopf. "Aber wenn du etwas tun möchtest, dann gebe ich dir als deine stellvertretende Abteilungsleiterin hiermit die dienstliche Anweisung, heute, und nach Möglichkeit auch zu besagter abendlicher Zeit, nach Ophelia zu sehen, Gefreiter. Es wäre mir ehrlich gesagt lieb, wenn sie in nächster Zeit so wenig wie möglich allein ist." Ihr Blick begann wieder in unbestimmte Ferne zu driften. "Seit gestern ist sie ein wenig... na ja. Sieh vor allem zu, dass sie etwas isst. Würdest du das übernehmen?"
Der Püschologe brummte eine Zustimmung.
"Außerdem... vielleicht wäre es besser, wenn du Ophelia nichts von meiner Unternehmung erzählst. Sollte Ascher tatsächlich in ihrem Kopf umgehen, dann müssen wir ihn nicht noch mehr vorwarnen, als mein Schreiben es ohnehin schon tun wird."
So es Einwendungen zu diesem Punkt gab wurden sie nicht ausgesprochen, auch wenn Laiza kurz den Mund aufmachte, um etwas anzumerken. Sie besann sich in letzter Sekunde, warf Rea jedoch einen unsicher-fragenden Blick zu. Diese nickte nur leicht. Die Vampirin hatte mit ihrem Argument nicht unrecht.
"Dann sind wir fertig für heute?" Die Hexe erhob sich als erste, woraufhin ein allgemeines Stühlerücken einsetzte. Mit einem "Viel Glück" auf den Lippen verabschiedeten sich die Stellvertretende der SUSen und die SEALS-Abteilungsleiterin von ihren RUM-Kollegen, bevor sie wieder ihren jeweiligen Büros zustrebten.

~~~ oOo ~~~


Zu spät, zu spät, sie kam noch viel zu spät! Magane hastete den Flur entlang, um die nächste Ecke und dann im Eilschritt die Treppe hinauf. Bestimmt hatten die anderen schon angefangen! So lautete zumindest die Absprache, um nicht unnötig auf kurzfristig verhinderte Kollegen warten zu müssen, welche dann vielleicht gar nicht mehr auftauchen würden: Wer zur verabredeten Stunde da war - gut. Wer nicht - auch in Ordnung. Doch gerade heute war es ärgerlich, denn im Grunde hatte Magane die Zeit gar nicht verpasst und früh genug ihre vormittäglichen Aufgaben beendet gehabt, um sowohl ihren Arbeitsplatz noch aufräumen zu können als auch pünktlich zu sein. Doch dann musste dieser dämliche Geier ja ausgerechnet das Beweisstück fressen! Avalania hatte einen Wutanfall bekommen und den Vogel quer durch die Pathologie gejagt. Dass die erst kurz zuvor durch Magane hergestellte Ordnung danach nichts mehr von einer solchen hatte lag auf der Hand. Mit Müh und Not war es der menschlichen und der zwergischen Gerichtsmedizinerin zwar noch gelungen, die Reste der besagten Leber aus dem Schnabel des störrischen Tiers zu ziehen - jedoch musste das arg mitgenommene Organ daraufhin umgehend fertig untersucht werden, wollten sie überhaupt noch irgendwelche Informationen daraus gewinnen. Die sich wiederum daran anschließende, längere Diskussion mit Lady Rattenklein war ebenso unumgänglich gewesen: Die Laborantin hatte sich über die verunreinigten Proben nicht sonderlich begeistert gezeigt... Wie um Maganes Zeitplan den endgültigen Todesstoß zu versetzen war dann auch noch dieses Opfer der Messerstecherei in der "Grünen Gans" eingeliefert worden, gerade als die Omnianerin die aufgebrachte Gnomin halbwegs beruhigt hatte. Die SUSI-Abteilungsleiterin stöhnte frustriert. Lohnte sich der Weg in den zweiten Stock überhaupt noch? Es war mit jeder verstreichenden Minute wahrscheinlicher geworden, dass die anderen schon fertig sein würden, bevor sie überhaupt einen Fuß in das Püschologie-Zimmer setzen konnte. Diese Befürchtung bestätigte sich umgehend, als Magane den Treppenabsatz zur ersten Etage erreichte und Rea Dubiata auf sich zukommen sah. Ein Moment, in dem jede Eile schlagartig von der Omnianerin abfiel.
"Ich habe es verpasst", stellte sie lediglich fest.
"Was hat dich aufgehalten?", wollte die SEALS-Hexe daraufhin wissen.
Magane hob in einer resignierten Geste beide Hände.
"Chaos", antwortete sie schlicht.
Rea nickte verstehend.
"Wir haben die Untersuchungsergebnisse der Unsichtbaren Universität schriftlich vorliegen, du kannst sie also einfach nachlesen, wenn du Zeit hast", begann sie ohne Umschweife die soeben beendete Besprechung für die Kollegin zusammenzufassen. "Zudem haben wir jetzt eine unter Umständen vielversprechende Spur: Mina will heute Abend dem Ascher-Haushalt einen Besuch abstatten um nachzuhaken, ob Parsival A..."
Ihre SUSI-Kollegin unterbrach sie, doch entsprang diese Reaktion mehr der Überraschung als einem bewussten Wunsch dazu.
"Ascher? Aber der... stand der immer noch zur Debatte?"
"Zumindest tut er das jetzt wieder", erwiderte Rea und machte ein verwundertes Gesicht. "Warum fragst du?"
Für einen Moment, einen winzigen Moment, formten sich bestimmte Worte auf Maganes Zunge: das Geständnis, dahingehend über Informationen zu verfügen, die... Doch dann schluckte die Gerichtsmedizinerin sie ungesagt hinunter.
"Ach, nur so. Ich hatte diese Möglichkeit einfach innerlich schon abgehakt, es schien so unwahrscheinlich", murmelte sie stattdessen ausweichend, während sie gemeinsam mit der Abteilungsleiterin der SEALS in die Richtung zurückging, aus welcher sie gerade erst gekommen war.
Was die Wahrheit anging... dabei handelte es sich um einen dieser kleinen, inneren Dämonen, deren einzige Aufgabe es zu sein scheint, das schlechte Gewissen zu schüren und dem Betroffenen stundenlange Grübeleien zu bescheren. So oft schon hatte Magane ernsthaft in Erwägung gezogen, ihren Mitstreitern von der Angelegenheit zu berichten, welche den Punkt Ascher endgültig von der Liste potenzieller Gründe für Ophelia Ziegenbergers Problem getilgt hätte. Denn die Gerichtsmedizinerin hatte die Asche gesehen. In einem Beutel. Es war Rogi Feinstich gewesen, welche sich dafür verantwortlich zeigte [5]. Und genau das war auch der Punkt! Die Igorina hatte deutlich gemacht, dass ihr nicht daran gelegen war, die anderen Wächter von ihrer Rückkehr wissen zu lassen, bevor sie dies nicht selbst beschloss und wer war Magane, die Wünsche Rogis derart mit Füßen zu treten? Erst recht nach dem, was die Igorina alles durchgemacht hatte... und nicht zuletzt, da die Einäscherung des Vampirs von einem rechtlichen Standpunkt aus betrachtet nicht ganz unbedenklich gewesen war. Außerdem hatte sich nach Aschers Ableben doch nichts an Ophelias Zustand geändert, oder? Damit war dieser Aspekt für ihre Bemühungen also offensichtlich ohne jeden Belang.
Die SUSe verkniff es sich, tief durchzuatmen, um der noch immer neben ihr gehenden Rea keinen Grund für weitere Nachfragen zu liefern. Die Umstände einmal mehr durchdacht zu haben, bestätigte ihr nur erneut die Richtigkeit ihres Handelns. Aber dennoch... sollte sie nicht wenigstens die Kollegin von Nachtschatten davon abhalten, sich völlig sinnlos mit der Familie Ascher anzulegen - und damit sowohl ihr als auch den anderen Mitgliedern des "Ziegenberger-Rettungszirkels" einen weiteren frustrierenden Fehlschlag ersparen? Magane hatte das hoffnungsvolle Glitzern in Rea Dubiatas Augen gesehen, als diese von dem Plan berichtet hatte. Aber zugleich mit dieser Überlegung kam der Omnianerin die Einsicht, damit schlussendlich nur an den selben Punkt zu gelangen, welchen sie durch ihr Schweigen bisher erfolgreich gemieden hatte: Sie würde zugeben müssen, ein Geheimnis vor den anderen gehabt zu haben und das in dieser derart sensiblen Angelegenheit und unter äußerst angespannten Bedingungen. Gar nicht zu reden von der Erklärungsnot, in welche es sie bringen würde, sollten die anderen verlangen zu erfahren, woher sie das eingestandene Wissen hatte. Sie wollte sich das Vertrauen der Kollegen in keinerlei Hinsicht verspielen! Magane wog die Fakten im Stillen gegeneinander ab und entschied sich: Es würde niemandem damit geholfen sein, ließe sie jetzt so unverhofft die Katze aus dem Sack.
Die beiden Wächterinnen hatten mittlerweile das Erdgeschoss des Wachhauses erreicht und die SUSI-Abteilungsleiterin verabschiedete sich mit einem freundlichen Lächeln von ihrer SEALS-Kollegin. Während Rea ihr Büro betrat, stieg Magane weiter in den Keller und ins Refugium der Gerichtsmediziner hinab. Es tat ihr leid für Mina, wirklich... aber was sollte, abgesehen von einem überflüssigen Weg, schon großartig passieren?

