Buch ohne Siegel

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von Lance-Korporal Sebulon, Sohn des Samax (GRUND), Hauptgefreite Mina von Nachtschatten (RUM)
Online seit 17. 02. 2010
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 Außerdem kommt vor: Ophelia Ziegenberger

Ein Mord in der Unsichtbaren Universität. Der Bibliothekar in Aufruhr. Ein anderkaffer-Einsatz mit Tücken - denn dummerweise neigen gerade Zauberer dazu, hin und wieder zu vergessen, dass man mit Thaumaturgie nicht spielt.
Eine RUM-interne Coop-Mission, die beide bedenklich verändern wird.

Die Autoren möchten sich bei allen bedanken, die zu Ideenfindung und Korrektur beigetragen haben. Eine besondere Reminiszenz gebührt Bartholomäus "Bartie" Grau [261279-G-030509], der nach dieser Sache aufgrund einer guten Geschäftsidee des Erzkanzlers wieder in der Unsichtbaren Universität aufgenommen wurde. Vielleicht auch, um zu verhindern, dass die Wächter noch mehr ... aber wir greifen vor.

Alles beginnt mit einer, mittlerweise für ihn typischen, Wahnvorstellung des Wächters, die vielleicht weniger Wahn ist, als es den Anschein hat ...

Dafür vergebene Note: 13

~~~ Sebulon ~~~

"Das Studentenleben an einer magischen Universität ist unvorstellbar harte Arbeit. Nicht jeder kann so viele Kalorien gefahrlos aufnehmen."
- Jimmi Brösel, Dichter und Philosoph aus Gennua



"Hey, du."
Sebulon drehte sich um. Dann kniff er die Augen zusammen.
"Was guckst du mich so an? Schau, wir müssen reden."
Die Augen des Zwergen wurden groß. "Du bist nicht real", hauchte er ins Dunkel. "Du. Bist nicht. Real."
"Nicht irrealer als du, Bartgesicht."
Langsam und flüsternd wich Sebulon zurück. Er erschrak, als er mit dem Rücken an die Wand stieß.
"Schau, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Ich müsste eigentlich gerade in der Universität sein. Du weißt schon."
"Du. Bist nicht. Real", sagte Sebulon sein Mantra auf.
'Er hat gesagt, dass er zur Universität muss. Magie. Das erklärt doch einiges, findest du nicht?', meinte die Stimme in seinem Kopf.
"Ihr! Seid nicht! Real!"
"Nun komm schon, ich möchte mich nur kurz mit dir unterhalten.", sagte der Fleischberg und kam auf den Zwerg zu. "Es ist ein Mord passiert und ich brauche die Hilfe der Wache."
Zwei muskulöse Arme griffen nach dem Püschologen.
Sebulon schrie. Dann empfing ihn die wohlige Nacht der Ohnmacht.

*

"Komm schon, wach auf", sagte Bartholomäus Grau und schlug dem Zwergen unsanft gegen die Wange.
"Ugh", machte Sebulon.
"Ugh-iiek", antwortete der Bibliothekar und klatschte in die Hände.
"Oh, schön, dass ihr euch versteht", brummte der ehemalige Zauberer und ließ sich erschöpft auf den Stuhl am Wachetresen sinken. "Und ich dachte schon, ich könnte nützlich sein, wenn ausgerechnet ein Orang-Utan einen Wächter am Tresen abgibt. Wirklich, hättet ihr euch nicht einen anderen Tag aussuchen können, um mich zu demütigen?"
"Wie ... wie meinst du das, Orang-U..."
Langsam sah sich Sebulon um. Ihm entgegen blickten zwei Augen und unverhältnismäßig viel Körpermasse.
"Ugh", machte der Bibliothekar.
"Stimmt, hatte ich ganz vergessen", sagte der Püschologe. Stöhnend richtete er sich auf. "Rekrut?"
"Mhm?", machte Bartholomäus.
"Ist der Abteilungsleiter im Haus?"
"Von welcher Abteilung?"
Sebulon sah ihn strafend an. "RUM natürlich. Von welcher sonst?"
Einem prüfender Blick in die Unterlagen folgte ein Kopfschütteln. "Nur die Ziegenberger."

*

"Herein", sagte Ophelia und sah von ihrem Schreibtisch auf.
Ein recht schmaler Spalt öffnete sich, doch breit genug, dass Sebulon sich mit klapperndem Werkzeuggürtel hindurchschieben konnte.
"Was gibt es?"
Der Zwerg salutierte.
"Jaja", sagte die verdeckte Ermittlerin und winkte ab. "Ich habe aber gefragt: Was gibt's?"
"Ein Mord wurde gemeldet, Ma'am. In der Universität. Würde den Fall gern übernehmen."
"Da spricht, denke ich, nichts dagegen. Die Zauberer sind zwar eigentlich Sache der DOG, aber wenn ein unlizenzierter Mord passiert ist, kann ich das rechtfertigen. Wer ist denn gestorben?"
"Also, das ist etwas schwierig ..."
"Ugh, ugh", machte es von draußen.
Sebulon räusperte sich.
Langsam und vorsichtig ging die stellvertretende Abteilungsleiterin zur Tür.
"Oh", sagte sie. "Bibliothekar, du bist es."
Der Orang-Utan betrat langsam und würdevoll das Büro. "Iek", machte er.
"Er sagt, es ist ihm eine Ehre."
Überrascht sah Ophelia zum Zwerg. Sie hob eine Augenbraue.
"Ich verstehe es einfach. Frag nicht. Ich kann es selbst nicht erklären", sagte Sebulon und lächelte unsicher.
"Also gut, vermutlich hat der Bibliothekar den Mord beobachtet, richtig? Wer ist denn nun gestorben?"
"Ugh", machte der Bibliothekar und stülpte traurig die Unterlippe vor.
"Wie soll ich sagen", stammelte Sebulon. "Mir fällt das Wort nicht ein ..."
"Student? Zauberer? Professor? Dozent?", drängte sie den Püschologen mit gerunzelter Stirn. "Komm, so schwierig kann das doch nicht sein."
"Nun ... ein Foliant, glaube ich."
Der Affe nickte.
"Ein was?"
"Tja, ein Foliant, das ist ein Buch, das ..."
"Das ist mir klar!", sagte die stellvertretende Abteilungsleiterin scharf. "Aber bist du dir sicher? Ich meine ..."
"Du musst ihn fragen, Ma'am", sagte Sebulon.
Verwirrt sah sie zu dem haarigen, freundlich lächelnden Primaten. "Ugh", machte er.
"Ich verstehe", seufzte sie. "Mir scheint, das bedeutet, du hast den Fall."
"Kann ich", fragte Sebulon zögerlich, "jemanden zusätzlich für den Fall bekommen? Das scheint eine ganz heiße Sache zu sein; so ein Buch tötet immerhin nicht jeder, und ..."
"Ich weiß nicht", sagte Ophelia. "Mir scheint, dass gerade niemand wirklich Zeit hat. Aber ich werde das mit Romulus bereden, wenn wir die nächste Besprechung haben. Bis dahin bist du auf dich allein angewiesen. Und auf unseren hilfsbereiten Universitätsmitarbeiter hier."
Der Bibliothekar grinste ein beeindruckendes Grinsen.
'Meine Güte, seine Ohren kennen vermutlich keine Einsamkeit', sagte die Stimme in Sebulons Kopf.
Der Zwerg salutierte. Bei dem Versuch, es ihm gleich zu tun, verlor der Orang-Utan das Gleichgewicht und fiel um.
"Viel Glück euch beiden", seufzte Ophelia.

*

Als sie am Tor der Unsichtbaren Universität ankamen, wurden sie von einem grimmig dreinblickenden Erzkanzler empfangen, der ihnen mit verschränkten Armen in den Weg trat. "Wer ist das?", fragte er mit forderndem Unterton. Sein Bauch wackelte gewaltig unter dem Zorn der Stimme.
"Das ist der Bibliothekar", sagte Sebulon und salutierte.
"Mit dir rede ich nicht", fuhr ihn der Erzkanzler an und sah dann wieder zu dem versöhnlich dreinblickenden Orang-Utan. "Ich war in der Bibliothek, weil ich nach einem Zauberspruch sehen wollte - und mir hätte beinahe ein Buch das Bein abgebissen! Ich habe den ganzen Trakt erst einmal sperren lassen. Was, um Himmels Willen, hast du dir dabei gedacht?"
"Ugh", sagte der Bibliothekar.
"Ach, so einfach?"
"Ugh-Iek! Ugh, ugh, u-ugh", machte der Bibliothekar und deutete auf den Wächter.
"Von der Abteilung für unlizenzierte Morde, ist das so?"
"Und unlizensierten Raub, Herr. Ich bin Lance-Korporal Sebulon, Sohn ..."
"Mit dir rede ich nicht. Habe ich das nicht eben schon gesagt?"
"Ja, Herr", gab der Zwerg finster zu.
"Ugh-ugh", sagte der Bibliothekar.
"Und warum bist du nicht erst zu mir gekommen?"
"Iiek."
Der Erzkanzler stemmte die Hände in die Hüfte. "Wie meinst du das, wir hätten dich nicht ernst genommen? Es geht hier um ein verdammtes totes Buch! Und das sollten wir nicht ernst nehmen?"
Nachdenklich wandte er sich an den Wächter.
"Junge, deine Arbeit hier ist beendet. Wir werden uns als Zauberer der Sache annehmen. Das hätten wir von Anfang an machen sollen. Und falls wir Hilfe brauchen sollten, werden wir nicht zögern, dir Bescheid zu geben. Schönen Tag noch."
Dem Zwergen gefiel der Tonfall des Zauberers nicht. Da er jedoch dienstbeflissen war und Autoritäten in der Regel ernst nahm, salutierte er, drehte sich um und ging zurück zur Wache.
Unzufrieden.


~~~ Mina ~~~

Auch an anderer Stelle war man gerade dabei, sich über diese nicht ganz gewöhnliche Angelegenheit zu unterhalten.
"Ein ermordetes Buch?" Mina sah ihre Vorgesetzte fragend an. "Wer macht denn sowas?"
Ophelia deutete ein Schulterzucken an.
"Genau das ist die Frage. Neben dem 'warum' natürlich. Allerdings bezweifle ich, dass die Universität sich als sehr kooperativ erweisen wird. Wie du dir sicher vorstellen kannst, gibt es ein paar Stimmen, die strikt gegen eine Einmischung unsererseits sind."
Die Vampirin nickte. Ja, Zauberer; ein sehr eigenes Völkchen.
"Wie sieht es denn zur Zeit aus?", wollte sie dann wissen.
"Soweit ich informiert bin, hat sich noch nicht viel ergeben. Sebulon hat mich noch nicht wieder darauf angesprochen, aber ganz am Anfang um Unterstützung gebeten. Ich habe das mit dem Abteilungsleiter besprochen und wie die Dinge liegen, möchte ich, dass du dich darum kümmerst. Um den eben nicht ganz offiziellen Weg."
"Verstehe. Sebulon ... ist das nicht der Zwerg, der gelegentlich schreiend über den Gang rennt?"
Ein Seufzen.
"Ja. Aber er versucht, sich zusammenzureißen. Am besten, du machst dir nicht allzu viele Gedanken darüber."
Mina überlegte. Ein halluzinierender Püschologe - das konnte interessant werden. Doch abgesehen davon hatte sie eigentlich schon immer einmal einen Blick in die Bibliothek der Unsichtbaren Universität werfen wollen. Aber da war noch etwas anderes, was sie ein wenig irritierte.
"Ma'am, bei solch einer Angelegenheit ... müsste da nicht eigentlich DOG ...?"
Chief-Korporal Ziegenberger lächelte schwach.
"Im Grunde hast du Recht. Aber zum einen scheint sich der Bibliothekar seinen Ermittler selbst herausgesucht zu haben und ich wollte ihm nur ungern widersprechen", sie goss sich Tee nach, "und zum anderen müssen wir so keinen Zauberer in die Sache einweihen, damit er uns die Bemerkungen des Orang-Utan übersetzt."
"Weil Sebulon ihn ...?"
"Ja."
Gut ... das würde wirklich sehr interessant werden.

*

Wenn er es nicht schon vorher geahnt hatte, wäre Sebulon spätestens jetzt zu der Erkenntnis gekommen, dass der Erzkanzler eine recht unumgängliche Person sein konnte[1] und von einmal beschlossenen Konzepten nur schwer abzubringen. Es nutze nichts, ein weiteres Mal nachzufragen. Es hatte keinen Sinn gehabt, mit einem Tatortwächter vor den Toren der Universität aufzutauchen. Und dass der schon ziemlich verzweifelte Appell auf gutnachbarschaftliche Zusammenarbeit der Institutionen der Stadt und die Vorbildfunktion derer auf taube Ohren gestoßen war, hatte den Zwerg im Grunde nicht mehr zu überraschen vermocht. Die einzigen Ergebnisse seiner Bemühungen waren bisher ein von Tag zu Tag schlechter gelaunter Bibliothekar sowie ein großes Schild am Tor der Unsichtbaren Universität:

Wächter müssen draußen bleiben!

