Koboldrache

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von Agent Sebulon, Sohn des Samax (IA), Korporal Braggasch Goldwart (GRUND)
Online seit 03. 12. 2010
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 Außerdem kommen vor: Fynn DüstergutRuppert von HimmelfleckSillybosLilli BaumReiner RundumschlagMina von Nachtschatten

Manchmal steckt der größte Feind im eigenen Kopf - wortwörtlich.

Dafür vergebene Note: 12

=== Sebulon ===

Zuerst verschwanden die Leute, einzeln. Dann die Landschaft. In der weißen Leere blieb allein ein schnaufender Zwerg zurück.
Braggasch hielt seinen linken Arm, der wegen der ungewohnten Anstrengung pochte.
"Ist das", schnaufte Burkhards Sohn, "etwa schon, äh, alles?"
Ein unsichtbarer Handschuh, Spott und Herausforderung zugleich, traf ihn an der rechten Wange.
'Ha!', dachte Bragasch und grinste unverhohlen. 'Jeder macht Fehler. Ich weiß auch schon, was du aufgeblasener Angeber gleich sagen wirst ...'
Die schrille Stimme des Kobolds durchschnitt die weiße Leere: "Wir fangen gerade erst an, Goldbart!"

~~~ drei Tage zuvor ~~~

Lilli Baum stand im Hyde Park, an einen Baum gelehnt und starrte in die Wolken. Ihr Blick fokussierte mal diese Formation, mal jene, als würde sie etwas suchen. Um sie herum schwirrten kunterbunte Schmetterlinge, die in der späten Sommersonne zu glitzern schienen.
Sie dachte darüber nach, was ihr die Erle verraten hatte: Die Luft war sauberer geworden. Tatsächlich hatte die Wächterin das bisher gar nicht bemerkt. Die Luft roch nicht mehr so streng nach Ankh, sondern vielmehr wie nach einem reinigenden Regen.
Das machte ihr Sorgen.
"Guten Morgen, Lilli!", rief Ruppert ihr zu, der mit Amalarie auf der Schulter seine Streife ablief. "Alles klar?"
Wie zu erwarten war, schwieg die junge Frau. Verhalten winkte sie.
"Wo ist denn dein Kastendämon?", erkundigte sich Amalarie, während sie näherkamen.
Lilli deutete auf ihren Hals, zeigte ihre Handfläche und schloss sie langsam.
"Er ist heiser?", vermutete Ruppert. Als die verdeckte Ermittlerin nickte, fügte er grinsend hinzu: "Wundert mich nicht, so viel wie er rumkrakeelt."
Die Gnomin auf seiner Schulter, die gerade noch mit ihrer Feile einen Schmetterling zu verscheuchen versucht hatte, legte die Stirn in Falten. "Liegt dir was auf dem Herzen, Lilli? Du wirkst so ... nachdenklich?"
Zunächst griff sie in ihre Tasche und suchte nach dem Schreibblock, dann starrte sie auf den Boden, sah ihre beiden Kollegen an und schüttelte langsam den Kopf.
"Naja, wenn dir nach reden ist, weißt du ja, wo du uns findest", sagte Ruppert gut gelaunt. "Nämlich auf Streife. Komm, Ama, wir müssen noch ein Stück weiter."
Mit leerem Blick sah sie ihren beiden Kollegen hinterher. Mit wem konnte sie darüber reden, ohne für verrückt erklärt zu werden?

"Braggasch Goldwart, du elender Sohn eines elenden Hundes!", brüllte Ettark Bergig, als er in den stampfenden und lärmenden Druckerraum gestürmt kam. In der Hand hielt er ein Blatt, das in der sauberen Handschrift des Zwergen beschrieben war. "Ich will nicht wissen, was du dir dabei gedacht hast! Ich will auch keine Entschuldigung hören! Alles, was ich will, ist, dass du diese Katastrophe von einem 'Gespräch' vierteilst, verbrennst, oder wenigstens auffrisst!"
"Äh ...", machte der Späher eingeschüchtert.
Der Informantenkontakter baute sich zu seiner vollen Größe auf und dem Zwerg schien es, als würden ihm Funken aus dessen Augen entgegenschlagen. "Nie. Und. Nimmer! Wird dieses 'Interwjuh' in der Rohrpost erscheinen. So, wie du es geschrieben hast, klingt es ja, als wäre ich, gelinde gesagt, ein ungehobelter Kerl ..."
"Äh ..."
"... der minimalen Respekt vor den Autoritäten hat - ich respektiere durchaus Vorgesetzte, die sinnvolle Anweisungen geben ..."
"Äh ..."
"... und wenn du wieder einmal etwas in deiner Rohrpost abdrucken möchtest, such dir eine andere Zielfigur! Verstanden?"
Braggasch atmete tief ein. "Äh, aber, äh, mein Vater war gar kein Hund ..."
Der Mensch seufzte schicksalsergeben, zerriss das Blatt je einmal der Länge und der Breite nach, ließ die Fetzen auf den Boden fallen, und verließ den Raum mit der Druckerpresse wieder.
Betrübt ließ sich der Zwerg auf die Knie sinken und sammelte die Fetzen auf. Was für ein bitterer Beginn für eine Woche. Und dabei hatte er es vorhin im Ausbilderbüro noch nicht einmal geschafft, die Unterrichtsstunde über Verkehrssünder für die Rekruten fertig vorzubereiten. Andererseits konnte er froh sein, dass Ettark noch verhältnismäßig gute Laune gehabt hatte.

Korporal Baum stand in der Tür von Raum 207 und klopfte gegen den Türrahmen.
"Komm doch rein, Lilli", sagte Mina und schaute von einem Berg aus Rechnungen auf. "Ich mach hier nur gerade ein paar Bilanzen für RUM. Wo ist denn Günther?"
Lilli seufzte und zuckte mit den Schultern. Dann legte sie den Kopf schief und streckte die Zunge raus.
"Tot?", fragte die Vampirin überrascht.
Daumen und Zeigefinger deuteten an, dass der Dämon keineswegs komplett verstorben war, dann suchten zwei Augen und fanden: Septimus. Der Gnom stand auf seiner eingezogenen Zwischenebene und wühlte in der Kleidertruhe. Wenn es irgendjemanden berühren würde, dass die Natur sich mitten in der Stadt erholte, dann ihn. Er hatte immerhin einst B.A.U.M.[1] gegründet, um aktiv für das Leben einzutreten. Was konnte es für ihn Schöneres geben, als dass sein Traum in Erfüllung ginge? Der Korporal griff in die Tasche und zog ein saftiges Laubblatt heraus. Sie hatte es von der Erle im Park bekommen, zum Beweis.
Das würde ein langes Gespräch werden. Sie hoffte inständig, dass der Gnom genug beschreibbares Papier hatte.

Der Hiergibtsallesplatz war belebt. Händler und optimistische Bürger der Stadt boten ihre Waren, ihre Dienste und zuweilen auch sich selbst lautstark feil. Tische waren überbordend mit Waren bedeckt, über die sich neugierige Nasen reckten. So auch die bebrillte Nase von Reiner Rundumschlag.
"Na, Herr Zwerg, die Kristallkugel hat es dir wohl angetan?", fragte die Verkäuferin, Fräulein Manja Klatsche, die aus verkaufsstrategischen Gründen dezent körperbetonten Schmuck über dem farbenfrohen Kleid trug, dessen Ausschnitt bis zum Bauchnabel reichte.
Reiner lebte schon lange genug in Ankh-Morpork, um missmutig den Kopf zu schütteln und den Blick nicht zur Verkäuferin zu heben. Die Vorstellung, dass sie bestimmt genau wie er einen Bartansatz hatte, half ihm dabei. "Ich weiß nicht so recht. Sie wirkt ... zerkratzt. Wenn du mich fragst, ist sie nur zehn Dollar wert."
"Zehn Dollar?!", flüsterte Fräulein Klatsche und sog die Luft tief ein, bevor sie laut und mit vielen Gesten verkündete: "Bei meiner leibhaftigen Mutter, ich habe diese Kugel für hundert bei einem Wüstennomaden in Viericks ersteigert. Er hat darin meine Zukunft vorhergesagt. Für weniger als fünfundziebzig Dollar gebe ich sie nicht her."
"Ist deine Zukunft denn mehr ... so oben oder unten?", wollte unzweideutig grinsend ein vorlauter Passant wissen.
"Na gut, sechzig", zischte die Frau und blickte den potentiellen Kunden flehentlich an.
Noch immer musterte Rundumschlag die Kristallkugel. "Zwanzig. War es wenigstens eine gute Zukunft?", erkundigte er sich.
"Fünfzig", meinte Fräulein Klatsche grinsend. "Sie hielt traumhafte Freuden und potente Liebhaber bereit. Aber ich will dich nicht mit meinem Privatleben langweilen."
"Soso. Hmm. Dreißig, und damit zahle ich eigentlich mehr für die Geschichte als für die Kugel."
Die Verkäuferin beugte sich vor, gewährte dem Wächter tiefe Einblicke, und senkte die Stimme: "Fünfunddreißig und ich sage dir, wo du heute Nacht für einen Zwerg großen Spaß haben kannst. Na?"
Langsam hob Reiner den Kopf und blickte Manja in die Augen. Sie hatte keinen Damenbart. Und das Angebot schien ihm im Großen und Ganzen gar nicht mal so schlecht. Er fand, auf diese Weise war ein Monatsgehalt gut angelegt.
"Gemacht."

=== Braggasch ===

Zweieinhalb Stunden, achtundzwanzig Bögen Papier und zwei Handkrämpfe später war Lilli überzeugt, dass der Gnom den Grund ihrer Bestürzung verstanden hatte - ein seliger Ausdruck hatte sich auf sein Gesicht gelegt.
"Wenn das wahr ist...", murmelte er glücklich.
Baum zog verärgert die Augenbrauen zusammen. Diese Floskel hatte der Lance-Korporal nun schon an die zehn Mal benutzt und sie wahr es leid, ihm hektisch gestikulierend zu versichern, dass es wahrhaft wahr war.
"Wir müssen daran anknüpfen!", entschied der Verdeckte Ermittler übergangslos. "Es ist gut, dass die Bäume sich erholen, aber das ist erst der Anfang! Nun haben wir einen Ansporn!" Lilli griff bereits nach dem Stift, um zu intervenieren, doch Ebel achtete nicht auf sie. Geübt kletterte er auf den Fenstersims, nahm eine heroische Pose ein und starrte hinaus, voll entfachtem Eifer. "Den Anfang sollte der See im Hyde Park geben - wir gründen eine Organisation zu seiner Säuberung, sodass Luft und Vegetation nacheifern kann und er sich selbst reanimiert! Bei den toten Enten müssten wir anfangen... oder doch bei den kaputten Wagenrädern? Ooh, es gibt viel zu tun!" Wie von Sinnen sprang der Gnom wieder auf seine Zwischenebene, schlüpfe in seine ökologischen Sandalen, eilte die Leiter zum Boden hinunter und verschwand aus dem Raum.
Korporal Baum sah ihm einen Moment lang hinterher und ließ dann den Kopf hängen.
Mina von Nachtschatten, die dem einseitigen Dialog ungewollt gefolgt war, erhob sich und trat an die Kollegin heran. Wortlos griff sie die Zettel mit Lillis krakeligen Erklärungen und überflog diese.