~~~ oOo ~~~


Das Anwesen machte einen durchweg abweisenden Eindruck - kastenartig und finster ragte es vor einem tieforangen Abendhimmel in die Höhe, der nur von einigen dunkelgrauen Wolkenfetzen kontrastiert wurde. Da kein Wind ging erschienen diese beinahe wie künstlich festgeklebt und das trug noch dazu bei, den düsteren Eindruck zu verstärken, welchen die ganze Szenerie an sich hatte. Die Fenster waren samt und sonder dunkel und starrten wie blicklose Augen auf die Umgebung; lediglich im Erdgeschoss waren Läden vorgelegt, um es einem Vorbeigehenden unmöglich zu machen, Einblick zu erhalten, was hinter den Mauern vor sich ging. Das dreistöckige Gebäude machte deutlich, dass hier jemand sehr daran interessiert war, sich von der Außenwelt abzugrenzen; gleichzeitig flößte es aber genug Respekt ein, um keinen Zweifel an der Möglichkeit aufkommen zu lassen, die Bewohner könnten durchaus mit eben dieser Außenwelt in Kontakt treten und mit ihr nach Belieben bestimmend verfahren. So sie es für notwendig erachteten.
Es hätte nicht dieser in Stein gefassten Warnung bedurft, um Mina einmal mehr deutlich zu machen, wie achtsam sie in dieser Angelegenheit würde vorgehen müssen. Die Vampirin hatte den Weg hierher zu Fuß zurückgelegt, zum einen um sich in Ruhe ein paar Sätze für das kommende Gespräch zurechtzulegen und zum anderen, um in dieser Zeit die eigene Nervosität in den Griff zu bekommen. Es war beileibe kein alltägliches Vorhaben, welches sie verfolgte!
Als sich Mina nun zögerlich von dem Anblick losriss, um die letzten Meter bis zur Haustür zurückzulegen, begann zudem ein anderes Unbehagen verstärkt an ihr zu nagen, welches sie schon seit ihrem Entschluss am Vormittag verfolgte: Den Namen der eigenen Familie als Argument anzuführen konnte bisweilen unvorhergesehene Folgen nach sich ziehen und selbst durch ein nur geringes Interesse der Gegenseite war es möglich, dass bestimmten Leuten Dinge zu Ohren drangen die nicht... für diese bestimmt waren. Die verdeckte Ermittlerin drückte den Rücken durch und rief sich selbst zur Ordnung. Derartige Bedenken mussten warten, bis es wirklich nötig werden sollte, sich damit zu befassen. Es war schließlich ebenso gut möglich, dass es niemals dazu kam! Ihrer Sache hatte sich die erdachte Strategie immerhin als dienlich erwiesen: Auf ihre Karte an die Aschers hatte sie nur wenige Stunden später einen Antwort erhalten, man würde sie zur angegebenen Zeit erwarten. Sie hatte das Schriftstück in der Tasche ihrer schlicht geschnittenen Jackentaille verstaut. Vielleicht war es kindisch, aber irgendwie hatte es eine beruhigende Wirkung, eine Berechtigung mit sich zu führen. Denn wie man es auch drehte und wendete und trotz der Anmeldung: Die Kurzfristigkeit des Ganzen machte es zu einem formellen Überfall, zumal sie in keiner Weise mit der Familie Ascher verbunden war.
Obwohl aufgrund ihrer Natur unnötig, atmete die Vampirin einmal tief durch, bevor sie die Hand nach dem Türklopfer ausstreckte. Dumpf hallte der Laut im Innern des Gebäudes wider und gleich darauf flammte ein Licht auf, nur sichtbar durch die Glasmosaiken auf beiden Seiten der Eingangstür. Viel zu fröhlich malten sie bunte Tupfen auf den breiten Treppenabsatz und besaßen dabei eine eigenartige Lebendigkeit in einer ansonsten stummen, tristen Welt. Die Tür öffnete sich mit einem Knarren und ein Igor in einer nicht mehr ganz zeitgemäßen Livree erschien in Minas Blickfeld.
"Guten Abend. Fie wünfen?"
"Guten Abend, von Nachtschatten mein Name, ich werde von deiner Herrschaft erwartet", antwortete die Vampirin und musste sich zwingen, die Antwort der Aschers nicht hervorzuziehen und wie eine Eintrittskarte vorzuzeigen. Sie war gewiss nicht hier, um zu bitten.
Der Igor nickte und trat beiseite, um sie einzulassen.
"Fie werden erwartet, in der Tat", murmelte er. "Bittefön."
Die Wächterin betrat eine schmale Empfangshalle, welche von einem kleinen Kronleuchter gerade ausreichend erhellt wurde. Vom gegenüberliegenden Ende kam ihr eine hochgewachsene dunkelhaarige Frau forschen Schrittes entgegen. Sie war eindeutig ein Mensch.
"Eure Ladyschaft, ich möchte Sie im Namen der Familie Ascher in deren Hause begrüßen. Mein Name ist Klara Greifzu, ich bin die Anwältin der Familie."
Mina kaschierte den kurzen Moment der Überraschung mit einem wohl wenig überzeugenden Lächeln, während sie den Händedruck der Frau erwiderte. Es war einfach schon sehr lange her, seit sie das letzte Mal jemand mit ihrem Höflichkeitstitel angesprochen hatte.
"Es ist überaus freundlich von Ihrer Herrschaft, mir so kurzfristig einen Besuch hier zu gestatten", erwiderte sie.
"Nun ja, Sie erwähnten in Ihrem Schreiben eine dringliche Angelegenheit und meine Klienten sind neugierig, um was es sich dabei handelt könnte. Zumal die Bitte um ein Treffen von einem Mitglied unserer ehrenwerten Stadtwache stammt. Aber wollen wir uns nicht zunächst setzen?" Klara Greifzu wies mit der Hand auf zwei gusseiserne, verschnörkelte Stühle und einen dazu passenden runden Tisch dazwischen; darauf waren bereits eine Teekanne und zwei Tassen bereitgestellt worden. Das Ensemble gehörte ganz offensichtlich nicht zur üblichen Ausstattung des Raumes. Das war es also, was man als eine Wächterin aus der besseren Vampirgesellschaft bekam: Das Foyer und die Anwältin. Nun ja, sie hätte es auch schlechter treffen können. Einen Hehl aus dem eigenen Beruf zu machen wäre zudem nutzlos gewesen: Schließlich war Mina beim finalen Eingriff der Wache nach dem katastrophalen Ende von Ophelias Ermittlung in diesem Haus schon einmal mit der Familie in Berührung gekommen. Selbst wenn sie sich sicher hätte sein können, nicht wiedererkannt zu werden - die Aschers waren ganz gewiss nicht so blauäugig, eine derart unerwartete Besucherin zu empfangen, ohne vorher Erkundigungen einzuholen. Dennoch beglückwünschte sich die verdeckte Ermittlerin zu dem Entschluss, zu diesem Gespräch in zivil zu erscheinen. Mit der Wahl der Kleidung spiegelte sie zudem genau den Stil von Klaras professioneller Aufmachung in schwarz-weiß. Geschäftsmäßig. Verhandlungsbereit.
Nachdem die beiden Frauen sich gesetzt hatten füllte der Igor noch Tee in die Tassen, bevor er auf einen Wink der Anwältin hin in den Tiefen des Hauses verschwand.
"Bevor wir beginnen, möchte ich auf meine Funktion als vom Clanoberhaupt befugte und vollumfänglich auskunftsberechtigte Person hinweisen. Alle Fragen, die Sie der Familie stellen würden, können Sie also mir zutragen", eröffnete Klara Greifzu das Gespräch. "Zudem soll ich Ihnen versichern, dass kein Mitglied des Haushalts versuchen wird, sich unerlaubterweise Zutritt zu Ihren Gedanken zu verschaffen, solange Sie als unser Gast hier sind."
Es waren die üblichen Floskeln, aber Mina kam nicht umhin, gerade im letzten Satz der Anwältin eine gewisse Ironie zu finden. Mit ziemlicher Sicherheit verhielt es sich zudem so, dass einer der Aschers das Gespräch über die Rechtsgelehrte selbst mithörte, um im Zweifelsfall Anweisungen erteilen zu können.
"Und nun würde ich gern im Detail erfahren, was Ihre Ladyschaft zu uns führt."
Sie hielt sich nicht mit unverbindlichem Geplauder auf, so viel stand fest.
"Da Sie es so direkt ansprechen, will auch ich nicht lange um den heißen Brei herumreden und direkt auf den Punkt kommen: Es geht um die Angelegenheit Ophelia Ziegenberger. Sie sollten sich daran erinnern." Mina griff nach ihrer Teetasse, wobei ihr eine kleine herausgeschlagene Ecke an der dazugehörigen Untertasse auffiel. Foyer, Anwältin und gesprungenes Porzellan, ergänzte sie die Liste in Gedanken.
Klara Greifzu runzelte unterdessen die Stirn.
"Ich hatte eigentlich angenommen, um den Abschluss dieser Episode und des damit verbundenen bedauerlichen Zwischenfalls habe sich die Familie Tschentowitsch hinreichend gekümmert."
"Es geht nicht um die Tschentowitschs. Vielmehr hat mein Anliegen sehr direkt mit dem Oberhaupt Ihres Clans, Herrn Parsival Ascher zu tun."
Der Gesichtsausdruck der Anwältin wurde mit einem Schlag distanziert, allerdings unterbrach sie die Wächterin nicht, während diese fortfuhr:
"Ich will Sie nicht beleidigen, indem ich Ihnen Unkenntnis an der Sache unterstelle. Ich bin mir sogar recht sicher, dass sie genau im Bilde sind." Mina stellte ihre Tasse beiseite, konzentrierte sich dann voll auf die Anwältin und legte dazu noch eine gehörige Prise vampirische Arroganz in ihre folgenden Worte. "Daher kann ich auch unumwunden zum Punkt kommen: Es ist nicht hinzunehmen, in welch eigenmächtiger und rücksichtsloser Weise Ihr Clanoberhaupt mit Ophelia Ziegenberger verfährt, ohne auch nur einen Gedanken an die Folgen für diese junge Frau oder ihr Umfeld zu verschwenden und tatsächlich mussten bereits drastische Maßnahmen ergriffen werden, was das betrifft. Da der aktuelle Zustand kein dauerhafter sein kann und darf fordere ich, dass Parsival Ascher umgehend von seiner mentalen Einflussnahme auf Fräulein Ziegenberger Abstand nimmt, in welcher Form auch immer diese erfolgt. Es besteht berechtigter Grund zu der Annahme, dass diese Verbindung sowohl aktiv ist, als auch, dass sie sich während der letzten Wochen übermäßig intensiviert hat und dies ohne jedwedes Zutun oder Ermutigung durch meine Kollegin. So an Herrn Aschers Einwilligung Bedingungen geknüpft sein sollten kann er diese stellen, wobei ich allerdings darauf hinweisen muss, dass seitens der Stadtwache keine besondere Kompromissbereitschaft in dieser Frage besteht."
Klara Greifzu ließ sich einen Augenblick Zeit, das Gesagte zu durchdenken.
"Besteht denn ein Interesse durch einen anderen Vampir an Fräulein Ziegenberger?", fragte sie dann unvermittelt. "Wenn dem nämlich nicht so sein sollte, bin ich gezwungen anzumerken, dass es aus juristischer Sicht nicht zu beanstanden ist, wenn ein Vampir eine derartige Verbindung zu einem in diesem Sinne ungebundenen Menschen unterhält."
"So ein beiderseitiges Einverständnis vorläge."
"Das ist wahr. Und nach Ihren Worten zu urteilen liegt ein solches nicht vor."
"Dann spielt es nicht die geringste Rolle!"
"Auch das ist korrekt. Das tut es in keiner Weise." Die Anwältin schlug die Beine übereinander. "Denn die vorgetragenen Anschuldigungen entbehren schon von vornherein jeglicher Grundlage."
Eine lange Pause entstand, in welcher die Wächterin Klara Greifzu genau beobachtete. Jedoch konnte sie keine Lüge in deren Gesicht entdecken; mit aufrichtiger Miene hielt sie dem Blick der Vampirin stand. Bei genauem Hinhören kündete zudem weder ein beschleunigter Herzschlag noch irgendeine andere, schwerlich manipulierbare physiologische Reaktion davon, dass die eben getroffene Aussage Klara Greifzus nicht der Wahrheit entsprach. Andererseits – die Frau war Anwältin; sie wurde dafür bezahlt, die Interessen ihrer Arbeitgeber zu verfolgen und, wenn nötig, zu schützen. Konnte sie wirklich eine derart perfekte Lügnerin sein? Wie auch immer, die absolute Unschuldsbekundung, was Parsival Ascher betraf, nahm Mina ihr nicht ab.
"Überzeugen Sie mich mit ein paar Einzelheiten", erwiderte die Vampirin kalt.
"Nun, Sie liegen richtig mit Ihrer Vermutung, was meine Kenntnis einer vielleicht nicht ganz angebrachten Art der Beziehung zwischen meinem Mandanten und Fräulein Ziegenberger angeht. Allerdings erfuhr ich erst zu einem Zeitpunkt davon, zu welchem es von keinerlei praktischer Relevanz mehr war, weswegen logischerweise keine weiteren Schritte eingeleitet wurden. Es tut mir leid, Ihnen das so unverblümt sagen zu müssen, eure Ladyschaft, aber weder ich noch die Familie können Ihnen hinsichtlich der bestehenden Problematik weiterhelfen. Wer auch immer Ihre Kollegin beeinflusst, er heißt nicht Parsival Ascher."
Ihre Ernsthaftigkeit war entwaffnend und in jeder anderen Situation hätte Mina spätestens in diesem Moment konkret in Betracht gezogen, wohl einer falschen Spur gefolgt zu sein. Doch in diesem speziellen Fall weigerte sich ihr Verstand, diese Möglichkeit anzuerkennen. Denn dies würde unweigerlich bedeuten, dass ihr einziger nennenswerter Fortschritt was Ophelia anging, sich als kompletter Reinfall entpuppt hatte. Dass sie wieder genauso weit waren, wie noch am Morgen… Das durfte einfach nicht sein, sie waren sich doch so sicher gewesen!
"Besteht die Möglichkeit, dies von Herrn Ascher persönlich bestätigt zu bekommen?", bohrte die verdeckte Ermittlerin weiter, sich stur an die letzten Holzplanken eines auseinander treibenden Floßes klammernd.
"Nein."
"Wieso nicht? Wenn er unschuldig ist, wie Sie es sagen, dann hat er nicht das Geringste von der Wache zu befürchten."
"Hinsichtlich dieser Thematik bin ich nicht befugt, auf die Hintergründe einzugehen."
"Dann scheint mir, Sie stehen im Widerspruch zu Ihrer eigenen Aussage, was Ihre Auskunftsberechtigung angeht."
Klara Greifzu seufzte, nunmehr deutlich verstimmt.
"Ohne unhöflich sein zu wollen", meinte sie betont langsam, "aber die internen Angelegenheiten der Familie Ascher gehen Sie nichts an. Alles, was ich dazu noch sagen kann ist, dass es unter den gegebenen Umständen vollkommen ausgeschlossen ist, Herrn Ascher für die vorgetragene Sache verantwortlich zu machen. Ob Sie meinen Worten Glauben zu schenken gedenken steht Ihnen natürlich frei." Die Anwältin erhob sich. "Wenn Sie mich nun entschuldigen wollen, Fräulein von Nachtschatten, ich bin eine vielbeschäftigte Frau und es warten noch andere Pflichten auf mich." Sie griff nach einem dunkelroten Klingelzug, welcher an einer nahen Wand angebracht war.
"Sage es ihr, Klara."
Die Anwältin zuckte zusammen und trat automatisch einen Schritt beiseite, sodass Mina freie Sicht auf die Person erhielt, welche soeben die Szenerie vom anderen Ende des Raumes aus betreten hatte: Auf dem Absatz einer steinernen Treppe in die unterirdisch angelegten Teile des Hauses stand eine greise Vampirin in einem hochgeschlossenen schwarzen Gesellschaftskleid, ein Spitzenhäubchen derselben Farbe auf dem streng nach hinten gebundenen weißen Haar.
"Sage es ihr", wiederholte sie, den lauernden Blick auf die Wächterin geheftet. "Denn ich kenne solche Leute - sie geben keine Ruhe. Selbst dann nicht, wenn es sie bis an den Rand der eigenen Gruft bringt." Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem boshaften kleinen Lächeln, während sie nun gemessenen Schrittes durch die Empfangshalle auf sie zukam. "Und sie lernen nie aus dem Schicksal von ihresgleichen."
"Darf ich vorstellen, ihre Durchlaucht, Katharina Lilliane Natalie Ascher, Herzogin von Lomond." Klara Greifzu hatte sich rasch wieder gefangen und verbarg hinter einer neutralen Miene sorgfältig, was sie vom plötzlichen Auftauchen der Alten hielt.
"Nun ist es also schon soweit gekommen." Die Herzogin war etwa zwei Meter von Mina entfernt wieder stehen geblieben und rümpfte demonstrativ die Nase. "Es mag an der Zeit sein, dass die Scheibe verglüht, wenn sich schon Mitglieder der ältesten Familien Überwalds zu einem Dienst in der Stadtwache erniedrigen lassen. Zu meiner Zeit wäre es zudem nicht geduldet worden, den eigenen Stammbaum zu beschämen, indem man im Namen eines Menschen Bittgesuche stellt, wie ein Bettler vor dem Tor."
Mina zwang sich, der Musterung durch die stechenden Augen unnachgiebig Stand zu halten. Alles was ihr von dieser Frau entgegenschlug war stechende Verachtung und Hohn; Katharina Ascher selbst war in eine Art Aura gehüllt, nur bestehend aus Kälte, Alter - und Bösartigkeit.
"Verzeiht Durchlaucht, aber andere würden es als einen glücklichen Umstand beschreiben, dass die Zeiten sich geändert haben."
Für den Bruchteil einer Sekunde glomm so etwas wie Verblüffung in den Augen der Alten auf. Widerspruch schien sie nicht gewohnt zu sein.
"Frau Greifzu!", zischte sie dann giftig, "Was stehst du da nur so herum?"
Die Anwältin trat hastig hinzu und räusperte sich.
"Ob der direkten Anweisung durch ein hochstehendes Clanmitglied kann ich nun die gewünschte Auskunft geben. Jedoch sollte sich Ihre Ladyschaft des Umstandes bewusst sein, dass es sich um überaus sensible Informationen handelt und sie mit überaus ernsten Konsequenzen zu rechnen hat, sollte sie diese außerhalb dieser Mauern preisgeben..."
Der Herzogin schien das alles zu lange zu dauern.
"Parsival ist tot, mein Kind", unterbrach sie die Ausführungen ihrer Angestellten jählings und hob triumphierend das Kinn.