Der Orang-Utan hatte sich zu einer Art wandelndem schlechten Gewissen entwickelt und tauchte regelmäßig in seinem Büro auf, um ihn dann ein paar Stunden mit vorwurfsvollen Blicken zu durchbohren, gefolgt von der Frage, wann er denn endlich etwas zu tun gedachte. Der Tatsache, dass er manchmal zwei Affen vor sich sitzen sah, von denen einer blaues Fell hatte und einen Meter über dem Boden schwebte, schenkte er nicht viel Beachtung. Nur dass seine Kollegen regelmäßig durch diesen zweiten Primaten hindurchzugehen schienen, erfüllte den Püschologen mit vager Besorgnis.
So wie auch jetzt wieder: Eine Gestalt kam auf ihn zu, hielt vor dem Schreibtisch und sagte etwas. Blieb nur noch die Frage, ob sie auch wirklich echt war.
"Sebulon?"
Sollte das nicht der Fall sein, konnte er sie geflissentlich ignorieren. Er hatte schon mit den zwei Affen genug zu tun und langsam wurden die Bananen knapp.
"Lance-Korporal? Hörst du mir zu?"
Andererseits, wenn dies eine Wahnvorstellung war, so hatte sie verblüffende Ähnlichkeit mit Chief-Korporal Ziegenberger. Wirklich, diese Detailgenauigkeit! Sein Gehirn schien sich gerade zu neuen Höhen des Halluzinierens aufzuschwingen. Jetzt wedelte sie mit einem Zettel vor seiner Nase herum und er konnte den Luftzug ganz deutlich spüren.
"Lance-Korporal Sebulon Samaxsohn, wenn du die Güte hättest mir deine geschätzte Aufmerksamkeit zu schenken!"
Der Zwerg blinzelte und die Welt schien einzurasten - in der richtigen Realität, ohne blaue Affen, dafür aber mit einer verärgerten Vorgesetzten vor seinem Schreibtisch.
Sebulon schoss aus seinem Stuhl nach oben und wollte hastig salutierten, verlor allerdings den Halt, da er seine Beine nicht schnell genug sortiert bekam. Strauchelnd bekam er eine Tischkante zu fassen, fegte dabei aber einen Stapel Dokumente beiseite, welche mit einem satten Klatschen auf dem Fußboden landeten.
"Ja, Ma'am, natürlich, Ma'am, die volle Aufmerksamkeit, Ma'am!", stotterte er und salutierte erneut - sicher war sicher.
Ophelia schüttelte langsam den Kopf und sah ihn mit einem schwer zu deutenden Blick an.
"Also manchmal frage ich mich wirklich, ob ...", begann sie, brachte den Satz aber nicht zu Ende sondern zuckte nur mit den Schultern. "Wie auch immer, es geht um deinen Fall. Wir haben eine Nachricht von Pyronekdan bekommen - anscheinend hat es heute morgen ein weiteres Opfer in der Universität gegeben."
Hinter ihr wurde das Tappen großer Füße laut und kurz darauf zupfte jemand nervös am Saum ihrer Uniform.
"Uuugh ieek, ugh?"
"Er will wissen, welches Buch es erwischt hat", übersetzte Sebulon und der Bibliothekar nickte eifrig, die Stirn in tiefe Sorgenfalten gelegt.
Die stellvertretende Abteilungsleiterin legte den mitgebrachten Zettel vor den Zwerg auf den Schreibtisch.
"Nein, diesmal handelt es sich wohl um einen Studenten, die Identifizierung lässt allerdings noch auf sich warten."
"Warum?"
Ein Schatten huschte über das Gesicht der jungen Frau.
"Man hat seinen Kopf noch nicht gefunden."
"Oh."
Sebulon schluckte und versuchte die Bilder zu vertreiben, die sein Unterbewusstsein sofort zu fabrizieren begonnen hatte.
"Auf jeden Fall ist es spätestens jetzt dringend notwendig, dass die Wache sich der Sache annimmt. Auch wenn sich die Universitätsleitung wegen dieser Sache wohl ebenfalls nicht offiziell an uns wenden wird."
Der Ärger in ihrer Stimme war mittlerweile unüberhörbar. Sie sah den Zwerg an und bemühte sich um einen etwas freundlicheren Tonfall, als sie fortfuhr: "Die Unterstützung, um die du gebeten hast, wartet übrigens zwei Zimmer weiter, in der 207. Du kennst die Hauptgefreite von Nachtschatten?"
Der Zwerg runzelte die Stirn. Gehört hatte er den Namen schon, wusste auch, dass es sich um eine RUM-Kollegin handelte und konnte ein Gesicht zuordnen - aber dabei blieb es. Ein Gesicht, dass man schon mehrfach bei Dienstbesprechungen oder auf dem Gang gesehen hatte. Etwas klingelte in seinem Unterbewusstsein und schob behutsam den Hinweis auf Vampir nach. Allerdings erschien darauf automatisch das Bild seiner ehemaligen Ausbilderin Frän Fromm vor seinem geistigen Auge. Frän ... er hatte sie lange nicht mehr gesehen ... die roten Haar, das blasse Gesicht ...
"Sebulon???"
"Äh, nein, nicht wirklich", erwiderte der Püschologe langsam, bemüht die Erinnerungen abzuschütteln. Das gehörte jetzt wirklich nicht hierher.
"Dann wird es Zeit."

*

Kurz darauf betrat Sebulon vorsichtig das Arsenal im Keller des Wachhauses - eine handschriftliche Notiz an der Tür zu Büro 207 hatte ihn hierher verwiesen.
Dunkelheit schlug ihm entgegen; nur das Licht einer kleinen Laterne auf einem Pult neben dem Eingang vermochte einige Konturen aus dem einheitlichen Schwarz zu schälen: Die Seitenwände von Schränken, mehr oder weniger blitzende Ausrüstungsgegenstände... Zögernd tat der Zwerg einen weiteren Schritt, verharrte erneut, lauschte. Wer wusste schon, was sich in der Finsternis verbarg? Immerhin gab es hier eine Treppe zum alten Archiv... Irgendwo vor ihm klapperte etwas, gefolgt von einem leisen Pling. Er schauderte.
"Hallo?", hauchte er ins Dunkel und kam sich gleich darauf idiotisch vor. Erstens war er hier immer noch in der Wache und zweitens wäre es unter anderen Umständen ohnehin vollkommen unvernünftig gewesen, sich in der Dunkelheit bemerkbar zu machen.
Für einen kurzen Moment herrschte absolute Stille, dann erklang eine Stimme:
"Ah, da bist du ja schon. Ich habe mir gedacht, wir fangen am besten gleich an; wenn in der Universität schon Köpfe rollen, sollten wir uns wohl beeilen."


~~~ Sebulon ~~~

Sebulon sah an sich herunter.
"Das kann doch nicht sein Ernst sein", meinte er. Er wusste beim besten Willen nicht, ob er lachen oder weinen sollte.
"Sei froh, dass wir nicht in die Narrengilde müssen, sonst würde noch Schminke dazukommen", sagte die Vampirin. Ihre hellgrauen Augen ruhten auf der Gewandung ihres Kollegen.
"Aber ... ich meine ... das ist einfach ..."
"Du hast Recht, das reicht noch nicht. Dir fehlt noch das gewisse Etwas."
"Was?", fragte Sebulon panisch. "Noch mehr? Ich kann mich doch jetzt schon unter dem ganzen Tand kaum noch bewegen." Die beiden hatten sich auf Kerzen geeinigt, damit Sebulon etwas erkennen konnte, es jedoch dunkel genug war, dass Mina sich wohl fühlte. Die Stummel warfen zurückhaltend Licht auf die voluminöse Verkleidung. Die weite Robe wallte um seinen Körper wie eine Wolke um Cori Celesti[2]. "Schau, wenn ich meinen Arm bewege, dann dauert es eine halbe Minute, bis der Stoff sich gelegt hat."
Die Vampirin seufzte und sah ihm in die Augen.
"Sebulon, Sohn von Samax, ich würde das hier nicht machen, wenn es nicht nötig wäre. Ich hoffe, du hast das verstanden. Im Gegensatz zu dir habe ich eine Ausbildung darin, mich verdeckt einschleusen zu lassen. Wir werden im ständigen Kontakt sein, damit ich dir Anweisungen geben kann. Sobald es gefährlich wird, holen wir dich da raus. Alles klar? Ach, und wenn dir auf die Nerven geht, dass deine Verkleidung sich bewegt, wenn du dich bewegst - beweg dich einfach nicht."
"Wir werden in Kontakt bleiben? Ich dachte, du kommst mit?"
"Weißt du, wenn Frauen in der Universität aufgenommen werden würden - aber das ist nicht der Fall. Ich werde mich ganz schön mit Lilli anlegen müssen, dass wir ihren Fundus plündern, also lass mich einfach machen und hab Vertrauen, dass sich alles zum besten ..."
Sorge machte sich auf dem Gesicht des Zwergen breit. "Wie meinst du das: Du wirst dich mit ihr anlegen müssen? Sie weiß noch gar nicht, dass wir das hier ... ausborgen?", fragte Sebulon und gestikulierte wild. "Du hast doch sicher schonmal erlebt, wie sie sich aufführt, wenn etwas im Fundus verschwindet ..."
"Sie weiß schon davon." Die Vampirin lächelte auf eine Art, die Sebulon verwirrend attraktiv fand. "Zumindest liegt die Notiz schon in ihrem Postfach. Auch wenn sie trotz der vielen Zeit, die sie hier verbringt, bestenfalls inoffizielle Verwalterin des RUM-Fundus ist ..."
"Ugh", machte es im Halbdunkel der Treppe.
"Hallo, Bibliothekar. Gut, dass du da bist; wir sind fast fertig", sagte Mina und steckte eine Spange an dem Obergewand des Zwergen fest. "Nun ist es gut, denke ich. Was meinst du?"
Sebulon sah den Bibliothekar aus der Dunkelheit auftauchen, wie aus einem Nebel. "Iek, ugh-ugh", machte er und flappte kurz mit den Ohren.
"Es gefällt ihm?", fragte sie.
"Er sagt, er hat schon viele seltsame Dinge im Laufe seines Lebens gesehen. Und dieses Kostüm ist, was das Seltsamsein angeht, auf Platz 58[3]", seufzte Sebulon frustriert.
"Oh."
Der Bibliothekar streckte einen langen Finger aus und drückte ihn in das Gewand vor Sebulons Bauch.
"Hey, das ist lustig, ich spüre überhaupt nichts ..."
Kleine seismische Wellen breiteten sich aus. Das gesamte Kostüm warf kleine Hügel.
"Iek, Ieek!", meinte der Bibliothekar und grinste.
"Er schlägt vor, eine oder zwei Schichten zu entfernen"
"Ugh."
"Mindestens."

*

Weite Strecken konnte er nicht mit den beiden Affen Schritt halten. Zwar trug der Zwerg nur noch die Hälfte der Accessoirs, die Mina ursprünglich vorgesehen hatte, doch war es noch genug, um seine Bewegungen bedeutend einzuschränken. Langsam begann er zu verstehen, weshalb Zauberer selten einen Fuß vor die Universität setzten: Sie bezweifelten vermutlich, dass sie den Rückweg schafften.
"Meinst du, das funktioniert?", fragte Sebulon zum wiederholten Male, als sie die Tore am Ende der Straße sehen konnten.
"Man wird dich nicht wiedererkennen. Du weißt doch, wie Zauberer sind. Und jetzt beeil dich etwas, Bartgesicht."

*

"Alexander Kleinmuth, zweites Semester", sagte der dünne Zauberer. "Und du bist?"
"Sebulon ... von Hohenstein", erwiderte der Zwerg zögerlich. "Austauschschüler aus Klatsch."
"Gut, gut", sagte der Bart. "Am besten führe ich dich erstmal rum, nicht wahr? Wenn du Fragen hast, stell sie am besten nicht den höheren Semestern und schon gar nicht den Zauberern - sonst könnte es sein, dass du in eine Kröte verwandelt wirst."
"Ahaha", machte der Püschologe.

*

"Das hier", sagte Alexander Kleinmuth, "ist Hex. Er ist ..."
"... eine Art magische und zugleich lebendige Art von Maschine, nicht wahr?", fragte Sebulon aufgeregt. Als er den Blick des Zweitsemestlers bemerkte, fügte er hinzu: "Ich habe da mal einen Artikel drüber gelesen: 'Hex ist für einen ausgebildeten Zauberer keine Konkurrenz - er macht die Arbeit von hundert in der gleichen Zeit.' Stimmt es, dass Hex nur simple Zaubersprüche benutzt, die aber sehr schnell?"
Überrascht, und auch etwas geschmeichelt, begann der Zauberer zu dozieren: "Tatsächlich machen wir gerade einen Probelauf, um die Frequenz von Hex noch zu erhöhen. 'Sehr schnell' wird danach hoffentlich eine deutliche Untertreibung sein. Der junge Stephan versucht unseren alten Freund Hex durch zwei Ameisenstämme, die gleichzeitig arbeiten, noch effektiver laufen zu lassen. Er nennt die Testphase 'Doppelarbeiter', allerdings haben wir bisher immer Probleme mit einer erdrückend hohen Raumtemparatur bekommen, wenn wir die Frequenz gesteigert haben. Die Ergebnisse der Testphase liegen noch nicht vor. Sollte das gut gehen, könnten wir auch über drei oder vier Stämme nachdenken ..."
Sebulon blieb stehen und beobachtete den hochenergetisch knisternden Apparat skeptisch. Dann kniff er die Augen zusammen und fragte: "Sitzt dort wirklich ein flauschiger Teddybär auf ..."
"Ich glaube, wir sollten weitergehen.", sagte Alexander schnell und zog Sebulon nachdrücklich in den Nachbarraum.

*

"Und das hier ist die Bibliothek", sagte Alexander.
'Endlich', seufzte die Stimme in Sebulons Kopf.
"Den Bibliothekar kennst du ja bereits."
"Ugh", machte der blaue, schwebende Affe und winkte. Der Andere tat es ihm gleich.
"Oh, du gibst ihm selbst eine Einführung?", fragte der Student. "Na, dann mache ich mich mal wieder auf den Weg. Wichtige Sachen erledigen und so."
Als Alexander bereits um die Ecke verschwunden war, konnte man noch immer seinen Magen knurren hören.

*

Mina lehnte an der Außenmauer der Unsichtbaren Universität. Lange hatte sie sich schon nicht mehr so in ihrem Element gefühlt. Mit den Schatten verschmelzen, sich vor neugierigen Blicken verstecken - so ein Einsatz hatte eine Menge für sich. Allerdings bedauerte sie es ein bisschen, dass sie nicht Fledermausgestalt annehmen konnte, sonst hätte sie den Kunstturm selbst erklimmen können.
Mit Schwung warf sie drei Tauben der Wache empor, die sich mitsamt eines kleinen schwarzen Kastens langsam gen Himmel schraubten. "Hey! Vorsicht, Lady", keifte es aus dem Inneren. "Hier drinnen is' ganz schön hart, verdammich!"
Die verdeckte Ermittlerin seufzte. "Wenn es eine bessere Möglichkeit gäbe ...", flüsterte sie. In Gedanken verfluchte sie die frauenfeindlichen Grundsätze der Universität. Sie hatte langweilige und frustrierende Stunden mit den Tauben trainiert, damit dieses waghalsige Manöver gelingen konnte. Als Mann hätte sie sich wenigstens in die Dachetage des Turms geschlichen - aber bei Zauberern wusste man (oder: Frau) nicht, in welches Reptil sie zur Strafe verwandelt würde. Sie musste sich dringend noch etwas überlegen, um notfalls das Gebäude doch betreten zu können ...
Die Vögel waren oben angekommen, durchflogen das Dachgeschoss des Turmes, ließen den Kasten unsanft fallen, was die dämonische Stimme zu derben Flüchen veranlasste, und suchten tunlichst das Weite.
Mina atmete tief aus. Zwar würde sie die drei Tauben erklären oder sogar ersetzen müssen, aber wenigstens war das Ekwippmänt gut angekommen, das ihr Kannichtgut geliehen hatte.
Der Dämon war instruiert. Zumindest war sie sich sicher, dass er seine Anweisungen gehört hatte, da er jeden mit leisen Flüchen quittiert hatte. Jeden Tag eine Rückmeldung des Zwergen, sonst ein Notsignal; höfliche und akkurate Nachrichtenübermittlung, ... das Übliche. Er musste jetzt nur noch unauffällig genug wirken, dass man ihn ignorierte, falls jemand unerwartet dort oben vorbeisehen würde.
Sie hoffte inständig, dass Sebulon in der Bibliothek etwas fand, was ihnen Anhaltspunkte lieferte.