"So", ließ sie dann vernehmen und suchte den Blick der Stummen. "Aber das ist doch gut, oder?"
Verzweifelt vergrub Lilli das Gesicht in den Händen.

Es war schon spät, als Braggasch sich auf den Weg zurück zum Pseudopolisplatz machte. Seine neue Aufgabe, das Lehren der Rekruten, verlief nicht ganz so, wie der ehemalige Späher sich das vorgestellt hatte. Die Neulinge waren keineswegs anstrengend oder respektlos, es lag vielmehr an dem Zwerg selber, der seine Aufgaben in der Wache nicht vernachlässigen wollte und somit immer noch gerne für die FROGs aushalf und an der Rohrpost bastelte. Momentan gab es sowieso nicht besonders viel zu tun: Neue Anmeldungen waren selten, und die kurze Reise, die Goldwart plante, war erst in einigen Wochen angesetzt.
Wie immer wählte der Korporal einen Weg, den er noch nicht kannte. Wirklich kennen lernen konnte man Ankh-Morpork seiner Meinung nach nie, denn die Stadt veränderte sich weit schneller als ein ordentlicher Zwergenstollen, aber man konnte sich bemühen, auf dem neusten Entwicklungsstand zu bleiben. So passierte er an diesem Abend die Ponsbrücke - und hätte sich über ihren unveränderten Zustand seit seinem letzten Besuch gewundert, wäre er auf den Gedanken gekommen darüber nachzudenken. Müde blieb er am höchsten Punkt der Brücke stehen, atmete den heute recht milden Gestank des Wassers ein und starrte auf die sich trübe dahinwälzende Flüssigkeit.
"Sieh mal einer an, der verlorene Sohn!", riss ihn eine heiter-spöttische Stimme aus den Gedanken.
Braggasch sah auf und erkannte das Zweiergespann der Abteilungsleitung auf sich zu marschieren. Valdimier schien äußerst gute Laune zu haben, die sich auch nicht durch die deutlichen Rußspuren an Kleidung und Gesicht zu mindern schien. Kanndra, ebenso, wenn nicht sogar mehr verschmutzt, nickte nur müde. Sie schien mit den Kräften am Ende.
"Mäm. Sör", grüßte der Korporal höflich.
Der momentan stellvertretend abteilungsleitende Vampir zwinkerte und drückte die Schultern durch. "Ein angenehmer Abend, nicht wahr? Oder warst du gerade dabei von der Brücke zu springen?"
Die unerwartet persönliche Art seines Vorgesetzten ließ Goldwart zögern. "Äh... nein, Sör. Ich dachte nur nach."
"Ach ja. Bist ja jetzt unter die Denker gegangen, ich vergaß. Tja, schade. Wir hätten deine Hilfe eben beim Feuer gebrauchen können."
"Feuer?"
"Ein Großer Brand. Grubengasse Ecke Tonstraße. Wir waren glücklicherweise gewarnt und rechtzeitig da. Konnten dem ein- oder anderen braven Bürger das Leben retten."
Braggasch ließ den 'braven Bürger' unkommentiert.
"Wie auch immer", fuhr van Varwald fort, "wir wollen deinen ruhigen Abend nicht stören. Lass dich mal wieder blicken."
Noch lange nachdem die beiden hochrangigen Wächter verschwunden waren, dachte der Zwerg über eine passende Geste nach, die seine Gedankengänge ausdrücken konnte.
Er beließ es schließlich bei einem Kopfschütteln.

Sehr viel später hatte Reiner dann doch noch zum Schlafe gefunden. Zwar war es weder sein Zimmer, noch sein Bett, in dem er schlief [2], dennoch, oder gerade deshalb, schlummerte er ruhig und träumte von schönen Dingen.
Warum er erwachte, wusste der Zwerg später nicht mehr. Er schlug die Augen auf, zog seinen Arm vorsichtig unter dem Nacken einer seiner Bettpartnerinnen hervor und suchte sehr lange nach seiner Brille, die zusammen mit interessant geformter Reizwäsche unter das Bett gerutscht war. Unsicher tastete sich Rundumschlag zum Badezimmer vor, erledigte Dinge, die früh morgens nun mal erledigt werden müssen, und wusch sich mit lustiger rosa Seife, in der man noch grob die Form eines Häschens erkennen konnte, gründlich das Gesicht.
Der Gedanke, seine gestrige 'Abendbegleitung' mit Kaffee und frischen Brötchen zu überraschen, bildete sich im Kopf des zukünftigen Anwerbers. Trübe starrte er die rot geränderten Augen im Spiegel an. "Was guckstn so?", murmelte Reiner sich selbst zu und entschied, dass es für alle Beteiligten das Beste wäre, wenn er sich wieder Schlafen legen würde.
Auf dem Weg zurück in die selige Umarmung des Traums trat er auf etwas kaltes, rundes. Fuß und Gegenstand rutschten nach hinten weg und Reiner Rundumschlag schlug mit einem erstickten Schrei auf dem Boden auf. Klirrend rollte der Verursacher davon. Aus dem Bett kam unwirsches Gemurmel, das bald wieder verstummte.
Wütend auf eine Welt, die ihm einen solchen Morgen bescherte, rieb sich der Zwerg das schmerzende Kinn und dachte erstmals über die positiven Eigenschaften eines dichten, stoßdämfenden Bartes nach. Mühsam, als wäre er viermal so alt, richtete er sich auf und sah sich um. Er entdeckte die Glaskugel, die ihn derart hinterhältig zu Fall gebracht hatte, in einer Ecke.
Einen leisen Fluch, Rascheln und das Quietschen beanspruchten Bettkastenholzes später saß der Gefreite mit der Kugel in der Hand auf dem Rand der Schlafstätte und starrte hinein. Aus einem anfänglichen Gefühl wurde Gewissheit. Reiners Augen weiteten sich erstaunt.

=== Sebulon ===

"Na, Goldi, keine gute Nacht gehabt?", grüßte Sebulon seinen besten Freund, als dieser mit tiefen Augenringen in die Kantine am Pseudopolisplatz trat.
Ohne die Augen wirklich zu öffnen, nickte Braggasch, setzte sich dazu und ließ den Kopf langsam auf den Tisch sinken.
"Rekruten?", frage der Ex-Ausbilder und goß einen neuen Becher mit heißem Kakao ein.
Brummend erwiderte sein Freund: "Zimmer."
"Warum nimmst du dir nicht eine Wohnung? Ich könnte dir sicher etwas vermitteln."
Der endlos müde Wächter hob mühsam den Kopf. "Äh, aber ich kann doch kostenlos in der, äh, Wache schlafen, ..."
"Kannst du wirklich? Siehst aber nicht so aus."
Mit einem 'Gunk' traf der Zwergenschädel wieder die Tischplatte und verfehlte den Kakaobecher nur um Haaresbreite.
"Ach Goldi", sagte Samax' Sohn und seine Stimme wurde sanft, "komm, ich geb dir meinen Zimmerschlüssel. Wo die Wohnung ist, weißt du ja."
Schwach winkte Braggasch ab. "Muss ... arbeiten ..."
Ein Lächeln schlich sich auf das Gesicht des Püschologen. "Weißt du, Korporal Goldwart, mein Aufgabenfeld umfasst so einiges. Das Aufspüren von Wächtern, die gegen das Gesetz verstoßen, beispielsweise. Möchtest du, dass ich dir heute den Tag über folge und -"
"Schongutschongut", brummte Burkhards Sohn, während er sich aufrichtete und zu einem Lächeln zwang. "Du findest mich heute nicht. Aber, äh, erklären musst du das, äh, der Ausbildungsleitung."
"Keine Sorge", sagte Sebulon und tippte sich an die Nase, "Ich habe schon eine Idee, wie du zwei Tage frei bekommst."
"Zwei?", hauchte Braggasch und seine Augen weiteten sich.
"Lass mich nur machen, Goldi. Lass mich nur machen ..."

Mina hatte die Geschichte nicht losgelassen, die Lilli erzählt hatte. Unvorstellbar. Wenn der Ankh tatsächlich langsam von einer brachigen Schlamm-und-Gestankansammlung wieder zu einem Fluss werden sollte, hatte das weitreichende Konsequenzen.
Sie kaute auf einem Bleistift herum und ihre Vampirzähne hinterließen spitze Löcher im Holz.
'Ökonomie', schrieb sie auf ein Blatt und nahm sogleich den Stift wieder in den Mund. Das bedeutete touristische Einbußen für die Stadt und die Flussschifffahrt musste völlig neu gestrickt werden. Allerdings wäre es eine neue Einnahmequelle, wenn man den Ankhschlamm nicht mehr im besten Falle essen musste sondern nunmehr - sie schauderte - trinken könnte.
'Kriminalität', notierte sie. Natürlich, die Schmuggelei wäre in fließendem Gewässer leichter und vermutlich unauffälliger. Derzeit wagten es ja nicht einmal Verrückte, "unterwasser" zu schmuggeln.
Ihr Blick schweifte zu Septimus' Schreibtisch, der gemeinsam mit Lilli seinen Arbeitsplatz verlassen hatte, um sich unauffällig am Ort des Geschehens ein eigenes Bild zu machen.
Und Leute, die angetrunken auf den Ankh fielen, müssten damit rechnen zu ertrinken. 'Gefahrenpotential', gesellte sich zu den anderen Worten.
Sie dachte kurz nach, und strich das Letzte wieder durch. Ungefährlich war der Fluss schon jetzt nicht.
Holz knirschte und verformte sich unter ihrem Biss.
Als sie den Stift ansetzte, um den nächsten Begriff niederzuschreiben, schoss ihr die Frage durch den Kopf: 'Haben wir es hier mit einem Verbrechen zu tun? Und wenn ja, wer ist zuständig?'

"Valdimier, haft du etwaf Feit?", fragte Rogi, die in der einen Hand eine Sanitätertasche und in der anderen eine Notiz, auf dem Gesicht jedoch den Ausdruck ungläubigen Erstaunens trug.
"Wenn's nicht lange dauert. Worum geht's?"
"Braggaf hat fich bei mir beurlaubt. Fwar nur für fwei Tage, daf ift ja nicht endlof, aber ..."
"Du hast jetzt einen Engpass bei den Ausbildern, habe ich Recht?"
"Daf ift ef ja. Er hat einen Lückenbüffer vorgeflagen." Eine bedrohliche Pause folgte. "Febulon Famax' Fohn. Agent Febulon ..."
"Jaja, ich kenne ihn, danke für den Hinweis. Was also möchtest du von mir?"
"Kannft du jemanden entbehren?"
"Nein." Schweigen folgte. "Nein. Und du brauchst nicht so zu gucken. Ich weiß ja nicht einmal, wem die Augen gehören, die du gerade - nein, danke, du kannst es mir ein andermal erzählen. Aber meine Meinung steht fest: Niemand von FROG."

Die Füße trugen Braggasch in einen Park. Vögel kreischten, Katzen fauchten und die Hunde taten das Ihre, um dem übernächtigten Zwerg garstige Blicke zu entlocken. Schlaftrunken torkelte er vom Weg ab und zwischen zwei Bäumen hindurch. Nur das nicht. Nur etwas Ruhe. Etwas Schlaf.
Sein Fuß blieb in einer Baumwurzel hängen und er fiel vornüber auf den weichen Grasboden. Schmetterlinge stieben um ihn herum auf. Ihre Flügelschläge flimmerten in der Sonne.