Nun war das Erstaunen ganz auf Minas Seite, doch war es kein angenehmes: Es fühlte sich viel eher so an, als sei ihr nun endgültig der letzte Halt in diesen sehr unsicheren Gewässern entzogen worden, sodass ihr keine andere Möglichkeit mehr blieb, als aus eigener Kraft an sicheres Land zurückzukehren. Sich auf diesem Feld geschlagen zu geben. Denn die wirklich Toten konnte man selbst unter der verzweifeltsten Hoffnung nicht zur Rechenschaft ziehen.
Die Herzogin von Lomond spürte, dass sie hier einen Treffer auf ganzer Linie erzielt hatte.
"Selbst wenn dem nicht so wäre, so müsstest du uns unverrichteter Dinge wieder verlassen. Denn in einem Punkt muss ich unserer Rechtsgelehrten beipflichten: Nichts von alldem spielt die geringste Rolle." Sie wirkte nun mehr denn je wie ein Raubtier, darauf harrend, sein Opfer würde den Fehler begehen und die Flucht ergreifen. "Denn was diese lächerliche Verbindung angeht, welche zwischen Parsival und diesem unwürdigen Menschen bestand, nun... das hat das Fräulein Ziegenberger selbst vor einiger Zeit überaus gründlich erledigt. Dementsprechend scheint sie mir die passendere Ansprechpartnerin in dieser Angelegenheit zu sein." Sie beugte sich einige Zentimeter nach vorn, das Angesicht drohend verzogen. "Und nun scher dich aus unserem Haus und lass dich hier nicht mehr blicken!" Damit wandte sie sich ab und schritt erneut auf die Treppe zu. "Klara, ich benötige dich umgehend im Salon!", keifte sie, dann war sie verschwunden.
Die Anwältin unterdessen drängte die verdeckte Ermittlerin praktisch zur Eingangstür hinaus und diese ließ es über sich ergehen, die Gedanken wie betäubt von dem, was sie soeben erfahren hatte. Der Schlag war machtvoll gewesen, es rumorte in ihrer Magengegend und es überkam sie eine Einsicht, die alles andere verdrängte: Ophelia hatte sie tatsächlich...
Kühle Nachtluft schlug ihr entgegen, als die Vampirin den Fuß über die Schwelle setzte. Klara Greifzu warf noch einen kurzen Blick über die Schulter zurück ins Haus, dann wandte sie sich ein letztes Mal der Wächterin zu.
"Wagen Sie es nicht, irgendjemandem davon zu erzählen, dass Parsival nicht mehr unter uns weilt. Wagen Sie es nicht!", raunte sie feindselig, dann warf sie die Tür ins Schloss.
Kurz darauf verlosch das Licht in der Eingangshalle und das Anwesen der Familie Ascher lag da wie schon zuvor an diesem Abend: Düster. Unnahbar. Gleich einem unheilvollen Omen.

~~~ oOo ~~~


Es waren viele, so unglaublich viele und sie traten ungefragt in ihren Kopf ein und wieder aus, hinterließen sacht leuchtende Spuren, vergleichbar einer weit entfernt geschwenkten Fackel in der Dunkelheit. Oder sie war es, welche die anderen belästigte, ohne es zu wollen... Doch das Ergebnis blieb das gleiche.
Ophelia rieb sich erschöpft die Stirn. Die mentalen Streiflichter durch die Passanten auf dem Pseudopolisplatz waren nur eine weitere Facette ihrer zweifelhaften Begabung, dennoch schien ihr, dass diese nach der gestrigen Tortour in der Universität nun vermehrter vorkamen als vorher: Unzusammenhängende Gedanken, in Worte gefasste unterdrückte Wutanfälle, plötzliche Geistesblitze - und dies alles ging auf sie nieder, ohne dass die Wächterin den geringsten Zusammenhang erahnen konnte. Am schlimmsten wurde es, wenn die betroffenen Personen ihre Anwesenheit bemerkten - auch wenn Ophelia stets rasch mit einer Entschuldigung bei der Hand war, so schlug die Überraschung doch meist in Unverständnis, wenn nicht Zorn, um und so mancher wurde gar ausfällig ihr gegenüber. Es hätte der jungen Frau die Schamröte ins Gesicht getrieben, die ihr zu solchen Gelegenheiten sprichwörtlich an den Kopf geworfenen Anschuldigungen und Beleidigungen selbst laut wiederholen zu müssen. Doch meistens war sie glücklicherweise einfach nur ein treibender Geist inmitten von vielen und es gab Momente, da glaubte sie es recht gut im Griff zu haben. Trotzdem, es blieb stets nur das kleinere Übel.
Ihr Blick geisterte ziellos durch den Raum, blieb an der Tasse mit dem inzwischen erkalteten Tee hängen - richtig, den hatte sie selbst zubereitet - und glitt dann weiter zu dem Buch in ihrer Hand. Der Versuch, sich mit Lesen abzulenken, ging meist fehl. Es mangelte ihr in letzter Zeit einfach an der nötigen Konzentration. Auch heute hielt sie seit einer guten halben Stunde die gleiche Seite aufgeschlagen, ohne irgendetwas von dem Geschriebenen wahrgenommen zu haben. Behutsam legte sie das Buch beiseite, erhob sich und begann unruhig im Raum auf- und abzuwandern. Nicht, dass es half - aber der Gedanke, nur herumzusitzen und abzuwarten... darauf, gerettet werden zu müssen, von welchem Spieler auch immer in dieser hoffnungslosen Partie... Ophelia ballte die Hände zu Fäusten. Auf Dauer war dies auch keine Lösung, irgendwann wäre der Boden zu ihren Füßen durchgelaufen und die Kollegen im direkt unter ihr befindlichen SUSI-Labor würden sie dieses Tages zu Schichtbeginn auf ihrem Labortisch vorfinden. Dieser unverhoffte Sarkasmus entlockte Ophelia ein kurzes Lächeln, während sie sich die Szene ausmalte. Zugegeben, es war Galgenhumor, aber wer wenn nicht sie hatte ein Recht darauf?
Da zwickte es auf einmal am Rande ihres Bewusstseins, als eine weitere Präsenz in ihren erweiterten mentalen Senderadius aufgenommen wurde. Ophelia blieb stolpernd stehen und wartete nervös auf eine mögliche Reaktion, doch schnell erkannte sie, um wenn es sich handelte und setzte ihre Weg fort. Von Mina hatte sie keine empörten Anschuldigungen zu befürchten. Hätte die rothaarige Wächterin es beschreiben müssen, sie hätte wohl von einer Art Signatur gesprochen, welche jedem so erfolgenden Kontakt anhaftete. Ein schwer zu fassendes, dabei aber höchst individuelles... Etwas. Allerdings bereitete Ophelia der Umstand, Bekannte auf diesem Weg rasch von Unbekannten unterscheiden zu können, mehr Sorgen als Erleichterung, bedeutet es doch, dass sie immer und immer sensibler für dergleichen Materie wurde...
"Ophelia."
Erschrocken hielt sie erneut mitten im Raum inne, sah auf und entdeckte die eben noch auf dem Platz wahrgenommene Kollegin nunmehr im Türrahmen lehnend. Hatte sie das Klopfen überhört, viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt und derart gedanklich abgedriftet, dass sie die Zeit vergaß?
Mina nickte ihr leicht zu, machte dabei aber einen mehr als unzufriedenen Eindruck. Irgendetwas stimmte nicht, die von der Vampirin ausgehenden emotionalen Schlieren trugen eindeutig aggressive Züge und sie machte sich nicht die geringste Mühe, dies zu verbergen.
"Mina..."
Ophelia erwiderte die Geste, während die Kollegin den Raum mit knappem Blick maß.
"Wo ist Dagomar?", wollte diese dann wissen.
Es stimmte, der Gefreite von Omien war hier gewesen. Vor einer ganzen Weile. Hatte ihr Gesellschaft geleistet und war dann verschwunden, um... was noch gleich zu tun? Ophelia strich sich mit einer nervösen Geste die Hand an ihrem Rock ab. Sie musste dringend einen Weg finden, ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Dinge in ihrer unmittelbaren räumlichen Umgebung zu fokussieren.
"Auch dir einen... schönen Abend. Warum fragst du?", erwiderte sie daher nur zögerlich. Dass Mina so mit der Tür ins Haus fiel war ebenfalls ungewöhnlich...
Die Andere zuckte unwillig mit den Schultern.
"Ich hatte ihn eigentlich gebeten hier bei dir zu warten, bis... wie auch immer..."
"Nein, er ist nicht mehr hier." Mit diesen Worten begab sich Ophelia in Richtung Fenster. Es war verrückt, aber sie verspürte den instinktiven Drang, etwas mehr Raum zwischen sich und die Vampirin zu bringen. Vielleicht lag es an der merkwürdigen Spannung, die sich mehr und mehr im Raum aufbaute.
"Weißt du, Rach war heute auch noch nicht da. Und hat immer noch nicht geschrieben. Ich frage mich, woran das liegen mag." Es war der Versuch, die Atmosphäre mit unverfänglichem Geplauder zu lösen, allerdings erhielt Ophelia keine Antwort. Zumindest nicht so, wie sie es beabsichtigt hatte.
"Was zum... wer zum Henker bist du?" Eine erzürnte Männerstimme erklang hinter ihrer Stirn und für einen Moment erblickte Ophelia Bilder aus einem fremden Leben. Eine zerrissene Familie, den vorwurfsvollen Gesichtsausdruck einer Frau, die weinenden Augen von Kindern...
Die Wächterin vollführte eine unbewusste Geste, so als wolle sie eine Spinnwebe vor ihrem Gesicht fortwischen.
"Das war keine Absicht. Entschuldige bitte!", murmelte sie halblaut vor sich hin. Dann war es weg und sie wurde sich erneut Minas stechendem Blick in ihrem Rücken bewusst. Noch immer hatte sich diese nicht näher geäußert, aber Ophelia fühlte sich dennoch deutlich taxiert und genau beobachtet. Und dann klang die Stimme der Kollegin doch noch an ihr Ohr, leise nur, in deutlich angespanntem Tonfall.
"Wann hattest du vor, es uns zu erzählen?"
Es war, als würden eisige Finger in ihren Nacken greifen und Ophelia fuhr schlagartig herum. Was war passiert? Noch ein Fehler ihrerseits? Irgendetwas, was schwerwiegende Folgen gehabt hatte, vielleicht erneut für einen Kollegen? Rasch durchkämmte sie ihre Erinnerungen an die letzten Tage, doch wollte ihr nichts in den Sinn kommen, was diesen Verdacht untermauern könnte.
"Was... wovon sprichst du?", fragte sie mit belegter Stimme, auf beinahe alles gefasst.
"Parsival Ascher." Mina betonte jedes der Worte überdeutlich und sah sie dann mit einem Blick an, als wisse Ophelia ganz genau, was es damit auf sich hatte.
Unglücklicherweise sah sich die rothaarige Wächterin weit von jeder Einsicht entfernt.
"Ich..."
"Du? Ja? Es geht um dich, tatsächlich!" Die Vampirin stieß sich vom Türrahmen ab und trat ein paar Schritte ins Zimmer hinein, worauf Ophelia durch weiteres Zurückweichen ihrerseits reagierte. Dummerweise verhinderte das Fensterbrett einen Erfolg dieser Bestrebungen und so tastete Ophelia unsicher nach dem Holz, als könne es ihr zusätzlichen Halt geben. Ihre Gedanken rasten.
"Weißt du, ich hatte gerade einen netten kleinen Plausch mit der Anwältin der Aschers", fuhr die Vampirin währenddessen fort, "Oh, und außerdem durfte ich auch Katharina Ascher kennenlernen, eine Ehre, auf die ich gern verzichtet hätte und es irritiert mich in gewisser Weise, dass jemand noch gehässiger sein kann, als meine eigene Großmutter, aber sei's drum."
Bildete sie es sich nur ein oder verdunkelten sich die Augen der Kollegin gerade sukzessive? Aber Parsival, Parsival, was konnte denn... Die Untersuchungsergebnisse! Ophelia krampfte sich der Magen zusammen und ihre Augen suchten wieder das Dunkel jenseits der Fensterscheibe. Ja... eine ständig aktive Verbindung zu einem Vampir... nur noch eine!
"Er... Parsival ist... nicht mehr da. Oder?", hauchte sie.
"Das hast du ganz richtig auf den Punkt gebracht. Ich finde es nur sehr schade, es nicht zuerst aus deinem Mund gehört zu haben."
Der kleine Hoffnungsschimmer hatte schon eine Weile existiert, aber sie war sich nie ganz sicher gewesen, hatte sich nie sicher sein können. Je länger Parsivals Abwesenheit in ihrem Geist angedauert hatte, umso verbissener hatte sie sich jede Gewissheit eines Triumphes verboten, aus Angst vor der Enttäuschung, welche so unsäglich schwerer ausfallen würde, sollte sie sich doch geirrt haben. Dass Parsival Ascher aber auch für ihre Kollegen ein Thema gewesen war, wurde ihr erst in diesem Augenblick so wirklich bewusst.
"Hast du dazu irgendetwas zu sagen?" Mina ließ die Frage nur kurz im Raum stehen, dann schnaubte sie verbittert. "Nein, natürlich nicht..."
Ophelia spürte wie ihre Hand zu zittern begann und sie krampfte sie auf dem Fensterbrett zusammen. Konnte sie denn immer nur alles falsch machen? Hätte sie dieses Puzzleteil doch schon eher ins Gespräch bringen sollen, noch bevor die Lösung so klar und deutlich vor ihr lag?
"Ich war mir nicht sicher...", stammelte sie eine Entschuldigung, hoffend, die Andere möge das um der Götter Willen verstehen, "Ich weiß es ja selber erst seit gestern, seit den... Tests. Es tut mir leid... bitte... Ich wollte keine Arbeit machen. Oder euch enttäuschen..."
Die Vampirin schnitt ihr das Wort ab.
"Nun, es ist eigentlich nicht einmal die Sache an sich, um die es mir geht. Dann wäre Ascher eben eine Sackgasse von vielen gewesen, wir sind Kummer schließlich gewohnt. Aber wir versuchen hier seit Wochen irgendeinen Ansatzpunkt für die Lösung deines Problems zu finden, wir reden uns die Köpfe heiß, ziehen alle möglichen und unmöglichen Aspekte in Betracht und du hältst es nicht für nötig, uns so etwas zu erzählen???"
Ophelia rang nach Worten, suchte krampfhaft nach Gegenargumenten, aber ihr Verstand fühlte sich nur leer und hohl an. "Es tut mir leid...", wiederholte sie leise.
Das scharfe Geräusch einer Hand, die heftig auf die Tischplatte schlug, ließ sie zusammenzucken.
"Es tut dir immer leid! Nur bringt uns das nicht weiter!"
Die Wut der Kollegin traf ungebremst Ophelias Geist, peitschte wie Dornenranken durch den mentalen Raum und es war das erste Mal, dass Ophelia so etwas wie Angst vor der Vampirin empfand. Viel zu oft vergaß sie, was Mina war... Allerdings gab ihr das auch die Kraft, sich erneut umzudrehen, sodass ihre Haltung nicht mehr einem vollkommenen Schuldeingeständnis gleichkam, auch wenn sich Ophelia ihrer blassen, ängstlichen Miene durchaus bewusst war, welche nun wirklich nicht zur Gegenwehr taugte. Aber es war immer besser man sah, was auf einen zukam...
"Ophelia, ich hatte dich einmal gefragt, ob es noch irgendetwas gibt, was du noch nicht erwähnt hast, irgendein verfluchtes Detail! Das hast du verneint." Mina stützte sich auf der Tischplatte auf, die Augen geschlossen, offensichtlich um ihre Selbstbeherrschung bemüht. "Du hast mich damit offen angelogen. Und jetzt muss ich mich ernsthaft fragen, was du uns noch alles verschwiegen haben könntest!"
Es war die abgrundtiefe Enttäuschung im Gesicht der anderen, welche Ophelia mindestens genauso hart traf, wie die Anschuldigungen zuvor. Sie legte sich die Hand vor die zitternden Lippen, während sie sich auf den Stuhl fallen ließ, welcher ihr am nächsten stand.
"Ich wollte das nicht...", flüsterte sie niedergeschlagen, "Du hast ja Recht, ich hätte schon gestern sagen sollen, dass ich Parsival nicht mehr spüre..."
"Gestern? Soweit ich die Ascher verstanden habe, weißt du schon sehr viel länger davon."
Ophelia blickte scheu auf und schüttelte langsam den Kopf.
"Nein, ich... seit den Tests weiß ich es. Seit gestern."
Mina war wieder zur hinter ihr befindlichen Wand zurückgewichen, so als traue sie sich selbst nicht ganz. Sie legte skeptisch den Kopf schief.
"Und warum musste ich mir dann anhören, du hättest "das selbst sehr gründlich erledigt"?", blaffte sie.
"Selbst erledigt? Aber... wie ist das gemeint?"
"Das frage ich dich!"
Unter ihre Schuldgefühle mischte sich nun ernstliche Verwirrung und normalerweise wäre diese auch bis zu Mina vorgedrungen, doch angesichts des Ansturms von deren Seite hatten die schmächtigen Aussendungen Ophelias keine Chance.
"Was denn, was denn? Wer bist du, armes Ding, und was ist der Grund für dein Klagen?"
Nicht schon wieder! Sie hatte ohnehin schon Probleme, ihre Position darzulegen, da waren diese ständigen Ablenkungen nicht gerade hilfreich. Ophelia rieb sich müde die Augen. Sie war es ja so leid! Auch wenn ihr diesmal offensichtlich Mitgefühl von einer Unbekannten - Matriarchin, sieben Kinder, treusorgende Mutter und Großmutter - entgegenschlug, das war mal etwas Neues!
"Bitte, gehe einfach weiter. Das war keine Absicht...", murmelte die Wächterin, sich nur halb des Umstandes bewusst, dass sie diese Antwort laut formulierte.
Mina gab einen frustrierten Laut von sich.
"Hättest du die Güte, dich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren? Ginge das?"
"Also erlaube mal, junge Dame, so eine Unhöflichkeit musst du dir nun wirklich nicht gefallen lassen!"
"Geh einfach!"
Das war nun auch nicht gerade freundlich gewesen, aber offenbar wirkungsvoll: Mit einem pikierten Schnauben schwand die Präsenz der selbstbewussten Dame aus ihrem Kopf und Ophelia atmete tief durch.
"Tut mir leid, ich war gerade... ja, natürlich. Was hattest du gesagt?", fragte sie entschuldigend.
Die Vampirin schüttelt leicht den Kopf.