~~~ Mina ~~~

"Gut, also das ... Opfer lag hier, richtig?"
Sebulon begutachtete den Boden innerhalb eines kleinen Bereichs, der von jemandem notdürftig abgesperrt worden war - und offensichtlich war dieser jemand noch nicht allzu oft in den Genuss einer solchen Tätigkeit gekommen: Eine Art Geschenkband wand sich mehrfach zwischen Regalen und einigen Stühlen, es glitzerte rot, gelb, grün und eine große Schleife hier und da schien dafür zu sorgen, dass das Gebilde zusammenhielt - irgendwie. Ein Witzbold hatte in Abwesenheit des Bibliothekars Schneevaterfestdekoration daran verteilt, wodurch das ganze noch bunter und deplatzierter wirkte, als es ohnehin schon der Fall war.
"Das fragst du mich jetzt schon zum dritten Mal, Bartgesicht!" Der Bibliothekar zog die Nase kraus und schnippt pikiert eine weinrote Glaskugel zu Boden. "Studentenpack! Haben einfach keinen Respekt! Fast so schlimm wie ihre Dozenten."
"Und seitdem ist hier nichts verändert worden?" Der Zwerg beugte sich so weit nach vorn, wie es seine wallenden Gewänder zuließen. Der hölzerne Boden starrte ihm stumm entgegen; nur ein Astloch winkte ihm fröhlich zu.
"Sag mal, hörst du mir überhaupt zu? Natürlich nicht, ich habe lediglich das Buch in Verwahrung genommen ansonsten liegt hier noch jedes Staubkorn an seinem Platz." Der Orang-Utan stülpte die Oberlippe nach oben und offenbarte eine Reihe durchaus beeindruckender Zähne. "Zumindest hoffe ich das für sämtliche Bibliotheksnutzer der letzten Tage."
"Du selbst warst zu dem Zeitpunkt ...?"
"Einen Studenten mit Nachdruck daran erinnern, dass er seine Leihfrist schon um zwei Wochen überschritten hatte." Seine Mundwinkel statteten kurz den Ohren einen Besuch ab, hatten aber offenbar keine Zeit für einen Plausch dort übrig. "Und als ich wiederkam ... da lag es dort. Skrupellos gemeuchelt. Das arme Ding hatte keine Chance." Betrübt ließ der Bibliothekar die Schultern hängen. Dann raffte er sich sichtbar auf, tappte davon und geriet so kurz aus Sebulons Sichtfeld, während sein blauer Zwilling sich an dem Geschenkband nach oben hangelte und wilde Saltos schlug. Fasziniert beobachtete der Zwerg, wie dabei mehrfach der Unterkörper im Boden verschwand oder eine Hand ins Leere griff, ohne dass sich der Affe davon beeindrucken ließ. Schließlich landete er meckernd auf dem Boden und bot Sebulon eine der dekorativen Zuckerstangen an.
"Nein, danke", meinte der Püschologe freundlich und betrachtete interessiert das blaue Fell seines Gegenüber. So ein blau war ihm in der Tat noch nie untergekommen, das war nicht nur eine Farbe, sondern die personifizierte Blauheit. Ob es so etwas wie "affenblau" schon gab?
Jemand tippt ihm auf die Schulter und der Zwerg fuhr herum - oder zumindest wäre er das wenn nicht die schiere Masse an Stoff an seinem Körper sein Bewegungsmoment erheblich behindert hätte.
Der Bibliothekar befand sich nun wieder direkt vor ihm und warf ihm einen beleidigten Blick zu.
"Wenn du jetzt lieber Löcher in die Luft starren willst, kann ich das hier auch wieder wegräumen, kein Problem."
Er hob eine kleine, metallisch schimmernde Kiste. An einer Seite war sie mit einem kompliziert anmutenden Schloss versehen. Ansonsten war sie über und über mit Verzierungen bedeckt und irgendwie erinnerte auch die Form an ... Sebulon weigerte sich, in diesem Zusammenhang das Wort "Sarg" zu benutzen.
"Äh, sehr hübsch", meinte er daher, "Aber was ist das?"
"Eine Pralinenmischung. Meine Güte, Wächter, benutz dein Hirn." Der Bibliothekar öffnete das Kästchen. Darin befand sich das Buch - genau in der Mitte zerteilt. "Die beiden Hälften lagen mit der Außenseite nach oben direkt nebeneinander; offenbar sind sie ziemlich hastig voneinander getrennt worden. Der Buchrücken ist komplett hinüber." Er schüttelte den Kopf, dass die Ohren flogen. "Wie kann man nur! Nicht anfassen!"
Sebulon zog ruckartig die Hand zurück und beschränkte sich darauf, dass Buch optisch zu untersuchen. Es handelte sich um einen schlichten braunen und schon sehr abgegriffenen Ledereinband; der Titel war darauf eingebrannt, allerdings konnte der Zwerg die Schnörkel, welche wohl Buchstaben oder Runen darstellen sollten, beim besten Willen nicht entziffern. Ansonsten schien es ein ganz gewöhnliches Buch mittlerer Dicke zu sein: Unscheinbar, eselsohrig und vollkommen harmlos.
"Interessant", murmelte der Zwerg, "aber warum hast du es eingesargt?" Er verzog das Gesicht - der Ausdruck hatte sich einfach ungefragt aufgedrängt.
Der Affe sah ihn lange an.
"Das hat nicht viel mit Sentimentalität zu tun, sondern mit Sicherheit. Wir haben es hier immerhin mit der Leiche eines magischen Buchs zu tun. Magisches Buch! Wie lautete noch gleich deine Frage?"

*

Unterdessen, irgendwo zwischen Universität und Wachhaus ...
Mina hatte eine Weile mit dem Gedanken gespielt, sich noch einige Zeit in unmittelbarer Nähe der Universität aufzuhalten, nur für den Fall ... auf der anderen Seite wäre das ziemlich widersinnig gewesen; viel wahrscheinlicher, als dass sich irgendetwas Spektakuläres ereignete, war, dass im Laufe der nächsten Stunden eine erste Nachricht von Sebulon am Semaphorenturm "Wache 1" eintreffen würde. Nein, es war ganz sicher vernünftiger, dort zu warten ... und letztendlich war es vollkommen egal, wo man sich genau aufhielt, während man sich Sorgen machte.
Mina war nicht ganz wohl dabei gewesen, Sebulon allein dort hinein zu schicken. Der Zwerg hatte kaum Erfahrung im verdeckten Ermitteln und da keiner von ihnen so genau wusste, was man in der Universität zu erwarten hatte, war ihm nichts anderes übrig geblieben als mit einer hoffentlich funktionierenden Tarnung sowie ein paar guten Ratschlägen loszuziehen. Sicher konnte man auch darauf zählen, dass der Bibliothekar in der ein oder anderen kritischen Situation zur Stelle sein würde ... aber ob das reichte? Was da nicht alles schief gehen konnte - wobei wohl weniger die Zauberer selbst ein Problem waren als der, die oder das, was eben jene einen Kopf kürzer machte.
Die verdeckte Ermittlerin seufzte und kam sich selbst ziemlich verantwortungslos vor. Es gefiel ihr ganz und gar nicht, einfach nur abwarten zu können. Gut, Sebulon war Püschologe, er konnte mit anderen Leuten bestimmt bestens umgehen, aber was man so über den püschischen Zustand des Zwergs selbst hörte ... es gab so viele Unsicherheiten bei diesem Einsatz ...
Mina sah ein weiteres mal zum Kunstturm zurück, der weithin sichtbar über den Dächern der Stadt aufragte. Nun, zunächst konnte man nur hoffen, dass Kannichguts Ekwippmänt hielt, was es versprach. Er hatte selbst zugeben müssen, dass es sich um eine neuere Art des Dämoneneinsatzes handelte, die noch nicht zur Genüge getestet worden waren.
"Theoretisch gibt es keine Bedenken, theoretisch müsste es funktionieren, also ... theoretisch." Zumindest hatte der Kommunikationsexperte dies dazu gemeint.
Das war auf der einen Seite nicht unbedingt beruhigend, auf der anderen hatte sie nicht viele Alternativen gehabt. Man musste einfach davon ausgehen, dass die Kommunikation funktionieren würde. Vorerst blieb ihr ohnehin nichts anderes übrig als abzuwarten und das Beste zu hoffen.

*

"Nun komm schon, ich hab nicht stundenlang Zeit."
"Nu mal nich so hastig, ja? Und in 'nem andern Tonfall, wenn ich bitten darf!"
"Blödes Ding!"
"Mit Beleidigungen kommste bei mir auch nich' weiter."
"Bitte!"
"Hmm ... nö."
Sebulon warf nervöse Blicke nach links und rechts und zog sich den spitzen Hut tiefer ins Gesicht. Es war mittlerweile Abend und der Wind hatte merklich aufgefrischt - was auf dem Kunstturm der Unsichtbaren Universität Sturmböen bedeutete.
Seit einer geschlagenen Viertelstunde hockte er hier oben und stritt sich mit einem kleinen schwarzen Kasten. Oder besser gesagt mit dessen Bewohner.
Im Grunde war das, was er hier vor sich hatte, wirklich praktisch: Ein Paar Dämonen, die über eine gewisse Distanz als eine Art Miniklacker nur mit dem Gegenstück kommunizieren konnten und das ganze auch noch mitschrieben. Einfach zu transportieren, unauffällig und Außenstehenden hatten so gut wie keine Chance, etwas vom stattfindenden Nachrichtenaustausch mitzubekommen.
Ein Wunderwerk der Kommunikationstechnik ... mit etwas zu viel Eigenleben. Eigentlich war es peinlich, dass er als technisch bewanderter Zwerg nicht damit fertig wurde und er hatte bereits mehr als einmal mit dem Gedanken gespielt, dem Kasten mit dem Schraubenschlüssel eins überzuziehen: Seinen geliebten Werkzeuggürtel - wenn auch in einer etwas abgespeckten Version - unter seiner Verkleidung zu verstecken war zum Glück kein Problem gewesen.
"Ich schmeiß dich hier runter, wenn du nicht auf der Stelle ...", drohte Sebulon.
Dies klang wohl wenig überzeugend, denn der Dämon grinste ihn nur weiterhin frech an.
"Das machste eh nich, ich war teuer. Und außerdem kriegste dann nen Riesenärger mit deinem Vorgesetzten." Der kleine giftgrüne Wicht ließ die Beine über die noch viel kleinere Stuhllehne im Kasteninnern baumeln und spielte mit einem winzigen Stift in seiner Klaue.
Sebulon rang im Geiste die Hände.
"Sag mal, was willst du eigentlich?"
"Och, ein Bier wär nich schlecht. Dann können wir die besten Freunde sein, kein Problem."
"Ja, ja, ja, könntest du dich jetzt eventuell dazu herablassen, eine Nachricht weiterzuleiten?"
"Wenn's weiter nix ist ... Rasenschmuck."
Irgendetwas in Sebulon erwachte bei dieser Bemerkung, schrie und hüpfte wild umher und trachtete danach, dem Dämon den Hals umzudrehen. Dem weitaus größeren Teil war das nach diesem Tag allerdings alles zu anstrengend und so wurde der Wutzwerg gepackt und in irgendeiner entlegenen Hirnregion weggesperrt, wo er unbeachtet weitertoben konnte.
Der Dämon sah ihn hinterlistig an, wartete, wartete noch ein bisschen - und zog dann eine Schnute, enttäuscht, dass der erhoffte Wutanfall ausblieb. Er zog unwillig ein Blatt Papier zu sich heran und schnauzte barsch:
"Also, was willste schicken, Zwerg?"
Sebulon sammelte seine Gedanken und holte tief Luft ...
"Hier steckst du, ich suche dich schon überall."
... ließ sie in einem Zischen entweichen und sah über die Schulter.
Alexander Kleinmuth stand bibbernd im Wind und starrte neugierig an dem Zwerg vorbei.
"Was hast du denn da?"
"Äh ..."
"Ist das deins?"
"Also ..."
"Was macht das? Wie funktioniert es?"
"Das ist ...", Sebulon durchforstete sein Gehirn fieberhaft nach einer Idee, "... eine astronomische Gerätschaft. Dämonenbetrieben. Ja, zum anfertigen von Sternenkarten. Der Dämon ... malt. Karten. Im Taschenformat. Sehr praktisch."
"He, ich ...", tönte es empört aus dem Kasten, bevor Sebulon hastig die Klappe zuschlug und nichts weiter als unverständliches Gefluche nach außen drang.
"Er ist noch in der Testphase", fügte der Zwerg rasch hinzu.
Alexander kratzte sich am Kopf.
"Du interessierst dich sehr für Technik, nicht?"
"Ja, das ist so ein ... Hobby. Neben der Zauberei versteht sich."
Der junge Mann nickte, so als würde er sich selbst etwas bestätigen, was er sich schon eine Zeit lang gedacht hatte.
"Eigentlich wollte ich dich etwas anderes fragen", wechselte er dann abrupt das Thema, "Ein paar Kommilitonen und ich treffen uns in einer halben Stunde auf das eine oder andere Gläschen - wie sieht's aus, kommst du mit?"


~~~ Sebulon ~~~

Wie hätte er nein sagen können? Seit drei Stunden saßen sie schon im Knauf und tranken in gemütlicher Runde.
Sebulon hatte während seiner Rekrutenzeit einmal gelesen, was man in der Wache durfte und was nicht. Alkohol während der Dienstzeit gehörte definitiv nicht dazu. Aber galten für verdeckte Ermittler andere Gesetze?
"... und dann sag' ich zu dem Frosch - wobei, es war ja eigentlich kein Frosch, sondern Barnabas hier - sag ich jedenfalls: 'Ups', ...", schwadronierte Alexander und klopfte dem Angesprochenen auf die Schulter. Nur mit Mühe erwiderte dieser das Lächeln und wandte sich anschließend wieder seinem Bier zu.
"Sehr, hmm, amüsant", sagte Liebrecht Opinus, der sich in den letzten Stunden als wortkarg und desinteressiert erwiesen hatte. Gebannt las er während des Gesprächs in einem Buch von Habebald Kreißler über Paläomagie.[4] "Wusstet ihr, dass man früher vermutlich Faustkeile als Resorptor für Runenmagie benutzt hat?"
"Was immer du sagst, Opi", sagte Barnabas und verdrehte die Augen.
"Das Buch hier sagt auch, dass es früher möglich war, normale Gegenstände für kurze Zeit magisch werden zu lassen, wenn sie nur genug Hintergrundstrahlung ausgesetzt wurden. Stellt euch das mal vor: Gespenster mit einer gewöhnlichen Zeitung töten!"
'Was sind das für Flachzangen?', flüsterte die Stimme in Sebulons Kopf. 'Das beste, was du von ihnen lernen kannst, ist der Zauber, mit dem man sie in Frösche verwandeln kann.'
"Oh, hab ich euch schon erzählt, wie ich neulich aus Versehen den Schuppen des Gärtners der Universität dem Erdboden gleich gemacht habe?"
'Nun, das klingt wenigstens interessant. Ob das ein völlig unbegabter Zwerg auch erlernen kann?'
'Schweig; ich arbeite', dachte Sebulon wütend und versuchte der penetranten Stimme in seinem Kopf keine Beachtung zu schenken.
'Sonst drohst du mir - womit?'
"Ja, hast du", seufzte Liebrecht frustriert. "Und auch, wie du zwei Wochen gebraucht hast, um die Bruchbude wieder herbeizurufen und dabei Tod gesehen hast."
"Wirklich, habe ich das schon erzählt?", fragte Alexander verwirrt.
"Ja", meinte Barnabas, "wenn ich mich recht entsinne, hat Tod dir in die Augen gesehen und gesagt: 'Junge, ich wäre dir dankbar, wenn wir damit noch etwas warten könnten. Ich habe gerade in Gennua beide Hände voll zu tun.'"
"Oh", sagte er. "Tja ... wisst ihr, da fällt mir ein, wie ich im letzten Jahr mit Bob -"
Mit einem Mal änderte sich die Atmosphäre im Raum. Liebrecht legte sein Buch beiseite und sah mit einem bitteren Blick seine Mitzauberer an. Barnabas fixierte den Boden seines Glases.
"Entschuldigung", sagte Alexander leise.
"Verzeiht, wenn ich frage", sagte Sebulon so mitfühlend wie möglich. "Wer ist Bob?"
"Kannst du nicht wissen, von Hohenstein", meinte Barnabas traurig. "War einer von den Guten, unser Bob. Der gute alte Bob."
"Wird nicht das gleiche sein, ohne Bob", seufzte Liebrecht schwermütig und fügte gewichtig an: "Mhm."
"Was ist denn nun passiert?", bohrte der Zwerg ungeduldig.
"Ach, Bob ist von uns gegangen."
Für einen Moment schwiegen die vier, dann rief Barnabas überraschend: "Ober, noch 'ne Runde! Wir müssen das Andenken an Bob in Ehren halten."

*

"Wo bleibt er nur? Warum meldet er sich nicht?", flüsterte Mina vor sich hin. "Ich hätte nicht gedacht, dass er ein so unzuverlässiger Kerl ist." Sie hockte vor dem Semaphorenturm der Wache und starrte auf den zweiten Dämonenkasten.
"Hab ich dir schon gesagt, Lady: Ich weiß es nicht", grunzte der Funkdämon und kratzte sich am Hinterkopf. "Aber wenn er dich versetzt hat, dann könnten vielleicht wir zwei ein romantisches Tätt-ah-tätt ..."
Die Tür des Kastens wurde zugeschlagen.

*

"Erinnert ihr euch noch, wie wir Bob kennengelernt haben?", fragte Liebrecht und seine Stimme zitterte. Seine beiden Freunde hatten bereits Taschentücher in der Hand und verbargen schluchzend ihr Gesicht. "'So ein Pfundskerl. So ein treuer ... Hohenstein, wie heißt das?"
"Hmm ... Kumpane vielleicht?"
"Soisses. So ein treuer Kumpane! Wir erheben unsere Gläser auf Franziskus Bombastus von Mopsvestia[5]. Wir werden dich vermissen, Bob."
Gläser klirrten aneinander.
"Ja, lasst uns die Erinnerung in Ehren halten", stimmte Sebulon zu und schlabberte sein Bier. Als die Zauberer etwas ruhiger geworden waren, fragte er: "Ich weiß, es ist schwer für euch, weil das alles noch nicht lange her ist, aber ich muss das wissen: Wie ist er gestorben?"
Unisono begannen die Zauberer wieder zu schluchzen.
'Heulsusen', flüsterte die Stimme in Sebulons Kopf.

*

"Warum schickt er keine Nachricht? Warum nur? Es muss etwas schief gegangen sein."
Es klopfte von innen an den Kasten. Mina öffnete eine kleine Klappe. Der hässliche Dämon sah heraus.
"Was hat er geschickt?", fragte sie. Angst schwang in ihrer Stimme mit.
"Lady, er hat keine Nachricht geschickt. Aber", sagte der Dämon schnell, "ich könnte ja mal nachfragen, ob mein Kollege etwas gesehen hat?"

*

"Weißt du, wir dürfen nichts sagen", meinte Barnabas, sah seine Kollegen ernst an und gab sich große Mühe nicht zu lallen. "Aber ich habe schon meine Theorie, was Bob passiert ist."
"So?", fragte Sebulon. In Gedanken öffnete er ein Notizbuch.
"Er is' von der Diebesgilde entführt worden. Das isses."
"Hat man denn eine Kwittung gefunden?", fragte der Püschologe überrascht.
"Nein, weil die Diebe, weil die, also - nein, hat man nicht."
"Und ich kann dir auch sagen, warum nicht", trumpfte Alexander auf: "Weil es nich' die Diebe waren, sondern die Küche."
"Was?", fragte Barnabas.
"Ich bin der festen Überzeugigung, dass Bob einen thaumaturgischen Unfall hatte und in ein ... Dings ... in ein Schwein verwandelt wurde. Die Küche hat ihn gesehen, geschlachtet und den Studenten zu essen gegeben."
Mit Mühe wehrte sich Sebulon gegen diese Vorstellung, die bei ihm einen Würgereiz auslöste.
"Hm", machte Liebrecht, "das scheint mir reichlich unwahrscheinlich. Naheliegender ist, dass er sich in der Bibliothek verlaufen hat."
"Unsinn. Du kennst doch seinen guten Orientierungssinn."
"Und wenn ein Monster aus den, hmm, Kerkerdimensionen ihn erwischt hat?"
Alexander gab seinem Vorrede eine leichte Kopfnuss und sagte: "Dann doch eher die Assass-ssassinengilde, oder?"
"Wer sollte schon einen Auftrag herausgeben? Ich sage, es waren private Dings. Meuchler."
"Leute", sagte Sebulon und hob die Hände, "verrennen wir uns nicht in Spekulationen. Was wissen wir?"
"Bist du von der Wache oder was?", lachte Barnabas und klopfte dem Püschologen auf die Schulter. "Rate mal, warum ich die nicht informiert hab. Richtig: Weil es wenig gibt, was man ihr zeigen könnte. Und die würden eh nicht helfen können. Stadtwache halt."
"Ich denke, es ist ... wie heißt das ... Zeit für uns zu gehen. Wir sollten uns, hmm, auf den Heimweg machen", meinte Liebrecht und erhob sich schwankend. "Gute Nacht, Freunde."

*

Viel zu spät in der Nacht, am Wachetresen.
"Sebulon Samaxsohn, Enkel von Sorbalan aus dem Siebgutclan - wo bist du gewesen und was machst du hier?"
"Ich habe ermittelt ...", sagte Sebulon, doch weiter kam er nicht.
"In einer Kneipe? Ich glaube das einfach nicht! Ich stand stundenlang vor meinem Kommunikationsdämon und habe auf eine Nachricht gewartet! Was denkst du, worum es hier geht? Um mehrfachen Mord, mein Lieber!"
Schritt für Schritt kam Mina auf den Zwerg zu.
"Ich will nicht wissen, warum du mich hast hängen lassen! Ich will nicht wissen, warum du mir keine Nachricht geschickt hast! Ich will nicht wissen, warum du nach billigem Bier stinkst! Und ich will erst recht nicht die Rechnung sehen, die du zu verantworten hast!" Sie blieb stehen und drückte ihren Finger in Sebulons Bauch. Falten verschoben sich in seiner Verkleidung. "Du wirst jetzt zur Abteilungsleitung gehen, Herr Püschologe; du wirst die Situation erklären und sagen, dass du den Fall abgibst."
"Mina, ich verstehe, dass du wütend bist, aber ..."
"Aber? Aber?"
"Erstens kannst du das nicht fordern, weil ich ranghöher bin, nichts für ungut."
Mina setzte zu einer Erwiderung an, hielt dann aber inne: Die letzte Beförderung ihres Kollegen musste wohl irgendwie an ihr vorbeigegangen sein ...
Der Zwerg nutzte ihr Schweigen, um weiterzusprechen: "Und zweitens: Ich habe eine Spur."
Die Ermittlerin hielt inne. "Welche?"
"Ein Name. Franziskus Bombastus von Mopsvestia. Er ist in der Universität gestorben, vor kurzem. Morgen werde ich mich mit den Zauberern unterhalten, die ihn kannten, und herausfinden, was ich kann. Ich schreibe nur einen kurzen Bericht, lege die Spesenrechnung der Ziegenberger ins Fach und dann bin ich in der Universität, in meinem Zimmer. Muss erstmal ins Bett. Ich sollte nämlich, wenn möglich, nüchtern arbeiten" Er rülpste. "Entschuldigung."
Die Vampirin sagte nichts. Mit verschränkten Armen sah sie dem Zwerg hinterher.