"Nur etwas schlafen", seufzte Burkhards Sohn. Dann entschlüpfte noch ein "Äh" seinem Mund und er schwebte schon in tiefsten Träumen.

"Hallo, Rekrutenpack!", schnauzte eine Stimme, die nur wenig oberhalb des Ausbilderschreibtisches erklang. "Ich werde euch das Fürchten lehren! Ihr werdet eure Grenzen kennenlernen und sie dann so schnell nicht mehr von dieser Seite aus sehen. Ich mache aus euch Wächter!" Rote Edelsteinaugen funkelten. "Ihr seid Wächter! Hört ihr? Wächter! Was seid ihr?!"
"Äh ...", machte jemand aus der zweiten Reihe.
"Du", kam es wie ein Peitschenhieb und ein kleiner Zeigefinger deutete auf den unglücklichen Rekruten. "Beim Ausbilder abgeguckt, was? Bei mir weiß man gefälligst, was man will! Aufstehen! Du holst mir Kaffee - aber ein bisschen dalli! Zackzack!"

"Wenn das wahr ist", murmelte Reiner.
Der Gefreite Rundumschlag saß auf einer Bank vor dem Wachhaus. Es war bereits Nachmittag. Der helle Tag hatte viele Ankh-Morporkianer aus ihren Häusern geholt, um die letzten Sonnenstrahlen vor dem Wintereinbruch zu genießen. Für ihn war die Sonne allerdings den ganzen Tag schon nebensächlich gewesen. Auf seine Arbeit hatte er sich nicht konzentrieren können, weil ihm eine Frage nicht aus dem Sinn gehen wollte: Wie ließ sich eine funktionierende Wahrsagekugel - denn das schien diese Kristallsphäre wohl zu sein - am allgemeinnützigsten nutzen?
Wie Schneeflocken tobten Farbflecken und Lichtreflexionen in dem kleinen Ball, der in seiner Hand lag. Er sah Ankh-Morpork darin, eindeutig die Zwillingsstadt mit dem Kunstturm und dem Ankh. Nur die Einwohner fehlten. Je mehr er sich konzentrierte, um so leichter fiel es ihm auch, bestimmte Details zu erkennen. Er konnte an manchen Bäumen einzelne Blätter ausmachen, so klar war die Abbildung dessen, was wohl erst noch kommen würde. Denn: Der Fluss in der Kugel war sauber.
"Ich denke", sagte Rundumschlag und blickte unfokussiert über den belebten Pseudopolisplatz, "ich denke, ich sollte diese Kugel der Gewerkschaft der Fischersleute und Seefahrer zeigen, und mit ihnen über angemessene Preise für die Allgemeinheit ..."
In diesem Moment fiel ihm eine Bewegung in der Kugel auf. Da war jemand.
Vor Aufregung zitternd fiel es ihm schwer, die Sphäre festzuhalten.
Wo genau? Seine Augen suchten die Straße, fanden sie - und Reiner runzelte die Stirn. Diese Gasse kannte er nicht.
Ohne lange nachzudenken sprang er auf und rannte ins Wachhaus hinein, stürmte links am Wachetresen vorbei und kam schlitternd vor dem Bereitschaftsraum der SEALS zum stehen.
Reiner riss die Tür auf, sprang an Jargon Schneidgut und Dogol Eisenbart vorbei, die sich in ihrem Kartenspiel peinlich unterbrochen fühlten, und hüpfte vor dem riesigen Stadtplan auf und ab, auf der Suche nach der richtigen Stelle.
"Mond-teich-Weg", las er langsam und legte den linken Zeigefinger auf die Straße. Seine Hand glitt nach rechts. "Mist-auch... nein, Mys-tisch-Gasse."
"Gefreiter?", fragte Schneidgut mit einem Blick auf Reiners Uniform, während Dogol die Karten und den Einsatz flink einsteckte.
"Nicht jetzt", hauchte Reiner und Schweißperlen liefen an seinem rot angelaufenen Kopf herunter. Sein Finger wanderte noch weiter nach rechts. "Hier!", rief er triumphierend und schlug mit der ganzen Handfläche klatschend gegen die Karte. "Leimweg!"

Als Braggasch erwachte, dämmerte es.
Müde sah er sich um. Er lag mitten im Hyde Park, schien es, unter einem Baum.
Er stand auf und rieb sich die Augen. Wie lange mochte er wohl geschlafen haben? Ausgeruht fühlte er sich jedenfalls nicht.
Ein Schmerz durchzuckte seine Hüfte. Als er an sich herabschaute, sah er seine Armbrust auf dem Boden liegen. Er musste wohl darauf geschlafen haben. Das würde ein übler blauer Fleck werden.
Der Späher nahm seine Waffe wieder an sich und machte sich auf den Weg zu Sebulons Wohnung. Er hatte durchaus Lust noch einmal eine Stunde oder zwei zu schlafen.
Dass außer ihm niemand auf der Straße war, bemerkte er in seiner Müdigkeit nicht.

=== Braggasch ===

Die Rekruten seufzten wohlig. Seit fast zwei Stunden standen und saßen sie auf dem Hof hinter der Hauptwache am Pseudopolisplatz. Normalerweise wäre ein solch langes Ausharren ein Grund für Unzufriedenheit gewesen, doch in diesem Fall bedeutete es nur eins: Der grässliche kleine Mann war schon seit einiger Zeit nicht mehr aufgetaucht.
Er hatte die auszubildenden Wächter hier her gescheucht und ihnen prophezeit, dass sie einen Trainingstag erleben würden, den sie nie wieder vergaßen. Dann war er hämisch grinsend mit wehenden Bandagen in das Gebäude geeilt.
Das war's.
Das Wetter war angenehm, der Gestank der Aborte nicht schlimmer als in der übrigen Stadt auch und bei dem einen oder anderen begannen sich bereits die Kopfschmerzen wieder zu legen, die der Aushilfsausbilder verursacht hatte.
"Sollten wir nicht suchen gehen? Also, kleinen Ausbilder?", warf Apatit vorsichtig in die Runde. Mehrere abschätzige Blicke streiften den Neuen, der sich momentan in einem leicht transparenten Hellblau präsentierte.
"Wieso?", stellte Boris Machtnichts die Gegenfrage. "Ich bin mir sicher... das ist nur eine neue Art der Ausbildung... er will uns Geduld lehren, oder so." Das unschuldige Lächeln auf seinem Gesicht machte deutlich, dass er selbst wenig an die eigenen Worte glaubte.
Eine kristalline Augenbraue wanderte in die Höhe. "Könnte sein. Nicht."
Agnes Rotmantel nickte. "Der Troll hat Recht. Ob es uns gefällt oder nicht, er ist der Ausbilder und wir sollten sehen, ob er nicht eine Treppe hinunter gefallen ist oder so. Ich meine, für ein so kleines Wesen könnten selbst kurze Stürze gefährlich sein." Strammen Schrittes eilte sie über den Hintereingang in das Wachgebäude hinein.
Kurz darauf erschien sie jedoch wieder. "Seltsam", richtete Lupa ihre Worte an die draußen Wartenden. "Sollte der Tresen nicht von ein- oder zwei Wächtern besetzt sein?"

Es überraschte Braggasch nicht wirklich, dass sein Freund die alte Angewohnheit, Zettel an die Wände zu haften, nicht abgelegt hatte. Also versuchte Goldwart krampfhaft die Notizen über die Verfehlungen seiner Kollegen zu übersehen, begrüßte Jado, der sich fröhlich bellend zu ihm gesellte, und ließ sich in Sebulons Bett nieder. Dieses Mal dachte er daran, die größeren Gegenstände seiner Ausrüstung abzulegen.
Obwohl er müde genug war, wollte sich der Schlaf nicht einstellen.
Nachdenklich, mit geschlossenen Augen, kraulte Goldwart den Nacken des Hundes, der sich an ihn gekuschelt hatte, und ließ seine Gedanken wandern.
Er hatte schon den ganzen Tag so ein mulmiges Gefühl... Nein, wenn er ehrlich war, hatte es bereits gestern begonnen, als... Als... wann? In dem Moment, als er das Interview mit Ettark für die Rohrpost zusammen gefasst hatte? Möglich... Fühlte er sich tatsächlich schuldig, da er, gekränkt von den Aussagen Bergigs, dessen Charakter ein wenig zu überdeutlich dargestellt hatte? Eigentlich hatte Braggasch ja nur getan, was jeder Reporter machte...
Der beurlaubte Ausbilder wischte den Gedanken beiseite, veränderte seine Liegeposition und wartete auf den Schlaf.

Die Straßen der Stadt lagen dunkel da. Niemand war zu sehen.
Unbehaglich stapften Menélaos Schmelz und Lantania vom Silberwald von SEALS über das Kopfsteinpflaster. Der Kondichemiker dünstete den nicht zu überriechenden Duft nach Himbeere aus, seine Hände zitterten. Lantania versuchte sich immer wieder an einem gepfiffenen Lied, um sich Mut zu machen, musste jedoch stets abbrechen, wenn ihr die Melodie entfiel.
In dieser gespentischen Stille wäre den beiden Wächtern alles recht gewesen: Schnappers Geplapper, ein unlizensierter Dieb oder ein Assassine, der es auf sie abgesehen hatte. Ja, sogar Frau Willichnicht wäre momentan hoch willkommen.
Doch es blieb ruhig.
Schon vor einer Weile hatten sich beide wortlos darauf geeinigt, sich zum Pseudopolisplatz zurück zu bewegen. Ein leise säuselnder Wind begleitete ihre Schritte, die ein regelmäßiges, sandaleneigenes Platschgeräusch auf der Straße verursachten. Mittlerweile hatten sich ihre Sinne derart geschärft, dass sie die Gebäude knarzen zu hören glaubten.
Aus diesem Grund vernahmen sie auch jenes Geräusch, welches so gar nicht in die Situation passen wollte, als wäre es direkt vor ihnen entstanden: Ein dumpfes Klirren.
Ein Blick, ein Entschluss. Die SEALS stürmten vorran.
Lange mussten sie wahrlich nicht rennen, da erblickten sie den Verursacher. Über die Straße rollte langsam eine einsame halbdurchsichtige Kugel von nicht unbeträchtlicher Größe. Ein Besitzer fehlte indess völlig.
Menélaos schluckte und schlich auf die Kugel zu. Wackelnd kam diese in einer Mulde zum Stehen. Der Szenekenner blickte sich um. Weder von einem der Gebäude, noch aus einer der dunklen Ecken konnte dieses Kristallgebilde gekommen sein. Es war einfach da.
Schmelz hob die Kugel auf. Deutlich konnte er das weiße Flirren darin erkennen... und noch etwas... eine Stadt?
"Lanti, das solltest du dir mal ansehen..."
Keine Antwort.
Menélaos schloss bibbernd die Augen. "Lantania?"
Es dauerte eine Weile, bis er sich dazu entschließen konnte, den Kopf zu drehen, und schließlich erkannte, was er befürchtet hatte: Lantania vom Überwald war verschwunden.

Mehr als ein leichtes Dösen hatte Braggasch nicht zustande gebracht. Wütend über sich selbst, den blauen Fleck an seiner Seite, der in der Tat enorm geworden war, und die Welt im Allgemeinen richtete sich der Wächter wieder auf und schnaufte.
Zwei Tage Urlaub, vielleicht jetzt noch eineinhalb, und er hatte keine Ahnung, was er damit anfangen sollte.