"Eigentlich ist es zweitrangig, wie das mit Ascher genau abgelaufen ist", gab sie ihrem Wortwechsel unerwartet eine neue Richtung, "Glaub nicht, dass ich es deswegen auf sich beruhen lassen werde! Aber mich interessiert zunächst viel mehr: Wenn es nicht Parsival ist, wer dann? Das ist doch eine faszinierende Frage, habe ich recht?" Mina löste die vor der Brust verschränkten Arme und warf Ophelia einen langen Blick zu. "Du wirst mir hier und jetzt sagen, wer da in deinem Kopf sein Unwesen treibt und uns alle immer tiefer in die Katastrophe reißt und verschone mich dabei mit deinen Ausflüchten!"
Es war, als würde die Temperatur im Raum mit einem Schlag um mehrere Grad abfallen. Ophelia musste schwer schlucken, schloss in dem verzweifelten Versuch klar zu denken die Augen, fahndete nach einem Ausweg... und lauschte derweil in sich hinein, auf das Nahen der so unglücklich vertrauten Kälte. Sie durfte Racul nicht verraten! Auch wenn die Versuchung noch so groß war, sich endlich jemandem anzuvertrauen und mit dem Geheimnis nicht mehr allein zu sein! Aber deckte sie das Inkognito des alten Vampirs auf, so setzte sie damit jeden der dieser Information habhaft wurde auf eine Abschussliste und Racul würde nicht zögern, diese abzuarbeiten. Ophelia hielt den Atem an. War da nicht schon etwas, ganz am Rande ihres Bewusstseins?
"Ich habe dich etwas gefragt!"
Die junge Frau schüttelte verzweifelt den Kopf. Es musste ihr doch irgendeine Ausrede einfallen, irgendetwas! Doch gleichzeitig kam die Einsicht, dass sie dazu nicht die Kraft aufbringen konnte. Nicht nach dem gestrigen Tag!
"Ich..." Sie seufzte und sah dann auf, ein Flehen im Blick. "Mina... wenn ich das sage... ich... er wird mir das nicht verzeihen..."
Die Vampirin schien einen Augenblick darüber nachzudenken.
"Und ist das von Relevanz?", fragte sie dann spitz. "Verstehe ich das richtig, dass du seinen Ansichten den Vorzug gibst, vor all dem hier? Dem was bisher passiert ist?"
"Nein! Ich..." Es lief alles so falsch. Aber warum konnte Mina ihr auch nicht bis zum Ende zuhören, warum eigentlich drehte sie ihr die Worte im Munde um, um sie dann im Handstreich gegen sie selbst zu verwenden? Diese ganze Angst und Verzweiflung, das war so zermürbend! Sie konnte nicht mehr, verstand das denn keiner? "Ich versuche, das Richtige zu machen.", beendete Ophelia den Satz und hob trotzig das Kinn. Um euch zu schützen, um uns alle zu schützen!
"Das Richtige für wen?"
"Für... für alle! Es ist doch der Kern des Problems, dass es eben nicht nur um mich geht! Außerdem, wie könnte etwas, dass nicht auch meine Mitmenschen schont und sie berücksichtigt, für mich selbst gut sein? Nein, es geht immer auch um andere..."
"Die Hälfte, die schon in Mitleidenschaft gezogen wurde oder die anderen, die es noch werden, wenn sich nichts ändert?"
"Du hast doch gar keine Ahnung! Denkst du, ich mache das freiwillig durch? Ist es noch nicht genug, all das, was ich über mich ergehen habe lassen, in den letzten Wochen?" Es war wohl das erste Mal in ihrem Dasein als erwachsene Frau, dass Ophelia all ihren Frust einfach herausschrie, ohne auch nur einen Gedanken an Etikette oder Anstand zu verschwenden. Sie stemmte sich nicht mehr ängstlich gegen den Zorn, der von außen auf sie eindrang; vielmehr nahm sie ihn auf, verband ihn mit ihrer eigenen Wut und in gewisser Weise war das befreiend. Hatte man nicht von ihr gefordert, mehr Egoismus zu zeigen? Bitteschön!
"Es bleibt meine Entscheidung! Kannst du mir nicht einfach soweit vertrauen, dass es genügt, in dieser ganzen schrecklichen Situation das Richtige tun zu wollen? Auch wenn das nicht deiner Definition des Begriffs entsprechen mag - für mich ist es halt das Richtige! Warum bist du so verflucht konzentriert darauf, mich in eine Schublade stecken zu wollen? Egal was ich tun würde, es wäre dir doch so oder so nicht recht! Einerseits willst du mich folgsam und freundlich haben, damit ich deinen... deinen Aufgaben gerecht werde. Ja, Mina, noch eine Übung, natürlich, Mina. Kein Problem, Mina, ich kann noch länger weitermachen, natürlich! Und dann wieder kann ich dir nicht rebellisch genug sein. Du solltest dich vielleicht auch endlich einmal entscheiden, was genau du von mir erwartest!" Ophelia wischte sich mit einer abrupten Geste die Wuttränen aus den Augen. "Ich bin nicht nur das arme Opfer!", flüsterte sie dann gepresst. "Ich... ich will kein... warum sagt ihr das beide ständig? Gibt es für euch nur diese beiden Kategorien? Ich hatte nur viel Pech!"
Die junge Frau wollte noch etwas hinzufügen, doch da kam nichts mehr. Ebenso schnell wie es angefangen hatte war ihre Wut auch schon wieder versackt, ohne dass sie sich nun nennenswert besser fühlte. Vielmehr drängten sich die ersten Bedenken auf: Hatte sie sich am Ende zu sehr gehen lassen? Vielleicht schon zu viel gesagt?
"Ich will niemandem wehtun. Ich will alles so erledigen, wie es gewünscht wird, um keinem im Wege zu sein. Auch wenn das vielleicht nicht genug scheint!", murmelte sie abschließend, zuckte mit den Schultern und wagte es erst dann, erneut den Blick zu heben. Diese Begegnung trug mehr und mehr die Züge eines déjà-vu ihrer Auseinandersetzung vor der erst kürzlich durchgestandenen Albtraumnacht. Aber wenn sich alles stets nur um das selbe Thema und man selbst sich dabei im Kreis drehte, vielleicht blieb dann tatsächlich nur der immer gleiche Tanz, so lange, bis eine Seite nicht mehr war...
Mina stand vollkommen reglos und starrte sie mit versteinerter Miene an, offenbar brauchte sie einen Moment um zu sortieren, was sie gerade gehört hatte. Dann:
"Du willst mir hier unterstellen, dass wir dich nur hübsch und fein in eine Ecke schieben wollen, ohne eine eigene Meinung, kommt das hin?" Der Tonfall jagte Ophelia einen Schauer über den Rücken. "Dass du nur ein Objekt bist, eine Problemstellung, ein kleines Experiment mit dem wir unsere Zeit totschlagen, dass uns aber eigentlich vollkommen egal ist?"
"Nein... nicht so... ich..."
"Denkst du, ich setze mich ins Vorzimmer der Aschers weil ich so sehr erpicht darauf wäre? Nein, vielleicht suche ich auch nur einen neuen Anhaltspunkt um dich zu triezen, das wird es sein! Denn das erwartet man ja von Vampiren, nicht wahr? Wir lassen Menschen tanzen und schauen zu."
"So meinte ich das nicht! Wenn du mich fragst, für wen ich das Richtige zu tun gedenke... Du hast einfach gewisse Erwartungen an mich, die... also, ich weiß, dass ihr mich keinesfalls als Zeitvertreib anseht! Es ist schon schlimm genug, dass ich euch überhaupt so zur Last falle. Ihr... ihr habt inzwischen so viel Mühe in mich investiert..."
"Dann hilf uns weiter. Ich warte immer noch auf einen Namen."
"Das ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst..."
Sie waren wieder am Anfang, genau da, wo Ophelia um keinen Preis hinwollte. Am liebsten hätte sie sich in einer Ecke ihres Zimmers verkrochen, die Decke über den Kopf gezogen und so für einige Augenblicke aufgehört zu existieren. Aus den Augen, aus dem Sinn... Denn Mina würde nicht nachgeben, jetzt nicht mehr, aber es war einfach unmöglich, mit der ganzen Wahrheit herauszurücken!
Die Kollegin bemerkte offensichtlich, wie Ophelia sich wand; sie machte einen Schritt auf sie zu, war dabei aber darauf bedacht, dass der Tisch sich weiterhin zwischen ihnen befand, wohl als eine Art Barriere. Hatten sie so etwas tatsächlich schon nötig?
"Und da habe ich mir Sorgen gemacht, es könne kompliziert werden, mit Ascher zu verhandeln", murmelte sie schließlich.
Es war, als würde jemand die Worte in ihrem Sinn zurechtrücken, neu arrangieren und mit einer weiteren Bedeutungsschicht unterlegen, welche ihr dann direkt ins Bewusstsein gesetzt wurde. Ein kleiner Stupser in eine Richtung, an die sie bisher gar nicht gedacht hatte... Offensichtlich war es nicht notwendig, sich persönlich einzumischen, wenn man dem Menschen selbst die Waffen in die Hand geben konnte... Hatte sie das gerade wirklich gedacht? Ophelia blinzelte verwirrt und für einen Moment stand ihr das Bild vor Augen, wie sie nicht nur körperlich als Marionette an Fäden hing, sondern der Puppenspieler dahinter auch über ihre Gedanken gebot und sie zu seinen Zwecken lenkte. Die damit verbundene Beklommenheit wurde allerdings umgehend von der glasklaren Logik des neuen Arguments verdrängt und staunend betrachtete Ophelia das Gespinst - bevor ihr von dessen schieren Ungeheuerlichkeit schwindelig wurde.
"Du...", begann sie langsam dem Gedanken Ausdruck zu verleihen, auch wenn sich darauf einzulassen bedeutete, sich zu fühlen, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggerissen. "Du bist zu Parsival gegangen um... zu verhandeln? Was genau wolltest du mit ihm... "verhandeln"?"
Mina wirkte einigermaßen irritiert ob der neuerlichen Wendung.
"Was ich... natürlich wollte ich sein Einlenken in dieser Sache bewirken, er war bis dahin unser wahrscheinlichster Kandidat." Sie hatte offenbar keine Ahnung, worauf die Andere hinauswollte. "Es bestand ja immerhin der Hauch einer Chance, sich zu einigen. Doch selbst wenn nicht, so hätten wir zumindest endlich gewusst woran - und vor allem an wem - wir sind."
Du hast sie aus dem Konzept gebracht!, konstatierte etwas in Ophelia mit grimmiger Zufriedenheit. Der Rest von ihr fühlte sich allerdings weniger sicher.
"Du... du wolltest an meiner statt... für mich... mit ihm verhandeln... um mich quasi? Ein... Geschäft?", brachte sie nun zittrig hervor, erhob sich hastig und wich erneut ein Stück zurück. Blind tastete sie nach einem Halt.
"Ich wollte lediglich alle Möglichkeiten in Betracht gezogen haben. Das macht dich nicht zu einem..."
" ...Objekt.", fuhr die menschliche Wächterin dazwischen. "Oder doch lieber Opfer?"
"Ophelia..."
"Vielleicht gefällt dir auch eher der Begriff "Eigentum"?"
"Das habe ich jetzt nicht gehört!"
Ophelia bekam irgendetwas zu fassen, etwas Stabiles in einer schwankenden Welt, als sich eine weitere Erkenntnis den Weg zu ihren Lippen bahnte.
"Ihr seid alle gleich!", hauchte sie entgeistert. "Ihr denkt, ihr hättet von Natur aus das Recht, zu entscheiden... über mich... über meinen Kopf hinweg. Ohne mich auch nur zu fragen. Was, wenn Parsival noch existiert hätte? Was hättest du ihm angeboten? An was für eine Art Tauschhandel hattest du gedacht, hmm? Erkläre es mir!"
Etwas änderte sich an der Haltung der Vampirin, nicht äußerlich, aber auf mentaler Ebene versuchte sie nun merklich, sich zurückzunehmen. Der winzige Hauch Schuldbewusstsein war beinahe nicht spürbar.
"Wenn mir eine Gegenfrage gestattet sein sollte: Hätte es etwas geändert, dir vorher Bescheid zu geben?", wollte sie dann wissen. "Brauchen wir tatsächlich für alles deinen Segen? Gut, dann tun wir mal so, als existiere Parsival noch: Warum hätten wir ihn vorwarnen sollen, indem wir dir erzählen, was ich vorhabe?"
Ophelia nickte, doch es fiel ihr schwer, an dem Kloß im Hals vorbei zu sprechen:
"Es hätte etwas geändert. Es wäre der Unterschied gewesen zu einem Gegenstand, den man käuflich erwirbt - und einer Freundin, die man in einer persönlichen Angelegenheit um Erlaubnis bittet, in ihrem Namen zu handeln."
"Zum wiederholten Male: Du bist kein Gegenstand!"
"Warum behandeln mich dann immer häufiger..."
"Also, wenn ich ein Drama sehen will, dann gehe ich in die Oper! Es kann doch nicht angehen, dass man nun schon auf öffentlichen Straßen..."
"Geht weg! Lasst mich endlich in Frieden! Es gibt so viele andere Wege um den Pseudopolisplatz, verdammt noch mal!" Ophelia wurde bewusst, dass sie soeben das Bett neben sich angeschrien hatte. Rasch versuchte sie, den schleichenden Nebel in ihrem Kopf wieder zu vertreiben.
"Siehst du, darum." Mina seufzte. "Ophelia, du vegetierst in diesem Raum vor dich hin, du isst nichts mehr, du weilst immer häufiger im Geiste anderer, du bist eigentlich gar nicht mehr wirklich da... verlangst du da allen Ernstes, dass wir so etwas erst lang und breit ausdiskutieren, wenn wir auch die Möglichkeit haben, zu handeln?"
Es war nichts Tröstliches an diesen Worten, bitter wie Wermut legten sie sich auf Ophelias Gemüt und ließen die junge Frau nunmehr kraftlos auf die Bettkante sinken. Sie schlug sich die Hand vors Gesicht, wollte nicht mehr nachdenken, wollte einfach nur, dass das alles ein Ende hatte...
"Jetzt sagst du gleich es würde dir leid tun..."
"Nein. Du hast Recht. Es... tut mir leid..."
"...und wir sind noch kein Stück weiter als zu Anfang."
"Aber was soll ich denn auch sonst sagen?", wisperte Ophelia mit erstickter Stimme, "Es tut mir... ich habe mich benommen wie... Ich, ich kann einfach nicht mehr... ich glaube langsam, dass ich das nicht mehr lange schaffe..."
"Ja und das ist besorgniserregend offensichtlich. Weißt du was? Ich werde dich nicht mehr nach irgendwelchen Halbwahrheiten fragen." Minas Stimme drang nun wieder ruhig an ihr Ohr, wenn auch zu kühl und emotionslos, als dass sie Ophelia in irgendeiner Weise beruhigt hätte. Die Angelegenheit war noch nicht abgeschlossen, lediglich aufgeschoben. "Du musst selbst wissen, was du uns anvertrauen willst, zwingen kann man dich nicht. Nur dann musst du auch akzeptieren, dass wir tun, was wir für... richtig halten." Sie schwieg einen Augenblick lang. "Nur setze mich nicht mit jemandem wie Parsival Ascher gleich."
Es klopfte verhalten an der Zimmertür.
"Herein."
Dagomar steckte den Kopf in den Raum, in seinem Gesicht spiegelte sich ängstliche Besorgnis.
"Ist alles… nun, ich hörte aufgebrachte Stimmen und wollte mich lediglich erkundigen, ob..." Er räusperte sich verlegen.
Herrje, wenn man es recht bedachte, dann hatte sie wahrscheinlich das halbe Wachhaus gehört!
Ophelia erhob sich langsam, strich sich erschöpft die Röcke glatt und versuchte zu lächeln. Das Spiel musste schließlich weitergehen.
"Dagomar... es ist lieb, dass du nach mir siehst. Aber es ist alles in Ordnung. Mina und ich haben nur ein... eher emotionales Thema ausgiebiger diskutiert."
Der Püschologe schaute skeptisch zwischen den beiden Kolleginnen hin und her und räusperte sich dann.
"Hmm, aha... offenbar... mein Einschreiten... meine Hilfe wird demnach nicht benötigt, um etwaige Unstimmigkeiten zu... schlichten?", erkundigte er sich dennoch.
"Nein, wird es nicht", versetze Mina, bevor Ophelia auch nur den Mund aufmachen konnte und klang dabei grantig genug, um Dagomar zurückzucken zu lassen. "Danke, Gefreiter, dass du deine Aufgaben derart ernst nimmst, aber jetzt würde ich dich bitten, zu gehen."
"Ah. Ich verstehe", erwiderte er hastig. "Dann will ich nicht weiter durch meine unaufgeforderte Anwesenheit zur Last fallen. Jedoch wollte ich gesagt haben, dass ich in der Küche nichts fand, was einem Abendessen für dich, Ophelia, gerecht werden könnte, welches ich eigentlich versprochen hatte, herbeizuschaffen."
Ein müdes Lächeln legte sich auf die Züge der Angesprochenen. Es war schön zu wissen, dass es auch noch Menschen gab, die solche Banalitäten in ihre Welt zurückzuholen versuchten.
"Das ist schon in Ordnung. Ich habe ohnehin keinen Hunger", meinte sie, woraufhin der Püschologe erneut nickte, dann entschuldigend in die Runde lächelte und schließlich leise die Tür hinter sich schloss.
Stille kehrte ein, senkte sich wie eine leichte Decke über den Raum. Sie machte zwar nichts ungeschehen, vermittelte aber das Gefühl eines Abschlusses, wenigstens für den heutigen Tag. Wahrscheinlich war es ganz gut gewesen, dass Dagomar eingetreten und sie dergestalt unterbrochen hatte. Die so entstandene, unvorhergesehene Pause hatte die beiden Wächterinnen wieder auf den Boden sachlicherer Diskussion zurückgebracht; ihnen eine Gelegenheit zum Atemholen gegeben, sodass sich die emotionalen Wogen glätten konnten.
Schließlich war es Mina, welche das Schweigen brach.
"Gut..." Die Vampirin ging zum Tisch und setzte sich und Ophelia tat es ihr gleich, nur dass sie sich der Einfachheit halber schlichtweg wieder auf die Kante ihres Bettes sinken ließ. Die stellvertretende Abteilungsleiterin schaute ihre Kollegin nachdenklich an und Ophelia fand, dass die Vampirin irgendwie müde wirkte, kam aber nicht dazu, diesen Gedanken weiter zu verfolgen.
"Dann erzähl mir doch, ob dir etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist, als sich Parsival das letzte Mal bei dir bemerkbar gemacht hat", sagte Mina. "Vielleicht hilft uns das irgendwie weiter."