~~~ Mina ~~~

Stille. Träge öffnete Sebulon ein Auge. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie er es geschafft hatte, überhaupt einzuschlafen: Überall hatte es geraschelt, das alte Gemäuer um ihn herum geächzt, Türenknall, viel zu lautes Lachen vom Gang und dazu ab und an ein beschwipster Student, der sich im Zimmer geirrt hatte. Und als dann auch noch eine kleinere Prozession vor seiner Tür entlang gezogen war, irgendetwas von "des Zauberers Stab" grölend, hatte der Zwerg endgültig beschlossen sich gleich am nächsten Tag einen ausreichend großen Vorrat an Watte für die Ohren zuzulegen.
Doch jetzt war um ihn herum nichts anderes als Dunkelheit, nicht einmal der Mond erhellte das kleine schmutzige Fenster an der Rückwand des Raumes. Eigentlich war alles ... normal. Keine seltsamen Geräusche mehr, kein Johlen, und erst recht nichts was darauf hinwies, das etwas nicht in Ordnung sein könnte. Aber warum war er dann aufgewacht?
Sebulon lauschte einen Moment in die Schwärze, aber da war wirklich ... halt! Da war eine Art Schleifen, als wische jemand mit einem überdimensionalen Wischmob den Gang, setzte kurz aus und begann erneut. Irgendetwas kratzte rhythmisch über Stein. Irgendetwas kam näher.
Der Püschologe hielt den Atem an ... entschloss sich aber kurz darauf, dass dies wohl doch nicht nötig war. Bestimmt bildete er sich das alles nur wieder ein und gleich würde eine absurde Gestalt auftauchen und versuchen, ihn zu verwirren. Nein, dankeschön, da konnte er auch weiterschlafen. Entschlossen drehte sich der Zwerg auf die andere Seite und zog die Decke bis ans Kinn.
'Na na, so einfach kannst du es dir auch nicht machen", wisperte es hinter seinen Schläfen.
"Halt die Klappe!', murmelte Sebulon ärgerlich.
Er war gerade dabei wegzudämmern, als erneut Geräusche an sein Ohr drangen. Doch diesmal waren es eindeutig Schritte und sie stammten von jemandem der es sehr eilig hatte und dabei möglichst leise sein wollte - zumindest letzteres misslang. Kurz darauf erklang ein unterdrücktes Fluchen und jemand, der darauf antwortete. Dann entbrannte eine leise, dennoch ärgerliche Diskussion.
"Mann, so war das nicht gedacht!"
"Sei still, man wird uns hören!"
"Mir doch egal, du bist mir schon wieder auf den Fuß getreten, ein bisschen Licht hätte uns schon nicht geschadet."
"Nun hör doch endlich auf zu meckern und komm weiter. Ich will das heute Nacht noch zu Ende bringen."
Jetzt reichte es! Er hatte ein Recht auf seine Nachtruhe und dieses würde er nun einfordern. Wenn sich jemand um diese Zeit noch streiten musste, bitte, aber nicht vor seinem Zimmer!
Sebulon griff zu Kerzenleuchter und Streichhölzern auf seinem Nachttisch, war mit wenigen Schritten bei der Tür, riss sie mit Schwung auf - und sah nichts. Die Stimmen waren schon um die nächste Ecke verschwunden, aber immer noch zu hören.
"Mir gefällt das ganze sowieso nicht."
"Da wirst du gar nicht gefragt. Immerhin sind wir doch Schuld an der Sache. Wenn das rauskommt - dann fliegen wir von der Uni, jede Wette."
"Ich will aber nicht so enden wie ..."
Das Gespräch brach abrupt ab. Für einen Moment herrschte erneut Stille, gefolgt von einem leisen Klingen. Und dann ging das Geschrei los.

*

Heute Nacht zwei neue Leichen in der UU - erneut kopflos - als Liebrecht und Markus Opinus (Brüder, Studenten, 3. und 2. Semester) identifiziert - habe nichts gesehen, nur gehört - erster Toter übrigens nicht Mopsvestia, sondern identifiziert als ein Student mit Namen Harald "Schluckauf" Augustus (1. Semester) - noch keine weiteren Informationen zu den beiden letztgenannten - höre mich um und melde mich heute Abend wieder - S.


Das war doch wohl alles nicht wahr!
Müde strich sich Mina eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht und gähnte. Der Tag fing ja schonmal gut an: Irgendjemand mordete in der Universität munter weiter, während sie bis jetzt mit nichts weiter als ein paar Namen und einer horrenden Wirtshausrechnung dastanden. Wobei man mit ersterem wohl mehr anfangen konnte als mit letzterem, was erst wieder unangenehm werden würde, wenn man versuchte es unter 'Spesen' abzurechnen - Romulus würde begeistert sein.
Opinus, Augustus, Mopsvestia - da stand ihr wohl ein Tag im Archiv bevor. Vielleicht hatten sie ja Glück ... aber so wie sich die Dinge momentan darstellten...
Es klopfte.
"Ja?"
Ein beleibter Rekrut in einer GRUND-Uniform schob sich schnaufend durch die Tür.
"Guten ... Morgen", ächzte er und fächelte sich mit einigen Blatt Papier Luft zu.
"Guten Morgen Bartholomäus, kann ich dir helfen?"
"Eigentlich ... nein, ich hab hier was für, äh", er schielte auf das oberste Blatt, "Lance-Korporal Ebel. Soll ... abgeben." Der Zauberer sah sich suchend um und sein Blick blieb an einem ganz bestimmten Möbelstück hängen. "Ich darf doch kurz?"
Ohne eine Antwort abzuwarten griff er nach dem Stuhl und ließ sich schwer darauf fallen - ungeachtet des protestierenden Quietschens des Holzes.
"Diese Treppen!", ächzte er.
Er sah nicht so aus, als würde er sich in den nächsten Minuten von der Stelle bewegen wollen.
Ein kleines Lächeln stahl sich auf Minas Gesicht: Immerhin hatte sie jetzt ein ehemaliges Mitglied der Unsichtbaren Universität direkt vor der Nase sitzen; eine gute Gelegenheit, Informationen aus erster Hand zu bekommen - das Archiv würde ihr nicht weglaufen.
"Wenn du schon einmal hier bist", begann sie und drehte nachdenklich denn Zettel mit Sebulons Nachricht in den Händen, "kannst du aber eventuell mir weiterhelfen."

*

"Ich fass das einfach nicht, gestern Abend ... da, da haben wir doch noch zusammengesessen. Und jetzt ..." Alexander stocherte in seinen Bratkartoffeln - es war erst seine dritte Portion.
Der Student war derart erschüttert gewesen, dass Sebulon bis jetzt kaum einen Ton aus ihm herausgebracht hatte. Insofern war der erste zusammenhängende Satz ein enormer Fortschritt.
"Ich frag mich immer noch, was sie mitten in der Nacht auf dem Gang wollten", bemerkte der Püschologe beiläufig.
"Erst Bob, jetzt Liebrecht ... wie soll das weitergehen?"
"Wohin sie wohl wollten?"
"Waren ganz prima Kerle ... was?" Alexander blinzelte den Zwerg verwirrt an.
"Ach, nichts weiter, ich hab nur überlegt ..."
Am anderen Ende des großen Saals wurde die Tür aufgerissen und ein Fellberg stürmte durch die Reihen zwischen den Tischen. Ohne zu zögern packte er Sebulon am Handgelenk und zerrte ihn mit sich.
"He, langsam, was denn?" Halb fiel der Püschologe vom Stuhl, während er hastig seine Kleider ordnete und gleichzeitig schon versuchte, dem Affen zu folgen.
Der Bibliothekar antwortete mit einem unwilligen Brummen und beschleunigte sein Tempo.
Sebulon sah noch einmal kurz zu Alexander und versuchte sich an einem entschuldigenden Schulterzucken - was gar nicht so einfach war, wenn einem von einem Orang-Utan beinahe der Arm ausgekugelt wird.
"Tja, schätze wir sehen uns später ...", war alles was er noch rufen konnte, bevor es aus dem Saal ging und sich der Student seinem Blickfeld entzog.
Alexander Kleinmuth sah ihnen verständnislos nach, wandte sich dann wieder seinem Teller zu und ließ vor Schreck die Gabel fallen, als kurz darauf noch das Echo eines überraschten Schreis vom Gang hereinklang:
"Wie, jemand hat versucht ein Buch zu klauen?"