Der Zwerg entschloss, mit der Fütterung Jados anzufangen. Augenreibend torkelte er Richtung Küche, öffnete den Schrank und entnahm ihm eine der unsäglich fürchterlich schmeckenden Hundefutterdosen. Der Dosenöffner lag bereit und wenig später fiel schleimig-bröckelige Nahrung aus geringer Höhe in den Napf.
"Äh... komm schon, Wutzi-Dutzi. Es gibt, äh, Mjami-Happi...", murmelte Braggasch und kam sich sofort dämlich vor. Trotz seiner lockenden Worte erschien kein freudig schwanzwedelnder Hund und auch der verwirrte Blick zurück in den Schlaf- und Wohnraum ergab keine Erkenntnis über das Verbleiben Jados. zuerst vermutete Burkhards Sohn, dass sich der Kleine während er gedöst hatte, entschlossen haben musste, einen Spaziergang zu machen - doch eine Hundeklappe besaß Sebulons Tür nicht und die Fenster waren verschlossen, wie hätte er hinaus kommen können?
Jado war nicht unter dem Bett, im Schrank oder zwischen den Kerzen des Deckenleuchters. Die Keksdose war ebenso leer wie die Wand hinter den Aufzeichnungen. Braggasch raufte sich verzweifelt die Haare. Wenn er den Hund verlegt hatte, würde ihm Sebulon das niemals verzeihen! Hastig rannte er auf die Straße und rief.
Jados Name verhallte ungehört in den leeren Gassen.
Goldwart zögerte. Wieso war hier niemand? Es war Nacht, ohne Zweifel, und dennoch schlief Ankh-Morpork nie.
Ziellos begann der Ausbilder umher zu wandern. Hier und da rief er nach Jado. Wenig später nach seinen Freunden. Es verging nicht viel Zeit, da schrie er einfach nach irgendjemandem.
Die Dämmerung setzte ein. Verzweifelt und unglücklich ließ sich Braggasch gegen eine Hauswand sinken. Allein? Wie war das möglich?
Wütend schlug er die Hand vor die Stirn. Das Wachaus, natürlich! Wenn etwas passiert wäre, so wäre dort auf jeden Fall jemand - und wenn nur pöbelnde Bürger!
Schnell versuchte der ehemalige Späher sich zu orientieren. Ein Schild verriet ihm: Tonstraße. Sehr gut, wenn er in der Tonstraße war, musste er einfach nur...
Braggaschs Gedanken stockten.
Wie in Trance bewegte er sich zur nächsten Abzweigung. Grubengasse.
Grubengasse Ecke Tonstraße.
Valdimier hatte gesagt, hier hätte ein großer Brand statt gefunden.
Mit großen Augen blickte Goldwart sich um - die Häuser stellten sich ihm alle in ihrer ganzen schäbigen, unverbrannten Pracht dar.
Dann hörte er zum ersten Mal dieses helle, nervenaufreibende Kichern.

=== Sebulon ===

Hier waren keine Kinder. Wer hatte gekichert? Der Späher sah sich flüchtig um. Überhaupt: Wo waren all die Leute? Hatte er sich nur in der Straße geirrt oder war hier etwas Größeres geschehen?
Wie ein geölter blonder Blitz rannte der Zwerg die Ulmenstraße hinauf, bog nach links in die Sirupminenstraße ein, stieß einen hutzligen kleinen Händler an, der auf der wie leergefegten Straße einen Marktstand zu führen versuchte, und bog rechts in die Glatte Gasse.
"Äh, 'tschuldigung", rief der Zwerg dem Händler zu, den er beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, mit einer gewissen Portion Dankbarkeit zu. Herr Wanne mit den leckeren Rattenspießen stand also noch immer da, auch wenn er keinen Kunden hatte. Wenigstens waren bisher nicht alle Leute verschwunden.
Keine Kinder, bemerkte Braggaschs Verstand. Hier spielen keine Kinder. Warum nicht? Ungeheuer viele fliehende Leute passen nicht gleichzeitig auf den Pseudopolisplatz - und die Stadt sah nicht aus, als wären wilde Horden eingefallen.
Seine Schritte hallten laut auf den Pflastersteinen, als er die Pons-Brücke überquerte.
Auf dem leeren Pseudopolisplatz angekommen, hielt er laut schnaufend inne und hielt sich an der brüchigen alten Häuserwand des Wachehauses fest. Wo, um Himmels willen, waren alle?
Leise drangen Stimmen zu ihm. Die Augen des Spähers weiteten sich. Woher? Sein Kopf drehte sich rasch, schließlich war er sich sicher: Sie kamen aus der Wache.
Dem Stechen in seinen Muskeln trotzend, nahm der Wächter seinen Sprint wieder auf und rannte ins Wachhaus.

Das altehrwürdige Wachgebäude am Pseudopolisplatz lag verlassen da. Hier und dort lagen Stifte und Blätter, gelegentlich ganze Akten, wie einfach fallen gelassen. Frisch gebrühter Kaffee stand unberührt in der leeren Kantine, durch die Nachrichten-Rohre tönten keine krächzenden Dämonenstimmen. Außer einem Streitgespräch im Erdgeschoss lag die Wache ruhig.
"Jetzt haltet doch mal den Rand!", fuhr Menélaos dazwischen. "Es bringt nichts, sich gegenseitig Schuld zuzuschieben, wenn wir nicht wissen, was eigentlich passiert!"
"Na, waf wohl", meinte Rogi und stützte sich auf den Tisch im Bereitschaftsraum der SEALS. "Die Leute verfwinden. Und die Tiere. Fo viel läfft fich fon fagen."
"Ich sehe kein Muster darin, wer noch übrig ist", meinte Jargon und sah sich vorsichtig lächend um. Das Lächeln war erzwungen, denn seit Beginn der Besprechung war es verboten den Raum zu verlassen und er hätte liebend gern dem Abort einen kurzen Besuch abgestattet. Bisher schien diese Maßnahme allerdings Erfolg zu haben: in der letzten halben Stunde war niemand verschwunden.
"Nun", meinte Sillybos mit erhobenem Zeigefinger, "wer sagt, dass es ein für uns verständliches Muster gibt?"
"Einef fu finden wäre fumindeft hilfreich."
"Vielleicht könnten wir ...", begann Sebulon, als der keuchende Späher die Tür öffnete und lächelnd in sich zusammensackte. "Braggasch!", rief der Agent und war in zwei Sätzen bei seinem Freund.
"Ihr ... seid noch ... äh ..."
"Die Deduktion lässt schließen", folgerte der Tatortwächter, "dass unsere Notmaßnahme Erfolg hatte. Der erste Wächter ist bereits wieder aufgetaucht. Schon bald werden weitere folgen."
"Bereits? Reichlich spät, wenn du mich fragst", erwiderte Menélaos. "Ich konnte schon kein Muster erkennen, als es anfing. Es ist mir ein Rätsel, weshalb von allen Leuten in Ankh-Morpork ausgerechnet wir noch hier sind."
"Kann ich dann jetzt kurz verschwinden?", erkundigte sich Jargon. Sein Blick und die Stellung seiner Beine ließen keine Fragen offen.
"Sicher ist es nicht."
"Ach, sei's drum, wenn ich nicht gehe, passiert auch ein Unglück", schnaufte er. Kurz darauf war er durch die geöffnete Tür verschwunden.
Die noch stehenden Wächter sahen sich an. Mit finsterer Miene zählten sie die Schritte des Rechtsexperten.
"Sechs", sagte Menélaos.
"Fechf", stimmte Rogi zu.
Als Sillybos sprach, zitterte seine Stimme ein wenig. "Er kann unmöglich schon beim Abort angekommen sein. Er ist v..."
"Ihr zählt meine Schritte, was?", rief Schneidgut leise von draußen und sein Fuß stapfte demonstrativ auf. "Da muss ich euch enttäuschen. Bin noch immer da und werde jetzt ruhigen Schrittes in den ...-"
Dann folgte Stille. Niemand machte sich die Mühe nachzusehen.
Mühsam richtete sich Braggasch auf. "Es ... ist also, äh, wahr? Alle verschwinden?"
Rogi nickte. Trauer lag auf ihrem Gesicht. "Und wir können nichtf dagegen tun."
Niemand wagte etwas zu sagen. Die gespenstische Stille der sonst so emsigen Großstadt lag schwer über den Wächtern.
"Äh", machte Braggasch und richtete sich langsam auf. "Seid ihr die, äh, letzten der Wache?"
Sillybos nickte schwermütig.
"Es scheint", sagte Menélaos, "als wären wir geschützt, solange wir im gleichen Raum sind. Wir haben aber auch nicht groß rumexperimentiert. Steht immerhin zuviel auf dem Spiel."
"Und, äh, was ist das da auf dem Tisch?", fragte der Späher, während er sich, noch immer schwer atmend, auf einen Stuhl schwang.
"Das ist, so hat es den Anschein, ein Wahrsagegerät mit merkwürdigen Eigenschaften", meinte Sillybos und setzte sich ebenfalls. "Es zeigt Ankh-Morpork, allerdings nicht, wie es jetzt ist. Schau, da sind ..."
Kurz nachdem der Tatortwächter aufgehört hatte zu sprechen, blickten drei Augenpaare zur Kugel hinab. Das Wachehaus war in der Kugel gut gefüllt. Die Augen der Wächter klebten aber an einem ganz bestimmten Punkt, der auf dem Weg zum Abort war.
Sebulon räusperte sich. "Das seht ihr auch, oder?"
Betroffen schwiegen die Wächter.
"Ich habe eine alternative Theorie", sagte Sillybos und er sprach äußerst langsam, als müsste sich jedes Wort einzeln den Weg zu den Lippen erkämpfen. "Wir sind noch hier ... weil die Kugel Ankh-Morpork aufsaugt. Und wer sich zu weit von der Kugel entfernt, verschwindet ... in sie hinein."
"Aber ist das nicht unlogisch?", fragte Sebulon und rückte etwas näher an den Tisch heran, um besser sehen zu können.
"Wieso?", erwiderte Braggasch, dessen Nase geradezu an der Kugel klebte.
"Na, müsste nicht, wer näher dran ist, viel eher hineingesaugt werden?"
"Ich, äh, bin kein Fachmann", erwiderte der Späher.
"Ich frage ja auch nicht dich, sondern ..."
Die Abwesenheit von Menélaos, Rogi und Sillybos kroch viel zu langsam ins Bewusstsein des Agenten.
Panisch richtete Sebulon seine Augen auf seinen besten Freund. "Bleib bei der Kugel, um Himmels Willen!" Er begann transparent zu werden, löste sich von unten nach oben auf. Blaue Funken stieben hier und dort von seiner Kleidung auf. "Sie ist der Schlüssel. Gib nicht auf. Ich vertrau auf dich. Und was immer du tust, mach auf keinen Fall ...-"
"Auf keinen Fall, äh, was?", fragte Braggasch mit brüchiger Stimme, dessen Hand bereits auf der Kugel ruhte.
Doch er war allein im Zimmer.
Allein in Ankh-Morpork.
Mühsam hielt er die Tränen zurück.
Erneut ertönte das beißende, sopranhohe Kichern, doch der Zwerg war unfähig etwas zu unternehmen. Er hielt die Kristallsphäre in der Hand und sah zu seinen gefangenen Freunden hinab.

Nach einer Zeitspanne, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, fragte Braggasch leise, wie zu sich selbst: "Hast du das gemacht?"