~~~ oOo ~~~


Der mentale Raum. Beinahe unendliche Weiten. Man stelle ihn sich als eine Art Netzwerk vor, ähnlich einem äußerst komplexen und sehr hochfrequentierten Rohrpostsystem: Ständig gehen Nachrichten in alle Richtungen ein und aus, treten die verschiedensten Sender und Empfänger miteinander in Kontakt, mit dem großen Unterschied, dass manche Verbindungen nur temporärer Natur sind. Diese entstehen unmittelbar im Moment der Kontaktaufnahme, verblassen allerdings direkt danach. Es ist, als wühle sich ein kleines Tier durch die Erde und schaufele dabei den hinter ihm entstandenen Gang im selben Moment wieder zu. Wie auch immer die jeweilige Röhre geartet sein mag: Läuft alles so wie es sollte, dann empfängt nur der intendierte Adressat die Kapsel, ohne dass andere Beteiligte im Netzwerk etwas davon mitbekommen. Stellt man sich ein wenig geschickt an, so kann man laufende Konversationen mithören. Ist man Experte, dann sogar ohne dass die Betroffenen es bemerken. Alle Jubeljahre einmal gibt es auch einen Störenfried, der auf die Konventionen pfeift und seine Mitteilungen nur so in den Raum hinausschreit. Das ist dann so, als lese man einen Brief laut vor, während man sich durch eine schwer zu ermessende Menschenmenge zum Postschalter vordrängelt. Manchmal hat derjenige aber auch einfach nur keine Ahnung, wie er richtig mit dieser Art des Austausches umzugehen hat. Talent, Veranlagung, Bewusstsein... Doch alles in allem funktioniert das System. Ernstere Probleme erledigen sich meist von selbst und das eher früher als später, schon allein wegen der extremen Nähe der Informationsströme zueinander. Denn auch wenn der Raum uferlos erscheint, so befinden sich sämtliche über diesen Weg kommunizierende Daseinsformen doch näher beieinander, als ihnen vielleicht lieb ist; kleine leuchtende Punkte in einem Kosmos, verbunden über hastig hin und her flitzende Fünkchen. Man schätzt seine Privatsphäre; Belästigungen sind ein zu beseitigendes Ärgernis. Außerdem kann es sonst zu Kurzschlüssen kommen. Und die sind für niemanden angenehm, auch da sie, je nach Wirkradius, eine nicht unerhebliche Anzahl eigentlich Unbeteiligter in Mitleidenschaft ziehen können...

Emotionale Überlastung zum Kappen einer ungewollten vampirischen Einflussnahme? Konnte das funktionieren? Auch jetzt noch, erneut, wo sie das alles durchgesprochen hatten und es somit erst frisch Ophelias Geist in Erinnerung gerufen worden war - gewissermaßen oben auf lag?
Mina biss sich auf die Unterlippe. Das Gespräch mit der anderen Wächterin hatte nichts vereinfacht. Sicher, ein paar neue Möglichkeiten gäbe es jetzt schon, aber es wurden mindestens genauso viele Fragen davon aufgeworfen. Allen voran: Konnte man es überhaupt verantworten, so etwas zu inszenieren? Abgesehen von dem "wie"... ach ja, und ganz zu Schweigen von dem "gegen wen"... das Ganze käme einem völligen Blindflug gleich...
"Mina von Nachtschatten!"

Die Unruhe ließ sie nun gar nicht mehr los, konnte durch keine Form der Ablenkung besänftigt werden und zwang sie zu weiteren ruhelosen Runden durch den Raum. Ophelia spürte nur zu deutlich, dass die Spannungen, welche sie mit ihrer unvermeidlichen Verschwiegenheit heraufbeschworen hatte, noch lange nicht abgeflaut waren. Zudem konnte es als Gewissheit gelten, dass die entsprechenden Informationen bereits weiteren Wächtern zu Ohren gekommen waren, zumindest denen, welche an einer Lösung ihres Problems arbeiteten. Was wäre Mina auch anderes übrig geblieben, als Rea, Laiza und all die anderen einzuweihen? Was sie nun von ihr denken mochten? Ophelia hielt sich an dem Gedanken fest, die Vampirin habe dabei ganz sicher nur die Kernpunkte der Angelegenheit weitergetragen und das Drumherum ausgespart, all das, was Ophelia immer noch mit einem Gefühl der Schmach verband. Aber selbst dann... Denn wäre dies ihre einzige Sorge gewesen, wie befreit hätte sich die Wächterin im Vergleich gefühlt! Die Sorge, bereits zu viel gesagt zu haben, lastete wie ein Stein auf ihrer Brust und erschwerte das Luftholen bei jedem Atemzug.
Was, wenn Racul der Meinung war, sie hätte bereits jetzt eine Grenze überschritten, von der es kein Zurück mehr gab? So sehr sie seine Anwesenheit in ihrem Geist anwiderte, so verstörte sie zugleich der Umstand, seit dem Streit mit Mina vom vergangenen Abend nichts von dem alten Vampir gehört zu haben. Ängstlich lauschte sie auf das geringste Nahen seiner Präsenz und gleichzeitig ahnte die junge Frau, dass sie damit das Risiko einging, durch solche Gedankengänge zu seiner Person seine Aufmerksamkeit erst zu erregen. Vielleicht hatte Racul ja von all dem noch gar nichts mitbekommen...

Entnervt legte Jargon die Akte vor sich ab und rieb sich die Augen. Es war vollkommen zwecklos! Zum fünften Male hatte er sich den Sachverhalt nun durchgelesen und doch! Als wären sie in einer anderen Sprache geschrieben, entzog sich die Bedeutung der Worte seinem Zugriff und dabei war das hier nun wirklich nicht weiter kompliziert! Klarer Fall von widerrechtlicher Entwendung fremden Eigentums durch den Verdächtigen. Geschickt gemacht, keine Frage, aber genauso zweifellos ein Verbrechen. Man musste nur ein paar Formulierungen aus der Vernehmung genau aufdröseln, hübsch ordnen und dem Gegenanwalt servieren. Reine Routine.
Der Hauptgefreite seufzte entnervt, dann erhob er sich, um das Fenster zu öffnen und die stickige Luft im Raum gegen etwas weniger stickige Ankh-Morpork-Luft auszutauschen. Vielleicht sollte er für heute einfach Feierabend machen, es war ja auch schon spät...

Das Kind war einfach unbelehrbar! Wenn sie sich selbst mit dieser lächerlichen Angelegenheit ruinieren wollte, dann bitte, aber jetzt hatte sie den Bogen überspannt!
Gloria zog verärgert die Augenbrauen zusammen, während sie den Gang entlang in Richtung der Quelle der Gedanken schritt, welche sie beim Betreten des Gebäudes eher gewohnheitsmäßig angezapft, dann aber derart Schockierendes darin entdeckt hatte. Familiäre Bande zwischen Vampiren konnten mitunter ein Fluch sein, doch manchmal erwiesen sie sich auch als überaus praktisch: So konnte man die mentale Spur der eigenen Sippschaft recht mühelos aus allen anderen herausfiltern und mit ein wenig Übung war es ein Leichtes, den Ursprungsort auch in unbekanntem Terrain treffsicher anzusteuern. Zudem standen hier ja auch noch Namensschilder an den Türen, das reinste Kinderspiel also. Auch wenn wahrlich kein Grund zu erkennen war, warum jemand stolz sein sollte, auf diese Weise zu verkünden, als Wächter hier zu... residieren. Wirklich lästig war der alten Vampirin im Moment nur der kleine Mann in der grauen Uniform, welcher sie seit dem Erdgeschoss verfolgte und dabei eher mäßig überzeugende Versuche unternahm, sie aufzuhalten. Als ob er die geringste Chance gehabt hätte! Aber vielleicht löste das Tragen einer derartigen Verkleidung auch Anflüge von Selbstüberschätzung aus, wer konnte das schon so genau wissen?
Gloria unterbrach sein Geplapper mit einer unwirschen Geste, als wolle sie ein lästiges Insekt verscheuchen, und konzentrierte sich dann auf die aktive Kontaktaufnahme:
"Mina von Nachtschatten!"
Kurz war es still im mentalen Äther, dann:
"Was willst du?"
"Dich davor bewahren, dich vollkommen der Lächerlichkeit preiszugeben."
"Und das ganz uneigennützig, wie mir scheint?"
"Nicht in diesem Tonfall, junge Dame!"
"Gloria, ich habe keine Zeit für sowas."
Die Alte stieß schwungvoll die Tür auf; mit einem dumpfen Knall traf diese auf die dahinter liegende Wand. Das Jüngelchen neben ihr zuckte bei dem Geräusch kurz zusammen.
"Dann wirst du dir diese Zeit nehmen müssen."
"Es tut mir leid, Mä'äm..."
"Schon gut, du kannst wieder nach unten gehen."
Gloria wartete nicht erst ab, bis sich die Präsenz des Wächters aus ihrer Reichweite entfernt hatte.
"Ich habe zu keiner Zeit damit hinter den Berg gehalten, was ich von deinem überzogenen Engagement im Hinblick auf diese Frau halte..."
"Tatsächlich, so viel Glück hatte ich nicht."
"Lass mich ausreden!" Wirklich, diese Wache war ein schlechter Einfluss. Früher hätten die jungen Dinger es nicht gewagt, den Älteren derart respektlos ins Wort zu fallen. "Ich habe mich immer deutlich ausgedrückt und gehofft, du würdest Vernunft annehmen", fuhr Gloria fort, "Aber die Aschers? Dieser zum Untergang verurteilte Möchtegern-Clan? Mit denen verhandelst du im Namen der Familie? Mina, das ist nicht nur unter unserer Würde, das ist eine nahezu skandalöse Erniedrigung! Eine von Nachtschatten bittet nicht, sie fordert ein. Was denkst du eigentlich, was passiert, wenn deine Eltern davon erfahren? Die Lomond, die ist nichts als ein altes Bauernweib! Und das alles für einen Menschen!"
Mina dachte einen Moment nach, allerdings sah es ganz und gar nicht danach aus, als würden sie Schuldgefühle umtreiben.
"Und deswegen bist du extra hierher gekommen?", fragte sie dann. "Spionierst du mir nach? Hast du nichts Besseres zu tun?"
"Mein ursprüngliches Motiv tut hier nichts mehr zur Sache, das Thema ist jetzt ein anderweitiges."
In der Tat hatte sich Gloria aus einem ganz anderen Beweggrund dazu überwunden gehabt, den Fuß in dieses Gebäude zu setzen. Aber dieser erschien nun nahezu banal, im Vergleich betrachtet. Hier drohte ein schlimmeres Übel. Die Alte ließ oberflächlich ihre Gedanken wandern, streckte den mentalen Tastsinn aus und stieß so schnell auf das Gesuchte - was auch nicht weiter schwierig war, flackerte dieser spezielle Geist doch heller und unregelmäßiger als alle anderen in der direkten Umgebung. Ungeachtet dessen, was sie bereits wusste, legte sich dennoch ein Ausdruck der Überraschung auf ihr Gesicht.
"Gute Güte... ist sie das?"

Es war nur ein leichter Stupser, ein kaum merkliches Piksen am Rande ihres Bewusstseins. Mittlerweile hatte Ophelia gelernt, solche Randerscheinungen zu ignorieren. Aber nun lief ihr ein Schauer über den Rücken und sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, beobachtet zu werden. Nein, nicht nur beobachtet, vielmehr eingehend inspiziert und examiniert, wie ein hilfloses Insekt unter dem Vergrößerungsglas. Die junge Frau verharrte mitten im Zimmer, hielt unwillkürlich den Atem an und lauschte - in sich hinein, aber auch auf das, was rund um ihr Zimmer vorging. Etwas Ungewöhnliches ließ sich zumindest bezüglich letzterem nicht ausmachen, aber das Gefühl blieb, dass irgendetwas... irgendjemand... Ophelia schüttelte den Kopf, als könne sie die Empfindung auf diese Weise loswerden. Vielleicht wurde sie auch einfach langsam paranoid. Hieß es nicht, dass Menschen, die lange Zeit an einem Ort eingesperrt waren für den Wahn empfänglicher wurden als andere? Wäre am Ende eine Umnachtung nicht vielleicht sogar segensreich für sie selbst? Eine letzte verzweifelte Möglichkeit, dem allen hier zu entkommen?

Er spürte das unangenehme Prickeln zwischen den Schulterblättern und wie unter Zwang wandte Jargon den Kopf vom Fenster ab und blickte auf zur Zimmerecke oberhalb seiner Bürotür. Sein feines Gespür für Bedrohung, über lange Jahre des Lebens in den Schatten erworben, schlug an und ließ in seinem Hals einen Kloß aus Angst entstehen. Irgendetwas stimmte nicht. Ganz in der Nähe braute sich etwas zusammen, auch wenn nichts auf irgendeine Art von Gefahr hindeutete. Aber das hatte nur wenig zu sagen, besonders in der letzten Zeit. Und es war traurige Erfahrung, dass solcherlei Begebenheiten dann fast immer mit Ophelia Ziegenberger zu tun hatten. Es lag Jargon fern, dem Zustand der Kollegin gegenüber gleichgültig zu sein. Nur war ihm ebenso klar, dass er lediglich über sehr beschränkte Möglichkeiten des Beistandes verfügte. Für gewöhnlich waren andere eher zur Stelle und ganz bestimmt wussten die Kollegen, welche sich mit dem Problem befassten, genau was sie taten. Aber es war schon so spät, es befand sich bestimmt kaum noch jemand im Haus... Auch wenn ihm der Gedanke widerstrebte, vielleicht sollte er einfach einmal ein Stockwerk nach oben gehen und sich nach Ophelias Befinden erkundigen? Ganz unverbindlich und nur zur Sicherheit natürlich.