*

Sebulon klopfte an den kleinen Kasten.
"Ich möchte eine Nachricht versenden", sagte er deutlich.
Es dauerte allerdings einen Moment bis sich die Klappe öffnete und ein hässliches Gesicht erschien.
"Wo issn mein Bier?", wollte die Fratze wissen.
"Oh ..."
Der Dämon verzog ärgerlich das Gesicht.
"Immer das gleiche. Aber was wundert mich das eigentlich noch?" Er schwieg kurz, dann zuckte er mit den Schultern. "Es ist übrigens was angekommen, falls es dich interessiert", murmelte er übellaunig und hielt einen eng beschrieben Fetzen Papier hoch.
"Gut, dann lass mal hören!"
Der Dämon räusperte sich.
"Du Pfeife, was glaubst du eigentlich, wer du bist? Fühlst dich ganz groß, wie? Aber nur weil du nicht in meiner Reichweite bist; ich komm gleich mal rüber und dann werden wir ja sehen, wer hier ..."
"Entschuldige, aber bist du dir sicher, dass du das empfangen hast?", unterbrach ihn Sebulon an dieser Stelle. Irgendwie, mit viel Interpretationsspielraum, konnte man dies alles zwar auf die momentane Situation zurechtbiegen, aber ... seltsam blieb es trotzdem.
"Natürlich, bin ja nich blöd! Ich habe Order absolut alles mitzuschreiben."
"Und das kommt wirklich vom Pseudopolisplatz?"
"Sach ich doch!"
"Ganz sicher? Wortwörtlich?"
"Willste Streit, Zwerg?"
"Meine Kollegin hat das geschickt?" Sebulon klappte nun endgültig die Kinnlade herunter.
Der Dämon mass ihn mit einem abfälligen Blick.
"Ne, von der Lady is das nich, wie kommste denn darauf?" Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. "Das is von dem Dilettanten dort drüben, der sich selbst Dämon schimpft und meint er wär was besseres. Der provoziert mich am laufenden Band!" Das kleine Wesen kletterte auf seinen Kasten und schüttelte drohend die Faust in Richtung Pseudopolisplatz. "Aber nicht mit mir! Der soll mich noch kennenlernen!"
Sebulon seufzte. Das konnte ja noch heiter werden ...


~~~ Sebulon ~~~
Versuchter Buchdiebstahl. Ermittle weiter. Habe hoffentlich morgen Ergebnisse.

"Das ist alles?", fragte Mina und kniff die Augen zusammen. Die Schrift war wirklich klein.
"Scheint so, Lady", entgegnete ihr der Dämon und spuckte auf den Boden. "Das ist zumindest alles, was für dich wichtig ist."
"Das hast du nicht zu entscheiden", grollte die verdeckte Ermittlerin. "Gib mir die komplette Nachricht, sonst ..."
"Is' ja gut, Lady. Wenn's sein muss. Den Rest muss ich dir aber übersetzen." Missmutig räusperte sich der Dämon. "In deiner Sprache heißt es: Auf dieser Seite der Leitung arbeitet ein Profi - allerdings ist mir unklar, wer so dumm war gerade dich Versager anzuheuern. Ende."
Mina blieb der Mund offen stehen. Dann blinzelte sie. "Das ist für dich, oder?"
"Sach ich doch, Lady."
Der Gesichtsausdruck des kleinen Wesens verriet, dass es etwas zurückhielt.
"Das war noch nicht alles", stellte Mina fest und verschränkte die Arme.
"Diese Kröte ..."
"Wie lautet der Rest der Nachricht?"
Der Dämon seufzte und verdrehte die Augen. "PS", sagte er, "du bist süß, wenn du versuchst wütend zu sein, Kleiner."
"Verstehe", meinte die verdeckte Ermittlerin.
"Der Schabendrücker versucht sich über mich lustig zu machen. Soll er doch. Der weiß ja gar nicht, wen er zum Gegner bekommt."
"Das wirst du schön sein lassen, Bursche. Du arbeitest für mich. Eure Zwistigkeiten könnt ihr austragen, wenn ihr frei habt, aber diese Woche wird gefälligst vorschriftsgemäß gearbeitet. Verstanden?"
"Klar, Lady. Alles klar. Kannst ja selber hier reinkriechen und mit diesem wichtigtuerischen Rattenar..."
"Verstanden?", flüsterte Mina und zeigte dem Dämon ihre Zähne.
"Jaja, reg dich mal nicht künstlich auf. Brauchste noch was, Lady, oder kann ich wieder meine Ruhe haben?"
Wütend schlug sie den Kasten zu.

*

Nebel wallte durch den Universitätskampus.
Langsam und nachdenklich folgte der Püschologe dem Weg, den er im Zwielicht kaum erkennen konnte. Er hatte die Nachricht geschickt. Der Kommunikationsdämon hatte sich beinahe freundlich gezeigt, als Sebulon ihm zwei Bier für die nächste Nachricht versprochen hatte. Und diesmal würde er sie ganz sicher nicht vergessen.
Nur wie, bei allen Göttern, sollte er weitermachen? Er hatte SUSI nicht zur Hand, um Spuren zu finden; DOG konnte ihm keine Hintergrundinformationen zuspielen; nicht einmal sein Freund Braggasch war da, um an seiner Seite zu laufen und ihn aufzumuntern. Ihm blieben zwei weniger, die ihm hätten sagen können, was hier vor sich ging. Alexander Kleinmuth machte seinem Namen alle Ehre und weigerte sich, sein Zimmer zu verlassen, das er nicht nur abgeriegelt, sondern auch mit sämtlichen verrückbaren Einrichtungsgegenständen verbarrikadiert hatte. Das Morden ging weiter, sein einziger Kontakt redete nicht mehr mit ihm, und die ausgebildeten Zauberer schienen einfach besseres zu tun zu haben, als dem Serientäter auf die Spur zu gehen.[6] Das Einzige, was er tun konnte, war der Bibliothek einen erneuten Besuch abzustatten. Vielleicht hatten ja Buchmord, Mord und versuchter Diebstahl mehr miteinander zu tun, als offenbar war.

*

Im RUM-Archiv saß Mina und stöberte nach Informationen.
"Wenn es ein Serientäter ist", sagte sie vor sich hin, "muss es hier irgendwo einen Hinweis geben."
"Mag sein", sagte jemand.
Erschrocken fuhr Mina hoch. "Oh, du bist es nur, Rekrut", sagte sie. "Du drückst dich hoffentlich nicht vor der Arbeit?"
"Nein, Gnä'Frau, ich räume hier auf", sagte Jakob Fluss, Akten sortierend. "Man tut so dies und das, nicht wahr. Kann ich Euch auf irgendeine Weise helfen?"
Einen Moment zögerte sie. Dann fragte Mina: "Meinst du nicht, dass du mit dem Siezen etwas übertreibst, Rekrut?"
"Wie meint Ihr das?"
"Ich bin keine Lordschaft, also kannst du diese übersteigerte Höflichkeit lassen."
"Wie Ihr meint."
'Bei dem ist wohl jede Hoffnung verloren', seufzte die Ermittlerin in Gedanken. Laut sagte sie: "Also, der Fall weswegen ich hier bin, ..."
Wie gut kannte sie diesen Rekruten? Im Prinzip wusste sie nichts über ihn, außer dass er langweilige Aufgaben bevorzugte und manchmal schwulstig redete. Andererseits hatte er Augen, die keine Lüge verbargen; davon war sie überzeugt. Wer weiß, vielleicht verbargen sich dahinter auch Antworten, wenn man freundlich war?
"... in der Universität treibt ein Mörder sein Unwesen. Die Toten sind kopflos und das Gelände wurde für Wächter abgeriegelt. Wir haben nichts echtes in der Hand, und ich dachte -"
"In den Akten gibt es keinen vergleichbaren Fall, soweit ich mich erinnere", sagte Jakob nachdenklich und legte einen Stapel loser Blätter ab, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.
"Du hast sie komplett gelesen?", fragte Mina verblüfft, "Warum?"
"Fand es interessant, Mä'äm", sagte er abwinkend. "Ich an Eurer Stelle würde allerdings entweder bei DOG fragen, weil die angeblich ein älteres und besseres Archiv besitzen - aber das klingt nach Ritualmord, also wäre es vielleicht auch eine gute Idee mit einem Okkultismusexperten zu reden."
"Guter Einfall, Rekrut. Danke."
Jakob lächelte kurz gewinnend und zuckte dann mit den Schultern.
"Wenn die Gerüchte stimmen, würde ich aber nicht mit dem Kommandeur reden, Gnä' Frau, weil er angeblich nicht nur an Geheimverschwörungen glaubt, sondern auch ständig Alk..."
"Danke, Rekrut. Ich wünsche dir noch einen ereignisreichen Tag im Archiv."
Die Tür klappte.
"Ereignislos wäre mir lieber, Mä'äm", meinte Jakob und nahm den Stapel mit Akten wieder auf.

*

"Na, Bartgesicht", begrüßte ihn der Affe. Langsam begann Sebulon diese Anrede zu mögen.
"Na, Vierhand", gab der Zwerg zurück und lehnte sich so lässig wie möglich an den Schreibtisch des Bibliothekars, "du hast gemeint, dass ich nochmal vorbeikommen soll, weil irgendein Buch ..."
"Nicht irgendein Buch!", sagte der Bibliothekar. Mit den Füßen schälte er eine Banane, während er mit beiden Händen gestikulierte. "Ein Klassiker in der Geschichte der magischen Buchkunst! Wenn es dich hören würde, ..."
"... würde es versuchen, mich zu töten?", fragte Sebulon.
"Schlimmer noch: es wäre beleidigt!" Mit einer raschen Bewegung legte der Bibliothekar die noch nicht vollständig gepellte Banane auf den Tisch und griff nach dem linken Arm des Püschologen. "Am besten siehst du es dir selbst an."

*

Das Büro des Okkultismusexperten war aufgeräumt. Er saß auf einem bequem anmutenden, wenn auch kleinen, Stuhl.
"Ausgerechnet ein Vampir", sagte Tut'Wee und zog eine Grimasse. "Da habe ich mal einen Moment Freizeit und wer kommt durch die Tür spaziert?"
"Ich finde es auch schön, dich zu sehen", erwiderte die Ermittlerin.
"Habe ich gesagt, dass ich es schön finde? Ich glaube nicht."
"Keine Sorge, du brauchst mir keinen Kaffee anzubieten", sagte Mina so freundlich wie möglich, und setzte sich auf Nimh ad Orbs Stuhl. "Ich bin wegen einem Fall hier. Ich brauche Informationen."
"Und was hat das damit zu tun, dass du meine Pause störst?"
"Mehrfacher Mord. Die Opfer wurden ohne Köpfe hinterlassen, die bisher auch noch nicht aufgetaucht sind. Ich stehe vor einem großen Rätsel", seufzte Mina. "Alle Opfer zwischen zwanzig und dreißig Jahren alt."
Der Okkultismusexperte legte die Stirn in Falten. "Hast du noch mehr?"
"Ich weiß nicht, ob es etwas damit zu tun hat ... ein Buch wurde ermordet und eines wurde beinahe -"
Erschrocken sprang Tut'Wee auf und kletterte auf den Tisch. "Bücher sagst du?", flüsterte er und begann zwischen den Akten umher zu laufen. "Bücher."
"Kopflose Leichen habe ich ..."
"Scht", machte der Okkultismusexperte und blieb stehen. "Ein ermordetes Buch. Weißt du, warum man Bücher ermordet?"
"Es gibt häufiger ...?", begann Mina, doch sie wurde wieder unterbrochen.
"Weil man Angst vor ihnen hat!", rief die Gnumie und begann bedeutungsschwer zu gestikulieren. "Bücher haben Macht! Bücher können dein schlimmster Feind werden, selbst wenn du sie nicht mehr öffnest. Einmal den Möglichkeiten Raum gegeben, sind sie nicht mehr aufzuhalten!"
"Oh."
"Scht!"
'Wäre ich doch nur zu Bregs gegangen', dachte Mina.
"Ich bin mir ganz sicher", begann der Okkultismusexperte, "dass ich in meinen Aufzeichnungen gelegentlich schon einmal etwas zu kopflosen Leichen gefunden habe. Werde es dir zukommen lassen. Am besten mache ich mich sofort an die Arbeit. Nach meiner Pause. Und du gehst jetzt besser."
Mina verließ das Büro und beschloss, doch noch einen Abstecher zu DOG zu machen.

*

An der Mauer der Unsichtbaren Universität bewegten sich einige Knollen, die sonst ruhiger waren. Sie stanken auf eine besondere Weise, die in der ganzen Stadt bekannt und besonders in der Wache berüchtigt war. Und gerade zitterten sie.
Dann geschah das unfassbare: Die rote Beete löste sich, leise multipel ploppend, von der Wand und glitt langsam abwärts. In ihren Maßstäben konnte man von schneller Flucht reden.
Die Intelligenten Knollen hatten Angst.


~~~ Mina ~~~

"Hier ist das gute Stück." Behutsam legte der Bibliothekar eine beachtliche Schwarte auf den Tisch. "Ich habe über eine Stunde gebraucht, bevor es sich wieder beruhigt hatte."
Das Kerzenlicht spiegelte sich auf einem mattschwarzen Umschlag, die Ecken waren mit Schutzbeschlägen versehen und genau in der Mitte prangte der Titel in goldenen Lettern: Die Magii der grauen Vorzait: Praktische Anwähndung, Risiken und Nebenwierkungen. Es hätte ein erhabener Anblick sein können - doch die mehrfach um das Buch geschlungene Eisenkette störte dabei ein wenig.
Sebulon war nähergetreten, wagte es aber nach dem letzten Rüffel nicht noch einmal die Hand auszustrecken.
"Kannst du dir vorstellen warum jemand ausgerechnet dieses Buch stehlen sollte?", fragte er stattdessen.
Ein leises Grollen wurde laut und es schien direkt zwischen den Buchdeckeln hervorzudringen. Für einen Moment glaubte der Zwerg sogar zu sehen, wie das Lesebändchen bedrohlich hin und her schwang, wie der Schwanz einer gereizten Katze. Aber das war doch hoffentlich nicht möglich, oder? Oder?
"Sei bitte nett zu ihm, es ist schon ein sehr altes Buch. Bestimmt älter als du."
Beinahe zärtlich strich der Orang-Utan über den Einband, worauf das Grollen zu einer Art zufriedenem Schnurren wurde. Dann nahm er Sebulon ein Stück beiseite und senkte die Stimme.
"Gerade die Alten sind sehr von sich überzeugt, jedes hält sich für das mächtigste und wichtigste in der gesamten Bibliothek. Man sollte nie auch nur ansatzweise ihre Einzigartigkeit in Frage stellen."
"Aber ich habe doch gar nicht ...", protestierte der Püschologe, wohl etwas zu laut, denn der Bibliothekar hob warnend den Zeigefinger, "äh, ich wollte sagen: Welcher der vielen einleuchtenden Gründe war es wohl diesmal, der zum Beinahe-Diebstahl dieses hochinteressanten und ehrwürdigen Werkes geführt haben könnte?"
Der Bibliothekar nickte zufrieden.
"Schon besser. Jetzt zu deiner Frage: Das Buch ... es ist alt. Und meines Wissens seit mehreren Jahren nicht aufgeschlagen worden. Was natürlich unter anderem mit seinem etwas ... launischen Wesen zusammenhängt. Der letzte Zauberer, der es versucht hat, hätte beinahe seine Hand eingebüßt. Natürlich hätte er bei der Lektüre nicht gerade sein Pausenbrot essen sollen. Grimoires mögen keine Krümel." Der Affe schüttelte den Kopf, dass die Ohren schlackerten.
Unterdessen versuchte Sebulon die eben gehörten Informationen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.
"Also hat nicht aufschlagen etwas mit dem Wert zu tun?", hakte er nach.
Erneutes Nicken.
"Und mit der Macht. Der thaumaturgischen Energie, welche ungenutzt zwischen den Seiten schlummert. Das kannst du dir ein bisschen wie bei einem guten Wein vorstellen: Je länger er lagert, umso besser und wertvoller wird er."
"Also ein Zauberer auf der Suche nach ungenutzter Energie?"
"Möglich. Aber da hätte er mehrere und einfachere Möglichkeiten als "Die Magii der grauen Vorzait" gehabt. Warum er sich gerade dieses Buch ausgesucht hat ... ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung."
Der RUM-Püschologe seufzte niedergeschlagen.
"Wirklich nicht. Was ist den mit dem Inhalt? Der könnte doch einen Anhaltspunkt liefern."
Der Orang-Utan sah ihn nachdenklich an.
"Vielleicht.", gab er dann zu, "Vielleicht könnte uns der Inhalt tatsächlich darüber Aufschluss geben. Allerdings existiert über genau diesen lediglich eine alte Karteikarte mit einigen wirren Bemerkungen meines Vorgängers sowie dem Hinweis auf einen sogenannten 'gehfährlicher Schmökar'. Selbstverständlich könnte man diese Informationen jederzeit aktualisieren." Er hielt kurz inne. "Nur war ich bisher noch nicht so wahnsinnig zu versuchen, das Buch zu lesen."