"Und ich dachte schon, du würdest nie fragen! Ja, freilich war ich das!", quäkte die sonore Stimme und auf der Türschwelle tauchte zuerst eine knubbelige Nase auf, dann der Rest des Kopfes, und schließlich Arme und Beine eines kleinen Kobolds. Er trug grüne Kleidung, Schnabelschuhe und ein fünfblättriges Kleeblatt im Knopfloch. "Fritz Schmilieh, ein Kobold. Nicht zu Diensten." Er wirkte drollig und reichte dem Zwerg auch nur bis zur Hüfte - doch seine Augen lächelten nie, selbst wenn es der Mund tat.
"Dann bring sie zurück", bat der Wächter.
"Weshalb hätte ich deine Freunde denn erst liebevoll verschwinden lassen sollen, wenn ich sie jetzt wieder herbringen würde, hmm?", kam die tadelnde Antwort. "Das wäre doch wirklich unsinnig. Aber du kannst mich ja bitten, dass ich sie zurückbringe."
"Bitte! Oh bitte, bring sie zurück!"
"Das werde ich nicht, Goldbart", zischte der hutzelige Mann. "Nicht nach dem, was dein Vater meinem Vater angetan hat!"
Völlig verblüfft sah der Späher seinem Gegenüber auf die knubbelige Nase. "Äh", war alles, was er hervorbringen konnte.
"Ach Herrje", seufzte der Kobold. "Du erinnerst dich nicht. Na, dann lass mich dir mal auf die Sprünge helfen, damit du auch gehörig weißt, weshalb du leiden wirst, ja leiden musst."
Und der Kobold begann seine Geschichte.

Familie Schmilieh war eine Koboldfamilie, wie es glücklicher noch nie eine gegeben hatte. Mutter Fabula Schmilieh war eine Seele von Kobold, die nie eine Arbeit scheute und immer für ihre beiden Kinder Fritz und Friedensblick da war. Fritz war noch keine zwei Wochen alt, als sein Vater, Flügelschlag Schmilieh, ein etwas griesgrämiger Tropf von einem Kobold, sich einmal in die Nähe einer Zwergensiedlung verirrte.
Es war der Tag des Frühlingsbeginns und er war angetrunken, wie es unter Kobolden an diesem Tage üblich ist.
Das Fenster in der Werkstatt des Meisters Drack war angekippt und in angeheitertem Übermut sprang Flügelschlag durch den Spalt ins Zimmer. Er landete unglücklich, stolperte in einen kleinen Tresor, der sich gerade noch in Konstruktion befand und offen stand; prallte mit zu viel Wucht gegen eine viel zu stabile Wand und blieb reglos liegen.
Kurz darauf betrat Herr Drack seine Werkstatt und vollbrachte das grausame Werk: Er vollendete den Sicherheitsschrank - um den unglücklichen Kobold herum. Schließlich schloss der Meister den Tresor versuchsweise, nickte zufrieden, rief nach dem tölpelhaften Lehrling Braggasch und verließ gemeinsam mit ihm das Haus, um Besorgungen zu machen.
Als die Familie Schmilieh es nach siebzehn Stunden des Suchens, schließlich Findens, dann Feilens und Stemmens schaffte, Flügelschlag Schmilieh aus dem Tresor zu befreien, war der Familienvater bereits erstickt. Friedensblick Schmilieh war über den Anblick dermaßen verzweifelt, dass er sich tags darauf das Leben nahm.
Fritz wuchs ohne Vater und Bruder auf. Am Tag seines sechzehnten Geburtstags schwor er Rache mit dem heiligen Eid der Kobolde. "Bei der Scheibe unter meinen Füßen, bei den Lüften, den Wolken und allen ..."


"Äh", unterbrach ihn Goldwart, "aber, Herr, äh ..."
Der Kobold verdrehte ob der Unterbrechung die Augen. "Nicht Äh. Ich heiße Schmilieh. Fritz Schmilieh. Du kannst mich aber auch Herr und Meister nennen."
"... das ist doch nicht mein Vater gewesen!"
"Nein?"
"Nein, das war mein, äh, Meister. Meister Drack."
"Dein Äh-Meister. Soso. Und was war die Abmachung zwischen ihm und deinem Vater, Herr Zwerg? Hmm?"
Vor Braggaschs innerem Auge zog das Gespräch seines Vaters mit dem Meister vorbei. 'Er gehört jetzt dir', hatte sein Vater gesagt. 'Was er anstellt, geht auf deinen Helm.' Und die Antwort hatte gelautet: 'Dann musst du noch etwas drauflegen, Burkhard.'
"Äh ..."
"Siehst du. Du bist gewissermaßen sein Sohn. Er hat meinen Vater getötet. Die Sache ist ganz simpel: Du wirst leiden."
"Aber", rief Braggasch verzweifelt und die Welt verschwamm vor seinen tränennassen Augen, "ist es wert, dafür Rache an ganz, äh, Ankh-Morpork zu nehmen?"
"Nein", gab Fritz bösartig grinsend zu. Das Licht im Zimmer begann dunkler zu werden. Der Kobold zog den Hut vom Kopf und offenbarte viel zu wenig Haare auf dem faltigen Schädel. "Das einzige, was ich zerstören will, ist deine kleine Welt, Braggasch Goldbart."
Der Zwerg bemerkte, dass seine rechte Hand zitterte, in der er die Sphäre hielt, die all seine Freunde; ja, die ganz Ankh-Morpork verschlungen hatte. Wie mächtig musste dieser Winzling sein, um eine ganze Stadt verschwinden zu lassen? Noch nie hatte so viel Verantwortung in seiner Hand gelegen.
Entschlossenheit legte sich auf Braggaschs Gemüt. Und wenn er selbst dafür sterben musste: Diese Kugel würde der Kobold nicht zerstören.
Fritz Schmilieh kratzte sich die faltige Hablglatze, bevor er sich den Hut wieder aufsetzte. Gelassen rieb er sich die Hände. "Also, kommen wir nun zum lustigen Teil ..."
Und dann verschwanden die Wände, die Stühle und Tische. Ganz Ankh-Morpork verschwand, als würde viel Farbe von einer Wand gespült - mitsamt dem Kobold. Zurück blieben Braggasch mit der Kristallkugel, die er in der geballten Hand hielt, und das ewige weiße Nichts.
Ohne groß nachzudenken zog er seinen treuen Dolch mit der linken Hand. Gedanklich fluchte er, dass ihm nach dem Aufstehen nicht der Gedanke gekommen war, auch die Armbrust mitzunehmen, bevor er losgestürmt war. Mit dem kleinen Nagelwerfer in der Hand kam er sich noch immer unbewaffnet vor. Er verstand zwar nicht recht, was er mit dem Unglück zwischen seinem unerwartet nachlässigen Meister und diesem Koboldsvater zu tun hatte, aber egal was jetzt kommen mochte, er würde sein Leben verteidigen müssen.
Und das einer ganzen Stadt.

=== Braggasch ===

Keinen Windhauch spürte er an der Haut, nicht das geringste Geräusch drang an sein Ohr. Weit und breit war nur weiß zu sehen. Nach einer Weile entschied Braggasch, dass es sogar weiß roch.
Er wusste nicht, ob er sich bewegte. Zwar bewegte er die Beine und fühlte, dass sie auf etwas auftraten, aber ob er sich von der Stelle bewegte - ob es hier überhaupt etwas gab, das man als Stelle definieren konnte - wusste er nicht.
Seine einzige Begleitung war das Reiben der Kleidung, der feste Halt am Griff seines Dolches und das tröstliche Gefühl der kalten Glaskugel, in der noch immer die gefüllte Stadt zu erkennen war.
"Und, äh, jetzt?", rief er in das Nichts hinein. "Hallo?"
Doch der Kobold antwortete nicht, auch er war verschwunden.
In dem Zwerg begann die Panik hochzukochen wie Milch auf dem Herd. Sollte er für immer alleine bleiben? Eingeschlossen in ewigem, formlosem Weiß, bis er verdurstete oder verrückt wurde?
'Ruhig, Goldwart', ermahnte er sich selbst. 'Du hast schon Schlimmeres erlebt. Du wärst mehrfach beinahe gestorben. Du bist ein Korporal der Stadwache, verdammt! So ein bisschen Weiß kann dir nichts anhaben!'
Tatsächlich führte der innere Monolog dazu, dass Braggasch seine Aufregung eindämmen konnte. Er begann nachzudenken. Wie hatte das kleine, hutzelige Männchen ihn genannt? Goldbart. Eine Verwechslung oder nur ein Schmähname? Und warum ging es davon aus, dass er für Meister Dracks Unaufmerksamkeit zuständig war?
Das einzige, was ich zerstören will, ist deine kleine Welt, Braggasch Goldbart.
Wie konnte er so etwas behaupten und gleichzeitig eine ganze Stadt einsperren?
Burkhards Sohn blieb stehen und sah sich um. Er erkannte keine Veränderung.
"Hmm." Mit geradem Arm richtete er seinen Dolch aus und drückte auf den verborgenen Knopf. Der dicke Eisennagel - das Geschoss, welches durch die Feder im Inneren des Dolches fortgeschleudert wurde - zischte heraus und verlor sich im Nichts. Es ertönte kein Aufprall. Nicht das leiseste 'Pling'.
"Verdammt."

Wie lange Braggasch durch die Ewigkeit gewandert war, wusste er nicht mehr. Ebenesowenig war ihm klar, warum er sich überhaupt bewegte. Wahrscheinlich um irgendetwas zu tun.
Seine Gedanken kreisten seit langem und führten zu keinem Ergebnis.
"Was willst du von mir?", rief er zum hundertstenmal verzweifelt in die Weite, doch wie zuvor blieb seine Frage unbeantwortet.

Ein kleiner Bergarbeiter war nicht gern allein, so grub er seinen Stollen in des Nachbars Flötz hinein... Ein kleiner Bergabeiter... Goldwart summte vor sich hin. Er hatte angefangen ein altes, albernes Kinderlied umzudichten, hatte die Worte verschoben, bis sie kaum noch Sinn ergaben. Nun summte er die letzte Strophe. Immer und immer wieder.
Ein kleiner Bergabeiter...
Ihm war eingefallen, dass er seinerzeits tatsächlich einmal nachts ein leises Klopfen zu vernehmen geglaubt hatte, aber aus Angst, er würde etwas kaputt machen oder Meister Drack könnte ihn wieder prügeln, hatte er auf Nachforschungen verzichtet und irgendwann war das leise Pochen wieder verstummt.
Ein kleiner Bergabeiter...
Seine kleine Welt. Seine eigene kleine Welt. Hatte Braggasch wirklich angefangen, sich von der Umwelt abzuschotten und sich ein eigenes Reich zu errichten?
Ein kleiner Bergarbeiter...
Vermutlich... Er hatte sich selbst verleugnet. Seine Andersartigkeit. Seit er Oscar Sanft [3] kennen gelernt hatte, wusste er, dass er sich zu Männern hingezogen fühlte, doch nur ein einziges Mal hatte er überhaupt versucht, es jemandem zu sagen... und dieser Jemand hatte nicht zugehört. Goldwart unterdrückte den schmerzhaften Gedanken an jenes Treffen mit Sebulon.
Ein kleiner Bergarbeiter war nicht gern allein...