"Ich verstehe dein Problem nicht!" Besorgt beobachtete Mina ihre Großmutter, welche es sich auf einem der Besucherstühle in ihrem Büro bequem gemacht hatte und nun nahezu versonnen vor sich hinstarrte, hochkonzentriert auf der einen Seite, aber nicht zu gefangen, um ihrer Verachtung nicht mimisch Ausdruck zu verleihen. Es konnte nicht gut sein, wenn Gloria sich in die Sache einmischte und am Ende gar ihren Ärger noch an etwas auszulassen gedachte, was sie absolut nichts anging.
"Die Angelegenheit war ganz allein meine Entscheidung und ich glaube kaum, dass die Aschers in irgendeiner Weise damit hausieren gehen werden. Außerdem wäre es etwas ganz Neues, wenn meine feine Verwandtschaft sich dafür interessiert, ob ich mich gesellschaftlich ruiniere oder nicht." Sie hielt inne, um ihrer Großmutter Gelegenheit zum antworten zu geben. Zum Protest. Zum Gezeter. Zu irgendwas. "Gloria? Hörst du mir eigentlich zu?"
"Es ist in gewisser Weise bemerkenswert, dass sie überhaupt noch lebt", blieb ihre Großmutter ihr eine Antwort auf diese Frage schuldig. "Ein Geist derart aus dem Takt, dem nimmt sich für gewöhnlich jemand an, bevor er so katastrophal entgleisen kann, wie es hier offenbar schon geschehen ist." Sie wandte ihrer Enkelin das Gesicht zu, doch Mina kam es selbst jetzt noch so vor, als blicke die Andere durch sie hindurch. "Aber offenbar fehlt es euch an Entschlussfreudigkeit."
"Über die scheinst du ja zur Genüge zu verfügen." Mina schüttelte verärgert den Kopf. "Wenn ich mich recht erinnere, hattest du mich ausdrücklich darum gebeten, dich Ophelia gegenüber nicht zu erwähnen. Aber dass du jetzt selbst anfängst in ihrem Kopf herumzu... vagabundieren führt dein eigenes Anliegen ins Absurde. Sie wird dich bemerken."
Für einen kurzen Moment klärte sich Glorias Blick auf, doch die Selbstgefälligkeit, welche die Wächterin darin entdeckte, gefiel Mina noch weniger, als das plötzliche Interesse der Alten an Ophelia.
"Denkst du, ich könnte sie nicht aus meinem Geist halten?", höhnte Gloria, "Nur weil du selbst nicht fähig dazu bist? Nun, eigentlich kein Wunder, bei deinen eigenen, eher kümmerlichen Fähigkeiten..." Sie seufzte theatralisch. "Einmal ganz abgesehen davon, dass eine Fährnis nur solange wie das Problem an sich besteht."
Der Groschen fiel. Ein ziemlich großer Groschen. Gloria hatte nicht vor, irgendein Risiko einzugehen.
"Es geht dir hier nur um dich!", zischte Mina fassungslos. "Um dich und deine seltsame Geheimniskrämerei!"
"Zum Teil, natürlich, was hast du denn erwartet?" Die Alte zuckte leichthin mit den Schultern. "Denn leider ist ja nun der Fall eingetreten, dass ich nicht mehr abschätzen kann, was du als nächstes zu tun gedenkst. Ich werde aber keinesfalls tatenlos abwarten, bis du das Interesse derer in Überwald auf dich gezogen hast."
"Ach, und du bist selbstverständlich davon überzeugt, du könntest das Problem im Handumdrehen lösen, nicht wahr?"
"Selbstredend!" Die Alte legte den Kopf schief und bedachte Mina mit einem der Blicke, welche man sich gemeinhin für Begriffsstutzige vorbehält. "Wenn ich es mir recht überlege, es wäre wie in den guten alten Zeiten. Einfach einen kleinen Geist übernehmen und der Konkurrenz abjagen. Hach, wie haben wir dieses nette Spielchen damals geliebt!"
"Das wagst du nicht!" Lediglich am protestierenden Knarzen des Stuhles bemerkte Mina, dass sie dem Holz der Armlehnen mit ihrem Klammergriff ein wenig zu viel zumutete, aber das war nur ein flüchtiger Gedanke am Rande. Vielmehr suchte sie hektisch nach einer Idee, wie sie Gloria davon abhalten konnte das zu tun, was diese gerade ernsthaft in Erwägung zu ziehen schien. "Das hier ist kein Spiel! Es geht um eine... Freundin."
"Erhebst du Anspruch auf sie?"
"Nein, ich..."
"Dann verstehe ich wiederum dein Problem nicht. Zu meiner Zeit, da wussten wir noch, wann etwas getan werden musste. Und wenn es soweit war, dann musste man es eben anpacken! Du bist viel zu zimperlich gewesen, Mina." Die Alte nickte gemessen, dann konzentrierte sie sich erneut auf einen Punkt hinter ihrer Enkelin. "Wenn du mich nun kurz entschuldigen würdest..."

Man stelle sich den mentalen Raum erneut als eine Art Netzwerk vor. Manchmal kann es dazu kommen, dass, wenn durch einen unglücklichen Zufall mehrere Kanäle über einen gemeinsamen Mittelpunkt miteinander in zeitgleicher Verbindung stehen obwohl die jeweiligen Empfänger nicht willentlich miteinander kommunizieren, ein freier Austausch aller Beteiligten in dieser dann für sich existierenden Sphäre möglich ist. Allerdings ist es nicht empfehlenswert, dies bewusst herbeizuführen. Denn wenn sich die Kreise enger ziehen und auf einen bestimmten Punkt konzentrieren, auf welchen alles zuläuft, und wenn dieser Empfänger keine Möglichkeit zum Ausgleich hat, überlastet wird und damit quasi blockiert...

Plötzlich war er da und die Geschwindigkeit, mit der die Eiseskälte seiner Präsenz sie überschwemmte, ließ Ophelia nach Luft schnappen. Ihr Magen krampfte sich zusammen und ihr wurde schlagartig schwarz vor Augen, doch ihr blieb keine Zeit wieder vollständig zu sich zu kommen, bevor Raculs Stimme hinter ihrer Stirn befahl:
"Tu etwas!"
Etwas tun? Was denn? Wofür? Oder... wogegen?
Er musste ihre Verwirrung registriert haben, die mentale Antwort auf ihre Gedanken bestand in einem ungeduldigen Grollen.
"Ihr habt doch diese ganzen hübschen Übungen gemacht, nicht? Vielleicht wäre es der Dame genehm, nun einmal etwas davon anzuwenden? Lass sie um keinen Preis rein!" War das ein Hauch Panik gewesen, nur ungenügend kaschiert vom harschen Tonfall des Vampirs? Ophelia blinzelte hastig und versuchte einen klaren Gedanken zu formulieren.
"Aber wen soll ich nicht..."
"Guten Abend, Teuerste. Nur keine Sorge, ich habe nicht die Absicht, dich lange zu behelligen. Aber jemand muss schließlich tun, was getan werden muss, nicht? Du wirst vielleicht ein klein wenig Unwohlsein dabei verspüren..."
Ophelia kam nicht mehr dazu sich zu fragen, um wen es sich bei dieser neuen, ihr völlig unbekannten Gedankenstimme handeln mochte, denn sobald die Worte in ihrem Sinn eingesunken waren explodierte auch schon der Schmerz in ihrem Kopf. Sie bemerkte nicht einmal, wie ihre Beine unter ihr wegsackten und sie auf dem harten Holzboden aufschlug; hörte nicht, wie sich ein verzweifelter Schrei ihrer Kehle entrang. Hilflos tasteten ihre Finger nach einem Halt, sie konnte nicht sehen, nicht denken, selbst das bloße Existieren erschien ihr ein Ding der Unmöglichkeit, während offenbar jede Faser ihres Seins mit einer glühenden Schere quälend langsam durchgeschnitten wurde. Todesangst schnürte ihr die Kehle zu und gleichzeitig hatte sie das Gefühl zu fallen, in eine bodenlose Tiefe gesogen zu werden und war dem hilflos, willenlos ausgeliefert, ohne die geringste Kraft zur Gegenwehr, da doch ihre gesamte Welt in Flammen stand, in Feuer und Verderben, alles verzehrend, die Frau auslöschend, von der es einmal geheißen hatte, sie sei Ophelia Ziegenberger...
"Lass mich handeln!" Es war nicht mehr als ein Echo aus einer unbestimmten Ferne. Sie hatte die Stimme einmal gekannt... "Lass mich handeln und lass los. Um unser beider Willen!"
Ophelia gehorchte instinktiv.

...dann erfolgt ein Rückstoß über alle vorhandenen aktiven Verbindungen, um den Stau aufzulösen und einen vollständigen Zusammenbruch des Ziels zu verhindern. Ein Moment, ein Bruchteil einer Sekunde, in dem der Geist aller Beteiligten vollkommen schutzlos liegt...

Jargon fuhr wie unter einem Peitschenhieb zusammen, als ein nahezu unmenschlich klingender Schrei an seine Ohren drang. Hätte er sich nicht geistesgegenwärtig am Treppengeländer festgehalten, er wäre wohl die Stufen in das Stockwerk hinuntergestürzt, aus dem er gerade emporgestiegen war. Der Schreck war noch nicht ganz überwunden, da ertönte, wie als Antwort auf den ersten, ein zweiter, beinahe identischer Schrei aus einer anderen Richtung und dann war es, als sause ein massiges, jedoch unsichtbares Objekt durch die Luft und träfe ihn frontal gegen die Stirn. Sein eben noch ungutes Gefühl steigerte sich zu reiner Panik, ihm schwanden kurz die Sinne und um nicht doch noch nach hinten zu fallen, stolperte der Hauptgefreite in den vor ihm liegenden Gang. Dann war seine Umgebung auf einmal wieder da und anstatt des Schmerzes, mit dem er gerechnet hatte, blieb nur eine milde Benommenheit zurück. Jargon stützte sich an der Wand ab, tastete sich bis zur nächsten Biegung und versuchte dann, seinen Blick wieder zu fokussieren. Aber anscheinend spielten seine Sinne ihm noch Streiche, denn anders konnte er sich den ihm nun bietenden Anblick nicht erklären: Rechterhand öffnete sich eine Tür und Ophelia trat heraus. Allerdings schien es sich nicht um die Wächterin zu handeln, die er mittlerweile recht gut zu kennen glaubte: Die Frau bewegte sich zu schnell für seine Kollegin und dabei derart elegant und schwerelos, beinahe tanzend, wie er es bei einem Menschen noch nie gesehen hatte. Ihr Gesicht war eine unbewegliche starre Maske, abgesehen von wilder Entschlossenheit im Blick. Sie schien ihn außerdem überhaupt nicht wahrzunehmen, ging lediglich einen Schritt vor Jargon in die Hocke und zog mit einer fließenden Bewegung einen schmalen hölzernen Gegenstand aus einer Halterung an ihrem Bein hervor. Dann war sie auch schon an ihm vorbei und das nächste Geräusch, was er vernahm, bestand im erneuten Knarren einer sich öffnenden Tür, diesmal direkt vor ihm.

Sie fühlte sich wie in einem Klicker, so fremd schienen ihr die Vorgänge, welche sich um sie herum abzuspielen begannen. Zunächst war es wohl ein kleines Wunder, dass sie diesen Gedanken überhaupt fassen konnte. Erstaunt nahm Ophelia die Tatsache zur Kenntnis, sich noch in ihrem eigenen Körper zu befinden, allerdings schien er ihr für den Moment nicht zu gehorchen. Doch wie frei und leicht waren ihre Bewegungen! Der Schmerz war abgeklungen, längst nichts anderes mehr als Erinnerung und für den Augenblick war es egal, dass der Preis dafür gewesen war, die Kontrolle über sich selbst an denjenigen abzugeben, dem sie diese nie wieder hatte überlassen wollen. Ein Aufglimmen von Dankbarkeit gegenüber Racul, mehr brachte sie in der Sekunde nicht zustande, jedoch hatte sie auch Angst vor dem, was passieren mochte, versuchte sie zu früh wieder selbst zu agieren. Wenn bloßes Zuschauen sie von dem lodernden Inferno von vorhin fern hielt, dann würde sie sich gern darauf beschränken. Seltsam, ein Gast in einem Körper zu sein. Fühlte der alte Vampir sich die ganze Zeit über so?
Schon waren sie auf den Gang hinausgeschritten, so schnell, dass Ophelia kurz dachte sie wäre tatsächlich geflogen... und dann hatte sie mit einem Mal den Pflock in der Hand, welchen sie seit der HIRN-Ermittlung stets bei sich trug und ihre Erleichterung wich einer vagen Besorgnis.
"Was hast du vor?"
Indessen, ihre Gedanken waren ihren Bewegungen an Geschwindigkeit bei weitem unterlegen; sie befand sich bereits im nächsten Raum und Ophelia versuchte noch, sich zu orientieren...
"Ophelia. Leg das weg! Sie hat aufgehört, leg es weg!"
Jemand trat ihr in den Weg, die Hände beschwichtigend erhoben.
"Tritt beiseite, Korporal, das ist ein Befehl!", hörte sie sich zu ihrem eigenen Schrecken selbst sagen, wich der Gestalt schattengleich aus und steuerte auf eine zweite zu, welche sich im hinteren Teil des Raumes befand. Ihr rechter Arm fuhr in die Höhe... Nein! Sie würde niemanden verletzen! Sie würde niemanden auslöschen! Das war nicht richtig, nicht einmal jetzt! Ophelia stemmte sich gegen den festen Griff, mit welchem Racul ihr Ich im Hintergrund hielt, zerrte an den mentalen Barrieren, verzweifelt darum bemüht, die Kontrolle über sich selbst wieder in ihren Körper zurück zu zwingen. Vielleicht hatte sie ihn mit dieser plötzlichen Attacke überrascht, vielleicht hatte er auch einfach nicht mehr auf sie geachtet - auf jeden Fall gab seine geistige Kralle für eine Sekunde nach. Sie spürte wie er versuchte, mit Gewalt erneut die Oberhand zu gewinnen, ihren Körper dabei zu unwillkürlichen Drehungen veranlassend, doch sie war ihm bereits genug entglitten, auf dass sie den mentalen Keil weiter in den entstandenen Spalt treiben konnte. Ophelia kämpfte verbissen, schlug um sich - und dann geriet die Welt ein weiteres Mal aus den Fugen, überschlug sich, zerfaserte in Schwärze, in vollkommenes Nichts, in Stille und Frieden, es tat nur einen leichten Ruck...

...bevor die Bahnen nach einem kurzen Augenblick des vollkommenen Stillstandes erneut genutzt werden können. Zurückbleibende Schäden verschiedenster Natur können dabei allerdings nicht ausgeschlossen werden.

...und dann kehrten Farben und Formen zurück, drangen Geräusche an ihre Ohren, spürte sie das Leben pulsierend bis in ihre Fingerspitzen und endlich war es wieder nur noch Ophelia Ziegenberger, die aus ihren eigenen Augen blickte - die wieder zu sich selbst zurückgekehrt war.
"Dummes Kind..."
Raculs Stimme klang kurz verächtlich in ihren Gedanken nach, dann zog er sich daraus zurück. Sie spürte lediglich noch einen leichten, ziehenden Kopfschmerz, aber das war nichts im Vergleich zu dem eben Durchlebten. Sie seufzte erlöst, hob den Kopf und wollte den Anwesenden mitteilen, dass es ihr gut ging... als sie Minas Blick begegnete. Das Gesicht der Vampirin befand sich nur Zentimeter von ihrem eigenen entfernt und was ihr da aus den grauen Augen entgegen sprach waren sowohl Überraschung als auch Erschrecken, Schmerz, vollkommene Verständnislosigkeit... und Kummer. Die Hand der Vampirin glitt vom fest an den Oberkörper gebundenen linken Arm der Kollegin ab; offenbar hatte sie versucht, die junge Frau so zurückzuhalten. Und war ihr dabei zu nahe gekommen. Ophelias Augen folgten unwillkürlich der Bewegung und blieben an ihrer - im Gegensatz zum Gegenstück - noch sehr brauchbaren Rechten hängen, welche noch immer wie im Krampf den Pflock umklammert hielt. Nur, dass das Holz sich zu zwei Dritteln und knapp über der Hüfte in die linke Körperseite der Vampirin gebohrt hatte.
Verstehen bahnte sich unaufhaltsam einen Weg in Ophelias Bewusstsein und wenn sie sich gewünscht hatte, der Lauf der Dinge möge ein weiteres Mal innehalten oder sich als nicht ganz real erweisen, so wurde sie enttäuscht. Der kurze Moment des Begreifens auf beiden Seiten zerbarst schon innerhalb eines Atemzuges, Ophelia ließ den Pflock los als könne sie sich daran verbrennen, während Mina das Gesicht qualvoll verzog und zusammengekrümmt einige Schritte nach hinten taumelte. Es klackerte zweimal, als die sorgsam zugespitzte hölzerne Waffe auf den Boden traf, einen Halbkreis darauf beschrieb und schließlich neben einem der hohen Aktenschränke liegenblieb. Sie hinterließ auf ihrem Weg eine Spur aus kleinen roten Flecken. Doch Ophelia achtete kaum darauf; ihr starrer Blick galt dem verwischten blutigen Handabdruck, welchen Mina auf der Suche nach etwas zum abstützen direkt neben der Tür hinterlassen hatte. Wie hypnotisiert konnte sie die Augen nicht davon abwenden, während ihr Verstand noch immer sinnlos versuchte, eine harmlose Erklärung zu finden, welche sie nicht die Schuld tragen ließ, oh ihr Götter, bitte nicht!
"Es wäre vielleicht besser... wenn du jetzt gehst... Ophelia."
Der Klang ihres Namens riss sie aus ihrer Bewegungsunfähigkeit.
"Ich..."
"Raus!", presste die Vampirin zwischen den Zähnen hervor, dann wandte sie sich unter sichtlicher Anstrengung an die zweite Anwesende im Raum. "Und du erst recht!"
Ophelia sah nicht mehr, wie sich hinter ihr eine Wolke aus Fledermäusen erhob und durch das geöffnete Fenster in den späten Abend hinaus entschwand. Sie registrierte auch nicht, ob ihr jemand auf dem Weg zurück in ihr Zimmer entgegenkam, ob sie jemand ansprach oder ob sie vielleicht auch ganz allein war. Ophelia floh, versuchte das ganze Ausmaß dessen was passiert war unter einer dumpfen Glocke aus Taubheitsgefühl zurückzuhalten, wenigstens so lange bis sie wieder die Sicherheit der vier Wände ihres Gefängnisses um sich spürte. Sie stürzte in den Raum, drehte mit fahrigen Fingern den Schlüssel im Schloss und ließ sich dann mit dem Rücken zur Tür zu Boden gleiten, während alles um sie herum in einem Film aus Tränen verschwamm.