*

Dicke graue Gewitterwolken türmten sich am Himmel, als Mina aus dem Wachhaus trat, und stellten für den heutigen Tag weitaus mehr als nur Regen in Aussicht. Der Wind hatte merklich aufgefrischt, trieb welke Blätter, Abfall und einen alten Hut über den Pseudopolisplatz.
Die verdeckte Ermittlerin warf einen kurzen Blick gen Himmel und beschleunigte dann ihre Schritte. Wenn sie sich beeilte hatte sie noch gute Chancen im Boucherie Rouge anzukommen, bevor sie vollkommen durchnässt war...
"Mina, he, warte mal!"
Sie blieb stehen und sah zurück. Eine Gestalt näherte sich über den Platz, die sich kurz darauf als Bartie Grau entpuppte. Er schien es nicht besonders eilig zu haben, auch wenn er sich immer wieder besorgt nach den Wolken umsah.
"Was gibt es denn Bartie, ich wollte eigentlich zu DOG ..."
Der Zauberer nickte eifrig.
"Ja, das kannst du später auch noch. Ich habe dir doch heute morgen noch gesagt, dass ich mit dem Namen 'Mopsvestia' nichts anzufangen weiß."
"Ja, und?"
"Jetzt schon!" Bartholomäus griff in eine Tasche seines Umhangs und förderte ein Buch zutage, welches sich bestenfalls noch als zerlesene Schwarte bezeichnen ließ. Triumphierend hielt er es hoch.
"Das ist mir vorhin rein zufällig in die Hände gefallen, ich wusste gar nicht, dass ich das noch habe. Und beim durchblättern dann ...", er zog gewichtig die Augenbrauen nach oben, "Sieh selbst. Dort wo der Zettel drinsteckt."
Mina nahm das Buch vorsichtig entgegen.
"Die Geschichte der Unsichtbaren Universität?", las sie den Titel.
"Ja, es stammt noch aus meiner Studienzeit." Das Gesicht des Zauberers nahm einen verträumten Ausdruck an. "Ja damals ... da war noch alles anders ..."
Unterdessen hatte die Vampirin begonnen in dem Druckwerk zu blättern. Einzelne Seiten machten sich selbstständig und schwebten dem Erdboden entgegen. Sie überflog die gekennzeichnete Seite ... stutzte ... und las genauer.
Vergessen war der nunmehr fauchende Wind und das drohende Gewitter. Das hier war wirklich interessant. Mehr noch, damit würden sie wirklich etwas anfangen können. Sie musste das so schnell wie möglich Sebulon zukommen lassen...
Vom Himmel grollte bedrohlich der Donner.
"Äh, würde es dir etwas ausmachen zum lesen wieder hineinzugehen?" Bartholomäus schielte sehnsüchtig zur Tür des Wachhauses. "Hier könnte es gleich etwas ungemütlich werden ..."
Wie auf ein Stichwort klatschten in diesem Moment die ersten schweren Regentropfen auf's Kopfsteinpflaster.
Ein paar Minuten später oben im Büro 207 vor einer dampfenden Tasse Tee, hatte Mina begonnen, die wichtigsten Punkte aus der entsprechenden Passage des Buchs abzuschreiben.
"Und du hast das wirklich so rein zufällig wiedergefunden?", fragte sie geistesabwesend.
"Äh, ja."
Etwas in der Stimme des Rekruten ließ sie aufsehen. Bartie Grau schien sich auf einmal sehr unwohl in seiner Haut zu fühlen.
"Es, äh, es lag ganz unten in meinem Spind, beim Stapel mit den ... uninteressanten Büchern. Ich war nie der große Historiker ..."
Er nippte an seiner Tasse und verschluckte sich prompt am heißen Tee. Keuchend und hustend richtete er sich in seinem Stuhl auf, jetzt mit eindeutig schuldbewusster Miene.
"Was war das denn dann für ein Zufall, der dich dorthin geführt hat?" Mina legte den Stift beiseite und sah den Zauberer misstrauisch an.
Der versuchte sich an einem unsicheren Lächeln.
"Na ja ... im Grunde war es so, dass ... also, der Almanach im Abort, äh, ausgelesen war und da dachte ich mir ..."

*

Das Tosen der Elemente drang beinahe ungedämpft an seine Ohren und hin und wieder schwankte seine Behausung bedrohlich, wenn sie von einem besonders heftigen Windstoss erfasst wurde. Gerade eben erst hatte ihn ein besonders heftiger Ruck zu Boden gehen lassen, so dass sein Kopf unangenehme Bekanntschaft mit der Tischkante gemacht hatte. Leise vor sich hinfluchend rappelte er sich wieder auf. Dieser Tschob war wirklich der letzte Müll! Und das alles ohne einen einzigen Tropfen Alkohol!
In diesem Moment klopfte es und kurz darauf sah ein bärtiges Gesicht durch die Klappe in seinen Kasten.
"Ich hätte da ...", begann der Besucher zu sprechen, doch er kam nicht dazu den Satz zu Ende zu bringen.
"Sach mal, haste sie noch alle!?" Der Dämon sprang wütend auf und ab. Hatten diese Großen denn gar keine Ahnung? Wenn jetzt eine ungünstige Windböe hier hinein fegte und ihn über die Brüstung trug... Aber nein, an so etwas verschwendete der Herr Wächter natürlich keinen Gedanken!
"Bei dem Mistwetter arbeite ich eh nich, das kannste vergessen. Ich will mich doch nich umbringen!", keifte er weiter.
Der Kasten ruckelte ein weiteres Mal.
Das Gesicht an der Klappe zeigte gelinde Verwirrung.
"Aber ...", hob der Zwerg erneut zu sprechen an, zuckte dann jedoch mit den Schultern und zwängte einen kleinen Zettel durch die Öffnung.
"Schick das hier einfach ab ... sobald es geht."
"Ja, ja, ja und jetzt mach verdammt nochmal meine Bude zu!"
Ein unverständliches Brummen war die Antwort, gefolgt von einem erlösenden Klacken.
Na also, es ging doch!
Der Dämon wandte sich halbherzig der Botschaft zu, die seine halbe Behausung ausfüllte und trat frustriert gegen das Papier. Da würde er sich wieder mit diesem Möchtegern da drüben herumschlagen müssen, diesem Deppen, diesem Mickerling, diesem ...
Halt! Musste er das wirklich? War das irgendwo vertraglich festgelegt? Gab es sowas wie eine Garantie für die Nachrichtenübermittlung, wenn wichtige persönliche Gründe eine Rolle spielten?
Ein gehässiges Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, während er langsam ein Stück von dem Zettel abriss und sich daraus eine Zigarette drehte. Sollte der dort drüben doch versauern!