Seither hatte er versucht sich zu ändern; hatte sich selbst eingeredet irgendwann einmal eine fürsorgliche Zwergin zu heiraten und vielleicht in Ankh-Morpork einen eigenen Stollen anzulegen oder eine Wohnung zu mieten. Doch dann erwischte er sich dabei, wie er gedankenlos den männlichen Rekruten beim Training zusah, sie nahezu anstarrte, und wusste, dass es niemals so kommen würde.
Ein kleiner Bergabeiter...
Seine eigene Welt.
Braggasch blieb stehen und blickte auf die Kugel hinab. Er erkannte, wie mehrere Wächter, angeführt von Menélaos und Sebulon durch die Stadt liefen und mit trichterförmig vor den Mund gelegten Händen etwas brüllten. Sie suchten. Sie suchten ihn.
"Ich, äh, weiß, dass du da bist", ließ der Späher deutlich vernehmen.
Ein Kichern ertönte. "Ja, jetzt weißt du es wirklich. Das hat ja ewig gedauert, Godbart!"
"Das alles ist nicht wirklich..."
"Sehr schlau, Löckchen!"
Langsam drehte sich Goldwart, als er versuchte, den Ursprung des Redens auszumachen. "Äh... es ist alles nur in meinem Kopf..."
"Und was willst du dagegen tun?"
Blitzschnell hob der Zwerg die Hand und schoss. Der Kobold kringelte sich vor Lachen.
"Daneben! Daneben! Was für ein mieser Schuss!"
Braggasch knurrte und lud nach. Abwartend stand er da.
"Sieh dich an, Goldbart, deine eigenen Grübeleien haben dich an den Rand des Wahnsinns gebracht. Du bist schon wie ein Tier! In deinem Fall zwar ein knuffiges, rosa Kaninchen, aber immerhin!", prustete das noch immer unsichtbare Männlein.
Auf einen weiteren Schuss verzichtend, antwortete Burkhards Sohn: "Wenn das alles nur in meinem Kopf passiert, dann, äh, dann... bist auch du nur in meinem Kopf. Ich, äh, denke dich aus! Ich kann dich auch wegdenken!"
Höhnisches Giggeln war die Antwort. "Nein, mein kleines Spielzeug, so einfach wirst du mich nicht los!"
Braggasch stieß einen unartikulieren Schrei aus und hieb mit so viel Wucht, wie er mit der linken Hand aufbringen konnte, nach dem Gelächter. Immer und immer weider stieß und schlug er zu, fuchtelte mit dem Dolch im Nichts herum, zerteilte die nicht vorhandene Luft bis seine Muskeln schmerzten und sein Arm sich wie Blei anfühlte. Dennoch hörte er noch nicht auf.

Braggasch hielt seinen linken Arm, der wegen der ungewohnten Anstrengung pochte. Erst vor kurzem war er wieder zur Besinnung gekommen, während der Kobold immer wieder prustend und lachend um ihn herum schwebte, ohne dass er ihn sehen konnte.
"Ist das", schnaufte Burkhards Sohn, "etwa schon, äh, alles?"
Wenn er ehrlich war, war Goldwart natürlich völlig am Ende. Das sinnlose Fuchteln mit dem Dolch in der Linken hatte seine ohnehin nie wirklich großartigen Kraftreserven fast bis zur Neige erschöpft. Einen Moment lang überlegte er, ob er die Hand wechseln sollte, doch das würde bedeuten, den festen Griff um die Glaskugel für eine kurze Zeit aufgeben zu müssen, und Braggasch machte sich keine Illusionen, dass sein Gegner dies nutzen würde.
Ein unsichtbarer Handschuh, Spott und Herausforderung zugleich, traf ihn an der rechten Wange.
'Ha!', dachte Bragasch und grinste unverhohlen. 'Jeder macht Fehler. Ein Handschuh ist genau das, was ich benutzt hätte. Ich weiß auch schon, was du aufgeblasener Angeber gleich sagen wirst ...'
Die schrille Stimme des Kobolds durchschnitt die weiße Leere: "Wir fangen gerade erst an, Goldbart!"
"Ja, äh...", schleuderte der Späher heroisch zurück. "In der Tat fangen wir jetzt, äh, erst an." Er zwang seinen schmerzenden, linken Arm sich zu strecken und drückte den verborgenen Knopf. Es war völlig egal, wohin er zielte, Goldwart wusste, dass er treffen würde.
Ein überraschtes Quieken verriet, dass der winzige Bolzen sein Ziel gefunden hatte.
Braggaschs Grinsen wuchs in die Breite. "Wir fangen gerade erst an. Äh... willkommen, in meiner kleinen Welt!"
"Wenn du glaubst, dass du gewonnen hättest, hast du dich geschnitten!", zischte der Kobold, seine Stimme klang schmerzvoll gepresst. "Ich bin hier der Schiedsrichter!"
Das Weiß wirbelte auf, nahm Konturen an. Die schnellen Muster verwirrten Burkhards Sohn dermaßen, dass er die Augen schließen musste, um sich nicht vor Schwindel zu übergeben.
Der Kobold quiekte noch einmal auf, dann wurde es still.
Als er feste Holzdielen unter den Sohlen spührte, wagte er es, sich umzublicken. Braggasch stand in einem engen Raum, der schwach durch eine Deckenlaterne erhellt wurde. Überall waren Regale aufgestellt, auf denen zerstreute Werkzeuge herum lagen - und zwischen den Werkzeugen zeigten sich halbfertige Gebilde in allerlei Formen, die Goldwart wohl vertraut waren. "Tresore?"
Eine brüchige Stimme riss ihn aus der Verwunderung. "Bei allen Grubenmolchen, du unfähiger Wühlwurm, ich habe gesagt, du sollst eine Dreizylinderkopf-C-Dichtung einsetzen, keine Dreizylinderkopf-B!" Braggasch lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Diese Stimme würde er immer und überall wiederkennen: Meister Drack!

===Sebulon===

"Wo steckst du, Mistkäfer von einem Lehrling?", schnarrte die Stimme des alten Mannes von irgendwo her.
Braggasch konnte nicht anders. Sein Mund öffnete sich ganz von selbst und heraus sprang ein verzweifeltes: "Äh."
"Ha!", machte Meister Drack und legte dem Zwerg die Hand auf die Schulter. Der erbarmungslos feste Griff des Handwerkers zwang Goldwart sich umzudrehen und dem Alten in die Augen zu sehen.
War Meister Drack wirklich so klein gewesen? Er war ihm immer größer vorgekommen. Und bärtiger. Diese nach Alkohol stinkende Gestalt mit Dreitagebart und mächtigen Augenringen hatte eigentlich recht wenig mit dem Meister aus seiner Jugendzeit gemein, außer vielleicht ...
"Na wird's bald, du stinkender Klammerbär, an die Arbeit! Eine Dreizylinderkopf-C wartet auf dich! Und mach es wenigstens dieses eine Mal richtig!"
... seiner Laune. Der Meister war schon immer, so lange sich Braggasch erinnern konnte, mürrisch gewesen; knarzig, abweisend, beleidigend, an den Vormittagen brutal, nachmittags agressiv, nachts betrunken. Grell wie das Licht von Salamandern schossen Erinnerungen an die vielen Züchtigungen durch Braggaschs Gedanken; an all die Nächte, in denen er arbeitete, während sein Meister den Rausch ausschlief und beim Aufwachen doch nicht zufrieden gewesen war. An die Form und Konsistenz der Stiefel des Meisters.
Und doch, trotz allem fühlte der ehemalige Lehrling ein Gefühl der Dankbarkeit in sich aufwallen. Sein Meister stand wieder vor ihm und er war wieder der Junge, der lernen wollte. Die Dankbarkeit wuchs und wuchs; wurde zu dem Drang, seinen Oheim zu umarmen ...
"Du stehst ja noch immer da, wie eine dämliche hinkende Kuh! Komm in die Gänge, du nichtsnutziger Bursche!" Eine Backpfeife traf den freudestrahlenden Wächter unerwartet.
Verblüfft aber ohne einen Aufschrei steckte er den wuchtigen Hieb weg. Er wollte seinem Meister erklären, dass eine B-Dichtung genausogut dichtete aber billiger war. Er wollte erzählen, wie es ihm ergangen war, dass er Freunde hatte und eine Arbeit, die er liebte. Er wollte ihm seine Druckerpresse im Detail beschreiben und einmal, ein einziges Mal von seinem Meister hören, dass er seine Sache gut gemacht hatte - doch alles, was Braggasch sagen konnte, war: "Äh."
"Verflucht sei der Tag, an dem ich dich als Lehrling angenommen habe!", brummte Meister Drack. Sein schleimiger Husten meldete sich zu Wort, bevor er fortfahren konnte: "Was ist denn noch, Bursche?"
Worte formten sich in Braggaschs Kopf. 'Ich bin zurück, Meister Drack, ich habe unmögliche Situationen überlebt und bin deinem Handwerk treu geblieben. Ich habe hunderte Verbrecher gesehen und dutzende hinter Gittern gebracht.' Sein Blick fiel auf den Dolch, der schwer in seiner linken schmerzenden Hand lag. 'Die Geheimnisse der Kombinationswerkzeuge sind mir nicht mehr verborgen. Schau nur, diese Waffe habe ich eigenhändig ...'
"Äh ...", begann der Zwerg.
"Hässliche Mistkröte!", brüllte der alte Mann und seine Fäuste ballten sich. "Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, um dir zuzuhören, wie du keinen einzigen vernünftigen Satz aus dem Maul bekommst! Geh jetzt sofort an die Arbeit oder es setzt was!"
"Äh ..."
"Ich zähle bis drei! Eins!"
"Äh ... ich ..."
"Ja?"
Braggasch schloss die Augen. Ruhig atmen, die Gedanken fokussieren, wie er es so oft geübt hatte, und dann ...- "Äh."
Der Meister verdrehte die Augen. "Zwei!"
Mit rasendem Herz blickte der Zwerg auf. "Ich, äh ...", begann er.
"Drei."
Die Faust sauste wie ein Pfeil auf den Kopf des Wächters zu - und in diesem Moment sprangen seine FROG-Instinkte ein. Mit einem schnackenden Geräusch trafen die Knöchel des Meisters auf den emporgerissenen Arm des Spähers, der zu dessen großem Glück gut gepolstert war und den Schlag schmerzarm abfing. In blinder Wut über den ungewohnten Widerstand holte der Meister mit der anderen Hand aus, doch diesmal war der Zwerg vorbereitet und duckte sich unter dem keulengleichen Hieb hinweg, sodass der alte Mann nur auf Luft traf, das Gleichgewicht verlor, vorwärts taumelte und sich an einem Tresor der G-Klasse mit Stutzenverriegelung abfing.
Burkhards Sohn schüttelte den Kopf. Warum hatte er vor diesem hysterischen Wüterich nur Angst gehabt?
"Du willst Streit mit mir, Knirps?", keuchte der Meister und richtete sich wieder auf.
Dafür hatte er beileibe keine Zeit. "Nein", hörte Braggasch sich mit fester Stimme sagen. "Ich brauche deine Hilfe, Meister Drack."
"Ja, das brauchst du wohl. Und wie ich dir helfen werde!"
Wie konnte der alte Mann nur so blind sein? Der Zwerg hob die Glaskugel in seiner Hand auf Augenhöhe und stellte fest: "Ich muss meine Freunde retten. Ich muss meinem übermächtigen Feind eine Falle stellen. Und ich brauche Bolzen."