OPHELIA ZIEGENBERGER

Ich habe Mina verletzt. Sie ist... sie war... sie ist... vielleicht noch... meine Freundin. Einfach angegriffen. Mit einem Pflock. Wie einer dieser elendigen Vampirjäger!
Die Tränen liefen ihr in steten Strömen über das Gesicht, untermalt von leisen Schluchzern. Sie fuhr sich fahrig mit dem Unterarm über die Augen und ließ ihren Kopf mit dumpfem Pochen gegen die Tür in ihrem Rücken sacken. Irgendwann hatte sie kurz daran gedacht gehabt, aufzustehen und sich zumindest zum Bett hinüber zu schleppen, dann aber war es ihr wieder gleichgültig gewesen und es hätte ihr so oder so an der dazu nötigen Kraft gefehlt.
"Ophelia, das ist doch sinnlos. Außerdem bin ich dein Vorgesetzter und gebe dir einen Befehl: Komm schon, mach die Tür auf!"
Romulus diesmal.
Aber das ändert nichts.
Die Stimmen kamen und gingen, ganz ähnlich den Streiflichtern in ihrem Sinn. Sie musste nur immer darum bemüht sein, harmlose Freundlichkeit zu signalisieren und keine zusätzlichen Fehler mehr zu machen. Dann verschwanden sie schneller wieder. Bloß, dass nach einer Weile andere Stimmen statt derer auftauchten. Jargon beispielsweise war da gewesen, auf der anderen Seite der Tür. Er hatte von ihr wissen wollen, wovon er Augenzeuge geworden war. Als wenn sie ihm das hätte erklären können! Was hätte sie sagen sollen? Nimm dich in Acht, Jargon, ich bin zu einer unkontrollierbaren Waffe geworden?
Keine Fehler... ich darf keine Fehler machen... lenke sie ab und schicke sie fort!
Sie bemühte sich darum, ihre Stimme möglichst vernünftig und hilfsbereit klingen zu lassen. Sie hoffte, dass der Werwolf das leichte Zittern und Beben darin überhöhren würde.
"Das geht gerade nicht. Versuche es bitte später noch einmal."
Sie wusste nicht, was Mina den anderen erzählt hatte aber sie meinte sich daran zu erinnern, dass Jargon davon gesprochen hatte, er glaube nicht wirklich daran, dass Mina ihm die ganze Wahrheit gesagt habe... irgendetwas von einem Unfall?
Ophelia holte zittrig Luft.
Wem wollte Mina etwas vormachen? Das konnte nicht unbesehen durchgewunken werden! Es war ein echtes Wunder, dass Sebulon noch nicht an ihrer Tür aufgetaucht war! Wäre sie selber an Jargons Stelle gewesen, sie hätte sich als unberechenbar und als eindeutig gefährlich angesehen - und angezeigt.
All das Blut! Der verschmierte Handabdruck neben dem Türrahmen...
Romulus' Stimmung verschlechterte sich merklich, sie hörte ihn leise mit jemand anderem diskutieren.
"...bloß, dass Bregs ausnahmsweise mal nicht im Hause ist. Ich glaube, da bahnt sich grad was an bei den FROG und er hat das im Gespür. Oder vielleicht ist er auch nur misstrauisch, wie immer. Jedenfalls ist er noch unterwegs... nein, den anderen Zweitschlüssel haben wir schon ausprobiert und der klemmt unverrückbar..."
Ophelia sandte im Stillen einen Dank an Annoia, dafür, dass diese ihr Stoßgebet zuvor eindeutig erhört haben musste und das Schloss daraufhin verkanten ließ; auch wenn die an die Göttin gerichtete Bitte somit deutlich aus dem üblichen Rahmen gefallen war.
Romulus grummelte hinter der versperrten Tür.
"...ich weiß selber, dass das kein Problem wäre. Aber das muss ja nicht sein. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass es püschisch besser wäre, wenn sie von sich aus öffnet."
Sie zwang sich dazu, ihre Stimme mit einem Räuspern zu klären.
"Ich bleibe einfach nur hier drinnen und bin niemandem im Weg, Sör."
...und ihr bleibt bitte, bitte, bitte draußen, um eurer selbst willen, ich flehe euch an! Bleibt mir fern...
Ihr Blick wanderte unstet durch den Raum. Er blieb zum hundertsten Mal an den unordentlich über den Boden geschleuderten Waffenscheiden hängen. Der Platz für den Pflock war nun leer, gewiss. Aber sie hatte auch den Gedanken an den darin verbliebenen Dolch, bereit zum Einsatz gegen Freund und Feind, nicht mehr ertragen können. Kaum, dass sie wieder in den vertrauten vier Wänden angekommen und an der verschlossenen Tür hinab gerutscht war, hatte sie auch schon mit bebenden Fingern die Schnüre der beiden um das Bein gebundenen Schäfte gelöst, sie von sich gerissen und sie in verzweifelter Wut beiseite geschleudert. Das ganze Konstrukt war, mit sich verknotenden Bändern, schwungvoll halb unter den Schreibtisch geschliddert, wo es sich am vorderen Tischbein verheddert hatte.
Nie wieder wollte sie sich selber so leichten Zugang zu Waffen verschaffen!
Wenn ich nur schneller darin gewesen wäre, mich von Raculs Einfluss zu befreien! Oder ihn gar nicht erst zum Zuge hätte kommen lassen! Den Umstand, dass sie sich nur aus Notwehr heraus dazu gezwungen gesehen hatte, verdrängte sie.
Wie es ihr wohl geht?
Minas Gefühlsaura war die letzten Stunden über immer wieder in Ophelias mentaler Reichweite aufgeflackert. Sie musste sich noch im Wachhaus aufhalten. Ruhelos wie ein schwer zu fassender Geist schien die Vampirin durch die Etagen zu streifen und sich wahllos beschäftigt zu halten. Doch ob es nun an Mina oder an Ophelia selber lag – es war letzterer unmöglich gewesen, Minas Anwesenheit zu greifen zu bekommen und so womöglich zu erfahren, in welchem Zustand ihre Kollegin sich befand.
Wenn ich sie nur fragen könnte! Aber vielleicht will sie auch nicht mehr mit mir reden? Verübeln könnte ich es ihr wahrlich nicht...
Ein Wort echote durch ihren Sinn, ungefragt, vorwurfsvoll: Raus!
Ein neuerliches Schluchzen löste sich von ihren Lippen und sie presste sich schnell ihren tränendurchnässten Ärmel vor den Mund.
Jemand streifte ihre Gedankenaura. Doch es handelte sich um ein Kind und sein natürliches Gespür ließ es ausweichen und einen anderen Weg einschlagen.
Romulus hatte seinen Kopf wohl näher an die Tür zwischen ihnen geneigt, denn seine Stimme klang jetzt wesentlich dichter an ihrem Ohr, als er sagte: "Na gut. Dann warten wir eben, was Bregs dazu sagt. Am besten... also... du bleibst in deinem Raum. Genau! Ich spreche mich mit ihm ab und dann reden wir weiter."
"Natürlich, Sör!" Sie hielt die Luft an und wartete.
Die Schritte ihres Abteilungsleiters entfernten sich.
Das letzte bisschen Kraft schien aus ihr herauszusickern und sie ließ es zu, dass sie weiter beiseite sank, bis ihr Kopf sich auf den harten Boden bettete.
Zu viel... es ist einfach zu viel... ich schaffe das nicht mehr... ich möchte schlafen, so sehr... möchte, dass das Grübeln aufhört, die Furcht vor dem nächsten Fehler... schlafen...
Sie erinnerte sich kurz an die Leichtigkeit ihres Körpers, die ungeheure Entschlusskraft, die sie durchpulst hatte, als sie dem Vampir freie Hand gelassen hatte. Und an das Gefühl, als er sie nach dem Ringen um Kontrolle mit deutlicher Verachtung fallen gelassen hatte.
Zu nichts mehr nütze... lästig... verbraucht... einsam...
Selbst ihre Augen waren erschöpft und die Tränen versiegten.
Ein feiner Luftzug hauchte durch den unteren Türspalt hindurch und ihr ins Genick. Sie zog die Knie dicht an ihren Körper an.
Das Licht wanderte.
Sie konnte das Trappeln der Kollegen durch die Dielen des Wachhauses an ihrer Wange vibrieren spüren, manchmal näher, meistens jedoch weit weg, ihre Stimmen wispern hören. Irgendwann blinzelte sie und stellte verwirrt fest, dass es dunkel geworden war, draußen wie drinnen. Und sie hatte noch keine Kerze entzündet. Andererseits...
Wozu auch...
Schritte näherten sich ihrem Büro, zusammen mit zwei leisen Stimmen.
Ophelia verkrampfte sich.
Nicht zu mir, bitte... bitte nicht! Biegt vorher ab...
Doch die beiden Männer taten ihr diesen Gefallen nicht. Eine der Stimmen klang etwas weniger fremd aber sie konnte nicht genug Konzentration aufbringen, um sie zuzuordnen.
Irgendeiner der neuen Rekruten...
Dann waren sie nahe genug, dass sie das Gespräch zwischen ihnen trotz der verhaltenen Lautstärke, in der sie es führten, verstehen konnte.
"Ist echt schwer in Ordnung von dir, Kumpel, dass du mich zu ihr lässt. Und dass du dafür extra mitkommst."
"Wir dürfen hier niemanden einfach so rumlaufen lassen. Und du solltest dich beeilen. Wir dürfen eigentlich auch den Tresen nicht verlassen, sondern müssen dort zu zweit bleiben. Wenn jemand dessen gewahr wird, kriegen wir sonst noch Ärger. Dass du jetzt tief in meiner Schuld stehst, ist dir bewusst, oder?"
"Auf jeden! Ich werd' dich nich' vergessen. Bei meiner nächsten Tour in der Gegend bring ich dir was mit, versprochen. Aber das gibt einen riiiiichtig fetten Bonus, der Auftrag. Und ich muss das Teil dafür nur wirklich, wirklich persönlich abgeben! Sonst krieg ich nich' einen roten Heller draufgezahlt. Und den könnt' ich echt gut gebrauchen."
"Hmmm... wie gesagt, ich weiß nicht, ob sie die Tür aufmachen wird. Mir wurde zugetragen, dass sie sich heute ein wenig merkwürdig verhält. Wir können halt nur freundlich klopfen und dann ausharren, ob sie willens ist, dich zu empfangen."
"Kumpel... alles ist besser, als es gar nicht zu versuchen. Ich würd' sogar bei der UU oder bei den Narren klopfen, wenn dafür Extrakohle in Aussicht steht! Und... merkwürdig, ist 'ne ganze Menge Kram. Du würdest gar nicht wissen wollen, was ich den lieben langen Tag so erlebe. Da drückt man irgendwann 'nen Auge zu. Ehrlich gesagt find' ich es irgendwie viel abgefahrner, dass ihr eure Kollegen hier heimlich einknastet."
"Mit Verlaub, wir haben nichts dergleichen getan! Sie ist nicht "eingeknastet"! Das ist ihr Büro, keine Zelle!"
Die fremde Stimme reagierte schnell schlichtend auf die Empörung des Rekruten.
"Ho! Nicht meine Idee! Ich hab' das nur so auf der Straße läuten hören. Wird halt geredet, ne? Dafür kann ich ja nix. Wie gesagt, ich find' dich schwer in Ordnung, also reg' dich nicht unnötig auf, ok?"
Die Schritte stoppten vor ihrer Tür. Der Rekrut räusperte sich und dann klopfte er an.
"Verzeiht, Oberfeldwebel Ziegenberger?"
Sie schloss ergeben die Augen und räusperte sich.
"Ja, bitte?"
"Ähm, wenn du vielleicht die Güte hättest, die Tür zu öffnen, Ma'am? Hier ist ein Bote, der einen Brief zu überreichen gedenkt. Dieser ist nur persönlich zuzustellen. Der Herr war nicht gewillt, ihn einfach am Tresen abzugeben und da dachten wir..."
Ein Brief? Rach! So lange wartete sie auf eine Nachricht von ihm, es konnte einfach nicht anders sein! Endlich! Was ist passiert, dass er sich nicht melden konnte? Hoffentlich keine weiteren schrecklichen Neuigkeiten...
"Einen Moment, bitte!"
Sie verschwendete keinen Gedanken daran, wie merkwürdig es sich anhören mochte, dass sie sich direkt an der Tür aufrappelte, obendrein so schwerfällig. Und wie seltsam entrückt oder gar verwahrlost sie wirken mochte, wenn sie die Tür zu einem finsteren Zimmer öffnen und nach einem Tag am Boden in zerknitterter Kleidung, mit mehr als erschöpften Gesichtszügen, dieser stark ausgedünnten Frisur seit den UU-Untersuchungen und all den nur spärlich verdeckten Brandmalen aus der Dunkelheit hinaus sehen würde.
Er hat sein Wort gehalten. Wie immer. Er hat geschrieben, gleichgültig was dazwischen gekommen sein mag. Gleich... gleich werde ich erfahren...
Sie öffnete die Tür so schnell es ging, ließ die Klinke los und streckte dem unbekannten Boten hastig die Hand hin.
Der verlegen lächelnde Rekrut hielt sich so dezent im Hintergrund, dass sie ihn nicht einmal bewusst wahrnahm. Dafür blickte ihr der Straßenjunge umso neugieriger entgegen. Und mehr als ein Kind war der Bursche wirklich noch nicht.
"Du bist Frau Ziegenberger? Ophelia Ziegenberger aus der Stadtwache?"
Sie nickte ungeduldig.
"Ja. Von wem ist der Brief?"
Noch immer hielt sie ihm die Hand entgegen, doch er schien den Moment seiner Wichtigkeit zu genießen. In quälender Langsamkeit drehte er den Umschlag zwischen seinen leicht schmuddeligen Händen.
"Von einem Herrn... hmmm... Flach... ne... Fla..."
"Flanellfuß, ich erkenne schon sein Siegel. Das ist richtig und für mich."
Er sah sie grinsend an.
"Da hat's aber jemand eilig. Ist wohl ein Techtelmächtel, hm? Na, dann will ich mal nich' so sein. Hier! Eine Unterschrift krieg ich noch."
Ophelia sah nicht einmal genauer hin, was sie da eigentlich abzeichnete, sie hatte einzig und allein noch Augen für den Umschlag aus feinem Schöpfpapier.
So dünn! Nur ein Bogen Papier darin? Oder gar nur ein Zettel mit einer kurzen Notiz?
Sie schloss die Tür vor den neugierigen Blicken und eilte zum runden Tisch, wo sie den Brief ablegte. Sie griff blind nach den Anreißhölzchen und entzündete unsicher die Kerze. Der Rauch des ausgepusteten Holzes hatte sich noch nicht aufgelöst und der Docht kaum Feuer gefangen, als sie das Siegel bereits brach.
Ein einzelner Zettel kam zu Tage, darauf nur wenige Worte in seiner innig geliebten Handschrift.
"Madame! Ophelia..."
Ihre Hand bebte so sehr, dass es ihr schwer fiel, die kurze Nachricht in dem schummrigen und nur langsam aufhellenden Licht zu lesen.
Sie stand wie erstarrt.
Ein gellender Schrei scholl, von kräftiger Stimme gebrüllt, durch Wände und geschlossene Türen des Wachhauses und Ophelia zuckte zusammen.
"FROOOOOOOOOGS! ANGETRETEN!!! UND DAS GANZE RESTLICHE KROPPZEUG AUCH GLEICH!"
Das Gebäude füllte sich schlagartig mit Leben. Türen klappten und fielen zu, Stiefelabsätze schlugen auf Treppenstufen auf und trabten die Gänge entlang, Stimmen wurden laut, die sich knappe Anweisungen zuriefen.
Ophelia jedoch war gefangen in ihrer eigenen kleinen Welt, einzig und allein die elegant geschwungenen Worte vor Augen und in sich einen bodenlosen Abgrund, der aufzubrechen und sie zu verschlingen drohte. Sie legte den Brief sachte vor sich ab und stützte sich auf die Tischplatte. Einige Sekunden verharrte sie in dieser Haltung. Dann brach sie in Hektik aus.
Sie hastete durch das Zimmer, als wenn sie etwas suchen würde, griff nach ihrem Umhang, verwarf den Gedanken wieder und ihn auf das gemachte Bett. Sie suchte das große Standregal ab und griff zögernd nach den zurechtgerissenen Almanachblättern - um Fragen zuvorzukommen. Sie kontrollierte den Raum mit ihren Blicken daraufhin, ob er noch bessere Objekte bieten mochte, um ein Verlassen ihres Zimmers möglichst harmlos zu begründen.
Immer wieder durchquerte sie das Zimmer. Der Luftzug hob das feine Papier leicht an, die Nachricht segelte unbemerkt vom Tisch und rutschte sanft auf den nebenstehenden Stuhl; wo sie verdeckt liegen blieb.
Ophelia ging mit großen Schritten zur Tür, hielt inne und sah sich noch einmal suchend um. Sie biss sich nervös auf die Unterlippe, dann jedoch drehte sie den Schlüssel im Schloss und öffnete vorsichtig die Tür. Sie blickte prüfend auf den Gang davor hinaus. Dann senkte sie den Blick, trat hinaus... und hob ihn auch dann nicht, als sie sich kurz darauf, auf dem Weg zu den Latrinen, inmitten eines undurchsichtigen Durcheinanders rennender Kollegen wiederfand, die konzentriert jede Art von Ausrüstung überprüften, während sie zu den Ausgängen des Wachauses strömten. Sie folgte denen, die zum Innenhof unterwegs waren, den zerknitterten Stapel alter Blätter wie einen Schutzschild an sich gepresst. Die meisten Kollegen schienen bereits ausgerückt zu sein und die Nachzügler hatten andere Probleme, als sich ausgerechnet an ihrer blassen Gestalt zu stören.
Der Gang zum Abort war nichts Ruhmreiches aber jeder kannte die Anzeichen und war fast automatisch darum bemüht, die Kollegen, die sich offensichtlich auf dieser Art von Mission befanden, aus der bewussten Wahrnehmung auszuklammern. Um ihnen eine gewisse Privatsphäre zuzugestehen.
Ein püschologischer Vorteil, den Ophelia sich zu Nutze zu machen im Begriff stand.
Die Ställe waren bereits leer und nur noch vereinzelt rannte jemand an ihr vorbei.
Sie kontrollierte ein letztes Mal mit Blicken ihre Umgebung. Dann legte sie den dünnen Stapel herausgerissener Seiten achtlos an die Gebäudewand, drehte sich entschlossen dem nur halb zugezogenen Rolltor zu... und wurde schneller.

~~~ oOo ~~~


Sie standen nahe beieinander im Schatten der Oper und beobachteten, wie das Wachhaus regelrecht im Licht der entzündeten Laternen und Fackeln entflammte. Ein glitzerndes Juwel der Rechtschaffenheit inmitten der boshaften Schwärze einer abgrundtief verkommenen Welt. Auch wenn keiner von ihnen jemals darauf gekommen wäre, es mit solchen Worten auszudrücken. Überhaupt waren sie eher von der schweigsamen Sorte.
"Es fängt an."
"Hmmmmhm..."
Sie sahen den schlanken Schemen zugleich, der sich ihnen beinahe schon hüpfend vor Erwartung näherte.
"Denk dran: Keine Zeugen!"
"Hmmmmhm..."
Der wortgewandtere von ihnen trat in die Fackelbeleuchtung des Opernhauses hinaus und dem Boten entgegen, dessen suchender Blick sich erleichtert auf ihn fokussierte. Dann war der Junge nahe genug, um grinsend seinen Bonus einzufordern.
"Alles wie am Schnürchen gelaufen, Herr! Ich hab' den Brief an sie persönlich weitergegeben, genau wie du gesagt hast."
Sein Ansprechpartner nickte freundlich.
"Und du hast ihr nicht verraten, dass ich hier bin, richtig?"
Der Junge schüttelte enthusiastisch den Kopf.
"Nein, kein Wort. Sie war ganz aufgeregt. Süße Schnecke... wenn auch ein bisschen durchgeknallt, Herr. Wirkte schon ein bissel meschugge. Aber musst du ja wissen, was du willst, nech?"
"Pass auf, was du sagst, Bursche!"
Der Knirps grinste nun beinahe dreckig - und das lag nicht an den Ablagerungen etwaiger Umwelteinflüsse, denen seine Haut seit dem frühen Morgen bereits ausgesetzt gewesen war. Er winkte ab.
"Schon klar, Herr. Geht mich auch nix an. Mich interessiert nur die Kohle."
Erwartungsvoll streckte er die Hand aus, ganz ähnlich der Geste, mit der die junge Frau im Wachhaus vor nur wenigen Minuten ihm entgegen gesehen hatte.
Ein massiver Schatten trat hinter ihn und dann knackte es laut. Der drahtige Körper des Straßenjungen fiel leblos zu Boden.
Das falsche Lächeln löste sich schlagartig in Nichts auf, während der hochgewachsene Mann dem kräftigen Kumpan regungslos dabei zusah, wie dieser die seelenlose Hülle über die Schulter wuchtete.
"Leg' ihn in die Kutsche. Wir entsorgen ihn unterwegs. Erst mal müssen wir uns jetzt beeilen. Mehr als fünf Minuten wird sie bestimmt nicht brauchen und es muss schnell gehen. Hast du an alles gedacht?"
"Hmmmhmm..."
Der Wortführer des Gaunergespanns sah sich noch einmal flüchtig im Halbdunkel um, ob dem Boten bei seinem letzten Kontakt mit der harten Realität kein verräterisches Detail aus der Kleidung gefallen sein mochte. Er fand nichts.
"Gut. Ich kümmere mich in der Kutsche schon um die Mischung. Du sorge dafür, dass wir in fünf Minuten unbesehen um den Block sind! Ich will den Bonus..."


MINA VON NACHTSCHATTEN

Ein frustrierter Ausruf erklang aus Richtung des kleinen Badezimmers, dann fiel eine Tür ins Schloss und schnelle Schritte näherten sich dem Wohnzimmer. Jules' Mundwinkel zuckten nach oben, aber er bemühte sich, seine Belustigung über das Verhalten seines Freundes, Kollegen und zudem Mitbewohners nicht allzu deutlich zu zeigen. Über den Rand seiner Kaffeetasse hinweg beobachtete der Quirmianer, wie Rach Flanellfuß eilig den Raum durchquerte, seine vorhin achtlos über die Lehne des Sessels geworfene Anzugjacke griff, sich dann noch einmal um die eigene Achse drehte, wie ein Mann, der sicher gehen wollte, nichts vergessen zu haben - und dabei unablässig an einer Strähne seines kurzen braunen Haares herumzupfte, welche offensichtlich nicht so liegen wollte, wie er es gern gehabt hätte. Ach, diese Ungeduld!
"Mein Freund, du bist gerade einmal fünf Minuten von einem aufreibenden Außeneinsatz zurück und erwartest dennoch auszusehen, wie aus dem Ei gepellt?", konnte sich Jules einen Kommentar nun nicht länger verkneifen. Auffordernd schob er die zweite Tasse ein Stück auf dem Tresen nach vorn, welcher die offene Küche vom großzügigen Wohnzimmer der Behausung teilte. "Nun gönn dir doch wenigstens ein paar Augenblicke Ruhe. Sie wird dir schon nicht weglaufen." Er wies in einer knappen Geste auf das noch immer widerspenstige Haar. "Und das da wird deine Herzensdame ganz gewiss nicht stören."
Ein unwirsches Murren war die Antwort, aber dennoch überwand sich Rach, noch kurz zu Jules an den Tresen zu treten und den Rest seines Tees in einem Zug hinunter zu stürzen. Dass das Getränk dazu eigentlich noch viel zu heiß war, ließ er sich nicht im Geringsten anmerken.
"Ich habe sie schon viel zu lange nicht mehr gesehen", erwiderte der junge Mann dann. "Ich konnte ihr nicht einmal wirklich erklären, warum. Sie wird sich Sorgen gemacht haben." Er lächelte seinem Freund entschuldigend zu. "Ausruhen kann ich später."
"Und ewig lockt das Weib!", zitierte Jules die Worte eines lang vergessenen Dichters. Dann nickte er ernst. "Viel Glück", sagte er, ohne die geringste Spur von Ironie. Rach würde es brauchen, wenn diese ganze verzwickte Beziehung jemals zu einem glücklichen Ausgang kommen sollte. Freilich kannte er nicht alle Details... aber das was er wusste reichte bei weitem um zu verstehen, dass Worte wie "kompliziert" oder auch "heikel" eine unverschämte Untertreibung waren, was die Person Ophelia Ziegenberger sowie den Umgang mit ihr betraf. Jules hoffte inständig, sie würde seinen besten Freund nicht ins Unglück reißen.
Der Quirmianer sah dem anderen nach, während dieser dem Eingangsbereich der Wohnung zustrebte und wollte sich schon wieder voll und ganz auf das intensive Aroma seines klatschianischen Kaffees konzentrieren - als es klopfte. Nein, im Grunde handelte es sich hierbei erneut um einen Begriff, der so nicht ganz zutraf. Vielmehr hämmerte jemand mit äußerstem Nachdruck an die Eingangstür und machte auf diese Weise unmissverständlich klar, dass er nicht im Entferntesten daran dachte, unverrichteter Dinge wieder zu verschwinden. Die beiden Männer warfen sich einen fragenden Blick zu und Jules zuckte mit den Schultern.
"Ich erwarte niemanden."
Rach seufzte entnervt, dann verschwand er aus dem Blickfeld seines Mitbewohners und es vergingen nur wenige Augenblicke, bis Jules das leise Klicken vernahm, mit welchem das außer Kraft setzen der kleinen Falle über dem Eingang einherging, welche er für ungebetene Besucher dort angebracht hatte. Dann das wesentlich lautere Klacken der entriegelnden Eingangstür...
"Wo ist sie?"
Jules horchte auf. Eine Frauenstimme. Da Rach kein Mann war, der sich in verschiedene amouröse Geschichten zur gleichen Zeit verwickeln ließ, konnte ein Eifersuchtsdrama zwar von vornherein ausgeschlossen werden... aber für irgendetwas musste er zumindest ihrer Meinung nach verantwortlich sein, denn die Besucherin klang unleugbar wütend. Damit war Jules allerdings auch schon am Ende seiner Mutmaßungen - es war niemand, den er kannte und dessen Identität ihm somit weitere Hinweise hätte geben können.
Dieser letzte Punkt schien auf Rach jedoch weniger zuzutreffen, denn nach einem kurzen Moment des Schweigens hörte der Quirmianer seinen Freund mit belegter Stimme fragen:
"Was ist passiert?"
"Das würde ich gern von dir wissen!"
Erneut schnelle Schritte, dann ein Poltern - jemand oder etwas stieß gegen die Wand zwischen Eingangsbereich und Wohnzimmer.
"Weißt du eigentlich, was du angerichtet hast? Waren wir nicht deutlich genug? Ihr Problem ist keines, vor dem sie einfach weglaufen kann, auch nicht mit dir! Du gefährdest sie gerade massiv und wenn Breguyar davon Wind bekommt..."
"Korporal..."
"Traust du uns jetzt nicht mehr genug? Siehst du dich darum berechtigt, sie ohne ein Wort der Warnung einfach zu derlei Torheiten anzustiften? Solche Eskapaden... eine derartige Unvernunft hätte ich gerade dir nicht zugetraut!"
"Korporal, ich weiß wirklich nicht, wovon..."
Ein zweites Poltern, fast identisch zu dem Geräusch zuvor, nur irgendwie... entschiedener. Vor seinem geistigen Auge sah Jules Rach mit dem Rücken zur Wand, während ihn ein neben der Tür zum Wohnzimmer abgestützter Arm daran hinderte, der Situation auf diesem Wege zu entkommen. Wer war die Frau? Zwei Meter groß, mit einem Kreuz wie ein Preisboxer und den dazu passenden Reflexen ausgestattet?
"Lüg mich nicht an, Rach Flanellfuß, ich habe es satt, ständig mit irgendwelchen erfundenen Geschichten, ausweichenden Antworten und Halbwahrheiten abgespeist zu werden!"
Es war vielleicht ein guter Moment, auf die eigene Anwesenheit hinzuweisen. Nur für den Fall. Auch wenn Jules nicht glaubte, ein Eingreifen seinerseits würde wirklich notwendig werden.
"Brauchst du Hilfe?"
Der Vorschlag war nicht ganz ernst gemeint; aus den spärlichen Informationen des kurzen Austausches glaubte er ableiten zu können, dass es sich bei der Dame um eine Wächterin handelte... nun ja, in dieser Schar war eine derartige Matrone auch durchaus vorstellbar. Allerdings lag damit das eigentliche Thema dieser Konfrontation ebenfalls eindeutig auf der Hand.
"Nein!" Rach klang überaus angespannt und die Unterbrechung schien ihm auch eher ungewollte Ablenkung zu sein, denn ein willkommenes Angebot. "Ich kläre das." Er räusperte sich vernehmlich und sprach dann mit gefassterer Stimme, obwohl jeder der ihn gut kannte den nervösen Unterton darin wahrgenommen hätte. "Korporal... Mina... was ist passiert? Was ist mit Ophelia?"
Ein leises Rascheln, Papier wurde ruckartig entfaltet.
"Gleich wirst du mir noch erzählen wollen, das wäre nicht deine Handschrift."
Ein weiterer Moment der Stille schloss sich an. Es war entweder die Ruhe vor dem Sturm, einer gütlichen Einigung oder irgendetwas dazwischen. Doch als Rach dann wieder sprach war jede Hoffnung auf ein eventuelles Missverständnis dahin. Derart hohl und wie aus dem Grabe dringend hatte Jules seinen besten Freund noch nie gehört und dieser Umstand bereitete ihm mehr Sorgen als alles andere zuvor.
"Das ist mein Siegel... und es sieht tatsächlich aus wie durch meine Hand aufgezeichnet..."
"Also?"
"...aber ich habe das nicht geschrieben. Ich sehe diesen Brief zum ersten Mal. Darauf mein Wort. Etwas anderes kann ich nicht anbieten."
Daraufhin herrschte Stille, dann erklang ein weiteres papierenes Knistern und jemand seufzte vernehmlich.
"Dein Wort... ja. Das reicht vollkommen aus."
"Dann schätze ich, bin ich wohl derjenige, der nun einige Erklärungen erwarten kann", meinte Rach daraufhin. "Wenn ich bitten darf?"
Er ließ ihr den Vortritt und Jules zog überrascht die Augenbrauen nach oben, als er diese Mina nun zum ersten Mal sah: Als eine zierliche, schlanke Person, zudem ein Stück kleiner als Rach, in unerwartet gepflegter Wacheuniform und dazu noch ziemlich hübsch entsprach sie nun ganz und gar nicht dem Bild, welches er sich ausgemalt hatte. Doch Jules hatte schon genug Vampire gesehen, um einen solchen wenigstens auf den zweiten Blick zu erkennen; sein geübtes Auge nahm die subtilen Hinweise in den Bewegungen wahr, welche Angehörige dieser Spezies von den meisten Menschen unterschieden. So gesehen war es vermutlich eher erstaunlich, dass sie Rach im Zorn nicht den Kopf abgerissen hatte.
"Jules Ledoux, Mina von Nachtschatten", hielt sich dieser nicht mit einer langen Vorstellung auf, forderte die Besucherin mit einer Geste zum Platz nehmen auf und ließ sich dann selbst auf den Sessel gegenüber sinken. Auch die Vampirin nickte dem Quirmianer nur kurz zu, bevor sie dem nachkam und sich wieder vollständig auf Rach konzentrierte, dessen Ungeduld mittlerweile beinahe mit Händen zu greifen war.
"Es tut mir übrigens leid... das eben... ich bin momentan wohl nicht ganz ich selbst.", meinte sie dann.
"Ich bin gestolpert. Belassen wir es dabei und vergessen den Rest." Rach zuckte mit den Schultern, bevor er eine schon zuvor gestellte Frage wortgetreu wiederholte: "Nun? Was ist mit Ophelia?"
"Sie ist weg. Sie ist einfach verschwunden." Mina sah ihn bedrückt an. "Ich hatte wirklich gehofft, Ophelia sei hier, denn die Alternative ist, dass ich keine Ahnung habe, wo sie abgeblieben sein könnte."
Rachs Hand krampfte sich um ein Blatt Papier in seiner Hand.
"Aber das Wachhaus ist voller Menschen, wie kann sie da so einfach verschwinden?", fuhr er auf.
"Genau das ist der Punkt - es war so gut wie niemand da. Ein Großeinsatz." Sie lächelte gequält, dann hielt sie inne und legte fragend den Kopf schief. "Muss er das alles hören?"
Die Vampirin sandte einen bezeichnenden Blick in Jules' Richtung, doch Rach nickte entschieden.
"Ja. Er weiß im Grunde Bescheid und ich werde niemanden außen vor lassen, der potentiell in der Sache helfen könnte. Außerdem ist er ein guter Freund und ich vertraue ihm."
Dies so frei heraus aus dem Munde des anderen zu hören war ein gutes Gefühl und Genugtuung zugleich und Jules grinste unverhohlen, bevor der Ernst der Lage ihn wieder zur Zurückhaltung gemahnte.
"Ich erinnere mich an eine Zeit, da haben wir versucht den Fall Ophelia möglichst geheim zu halten", meinte Mina und es klang ein klein wenig vorwurfsvoll.
"Bleib bitte bei der Sache. Ihr seid also irgendwann zurückgekommen. Und dann?"
"Fanden wir das, auf einem Stuhl in ihrem Zimmer." Die Vampirin wies auf das Schreiben, welches unter Rachs Griff mittlerweile zu einem kleinen Ball aus zerknülltem Papier geworden war. "Von ihr selbst keine Spur! Dabei hat sie alles zurückgelassen, was sie für einen längeren Marsch oder Aufenthalt im Freien brauchen würde."
"Aber wer hätte denn ein Interesse an einer derartigen Täuschung?" Jules Kollege starrte kummervoll auf das Objekt in seiner Hand.
"Wenn du dazu irgendwelche Ideen... ich meine, wenn Sie... ich meine..."
Rach winkte mit der freien Hand ab. Er wirkte unendlich müde.
"Schon gut. Da ich annehme, dass wir in der nächsten Zeit häufiger miteinander zu tun haben werden, sollten wir es nicht unnötig kompliziert machen."
Mina nickte und Jules kam nicht umhin zu denken, dass die Vampirin eine seltsame Vorstellung vom richtigen Zeitpunkt hatte, sich an die Regeln der Höflichkeit zu erinnern.
"Die eigentliche Ironie daran ist, dass ich hätte dort sein sollen, da ich aufgrund der Umstände momentan nicht in den Außeneinsatz gehe... und bei diesem hier habe ich mich auch nur im Hintergrund gehalten...", sagte sie dann leise. "Ich hätte es bemerken können. Nur hielt ich es ausgerechnet zu dieser Gelegenheit für eine gute Idee, ein wenig Abstand zwischen mich und Ophelia zu bringen." Sie vergrub das Gesicht in den Händen. "Nur wegen eines dummen Zwischenfalls am Abend zuvor und meiner eigenen Unfähigkeit, ihr innerhalb eines Tages danach gegenüberzutreten!"
"Nein", Rach schnitt ihr das Wort ab. "Ich weiß, dass ihr immer getan habt, was ihr konntet und wenn wir das so beibehalten besteht vielleicht eine Chance, auch jetzt noch etwas auszurichten. Wir müssen nur schnell genug entscheiden, wie unsere nächsten Schritte aussehen sollen. Jules?"
Der Angesprochene erhob sich, doch bevor er sich den anderen zugesellte trat er noch rasch an einen Küchenschrank heran.
"Sieht so aus, als bräuchten wir eine dritte Tasse", bemerkte er und warf einen Blick über die Schulter zurück. "Kaffee oder Tee?"