*

"Was sagt man dazu, sitzt rum und schlägt die Zeit tot!"
Erschrocken fuhr Mina hoch und sah in zwei ärgerlich funkelnde Rubinaugen. Sie hatte gar nicht gehört, dass der Okkultismusexperte das Zimmer betreten hatte.
Tut'Wee hatte sich auf dem Schreibtisch aufgebaut und knallte ihr nun eine dünne Mappe direkt vor die Nase.
"Nicht, dass sich das Fräulein ihre Rechercheergebnisse abholen kommt, oh nein!", schimpfte er.
"Aber du hast doch gesagt, du würdest sie mir zukommen ..."
Die Gnumie winkte ungeduldig ab.
"Wie auch immer, hier sind sämtliche der Wache bekannte Rituale, die einen abgetrennten Kopf erfordern. Ermordete Bücher waren in diesem Zusammenhang allerdings Fehlanzeige." Er zuckte mit den Schultern. "Aber ist dir schonmal in den Sinn gekommen, dass irgendein Vieh deine Opfer ins Jenseits befördert haben könnte? Immerhin läuft in der Universität ein ziemlich großer Affe frei rum und jeder weiß, dass er bei Büchern keinen Spaß versteht."
Mina verzichtete auf einen Kommentar und zog die Aufzeichnungen zu sich heran.
"Ist gut, danke Sir."
Tut'Wee schnaubte und wandte sich zum gehen.
"Ach ja, ein guter Rat noch", meinte er als er schon halb durch die Tür war, "Du solltest das nicht direkt vor oder nach dem Essen lesen, es sei denn, du verfügst über ein sehr eingeschränktes Vorstellungsvermögen, Hauptgefreite."
Die Vampirin sah der Gnumie nach und kam nicht umhin zu denken, dass der Oberfeldwebel heute einen seiner freundlicheren Tage hatte.
Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihr, dass sich das Wetter immer noch nicht beruhigt hatte, also würde sie ihren Ausflug zu DOG wohl auf morgen verschieben müssen. Das hieß, wenn sich die Sache bis dahin nicht schon von selbst erledigt hatte. Mina drehte die eben erhaltene Mappe ein paar Mal in den Händen. Zumindest konnte sie die Zeit bis zum Dienstschluss noch sinnvoll verbringen.
Die verdeckte Ermittlerin legte ein paar Akten beiseite, platzierte die Füße gemütlich auf dem Schreibtisch und begann sich Tut'Wees Horrorlektüre zu widmen.


~~~ Sebulon ~~~

An einer anderen Stelle der Stadt, mitten in der Unsichtbaren Universität, saß Sebulon; ebenfalls mit einem Buch vor sich, das er neugierig studierte. Er hatte sich gedacht, dass er ohnehin nahe am Wahnsinn war - der blaue, schwebende Affe war eine konstante Erinnerungshilfe -, sodass es keinen echten Unterschied machen würde, ob er das Buch las oder nicht. Und in gewisser Hinsicht spielte auch Neugier eine entscheidende Rolle.
Um es lesen zu können, hatte er sich kurzerhand mithilfe von Stahlstangen, Eisenplatten und Schrauben eine Art Lesehilfe gebaut, deren primärer Zweck es war, das Buch vom Zuschnappen abzuhalten. Der Bibliothekar hatte kurz widersprochen, doch auf Sebulons Hinweis auf seine Heimwerkerambitionen hin, für die er zwei intakte Hände brauchte, hatte der Orang-Utan ein Einsehen.
Das Einführungskapitel studierte er mit besonderer Aufmerksamkeit. Auf diesen 79+1 Seiten wurde vom Autor ausführlich erklärt, welche Sicherheitsvorkehrungen man besser beachten sollte, falls eine Beschwörung unerwünschte Nebeneffekte nach sich zog. Schutzkreise wurden beschrieben, Kerzen mit Nachdruck gefordert; es wurde über Spiegel geredet und darüber, dass Musikinstrumente tunlichst außer Hörweite zu sein hatten.
Auf Seite 117 fiel ihm auf, dass er schon drei Stunden lang ohne Unterlass geschmökert hatte. Ab Seite 149 wurde ihm ernsthaft schlecht, doch er zügelte sich. Die Seiten 171/172 betrachtete er alleine etwa zehn Minuten lang, um herauszufinden, ob sich die Zeichnungen tatsächlich von selbst bewegten und er gab lediglich auf, weil ihm die Skizzen Kopfschmerzen verursachten. Wacker kämpfte er sich bis zur Seite 197/197a vor, auf denen detaillierte Opferungsrituale vorgestellt wurden, die seinen Verstand bis zum Äußersten forderten.
Mit einem Mal fühlte er eine schwere Hand auf seiner Schulter. Es war der Bibliothekar, der ihn mit seinem Grinsen aufmunternd ansah und ihm zu verstehen gab, dass selbst ambitionierte Leser Pausen brauchten.

*

"Lady, auf der anderen Seite ist totale Funkstille. Du kannst vom Schlimmsten ausgehen."
Mina von Nachtschatten versuchte mühsam die Fassung wiederzuerlangen. Erst hatte der Dämon Unsinn kommuniziert - und jetzt sollte dem Püschologen etwas zugestoßen sein? "Bist du dir sicher?", fragte sie.
"Oh, ich hab' das ein' oder andere probiert: Hab ihm den Text von bekannten Volksliedern geschickt, 'ne Einkaufsliste, 'nen Liebesbrief, an dem ich echt lange gefeilt habe, einen Drohbrief, eine Predigt - frag nicht; es ist keine Erfahrung, die ich wiederholen möchte - aber nichts hat auch nur die leiseste Reaktion hervorgerufen. Aber ehrlich gesagt bin ich nicht traurig darüber, dass dieser eitle Schwachmat von Aushilfsdämon mir etwas Platz in meiner persönlichen Komm-fort-Zone ..."
Die Vampirin hielt das Geschwafel nicht länger aus und schlug die Tür zum Kasten zu. Sebulon war etwas passiert. Vielleicht war er jetzt eine Geisel; auf keinen Fall konnte sie es zulassen, dass er diesen vermaledeiten Suizid-Auftrag fortführte. Falls er noch lebte.
Kalte Schauer liefen ihr über den Rücken. Er war Mitglied ihres Tiehms. Nein: Er war ihr Tiehm. Ihm durfte einfach nichts zustoßen.
Mit festem Schritt stapfte sie auf das Wachegebäude zu. Sie würde das eine oder andere holen müssen, bevor sie möglichst unbemerkt in die Universität eindrang. Und sie bereitete in Gedanken vorsorglich eine Rede vor, die sie dem Zwergen halten würde, falls sie ihn wieder beim Trinken finden würde.

*

"Warum würde jemand dieses Buch stehlen?", fragte Sebulon den Bibliothekar, als er den dritten Rattenspieß abgenagt hatte und wieder klarer denken konnte.
Er durchquerte den Innenhof der Universität; der blaue Affe schwebte kommentarlos neben ihm her.
"Ich meine, nicht persönlich nehmen, es ist doch eben nur ein Buch, nicht wahr? Alter Einband, zwar wertvoll aber leistet auch Widerstand. Und es behandelt Beschwörungen - aber ich kann doch davon ausgehen, dass solches Wissen Allgemeingut ist, oder?"
Langsam wiegte sein Begleiter den Kopf hin und her.
"Denke ich auch", brummte Sebulon und nickte einem verwirrten Zauberer zu, der an ihm vorbeieilte. "Da kann man sich einfach nicht sicher sein. Angenommen -" Mit einem Mal blieb Sebulon stehen und sah der untergehenden Sonne entgegen. "Angenommen, es gab eine Beschwörung. Man hat eins von diesen widerlichen Dingen beschworen, von denen ich Zeichnungen im Buch gefunden hat." Vor Aufregung atmete der Zwerg schneller. "Nehmen wir weiter an, etwas ist schief gelaufen. Das Biest hat angefangen, unkontrolliert zu töten. Oder kontrolliert?"
Der schwebende Affe antworte mit einem bedeutungsvollen Blick und heruntergezogenen Augenbrauen.
"Bei allen Göttern", fluchte der Püschologe und setzte den Weg mit schweren Schritten fort, "dann sind wir so gut wie am Ende. Wenn ein Ungetüm aus den Kellerräumen ..."
Sein Begleiter warf ihm einen strafenden Blick zu.
Verwirrt blieb Sebulon stehen. "Hast du jetzt aufgehört mit mir zu sprechen?", fragte er.
"Nein, ich fühlte mich nur nicht nach reden.", gab der Affe zurück. "Aber es heißt: Kerkerdimensionen. Nicht Kellerräume."
"Richtig. Kerker. Wir sind jedenfalls ganz schön am Ende." Ein Gedanke traf den Zwerg mit Wucht. Ängstlich wandte er sich dem Primaten zu. "Können nicht-magische Wesen, wie beispielsweise ich, ein Wesen aus diesen Dimensionen überhaupt sehen?"
Nachdenklich kratzte sich der blaue Orang-Utan am Bauch. "Mit Sicherheit kann ich dir das nicht beantworten, denn ich habe mich nie in der Position befunden. Aber eines weiß ich: Verletzen kann so ein Wesen nur Magie."

*

Die verdeckte Ermittlerin spähte aus dem Halbschatten des Hauses, hinter dem sie stand, zum Eingang der Unsichtbaren Universität.
'Das ist Irrsinn', sagten ihre Gedanken, die alle Geschwindigkeitsrekorde zu brechen versuchten, 'Zauberer, die keine Frau auf ihrem Gelände haben wollen, werden alles daran setzen sie fern zu halten. Wie viele Feuerbälle hältst du wohl aus?'
Geduckt sprintete sie über den bereits nächtlich-stillen Hiergibtsalles-Platz. Ihre Schritte auf dem kalten Kopfsteinpflaster klangen wie das Knacken zerbrechender Äste. Hinter drei Fässern, aus denen Fischgeruch drang, duckte sie sich.
'Oder Froschzauber. Wie, bei allen Göttern, willst du den brechen? Frauen, die einen Frosch küssen, gibt es ja zuhauf, wie die Zwillinge Mildred und Mathilde Liebchen, damals in Überwald - hätten sie gewusst, dass es verwunschene Gnome waren, wären sie heute nicht so unglücklich. Aber Männer ...?'
"Aber bleib nicht zu lange weg, ja?", sagte ein Mann, der hinter dem Universitätstor sein musste. "Ich kann hier nicht ewig stehen."
"Kein Problem. Geh ruhig und ... lass einfach die Tür angelehnt. Wird schon nichts passieren. Ich bin sofort zurück", entgegnete ein rundlicher, schwer schnaufender Mann und verließ die Universität.
Das nahm ihr ein größeres Problem ab.
Als der Zauberer außer Sichtweite war (und auf der anderen Seite der Pforte Stille herrschte), huschte Mina an der Wand entlang auf die Eingangstür zu. Sie berührte kurz den Knauf und machte einen Hechtsprung zur Seite. Der erwartete Blitzschlag blieb aus.
Sie runzelte die Stirn. Also stimmten doch nicht alle Geschichten, die man über die UU erzählte. Vorsichtig zog sie am Knauf.
Stiefel. Sie wollte Stiefel kaufen. Hübsche Stiefel. Irgendwo anders. Es gab gerade Stiefel im Sonderangebot, am drehwärtigen Tor ...
'Was? Um diese Uhrzeit hat doch kein Laden mehr auf.'
Sie schüttelte den Kopf und betrat das Universitätsgelände. Das konnte doch nicht der Ernst der Zauberer sein! Eine Stiefel-Illusion war die Abwehrmaßnahme gegen ...?
Vor ihr ragten aus dem Boden drei Spieße auf. Jeden verzierte eine tote Maus.
'Wenn ich denjenigen Zauberer erwische, der hierfür verantwortlich ist und zu wissen meint, was Frauen denken, dann setzt es was!'

*

"Bleib ruhig", murmelte Mina immer wieder tonlos vor sich hin. Sie schlich durch die dunklen Gänge der Unsichtbaren Universität. Der Zorn war beinahe verschwunden, dafür war sie bis zum äußersten gespannt. Gelegentlich hielt sie inne und presste sich gegen die Wand und lauschte angespannt, bis sie sicher war, dass sie niemand beachtete. Dann setzte sie ihren Weg fort, unaufhörlich ihr stummes Mantra auf den Lippen.
Ohne ihnen wirklich Beachtung zu schenken las sie die Türschilder im Vorbeigehen: Streitgut, Winzich, Schlangenhaut, Quetschkorn, Keinewut, von Glanzenstrahl, Asbach, Klimmgut, Zerfließuns, Igorsohn, ...
Ihr Augenmerk fiel auf den letzten Namen und sie verharrte in der Bewegung. Igorsohn. Wenn sie in der Wache zurück sein würde, musste sie unbedingt Rogi einmal fragen, wie ein Igor Kinder zeugte - und seit wann diese in der UU zugelassen waren.
Ein Murmeln am Ende des Flures ließ sie zusammenzucken. Ohne zu zögern drehte sich Mina mit dem Rücken zur Wand und begann gedanklich zu zählen. '...-7-8-9-...'
Klappernd näherten sich die Sandalen eines Zauberers. In der Hand hielt er eine kleine, Licht spendende Kerze. Gleich würde er sie sehen - oder zumindest hören.
Zerzaust hingen ihre Haare im Gesicht, und sie hätte sie gern geordnet, doch sie wagte die Bewegung nicht, so klein diese auch sein mochte.
Schlapp. Schlapp. Schlapp. Schlapp. Schlapp. Schlapp. Schlapp. Schlapp.
Dann war plötzlich alles ruhig.
'Hat er mich gesehen?', schrien ihre Gedanken, doch sie zwang sich zur Stille.
Kurz darauf wurde ihr Schweigen mit dem Geräusch von Metall auf Metall belohnt, ein Schloss klickte, eine Tür öffnete sich knarrend und der Flur wurde wieder dunkel, als der Zauberer in einem Zimmer verschwand.
Kaum merklich atmete Mina durch. 'Bei Gelegenheit', dachte sie, 'melde ich mich bei einer FROG-Weiterbildung an. Wenn ich das hier überlebe.'
Bemüht, keinen Laut von sich zu geben, schlich sie weiter, auf der Suche nach Sebulon.
Sie bemerkte nicht, dass durch den Spalt unter der Zimmertür aus einer menschlichen Silhouette ein weiterer Schatten herauswuchs. Er hatte viele Tentakel.
Als sie bereits fortgeschlichen war, tönte kurz ein Todesschrei aus dem Zimmer, der ungehört im Gang verhallte.

*

Im Kunstturm entschied sich ein Dämon, dass er lange genug gewartet hatte. Er knackte mit einiger Anstrengung das Schloss an seinem Fußgelenk, verfasste eine kleine Notiz, pinnte sie außen an seinen Kasten, schnürte seine Siebensachen und sprang auf den Boden. Mühsam, doch fröhlich pfeifend, machte er sich auf den langen Abstieg in eine bessere Welt und eine lukrativere Arbeitsumgebung.
Auf dem Zettel, der zurückblieb, stand:

Binne kurzig Ziehgarreeten holän.



~~~ Mina ~~~

Das hier war einfach nur dumm. Richtig, richtig dumm. Was um alles in der Welt erwartete sie denn? Dass ihr die Lösung vielleicht hier auf dem dunklen Gang entgegen spaziert kam? Sebulon - bitte lass ihn noch am Leben sein, bitte lass ihn noch am Leben sein - hinter der nächsten Ecke auftauchte, mit einem breiten Grinsen und den Worten "Ich hab es!" auf den Lippen?
Mina verzog ärgerlich das Gesicht, verzichtete aber darauf, leise vor sich hinzuschimpfen - immerhin war sie eben schon fast entdeckt worden. Dieses ganze herumschleichen würde wahrscheinlich ohnehin nichts bringen; zumindest nicht, wenn dem Zwerg wirklich etwas passiert war.
An einer Gangkreuzung blieb sie stehen. Vielleicht war es besser, umzukehren. Sie konnte ja schlecht mitten in der Nacht die ganze Universität auf den Kopf stellen. Allerdings gefiel ihr der Gedanke mit weiteren Schritten dann mindestens bis zum nächsten Morgen warten zu müssen ganz und gar nicht. Nach einem kurzen Blick nach links und rechts um sich zu vergewissern, dass auch wirklich niemand kam, ließ sich die Vampirin auf einem kleinen Sims in einer Wandnische nieder und dachte nach. Das Ganze hätte so nicht laufen dürfen, sie hätte Sebulon nie allein hier verdeckt ermitteln lassen sollen. Vielleicht hätte man ihn auch viel eher wieder aus der Universität abziehen sollen... Ja, ja, hätte, könnte, wöllte ... dafür war es jetzt wohl ein bisschen zu spät. Sie seufzte. Doch vom herumsitzen würde es nicht besser werden - vom weitergehen wohl aber auch nicht. Also zurück? Und dann? Mina war gerade soweit sich auszumalen, wie es wohl aussehen würde, wenn ein FROG-Kommando die Universität stürmte, als ein lautes Quietschen über den Gang schallte. Gefolgt vom Schlurfen müder Schritte. Nicht schon wieder!
Regunglos beobachtete die verdeckte Ermittlerin, wie sich der Schein einer Kerze näherte und schließlich einen Zauberer enthüllte, der mit halbgeschlossenen Augen über den Gang tappte ... nein, eher torkelte. Fast zeitgleich drang der Geruch von Alkohol an ihre Nase - viel Alkohol. Himmel, so schlimm hatte nicht mal Sebulon nach seinem Zaubererzechgelage gestunken!
Der Zauberer murmelte Unverständliches vor sich hin und bemühte sich währenddessen offenbar, seinen Zimmerschlüssel einzustecken, was ihn allerdings vor ein ziemliches Problem zu stellen schien: Er traf die Tasche nicht. Mit einem Klirren ging der Schlüsselbund zu Boden. Direkt vor der Nische bückte er sich, um ihn fluchend wieder aufzuheben. Natürlich kam es, wie es kommen musste: Ein kurzer, eher zufälliger Seitenblick ließ ihn innehalten, dann die Kerze heben und verwundert blinzeln.
"Was machst denn du hier?", wollte er mit schwerer Zunge wissen.
"Also ... ich sitze hier rum, momentan", meinte Mina um ein unschuldiges Lächeln bemüht und weil ihr auf die Schnelle nichts besseres einfiel.
Das war ja wirklich nur eine Frage der Zeit, bis dich jemand sieht!
"Aha." Der Verstand des Zauberers schien sowohl mit der späten Stunde als auch mit dem Alkoholpegel erhebliche Schwierigkeiten zu haben und kam nur langsam in Gang. "Und ... was machst du hier ... genau?"
"Ich mache mir Notizen." Sie fummelte ihr Notizbuch aus der Tasche und hielt es dem Zauberer vor die Nase.
Ich bin erledigt, ich bin sowas von erledigt!
"Aha." Er kratzte sich am Kopf. Dann weiteten sich seine Augen. "Aber", krächzte er, "du bist ne Frau. Ne Frau auf dem Universitätsgelände!" Er sah ehrlich schockiert aus.
Denk nach, lass dir was einfallen, ganz egal, irgendwas!
"Ja, also das ist so, der eigentlich Grund, warum ich hier bin ..." Mina biss sich auf die Unterlippe und versuchte noch ein bisschen schneller zu denken. Es musste doch verdammt noch mal etwas geben, das sie dem Kerl sagen konnte und das halbwegs einen Sinn ergab ... irgendwas, was ihren Aufenthalt hier ausreichend rechtfertigen konnte... Ihr kam ein Gedanke - es war zwar etwas weit hergeholt, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um wählerisch zu sein.
"Mein Name ist ... Mathilde Veilchenblau, Komitee Gleiche Höhe für Zwerge", plapperte sie einfach drauflos, als der Zauberer schon wieder den Mund aufmachen wollte. "Wir haben erfahren, dass die Universität zur Zeit einen zwergischen oder doch zumindest kleinwüchsigen Austauschstudenten beherbergt und wollten die Gelegenheit nutzen um sicherzustellen, dass das Institut auch solchen Studenten in ausreichendem Maße gerecht werden kann."
Zugegeben, Glaubwürdigkeit war etwas anderes und einmal ausgesprochen klang das ganze dann noch merkwürdiger, als sie sich das vorgestellt hatte. Vor allem hier, nachts, in diesem nahezu stockfinsteren Gang.
Das kauft dir keiner ab!
"Äh ..." Der Zauberer schien auch nicht wirklich überzeugt. "Und der Erzkanzler ..."
"... weiß nichts davon und das sollte auch so bleiben, immerhin soll das Ergebnis ja nicht durch irgendwelche kurzfristig getroffenen Massnahmen der Fakultätsleitung verfälscht werden, nicht wahr?"
"Aber ..."
"Ich sitze auf dem Gang weil es schier unmöglich war, irgendwo hier im Institut unterzukommen." Mina setzte eine kritische Miene auf und schrieb demonstrativ etwas auf. Innerlich zitterte sie allerdings wie Espenlaub. Wäre der Zauberer nicht betrunken gewesen, wäre sie wohl nicht einmal bis zu diesem Punkt gekommen. Und auch sein zunehmend verwirrte Gesichtsausdruck gab Anlass zu leisem Optimismus. Mit ein bisschen Glück würde er sie morgen für nichts weiter als einen bösen Traum halten.
"Der Zwerg heißt Sebulon von Hohenstein.", fuhr sie fort, "Du hast ihn nicht zufällig gesehen?"
Nun war auch alles egal.
"Äh ..." Der Zauberer führte erneut die Hand zum Kopf, stieß aber dabei aus Versehen seinen Hut zu Boden und es war eine quälend langsame Prozedur bis er es geschafft hatte, ihn sich wieder aufzusetzen. "Äh", wiederholte er, "Zwerg ... nich der Gärtner, oder? Also Zwerg ..." Er kniff die Augen zusammen und starrte eine Weile die Wand an. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit sprach er weiter. "Ich glaub, ich hab mal einen Zwerg in der Bibliothek gesehen ... aber das is schon ein paar Tage her ..."
"Gut, dann zeig mir doch mal, wie man dahin kommt."
"Aber wie ..."
"Und es muss wirklich niemand wissen, dass ich hier bin."
"Äh ..."
"Dann bin ich auch viel schneller wieder verschwunden."
"Äh ..." Der Zauberer öffnete den Mund zum Protest, zuckte dann aber mit den Schultern. Das mit dem schnellen verschwinden schien er für eine gute Idee zu halten.
"Hier lang." Er schlurfte voran.
Mina atmete tief durch und folgte ihm, immer noch überrascht, dass das wirklich so gut funktioniert haben sollte. Trotzdem ... die Tarnung an sich würde nicht lange halten; sobald die Sache Mustrum Ridcully zu Ohren kam, würde er sie wohl hochkant hinauswerfen lassen. Aber darum ging es jetzt nicht: Was mit Sebulon passiert war, würde sich hoffentlich relativ schnell herausfinden lassen. Vielleicht hatte der Bibliothekar ja ein paar Antworten ... oder wahlweise, ein paar "ughs". Blieb nur noch zu hoffen, dass ihnen auf dem Weg zur Bibliothek niemand mehr begegnen würde - vor allem niemandem in nüchternem Zustand.