"Hast du vielleicht Braggasch gesehen?", fragte Steffan Angelhart seinen Abteilungsleiter. "Unten am Tresen stehen zwei verwirrte Rekruten, die heute mit ihm verabredet waren, sagen sie. Es sollte wohl um irgendwas mit Verkehr gehen. Sonderunterricht."
Der Vampir zuckte die Schultern. "Weiß Rogi nichts davon?" Der Gefreite schüttelte den Kopf und Valdimier wandte sich dem Fenster zu. Die Sonne versank gerade und spiegelte sich trübe im stinkenden Ankh. "Im Ausbilderbüro haben sie bestimmt schon nachgeschaut. Naja. Sag ihnen, wenn sie nichts anderes mehr zu tun haben, sollen sie sich einen schönen Feierabend machen und bei der Abteilungswahl an uns denken. Gruß von FROG."

Auf der harten Couch am Fenster lag der alte Mann und schlief geräuschvoll seinen Rausch aus. Er war über den Erklärungen des Zwergs eingeschlafen, bevor dieser überhaupt zur Geschichte des Koboldvaters hatte kommen können. Der Boden war doch recht kalt, also hatte sich der Lehrling seines Meisters erbarmt und ihn unter vielen Mühen auf das Sofa gehievt.
Braggasch war noch sehr wach, auch wenn er das Gefühl hatte, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis ihm sein Körper nicht mehr gehorchte. Zu vieles hatte er sich selbst zugemutet, seit die Welt zu verschwinden begonnen hatte.
Immer wieder ging er in Gedanken seine Hypothesen durch, während er mit dem Kopf im Tresor steckte, einen kleinen Achtkant zwischen den Zähnen, die Glaskugel unter das Lederhemd geschoben, mit beiden Händen das Schloss perfektionierend. Erstens: Warum war er ausgerechnet bei Meister Drack gelandet? Er konnte nur ahnen, was der Kobold mit seinen Gedanken angestellt hatte, allerdings kam es Braggasch so vor, als wären Zusammenhänge da - er musste nur sich selbst, ungewohnterweise, ins Zentrum stellen. Diejenigen, die ihm am meisten bedeuteten, waren zuletzt verschwunden. Er war in seinem privaten Refugium gelandet; wo er sich wohl fühlte, mitten in seiner Leidenschaft: Der Technik.
Mit der linken Hand wischte sich Braggasch den Schweiß von der Stirn. Die ganze olfaktorische Welt schien nur noch aus Stahl, Öl und Zwergenschweiß zu bestehen. Eine geradezu elektrisierende Mischung.
Punkt zwei: Warum hatte der Schlag des Meisters weh getan? Braggasch hatte lange gegrübelt, und ihm schien nur eine einzige Erklärung plausibel. All dies hier musste sich in seinem eigenen Kopf abspielen - und da er selbst in vielerlei Hinsicht Teil seines Kopfes war[4], tat ihm, was in seinem Kopf geschah, nun ja, im Kopf weh. Ob er hier, in seinen eigenen Gedanken, auch sterben konnte, darüber war sich der Zwerg nicht im Klaren. Allerdings hatte er auch nicht vor es herauszufinden.
Bragasch runzelte die Stirn. Hatte er dort jemanden rufen hören? Ja, nun schon wieder, diesmal lauter.
"Ich weiß, wo du bist, Trollbart! Komm raus, komm raus; sonst werd' ich dich hoooooolen!"
War das so? Es kam ihm unwahrscheinlich vor, denn warum hatte der Kobold dann noch nicht angegriffen? Die Antwort auf diese dritte Frage konnte er unmöglich benennen. Wahrscheinlich war es schwerer für diesen unangenehmen Zeitgenossen, sich durch das Unterbewusstsein eines Goldwarts zu kämpfen. Oder er hatte aus irgend einem Grund Angst vor Technik.
Und genau dort setzte der vierte Punkt an, sein Plan; seine einzige Chance ...
Die Abwesenheit eines Geräusches ließ Braggasch aufschrecken, was einen äußerst schmerzhaften Zusammenstoß mit der Tresordecke zur Folge hatte. Der Meister schmatzte nicht mehr, schnarchte nicht mehr, atmete nicht mehr. Ein rascher Blick bestätigte die Befürchtung des Zwergs: Meister Drack war verschwunden. Wo er gelegen hatte, war nur noch die Delle in der Couch, über der die dreckigen Gardinen sich widerspenstig ins Zimmer hineinblähten.
Er hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Seine Hände gehorchten Burkhardts Sohn trotz Schmerzen und Ermüdung präziser denn je, als er in aller Eile den Mechanismus vervollständigte. Schraubendreher hier, Achtkant da.
"Na, vermisst du etwas?", spottete der Kobold, doch sein Stimme klang noch immer gedämpft, fern.
Schwer atmend und mit lahmen Fingern rutschte der Späher aus seinem Werk heraus und ließ die Tresortür ins Schloss fallen. "Geben wir ihm, was er, äh, will", brummte Braggasch und ein Blick grimmiger Entschlossenheit legte sich auf seine Stirn.

Quietschend, wackelnd und nach unten durchgebogen schwankte das Wägelchen mit dem Tresor hinter Burkhards Sohn her, als der Zwerg das Haus seines Meisters verließ und auf die erstaunlich bleiche Wiese trat. Die ganze Welt schien nur noch aus der unendlichen weißen Leere zu bestehen, in deren Zentrum eine kleine Mechanikerwerkstatt stand, umgeben von etwas Rasen.
"Hier bin ich", sagte Braggasch und blieb stehen. Er nahm die rechte Hand von dem Lenker des Wägelchens, in der noch immer heftig schmerzenden Linken hielt er die Glaskugel. Sich zur Ruhe zwingend zog der Späher seinen neu geladenen Dolch, ließ aber den Arm entspannt hängen. "Hier bin ich", wiederholte er, zum Weiß hin gewandt.
Auf einen angemessen kleinen Spazierstock gestützt, erschien der Kobold wie aus einer Nebelschwade, etwa zwanzig Meter vor dem Zwerg. "Brav", kommentierte dieser. "Bist du bereit für deinen letzten Kampf?"
"Wofür?", fragte Braggasch.
"Ach komm schon!", rief der Kobold, sichtlich enttäuscht. "Ich bin der Gute, du bist der Böse, der meinen Vater auf dem Gewissen hat; wir kämpfen jetzt miteinander und dann ..."
"Ich will nicht mit dir kämpfen", unterbrach ihn der Wächter.
"Kampf muss sein. Das ist immer so", dozierte Schmilieh. "Jeder weiß, dass der Gute gewinnt und ohne Kampf kann man nicht gewinnen. Ich muss meinen Vater rächen. Also noch einmal: Bist du bereit für deinen letzten Kampf?"
Die schlanken Finger des Zwergs strichen über die Oberfläche der Kugel. "Ich bin mir nicht so sicher, ob du ihn wirklich, äh, rächen willst." Zornesröte über die gekränkte Ehre stieg in das Gesicht des Wichts, doch Braggasch ließ sich nicht von seinem Gegenüber im Gedankengang unterbrechen. "Weißt du, mir ist einiges, äh, aufgefallen. Ich habe meinen alten Meister vorhin getroffen, obwohl ich nicht einmal sicher bin, ob er noch lebt. Weißt du wie lange ich ihn nicht gesehen habe? Äh, lange. Also habe ich mir gedacht: Vielleicht, ja vielleicht existiert auch dein Vater in meinem Kopf."
Der Kobold setzte zu einer Antwort an, doch dann schwieg er. Mit der Hand gab er Braggasch ein Zeichen fortzufahren.
"Ich mache dir ein Angebot", sagte der Späher langsam. "Äh." Behutsam hob er die filigrane Kugel auf Augenhöhe. "Du lässt alle frei, die gefangen sind. Als Gegenleistung sehen wir gemeinsam in diesen Tresor."
In diesem Moment geschah etwas, womit Braggasch nicht gerechnet hatte. Eine Stimme drang aus dem Tresor und Klopfen klang von innen. "Wer hat das Licht ausgemacht?", rief jemand. "Ist da irgendwer?" Dann war es wieder still.
Vier verwunderte Augen richteten sich auf den Tresor auf dem Wägelchen. "Papa?", fiepste der Kobold.
"Äh", machte Braggasch. Er wusste genau, dass sein Werk leer gewesen war, als er es vorhin geschlossen hatte. Immerhin hatte er selbst drinnen gesteckt! Wie konnte sich jetzt etwas Anderes im Tresor befinden?
"Mach das sofort auf!", knurrte der Kobold. Zwischen seinen Händen bildete sich eine rote Flammenkugel.
Die Schweißporen auf der Zwergenhaut arbeiteten auf Hochtouren. "Äh, erst wenn du, äh, ..."
Ein Feuerball flog so scharf an seinem Kopf vorbei, dass seine Locken angesengt wurden. Die Magie verfehlte das Haus und verlor sich in der endlosen Weite.
"Du hast mich wohl nicht verstanden. Ich sagte: Sofort!"
Verschiedene Gedanken schossen dem Späher in diesem Moment durch den Kopf: Einige Locken waren vollständig verbrannt. Wenn sein Körper hier irreparabel geschädigt werden konnte, konnte er in dieser unwirklichen Welt auch sterben. Das galt es um jeden Preis zu vermeiden. Sollte sich der Vater allerdings tatsächlich in dem Tresor befinden, würde er es mit zwei Kobolden auf einmal aufnehmen müssen. Aber wie konnte das sein?
Zum Feilschen entschlossen sagte Braggasch mit sich überschlagender Stimme: "Die Kombination für das Schloss beginnt mit einer, äh, vier." Er blickte den Kobold eindringlich an. "Du bist dran."
Genervt schnippte Fritz mit der Hand und wie Efeu rankten sich mit einem Mal Farben und Formen von überall her über das weiße Firmament. Vögel entstanden, Wolken, in der Ferne bellte ein Hund und hinter sich aus dem Haus konnte man jemanden im Schlaf schmatzen hören.
"Vier, siebenundzwanzig, dreißig, neunundachtzig, zwei, null", sagte Burkhards Sohn mit vor Erleichterung zitternder Stimme, als die Kugel in seiner Hand sich in Rauch auflöste.
Der Kobold kreischte auf, strümte auf den Tresor zu und drehte nervös das Kombinationsschloss hin und her, während er seinem Vater beruhigende Worte zurief. Der Zwerg hingegen atmete tief durch und fühlte sich furchtbar fehl am Platz. Sein ganzer Körper schmerzte und er wollte nur noch heim, nach Ankh-Morpork. Doch zunächst hatte er sich um diesen unwillkommenen Gast zu kümmern.
Mit einem Freudenschrei drehte Fritz den Dreiarm und ließ die Tür aufschwingen. Der Moment der Bestürzung folgte auf dem Fuße.
"Du hast mich hereingelegt, Golddraht!", keifte er und wirbelte herum.
Beeindruckt nickte Braggasch. Sein Unterbewusstsein war ihm wohl in seinem wahnwitzigen Plan zuhilfe gekommen. "Wir sind dann wohl quitt", sagte er mit ruhiger Stimme und trat einen Schritt näher an den Kobold heran. "Im Übrigen heiße ich Goldwart." Seine eigene Entschlossenheit überraschte ihn, doch jetzt konnte er nicht mehr zurück.