~~~ oOo ~~~


Epilog


Zeit war vergangen. Wie viel genau, das war ein unwichtiges Detail. Festzuhalten blieb lediglich: Es war genug, damit sich ein erster Schock legen konnte, aber immer noch zu wenig, als dass sich irgendetwas beruhigt hätte. All diese aufgeregt umherlaufenden Menschen, was trieben die eigentlich genau? War das normal? Sie konnte sich schwerlich vorstellen, dass immer noch ein unmittelbarer Zusammenhang zu den vergangenen Ereignissen bestand. Vielleicht handelte es sich auch nur um die übliche Eile, man fand sie überall in dieser großen, überaus absonderlichen Stadt, welche nichts und niemandem den gebührenden Respekt entgegenzubringen schien: Eine Hast, um nur keine Zeit zu vergeuden; um dem Stundenglas möglichst viel abzuringen und dem erbärmlich kurzen sterblichen Leben irgendeine Art von Sinn zu geben. Hätte sie dem einen Hauch Anteilnahme entgegenbringen können, vielleicht wäre es ihr dann wenigstens möglich gewesen, all diese Seelen zu bemitleiden. Aber dem war nicht so. Ihre Interessen lagen anderswo und waren weitaus wichtigerer Natur als das Tun vergänglicher Lebensfunken.
Gloria Eurydike von Nachtschatten äugte durch das geschlossene Fenster ihrer Kutsche nach draußen in den strömenden Regen, suchte in all dem Grau den Punkt an der Fassade des Hauses schräg gegenüber, auf welchen sie ihre Konzentration zu richten gedachte. Sie sandte den mentalen Finger durch all die anderen Schlieren hindurch, um... Die alte Vampirin zuckte unwillkürlich zusammen und verzog das Gesicht. Wahrlich, einen schlechten Augenblick hatte sie sich heute herausgesucht. Unbewusst hob sie die Hand an die Wange, aber auch wenn es sich angefühlt hatte wie eine Ohrfeige, so war es nur ein geistiger Schlag gewesen und wahrscheinlich hatte die andere Seite nicht einmal etwas davon mitbekommen. Gloria schnaubte. Es war in den letzten Tagen ohnehin nie ganz einfach gewesen, zu ihrer Enkelin durchzudringen, aber das heute lag noch einmal eine ganze Stufe höher. Daran würde sie sich nur die Finger verbrennen, versuchte sie es weiter.
Eine derartig heftige Reaktion hätte selbst die alte von Nachtschatten nicht erwartet: Seit dem Verschwinden dieser Ziegenberger peitschen Minas Emotionen haltlos umher wie ein gerissenes Tau im Sturm; sie war wie ein Boot, dem der Anker abhanden gekommen war. Auch wenn sich die Jüngere der Tatsache, dass die Zusammenarbeit mit der Menschenfrau ihr in dieser Hinsicht mehr geschadet hatte, als alles andere, bestimmt ebenso wenig bewusst war wie dem, was momentan im mentalen Äther um sie herum geschah. Das Kind wusste einfach zu wenig! Aber gute Ratschläge waren vergebliche Mühe, Mina mied jedweden bewussten Kontakt zu ihrer Großmutter. Es blieb also nur zu hoffen, dass sie sich nicht in einem der emotionalen Extreme einpendelte, wenn das Tosen einmal abgeflaut war. Natürlich, sie hätte sich aufdrängen können, dabei kannte sie selten Skrupel! Aber irgendetwas hielt Gloria davon ab, es in speziell diesem Fall zu tun. Ein Anflug von schlechtem Gewissen? Das war doch hoffentlich unmöglich! Sie hatte schließlich nur getan, wofür die Zeit schon lange reif gewesen war. Aber um zu erfahren, ob ihre Intervention noch rechtzeitig gekommen war, musste sie sich nun regelmäßig hier einfinden, ihre Kutsche in einer Seitengasse parken lassen und versuchen, aus dem Chaos einige nützliche Informationen abzuschöpfen. Einiges war bereits dabei gewesen, aber auch vieles, was sie im Grunde nicht unbedingt hätte erfahren müssen. Was interessierte es sie, ob dieser Kommandeur, zu dem die Menschen in Uniform hier anscheinend alle aufsahen, eine großangelegte, bisher allerdings erfolglose Suchaktion in die Wege geleitet hatte, um die verschwundene Kollegin zu finden? Aus rein beruflichen Motiven und keinerlei persönlichen, die von Sympathie zeugten, wie Mina vermutete? Dass dieser kleine verwirrte Mann, der zum Teil Zeuge der Szene im Büro ihrer Enkelin gewesen war, immer noch versuchte, dieser Details zu entlocken, welche sie bisher verschwiegen hatte? Und dass die jüngere von Nachtschatten ihre Zeit damit vergeudete, Akten zusammenzutragen, miteinander abzugleichen und alle noch nicht in dieser neuen Sammlung vorhandenen Informationen zu der Ziegenberger zu vermerken, war nicht nur eine Schande sondern geschah offensichtlich schon beinahe zwanghaft. Gloria hatte Worte wie "püschologische Protokolle" und "Personalakten" aufgeschnappt. Gute Güte, hatte nicht alles irgendwo seine Grenzen? Zugegeben, eine kleine Obsession tat jedem Vampir ganz gut - sie hielt den Verstand beschäftigt, gerade wenn man gewissen natürlichen Instinkten nicht nachgeben konnte. Oder wollte. Oder was auch immer. Aber das sich jemand vom Stand einer von Nachtschatten so etwas derart zu Herzen nahm, ließ sich mit den üblichen Konventionen nun wirklich nicht vereinbaren.
Gloria schüttelte den Kopf. Wenigstens hatte Mina es irgendwie bewerkstelligt, dass dieser lästige junge Schrapnell sie nicht mehr andauernd behelligte. Etwas von einem längeren Austausch nach Überwald, über diese fehlgeleitete Organisation, diese Liga... Nun ja, er hatte die Stadt vorerst verlassen, nur das zählte. Was war nur los mit der jungen Generation? Anstatt ihr dankbar zu sein, ihm zu einem ewigen Leben verholfen zu haben, anstatt ihn einfach sterben zu lassen, hatte dieser Rüpel es sogar gewagt, Gloria Drohbriefe zu schreiben! Es waren Momente wie dieser, welche Zweifel in der alten Vampirin aufkommen ließen, was ihre Entscheidung betraf, die so wohlgeordnete Heimat verlassen zu haben. Indessen, ändern ließ sich daran zumindest vorerst nichts...
Energisch klopfte Gloria mit dem Knauf eines Schirmes an das Kutschendach und das Gefährt ruckte an, bahnte sich seinen Weg durch die schmalen Gassen in Richtung einer breiteren Straße. In der Ferne grollte der Donner und der Regen zog einen noch dichteren Vorhang als zuvor über die Stadt. Die Alte wandte den Blick von der Szenerie und begab sich gedanklich noch einmal zurück zum ursprünglichen Thema. Sie rief die Erinnerungen an den Moment wach, in welchem sie versucht hatte, die Menschenfrau von ihrem vampirischen Anhang zu lösen. Diese unerwartete Überlagerung der einzelnen Gedankenebenen - das hatte beachtliche Einblicke ermöglicht. Auch wenn das Geschrei der Ziegenberger die Konzentration durchaus erschwert hatte. Dieses verzärtelte Weib! Dennoch, ein paar Bilder waren geblieben, Momente aus einer sehr langen Existenz, bruchstückhafte Gedanken, Ideen. Man wusste nie, wann man so etwas einmal gebrauchen konnte, erst recht nicht, wenn es sich um ein derart bemerkenswertes Gegenüber handelte. Racul. Tja, den Namen zu kennen brachte zunächst nichts, Raculs gab es in etwa so viele wie Bäume in Überwald. Sie selbst kannte um die zehn Personen, welche an erster oder zweiter Stelle so genannt wurden. Mina hätte bestimmt trotzdem darauf bestanden, dass sie ihn ihr verriet. Das Mädchen hatte wirklich nicht die geringste Ahnung! Außerdem würde dieses Wissen nur noch mehr, vollkommen überzogene Aufregung verursachen, um letzten Endes doch unnütz zu bleiben. Nein, ihre Enkelin musste zunächst wieder zu sich selbst finden. Und einmal abgesehen davon war es schließlich die Jüngere selbst, welche den Umgang verweigerte. Für diese Art von Sturheit konnte sie wahrhaftig kein Entgegenkommen erwarten! Gloria lehnte sich zurück und ließ die Reminiszenzen wieder in ihrem Bewusstsein versinken. Auf jeden Fall würde sie zunächst auf eine Entschuldigung warten. Und sich dann überlegen, es Mina zu erzählen. Vorausgesetzt, diese sollte danach fragen.

~~~Ende~~~















Hier die traditionelle Auflistung der Musikstücke, die maßgeblich zur Atmosphäre während des Schreibens dieser Single beitrugen; der Soundtrack. Einfach den folgenden Bereich markieren und dadurch sichtbar machen.


- “Wear it like a crown” von Rebekka Karijord
- “Le Moulin” von Yann Tiersen
- “Next to me” von Emeli Sande
- “Scarecrow” von Enter The Haggis
- “Counting stars” von One Republic
- “I could have danced all night” (Audrey Hepburn) von Frederick Loewe
- “A dazzling end” von Murray Gold
- “No fear of highs” von Katie Melua
- “Broken Wings” von Alter Bridge
- “Just so” von Agnes Obel
- “Love don’t die” von The Fray
- “Human” von Christina Perry
- “Gaslight” von Emilie Autumn
- “Dream is collapsing” von Hans Zimmer


[1] Dem geneigten Leser mag bereits zu Anfang der Szene durch den Sinn gegangen sein, im Zusammenhang mit der Stadtwache Ankh-Morpork noch nie von der Ankunft oder gar den Taten dieser Gloria gehört zu haben. Tatsächlich muss an dieser Stelle eingestanden werden, dass die dazugehörige Erzählung - bedingt durch allerlei unglückliche Umstände, Verzögerungen in der Planung sowie massive zeitliche Kollisionen des Schreibprozesses mit dem zivilen Leben - leider noch nicht fertiggestellt werden konnte. Allerdings ist eine Kenntnis der Handlung eben jener Geschichte nicht zwingend notwendig, um die hier vorliegende zu verstehen. Auf die ganze Wahrheit, schockierende Enthüllungen, haarsträubende Begebenheiten... muss demnach noch ein wenig gewartet werden. In diesem Sinne: Vorerzählung folgt...

[2] Nachzulesen in Senrays Single Huskywelpe

[3] Der gemeinsame Bannversuch der Wachehexen: Der Bann der Vier

[4] Hintergründe, Zusammenhänge, sowie sämtliche Details in Unbekanntes Terrain von Ettark Bergig. Ebenfalls noch nicht erschienen. Bleiben Sie dran.

[5] Wie es dazu kam ist nachzulesen in Rogis Nachlass

Zählt als Patch-Mission für den Verdeckte Ermittlerin-Patch für Mina von Nachtschatten



Für die Inhalte dieses Textes ist/sind alleine der/die Autor/en verantwortlich. Webmaster und Co-Webmaster behalten sich das Recht vor, inhaltlich fragwürdige Texte ersatzlos von der Homepage zu entfernen.

Feedback:

Von Daemon Llanddcairfyn für Ophelia Ziegenberger

21.10.2014

Ich habe ja bis zum Schluß auf den Twist gewartet, dass es gar keinen Racul gibt :-D

Von Ettark Bergig für Mina von Nachtschatten

04.11.2014

Ja, was soll ich hier groß schreiben, was noch nicht gesagt wurde? Ich schreib euch einfach beiden, dann kann ich mich um Kritikpunkte herumreden, die eh nix neues mehr für euch wären ;-)
Auch wenn es keine Kriminalgeschichte im herkömlichen Sinn ist, bleibt eine gewisse Spannung über große Teile der Geschichte erhalten und man will halt doch irgendwie wissen, wie es weiter geht. Ich freue mich auf die Auswrkungen auf bestimmte Charaktere und den Wachealltag im allgemeinen ;-)

Von Rabbe Schraubenndrehr für Mina von Nachtschatten

17.10.2014

Sooo... Feedback. Erstmal fand ich schön etwas zu Minas Position in dieser Situation erfahren. Man kann gut verstehen wie schwierig diese Sache für sie ist und wie sie hier ein wenig zwischen den Fronten steht. Besonders gut gefallen hat mir das man auch ein bisschen mehr zu Minas Hintergrund erfahren hat – Die Beziehung zu ihrer Großmutter fand ich sehr lustig :) Wie Ophelia sinnierend im Klackerturm saß und dann aus versehen Gedanken raus gelassen hat fand ich toll geschrieben, da musste man einfach schmunzeln. Das es Mina aufregt wie sich Ophelia als Opfer hinstellen lässt kann ich seeeehr gut nachvollziehen. Es kommt sehr gut rüber wie sehr und warum sie das so frustriert, fand ich gut. Als das Leck Mina später dann so beeinflusst hat dass sie diesen unglücklichen Moment mit Ettark hatte... :) Das war verdammt lustig zu lesen. Ingame eine arg heikle Situation, tolle Sache ^^ Wie frustrierend die ganze Situation dann zunehmend für Mina wird ist schon übel, fand ich größtenteils aber auf Charakterebene sehr realistisch dargestellt. Ansonsten sei gesagt, dass ich die deine Schreibteile überwiegend als sehr angenehm zu lesen empfand und ihr eine Tolle Geschichte fertig gekriegt habt. Auch wenn man Jahrhunderte zum lesen braucht :P ;)

Von Rabbe Schraubenndrehr für Ophelia Ziegenberger

17.10.2014


Okay. Feedback... Zum Thema Schreibstil und Co brauche ich denke ich nichts sagen, da kennst du meine Meinung ;) Inhaltlich... Erstmal fand ich den Einstieg gut – Dass Die Problematik von Ophelias Lage für sie selbst und für den Rest des Wachhauses gezeigt wurden war auf jeden Fall gut. Weiterhin gab es einige Szenen die mir sehr gut gefallen haben, wie etwa die Verlobungsszene, als sie Ettark auf die Schuhe kotzt, usw...
Sieht man davon ab muss ich aber ein bisschen bemängeln dass manche Dinge einfach etwas langatmig geschildert erscheinen und ein Stück weit einfach überflüssig sind. Mir gefällt die Szene im Kutschenhof immer noch recht gut und natürlich finde ich immer nett wenn Rabbe eine Chance hat gemein zu Ophelia zu sein, im großen und ganzen betrachtet muss ich aber auch feststellen dass die Szene eigentlich überflüssig ist.
Das Ophelia jetzt verlobt ist finde ich nett. Eine hübsche Szene auch wenn das Leiden des Fräulein Zigenbergers bisweilen inzwischen leicht übertrieben scheint. Ich fand sehr schön wie sie in verruf geraten ist und die Familie plötzlich in aller Frühe ankam :) Ophelia ist von Ettark schwanger... Wer's glaubt :D
Im großen und ganzen also eine tolle Geschichte mit vielen lustigen Szenen – meine Hauptkritik ist vor allem die Länge und... das Leiden. Ich quäle auch immer gerne aber dass du Ophelia jetzt auch noch entführen hast lassen und Racul sich nicht einfach mal zusammen nimmt und sie einfach tötet.. tseses...Apropos Racul...
Wer er ist kann man grade noch im Kopf behalten – den ganzen Hintergrund der Ascher-Sache usw. ist aber schwer dauerhaft zu merken. Magst du nich mal ein paar wiki artikel zu der Sache machen wo ganz kurz die Zusammenhänge erläutert sind machen? Würde es lanhfristig um einiges leichter machen dem großen Plot zu folgen.
Soweit so gut – ich will wissen was mit Ophelia passiert. Schreib die Folgesingle! Los! Sofort! Schreib!

Von Sebulon, Sohn des Samax für Ophelia Ziegenberger

08.11.2014

Für beide:
Eine gute Geschichte habt ihr hingelegt: Gut zu lesen und wortgewaltig.
Besonders gefallen haben mir der Anfang von Ophelias Deliriumsszene (sehr schön Wortgewaltig, auch wenn die Beschreibung mir dann zu lang wurde), Minas "erstickt doch an eurer Neugier"-Szene, Barlor, ... und die Fußnoten. (Das hört man ja auch selten, oder?)
Andere habe ich weitläufig übersprungen, wann immer ich nämlich den Eindruck hatte, dass ein Gedanke (zumeist Ophelias) sich in Variation deutlich wiederholt oder wenn eine Szene klar keine Relevanz für die Handlung mehr bekommen würde aber trotzdem en detail ausgeschrieben wurde (besonders aufgefallen ist mir das an einer Ophelia-Dagomar-Szene, an der Tanz-mit-Rach-Szene, an der Familie-im-Wachhaus-Szene und an der wirklich langen und aus meiner Sicht ergebnislosen Untersuchung in der Unsichtbaren Uni. Ich habe mich schließlich gefragt: Wäre Ophelias Flucht vor der Untersuchung nicht spannender zu erzählen gewesen?).
Aufgefallen sind mir die vielen Perspektivwechsel und die mir unregelmäßig vorkommenden Szenetrenner (~~~ oOo ~~~)
Insgesamt glaube ich, ihr wärt besser gefahren, wenn ihr euch auf weniger Charaktäre konzentriert hättet. So hatte ich als Leser den Eindruck, dass ich - zugegeben: mit schriftstellerischem Geschick - von Perspektive zu Perspektive gescheucht wurde. Überhaupt fand ich es schade, dass die Angelegenheit mit Ophelia nun noch immer keine Lösung gefunden hat. Daher ist mein Urteil 'nur' gut.

Von Tussnelda von Grantick für Ophelia Ziegenberger

18.10.2014

Für beide:
Eingangs sei erwähnt: Ich hatte zunächst Bedenken, dass Mina, von der ich noch nichts las, schreiberisch hinter Ophelia verblassen würde. Doch mitnichten! Ihr habt beide diesen außergewöhnlich-fabelhaften Stil, der reich an sinnlichen Bildern, der nie wortarm ist und der Euch beide zu absolut exzellenten Schreibern macht. Ich verneige mich in Ehrfurcht und freue mich an so viel großartigem Vorbild für mein eigenes Tun. Es gab etliche Szenen, die ich besonders mochte, die Buchleihe von Fyn, die erste Szene mit Racul, das Hexenritual. Es ist ein Genuss, Euch zu lesen.

Wo aber war die Handlung? Wo wurde sie abgeschlossen? Ich sage sehr bedauernd, dass die Geschichte hinter ihren Möglichkeiten zurück bleibt - ich vermisse eine echte, treibende Handlung, einen echten Protogonisten, einen echten Antagonisten. Ophelia als passiv-leidende zu Erleben, mag zwar zum Charakter passen, aber nicht in eine Geschichte. Ophelia beim Putzen, Mina beim Koffer packen - warum war nicht wenigstens Mina Handlungsführend? Warum war das Böse nicht aktiver, als nur in einer Ahnung? Insofern dies als Charakterstudie herhalten sollte, fehlt mir dann definitiv die Veränderung: Nichts, aber auch gar nichts hat sich für die Helden geändert - auch nicht, als Ophelia sich in der -für mich definitiv zu groschenroman-schmonzettigen Liebesszene- endlich verlobte. Hier hatte ich mir den Wendepunkt so erfleht, aber leider. Nichts. Nur weiteres, passives Leiden. Auch als vielversprechenderweise die Großmutter auftauchte, dachte ich: "Ha! Jetzt kommt mein Gegner!" - aber nein, auch die Großmutter tat nichts. Aber davon lebt eine Geschichte: Das Menschen in einer außergewöhnlichen Situation außergewöhnliche Dinge tun und das im Rahmen einer turbulenten Entwicklung ein neues Ergebnis erreicht wird. Der Einsame heiratet, der Bösewicht wird bekehrt, der Kranke wird gesund, derlei Dinge eben. Als ich sah, nur noch 7 Seiten, fühlte ich Enttäuschung darüber, dass nun nichts mehr aufgelöst wird, nachdem ich so tapfer durchgehalten hatte.

Geschrieben eine echte Sahnetorte, deren Nährwert nicht über Zweifel erhaben ist.

Von Ophelia Ziegenberger

09.12.2014 11:02

:) Vielen Dank für das ausführliche, objektive und überraschend differenzierte Feedback!

Von Mina von Nachtschatten

13.12.2014 17:47

Dem schließe ich mich an! :) Danke, dass ihr euch die Zeit für diesen nicht eben kurzen Text genommen habt - ich hätte ehrlich gesagt nie damit gerechnet, dass die Coop schon nach zwei Monaten aus der Bewertung geht. ^^

Von Daniel Dolch

05.01.2015 14:21

Gerne hätte ich eure Geschichte bewertet und auch komplett gelesen. Da ich aber meistens auf der Arbeit lese und zwischendurch auch noch Patienten habe, muss ich das Lesen häufig unterbrechen.

Leider habt ihr keine Möglichkeit der Wiedererkennung der Seiten eingebaut. Sprich wenn man versehnetlich die Seite schließt ist es mehr als nur erschwert die richtige Zeile wiederzufinden.

Bei Gesschichten die nur 7oder8 Seiten haben ist das ja noch erträglich. Bei euch beiden Langschreibern ist es aber eher demotivierend (ich kann auch nicht jede Story ausdrucken) und hat mich bis heute davon abgehalten die Geschichte zu Ende zu lesen.



Ansonsten das was ich gelesen habe war gut geschrieben und schön ausgeführt.



MfG

Luzyfer

Von Araghast Breguyar

08.01.2015 02:58

Kannst du Wiedererkennung der Seiten genauer definieren? Würden dir Kapitel- oder Szenenüberschriften weiterhelfen?

Von Daemon Llanddcairfyn

08.01.2015 09:34

Ich denke, es geht um eine Lesezeichenfunktion?



Wenn ein angemeldeter Wächter in einer Single ist, kann er per Mausklick die Stelle markieren. Wenn er die Signle wieder öffnet, springt sie automatisch an diese Stelle.

Klingt nach etwas HTML-MAgie und einer Datenbanktabelle mehr :)

Von Rogi Feinstich

08.01.2015 10:50

[quote="Daemon Llanddcairfyn"]Ich denke, es geht um eine Lesezeichenfunktion?



Wenn ein angemeldeter Wächter in einer Single ist, kann er per Mausklick die Stelle markieren. Wenn er die Signle wieder öffnet, springt sie automatisch an diese Stelle.

Klingt nach etwas HTML-MAgie und einer Datenbanktabelle mehr :)[/quote]

Alles auf meiner to do liste.... wenn ich jetzt noch Zeit haette...

Von Ophelia Ziegenberger

08.01.2015 11:18

@ Luzyfer/Daniel: Schön, dass die Geschichte dir zumindest in den gelesenen Ansätzen gut gefällt. :) Anika und ich hatten das Thema Kapitelunterteilungen/-Nummerierungen tatsächlich im Zuge der abschließenden Formatierungen angesprochen, wenn ich mich richtig erinnere, waren dann aber zugunsten der Ästhetik wieder davon abgekommen. Was bei einer normalen Single sogar hübsch anmuten kann (z. B. sprechende Zwischenüberschriften), hätte bei einer Coop, die ja bereits durch den ständigen Wechsel der zu kennzeichnenden Autoren unterteilt ist, zu einer unschönen und immer kleinteiligeren Aufsplittung der Optik geführt. Letztlich hast Du natürlich Recht, wenn Du monierst, dass diese Entscheidung nun zugunsten der konfortableren Handbarkeit gegangen ist. Für eine künftige Coop müsste man das doch mehr berücksichtigen.



EDIT: Was mir noch eingefallen ist... falls Du eine Notlösung zum [i][b]Weiterlesen [/b][/i]benötigen solltest :wink: und diese Hilfestellung noch nicht kennst: Ich mache das bei längeren Wachetexten am Bildschirm so, dass ich mir vor dem Schließen der Seite/beim Verlassen des Bildschirms den letzten gelesenen Satz merke (zur Not eben auf einen kleinen Zettel notieren). Beim nächsten Dransetzen über die Tastatur per Strg + F diesen Satz in der sich öffnenden Suchleiste (unterer Bildschirmrand) eingeben... voila! Man landet automatisch an exakt dieser Stelle, gleichgültig, wie viele Seiten die Geschichte umfasst. :wink:

Von Magane

08.01.2015 16:22

Man könnte allerdings auch kürzere Geschichten schreiben ;)



Ich machs auf die altmodische Art, ich kopier den Text in ein Textdokument und lösch alles was ich schon gelesen hab. Das hat den großen Vorteil, dass es auch offline funktioniert.

Von Daniel Dolch

08.01.2015 18:57

Danke für das Feedback auf das Feedback.

:))



Kapitelüberschriften wären auch was.

Aber es würde ja schon völlig reichen wenn mann einfach jedesmal wenn der Schreiber wechselt eine Fortlaufende Zahl dahinter stehen würde. Das würde der Ästethik ;) glaube ich keinen Abbruch tun.



Aber ihr habt auch tolle Vorschläge gemacht.

@Maggi: Leider kann ich nicht daas ganze Dokument kopieren und dann raus Löschen weil ich teilweise unvorher sehbar den Standort und damit auch den Rechner wechseln muss. Und ich denke der ander Vorschlag mit der kürze steht nicht zur Debatte ;)



@Ophelia: Da ich nach einem Notruf ca. 3 min habe um meinen Patienten zu erreichen, fällt wohl die Nummer mit dem Zettel auch aus. Da reicht die Zeit so gerade um das Wachenfenster in den Hintergrund zu verschieben und den PC zu sperren. Zu dem Thema copy/paste siehe Oben. ;)



Am besten gefällt mir die Idee von Daemon. Was jetzt aber nicht heißen soll, Rogi dass ich dich unter Druck setzen möchte.

:D



MfG Luzyfer

Die Stadtwache von Ankh-Morpork ist eine nicht-kommerzielle Fan-Aktivität. Technische Realisierung: Stadtwache.net 1999-2024 Impressum | Nutzungsbedingugnen | Datenschutzerklärung