"Ich habe deine kleine Welt einmal vernichtet, ich kann das jederzeit wieder tun", tobte Fritz. Er knisterte regelrecht vor magischer Aufladung.
"Aber nicht sofort", konterte der Zwerg, "sonst hätten wir dieses Gespräch nicht. Die Frage lautet also vielmehr: Kann ich mit einem Tresor, der nur in meinem, äh, Kopf existiert, einen Kobold einsperren?"
"Niemals! Du bist in meiner Welt! Ich kann tun, was ich ..."
Braggasch hob den Dolch. "Du irrst dich. Du bist in meiner Welt." Er drückte auf den kleinen Knopf in der Mitte des Griffes. "Und ich bin ein Wächter."

===Braggasch===

Es war eigentlich ganz einfach, wenn man dahinter gekommen war: Irgendwann war Fritz Schmilieh in seinen Kopf eingedrungen, hatte aus seinen Erinnerungen geschöpft und ihm langsam aber sicher eine fremde Welt vorgegaukelt. Ankh-Morpork wurde rekonstruiert, wie er es kannte und jene Personen, die Braggasch besonders gut vetraut waren, verschwanden zuletzt. Den Rest füllte Burkhards Sohn mit den eigenen Ideen, was diese Personen tun und sagen würden, so wie er manche Dinge, wie die sauber werdende Luft, seinen eigenen romantischen Vorstellungen zu verdanken hatte. Die Glaskugel war niemals mehr gewesen als sein eigener kleiner Rettungsanker - sie enthielt nicht alles andere, sondern war nur Glas gewordener Hinweis, dass es ein Draußen gab. Ebenso war der Dolch nur Goldwarts eigene Verkörperung seiner Kraft und Ausbildung.
Der Bolzen aus Jenem traf den Kobold mitten in der Brust und schleuderte ihn rückwärts in den Tresor hinein.
Weder besaß seine Waffe eine derartige Durchschlagskraft, noch hatte Braggasch richtig gezielt. In dieser Traumwelt reichte es, dass er wusste was passieren würde. Seine Gedanken völlig eigen zu bestimmen, wie es zuvor Schmilieh durch Sorgen, Angst und Überredungskunst geschafft hatte, gelang dem Späher nicht, dafür fehlte ihm die Ausbildung eines Püschologen. Was er jedoch konnte, war, mithilfe der passenden Gegenstände sein Bewusstsein zu überflügeln und Situationen zu beeinflussen.
Mit einer fließenden Bewegung schlug Goldwart die Tür zu und verriegelte sie. Sofort erklang von Innen heftig Geklopfe. "Nein! Nicht das! Nicht das!!"
"Du wolltest doch einen Kampf", murmelte der Rekrutenausbilder erschöpft. "Wie wäre es mit einem Kampf gegen die eigene, äh, Angst?"
Einen Moment herrschte Stille. Dann deklarierte Fritz mit zittriger Stimme: "Du kannst mich hier nicht festhalten! Ich bin immer überall hingekommen!"
Braggasch zuckte mit den Schultern. "Dann geh." Nach einer Weile fügte er hinzu: "Du bist in meinem Kopf, in meiner Welt. Wenn einer, äh, meiner Tresore dich gefangen halten soll, dann lege ich fest, dass so etwas geht."
"Was wirst du jetzt tun?", erklang die leise, weinerliche Stimme aus dem Tresor.
"Äh... Ich werde jetzt aufwachen. Ich würde dich ja frei lassen, aber dann wirst du mich nur weiter, äh, schickanieren und vielleicht sogar meinen Freunden schaden. Das kann ich nicht zulassen." Nachdenklich strich er sich durch den schütteren Bart. "Unsere Zellen werden dich nicht halten, wenn du aus meinen Gedanken heraus kommst... äh... aber ich bin ein Wächter, ich muss Kriminelle einsperren, also bleibst du da, wo du sicher verwahrt bist: In diesem Tresor, äh, in meinem Kopf. Solange ich lebe, wirst du nur eine ganze Menge Gedanken sein, die von meinen Gedanken gefangen gehalten werden. Und wenn ich tot bin... äh... dann überlege ich mir noch etwas."
Das ängstliche Kreischen des Kobolds verklang ebenso wie der Rest der nicht realen Welt, als Korporal Goldwart entschied aufzuwachen - und wusste, dass ihm dies gelingen würde.

Als er die Augen aufschlug, wunderte sich Braggasch zuerst über die fehlenden Schmerzen... doch sobald er sich wieder an sie erinnerte, reagierte der schockierte Körper und verkrampfte sich, so dass mit aller Macht die Müdigkeit und die Erschöpfung des überstandenen Abenteuers auf den Ausbilder niederschwappten.
Der Zwerg stöhnte und richtete sich langsam auf. Er lag auf dem Boden seines Ausbilderbüros im Wachhaus der Kröselstraße. Wann war er zum letzten Mal hier gewesen? Er konnte es beim besten Willen nicht sagen.
Undeutlich spürte er die Anwesenheit des Kobolds in seinen Gedanken, doch solange sein Tresor hielt, und dessen war sich Goldwart sicher, würde er nicht entkommen.
Das Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. "Herein."
Zögernd öffnete Fynn Düstergut die Tür und streckte den Kopf hinein. "Tut mir leid, wenn ich störe, Sör, aber wir haben geknobelt und, ehm, ich habe verloren also..."
"Schon gut, Rekrut", stöhnte Braggasch und richtete sich vollends auf, indem er sich an der Tischkante hoch zog. "Welchen Tag haben wir heute?"
"Sör?"
"Es ist mir einfach, äh, gerade entfallen."
Fynn kratzte sich am Kopf. "Wir haben Mittwoch, im Sektober, Sör. Jahr des..."
"Ah... ja. Danke." Da war es also passiert. Seltsam. Burkhards Sohn hatte angenommen, dass der Kobold in einem ganz bestimmten Moment in ihn gefahren sei, vielleicht als er an seine Familie dachte, durch den Hyde Park lief, oder gerade sehr verwirrt war - aber soweit sich Braggasch erinnerte, war er an diesem Tag, der für ihn etwa fünfzig Stunden her war, einfach wie üblich gestresst vom Pseudopolisplatz zur Kröselstraße geeilt und hatte begonnen den Rekrutenunterricht vorzubereiten... was sollte es nochmal werden? Achja - der Umgang mit uneinsichtigen Verkehrssündern.
"Sör?"
"Ja?"
"Soll ich den anderen sagen, dass der Unterricht nicht stattfindet? Ich meine, Sie sehen etwas... mitgenommen aus, Sör." Düstergut trat unruhig von einem Fuß auf den Anderen.
"Oh, äh, nein, ich denke nicht. Ich glaube, der Unterricht wird mir gut tun."
"Sind Sie sicher, Sör? Ich meine... Sie sehen so anders aus als gestern..."
Braggasch zog eine Augenbraue in die Höhe. "Ist das so?"
"Ja, ehm, Sör. Außerdem klingen Sie auch ganz anders..."
Der Ausbilder nickte. "Ich habe sehr, äh, intensiv über gewisse Dinge nachgedacht. Ich glaube, wir sollten die Anderen nicht weiter warten lassen."
Fynn salutierte. "Ja, Sör, nein, Sör!" Dann dachte der Rekrut kurz nach. "Tork und Ruth-Ilse-Wieauchimmer sind nicht wieder zum Unterricht erschienen, Sör. Sie hatten Sie gesucht, Sör, sind aber nicht wieder aufgetaucht." Er hielt noch einmal inne und zählte hoffnungsvoll. "Es sind also nur drei übrig, Sör."
"Na, dann wird der Unterricht wohl heute etwas intensiver werden." Beim Hinausgehen musterte der Korporal den jungen Mann. "Weißt du was Fynn, äh, ich glaube, wir alle werden demnächst mal eine kleine Reise unternehmen..."
Düstergut konnte nur unglücklich das Gesicht verziehen.

"Komm ruhig rein, Goldi", meinte Sebulon gut gelaunt. Er hatte erst vor wenigen Minuten sein Sortiersystem perfektioniert und blickte auf ein Regal voller gut einsichtiger, archivierter Verfehlungen. Ein Glück, dass er den Drang, Dinge an Wände zu pinnen, weitestgehend abgeschafft hatte.
Braggasch öffnete die Tür. "Woran hast du mich erkannt?"
Samax Sohn lachte. "Deine zurückhaltende Art zu Klopfen ist einmalig."
"Schade, ich dachte auch das hätte sich, äh, geändert." Nachdenklich schloss der Zwerg die Tür.
"Was sollte sich geändert haben?"
"Unwichtig." Flink zog sich der Späher und Ausbilder einen Stuhl heran und bat seinen Freund mit einer Geste, sich ebenfalls zu setzen. "Ich bin hier, um mich, äh, erstens dafür zu bedanken, dass ich bei dir übernachten konnte."
"Aber du hast doch schon länger nicht mehr bei mir..."
"Aber ich könnte es jederzeit tun... das, äh, weiß ich."
Sebulon zuckte mit den Schultern. "Natürlich."
"Zweitens hätte ich ein Anliegen", fuhr Goldwart fort, "welches dich sowohl als Agent als auch als Püschologe interessieren dürfte - und ich brauche dabei deine Hilfe."
"Nur weiter."
"Äh... ich bin nicht mehr alleine in meinem Kopf. Ich glaube du weißt, was ich meine. Momentan habe ich meinen, äh, Besucher unter Kontrolle, aber ich weiß nicht, ob das immer so bleibt. Ich habe mich gefragt, ob du jemand anderen ... durch mich tee-ra-pieren könntest."
Der IA-Agent zog ein leeres Blatt Papier heran. "Bitte erklär' es mir", forderte er seinen Freund sanft auf.
Braggasch atmete tief ein.

Lilli Baum stand im Hyde Park, an einen Baum gelehnt und starrte in die Wolken. Ihr Blick fokussierte mal diese Formation, mal jene, als würde sie etwas suchen. Um sie herum schwirrten Schmetterlinge, die den üblichen ölig-glänzenden Schein der Ankh-Morporkischen Fauna trugen.
Die verdeckte Ermittlerin fragte sich, ob es jemals möglich sein würde, die Stadt zu entmüllen und der Natur die Möglichkeit der Genesung zu geben.
[1] Bringt Alle Umweltsünder uM. Siehe Mission Kunstgriff.

[2] Ja, selbst der weiche Bademantel, in den er sich gehüllt hatte, gehörte nicht ihm...

[3] Siehe die Coop: Ein ganz persönlicher Beschützer Hier .

[4] Biologie war nie Braggaschs Spitzengebiet gewesen.




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Feedback:

Von Sebulon, Sohn des Samax

18.01.2011 17:06

Danke übrigens für die Rückmeldungen!

*freut sich*

Was die Ungereimtheiten angeht ...

- Ich finde es schwer, Sebulon seit er bei IA ist, in eine reguläre Ermittlung einzubinden. Also dachte ich mir, ich schreibe einfach zusammen mit Braggasch eine Geschichte über ihn. :)

- Die Geschichte des Kobolds ist eine, die er erzählt bekommen hat, denn zu dem Zeitpunkt war er ... wie jung? Was also wirklich passiert ist, weiß niemand, der noch lebt, würde ich sagen.

- Die Erzähler-Perspektive macht mir immer wieder Kopfzerbrechen. Mal schauen, ob ich in der nächsten Geschichte einen besseren Mix hinbekomme.

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