*

Der Tatort, immer noch abgesperrt. Eine letzte Glaskugel blinkte traurig im Kerzenlicht. Der Buchsarg. Der 'gehfährlicher Schmökar' mit Lesevorrichtung. Und ein Zwerg, der davor hockte und versuchte, die Dinge auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Ein paar kleine Papierbälle symbolisierten die bisherigen Todesopfer - eventuell Mopsvestia, aber auf jeden Fall Augustus und die Opius-Brüder. Es war schon spät, sicher schon nach Mitternacht ... aber er konnte sich einfach nicht dazu entschließen, das Problem ruhen zu lassen. Was übersah er?
Gelegentlich tauchte die Silhouette eines Orang-Utans neben ihm auf und gab Laute der Missbilligung von sich - er schien weniger um Sebulon selbst besorgt, als darum, dass dieser einfach einschlafen und die Kerze unbeaufsichtigt weiter brennen würde. Aber es war nicht nur diesen regelmäßigen Kontrollen zu verdanken, dass das nicht schon lange passiert war: Er hatte an diesem Abend noch das Zaubererbuch zu Ende gelesen und die aufgenommenen Informationen schienen in seinem Gehirn nun eine Art Revolution angezettelt zu haben. Sein Kopf fühlte sich schwer an und es prickelte, als würde etwas mit sehr vielen kleinen Beinchen auf seiner Hirnrinde spazieren gehen. Immer wieder musste er blinzeln, um die grausigen Schemen zu vertreiben, welche vor seinen Augen erschienen.
Irgendwann wurden Stimmen laut, murmelten kurz und brachen dann wieder ab. Er ignorierte sie. Er konnte sich nicht auf noch etwas konzentrieren.
Erst als er das gleichmäßige Pochen von Schuhen auf dem Boden vernahm, die ganz eindeutig in seine Richtung unterwegs waren, wandte Sebulon den Kopf und sah zu seiner Überraschung eine vertraute Gestalt mit langen Schritten auf sich zukommen.
Er blinzelte einmal.
Er blinzelte zweimal.
Das Bild blieb. Also standen die Chancen gut, dass es echt war.
Er sah noch einmal genauer hin. Hatte seine Kollegin Mina im erstem Moment noch furchtbar erleichtert ausgesehen, war dies mittlerweile von Ärger verdrängt worden.
"Guten Tag, Herr von Hohenstein, Veilchenblau mein Name und ich hätte da ein paar Fragen." Sebulon ergriff verdattert die ausgestreckte Hand und hatte kurz das Gefühl, in einen Schraubstock zu greifen.
"Kannst du mir erklären, warum du dich nicht gemeldet hast?", zischte Mina zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Ich habe mir Sorgen gemacht, ich hab dich schon in Einzelteilen und auf dem Gang verschmiert gesehen."
"Ich habe doch Nachrichten geschickt", flüsterte der Zwerg empört zurück, "Erst gestern. Und kannst du vielleicht meine Hand loslassen, die brauche ich noch."
Sofort ließ der Druck nach.
"Tut mir leid. Aber wenn du ..."
Der Bibliothekar kam heran und gab ein kurzes Geräusch von sich.
Sebulon runzelte die Stirn.
"Wer ist weg? Von welchem Betrunkenen sprichst du?"
"Egal." Mina ließ sich auf einen Stuhl fallen und warf dem Zwerg noch immer verärgerte Blicke zu. "Also, ich höre."
"Ich habe doch gerade gesagt, dass ich erst gestern eine Nachricht in den Kasten ..."
Kurzes Schweigen, dann kollektives beiderseitiges Seufzen.
"Der Dämon auf dem Kunstturm hat schon ständig gemeckert."
"Du hast die Volkslieder gar nicht bekommen, oder?"
"Die was?"
"Ach vergiss es. Ich werde Kannich sagen, dass er die Dinger dringend noch einmal überarbeiten lassen muss."
Sie betrachtete interessiert Sebulons kleinen Aufbau.
"Gibt es etwas neues?", wollte sie wissen.
Der Zwerg überlegte kurz. So wie es aussah, waren sie auf keinen Fall auf dem gleichen Stand.
"Irgendwie habe ich das Gefühl, wir ermitteln an der Sache vorbei", begann er dann, "Es passt einfach nicht."
Der blaue Affe nickte bestätigend, schlug Sebulon mit der Hand auf die Schulter und begann seine Taschen nach etwas Essbarem zu durchwühlen.
"Lass das, ich habe jetzt keine Zeit", meinte der Püschologe geistesabwesend.
"Was?", Mina sah ihn fragend an.
"Nein, nicht du, da ist dieser blaue Affe ..."
"Blauer Affe?" Die verdeckte Ermittlerin dehnte jede Silbe und schien nun eindeutig an seinem Verstand zu zweifeln - was ja, genau betrachtet, gar nicht so falsch war.
"Ja ... aber das ist eine längere Geschichte. Hast du etwas herausgefunden?" Der Zwerg hoffte inständig, das Thema nicht noch vertiefen zu müssen.
Die Vampirin tat ihm den Gefallen.
"Ritualmord scheidet aus. Zumindest kommt kein der Wache bekannter Ritus infrage, kopflose Opfer findet man höchstens bei irgendwelchen kleinen Stämmen im Wiewunderland. Oberfeldwebel Tut'Wee hat mir da einige recht anschaulichen Berichte zum lesen gegeben." Sie verzog das Gesicht. "Aber dann hab ich noch etwas zu dem Namen Mopsvestia und das ist nicht uninteressant."
Sie holte ein paar lose Blatt Papier hervor und reichte sie dem Zwerg - es handelte sich um mehrere handgeschriebene Passagen.

Und so begabige es sich, dasse der ehrwürdig Erzkanzler den Mopsvestia als Ärgernis der Leeranstalt verweisigt hat. Diesiger schwor allerdings niemals zu ruhen, bissig er sein heheres Ziel erreicht und neuer Erzkanzler geworden sei. Zu unserem Glücke ist dies bis zum heutigen Tage nicht geschehen. Er stehigt vielmehr als schlechtes Exampel für all jene ährgeizigen Scholare, die nach der Macht zu greifen gedenken, ihre unwührdigen Finger bei sich zu behalten.

Sebulons Augen wurden groß. Zum einen, weil das hier wirklich mal etwas vollkommen neues war; zum anderen weil er noch nicht gewusst hatte, dass Mina eine derartige Rechtschreibschwäche aufwies.
"Aber", meinte er dann vorsichtig, "wenn er nur verwiesen wurde ..."
Die Vampirin schüttelte den Kopf.
"Da geht es nicht um unser Mopsvestia; wohl eher um seinen Ur-ur-ur-urgroßvater oder etwas in der Richtung."
Der Zwerg sah verwirrt auf.
"Ich habe das aus einem Buch[7] und das hat irgendein Chronist der Universität wiederum aus noch älteren Aufzeichnungen abgeschrieben. Die erste Passage ist also im Original gute 500 Jahre alt."
"Ah, ja ... das erklärt vieles, ich habe mich schon gewundert ..."
Sie zog misstrauisch eine Augenbraue nach oben. "Glaubst du wirklich, ich würde mich so geschwollen ausdrücken? So alt bin ich nun auch noch nicht."
"Nein, natürlich nicht", beeilte sich der Zwerg ihr zu versichern und die Röte stieg ihm ins Gesicht. Hastig versteckte er sich hinter den Aufzeichnungen und las weiter:

... ging diesiger Tag in die Geschichte der Universität ein ... mehr als des bloßen Zufalles, dass es sich um einen weiteren derer der Mopsvestia handelte ...
... daher, dasse er mit dem gelobigten Zölibate brach und sich dessigen auch noch bewusst war ... der Universität verwiesen ...
... wurde entdeckt, dass er den gar ungeheuerlichen Plan hattige, das Oktav zu entwendigen ...
... der vollkommigen Mittelmäßigkeit bezichtigt, wie schon seine Ahnherren von Alters her ... niemals ein hohes Amt inne der Zauberei erhaltigen sollte ...
... aufgrundig der gewaltigen Summen, die die Wiederherstelligung des Ostflügels verschlang, sah sich der Erzkanzler gezwungigen, dass Abendessen für die folgenden zwei Monate zu halbieren. Der Übeltäter Mopsvestia verschwand allerdings, bevor diese Nachricht die Studenten- als auch Professorenschaft erreichte ...

"Davon hat es wohl einen ganzen Clan gegeben?" Die Falten auf der Stirn des Zwerges vertieften sich, während er den Rest nur noch überflog.
"Ja, und jeder einzelne wollte Erzkanzler werden. Allerdings scheint das nicht funktioniert zu haben, obwohl die Methoden mit der Zeit immer, naja sagen wir, origineller wurden."
"Man war wohl jedes Mal froh, wenn sie weg waren", mutmaßte Sebulon. "Und wenn unser aktueller Mopsvestia auch ... kein Wunder, dass sich die Universitätsleitung nicht groß um die Sache gekümmert hat."
Ein missbilligendes Prusten ließ ihn zur Seite schauen. Der Bibliothekar, der sich nur ein Stück entfernt niedergelassen hatte und nun mit den Papierkugeln spielte, bleckte die Zähne.
"Kann ich verstehen. Wie der letzte von der Bande mit den Büchern hier umgegangen ist!"
Hinter ihm erklang ein beinahe hysterisches Keckern.
Seufzend wandte sich Sebulon zur anderen Seite und sah dem bunten Zwilling des Affen in die Augen.
"Hast du dazu vielleicht auch noch etwas zu sagen?" Der blaue Orang-Utan grinste ihn nur an.
"Äh, Sebulon?"
"Hmm, was?"
Mina hatte die Arme verschränkt und sah ihn fragend an.
"Mit wem redest du da?", wollte sie dann wissen.
"Na mit dem blauen Affen von dem habe ich dir doch vorhin schon ..."
"Sebulon?"
"Ja?"
"Da ist kein blauer Affe."
"Aber wenn ich es dir doch sage, schau mal, jetzt winkt er sogar."
Kaum war es ausgesprochen, klang es selbst in den Ohren des Zwerges irgendwie kindisch, aber es war doch so. Oder?
Die Vampirin sah ihn lange an.
"Da. Ist. Kein. Blauer. Affe."
"Hmm, wenn du meinst ...", der Zwerg kratzte sich am Kopf, "Aber Monster mit Tentakeln gibt es doch, oder?"
"Wie kommst du jetzt darauf?"
"Weil nicht ausgeschlossen ist, dass wir eins davon hier im Haus haben."


~~~ Sebulon ~~~

Die Brust des jungen Mopsvestia hob und senkte sich schnell. Er atmete nicht. Seine Augen waren geschlossen, dennoch schossen sie hin und her, als wenn sie etwas suchen würden; ja fast, als träumte er.
Doch Franziskus Bombastus von Mopsvestia gab es nicht mehr.

*

"Bei aller kollegialer Freundschaft", knurrte Mina, "du kannst absolut vergessen, dass ich dich hier auch nur noch eine Minute alleine lasse! Wir gehören nicht in die Universität und wenn ich mich nicht irre, sieht das der Erzkanzler genauso!"
Sebulon stützte sein Kinn mit der linken Faust. "Hast du einen guten Vorschlag, von dem ich noch nicht weiß?"
"Ja. Ja! Ja, den habe ich! Sebulon, wir gehen." Sie griff seinen Arm. "Sollen doch die Okkultismusexperten ..."
Mehr hörte der Zwerg nicht. Er sank in eine wohlige Ohnmacht.

*

'Wieso mussten diese elenden Zwerge so elend schwer sein?', fluchte die Ermittlerin in Gedanken, während sie den verkleideten Püschologen den Flur entlangschleifte. 'Wieso nur? Wieso ist nie ein Troll da, wenn man mal einen braucht?'
"Sprich mal nicht so über mich, wenn ich hier bin."
"Sie kann dich nicht hören, Bartgesicht", sagte der blaue Affe. Er sah herunter auf die sehr kleine Ausgabe des Zwergs. Eine gewisse Ähnlichkeit, im Ausdruck des Blicks beispielsweise, ließ sich noch immer feststellen, doch dieses kleine Etwas wirkte eher wie ein sauerstoffunterversorgter Gnom als wie das, was Sebulon normalerweise war.
"Verdammt, was ist passiert?"
"Ihr habt die Körper getauscht."
"Ihr?"
"Das habe ich gesagt", grinste der blaue Affe und kratzte lässig seinen Rücken. "Ich finde dich echt netter als dein Mini-Du. Also charakterlich."
"Mein Mini ...-"
"Da, sieh selbst." Einer der überlangen Finger des Orang Utan streckte sich und deutete auf den Körper des Zwergs.
Stöhnend erwachte der Sohn von Samax.
"Na, wird auch Zeit", flüsterte Mina scharf.
"Du weißt ja gar nich', wie recht du hast", grinste der Zwerg.
Die Augen des kleinen Sebulon weiteten sich. "Wenn ich hier bin, was ist dann ..."
"Du, Bartgesicht. Beides bist du. Du erinnerst dich noch an deine innere Stimme? Schau an dir herab, dann hast du eine Vorstellung davon, wie sie aussieht."
Der Kleine Freie Mann sah an sich herab. Eine zahnstochergroße Axt und ein Schwert waren über Tragegurte bequem auf seinem Rücken befestigt. Unter den blauen Füßen trug er nichts. Sein ganzer Körper fühlte sich muskulös an. Und seine Nase schmerzte.
"Dich hat ein oktariner Blitz getroffen. Hast du vermutlich nicht einmal mitbekommen. Und dann habt ihr die Plätze getauscht.", grinste der blaue Bibliothekar und offenbarte seine beeindruckende Zahnlandschaft, "Tjaja, so kann's gehen."

*
Dinge passieren.
Manchmal sterben Leute, manchmal werden sie geboren. So ist der Lauf der Dinge. Manchem werden Gaben genommen und manchem werden sie gegeben.
Aber die Götter geben niemandem mehr, als er verkraften kann. Zumindest ist das der allgemeine Konsens, wenn gerade niemand dem Tode nahe ist.
Es geschah vor knapp zwölf Jahren. Sebulon kam aus dem Stollen, um Pause zu machen und Wolken zu betrachten.
"Das is' er?", fragte Große-Ohren-August.
Bruno der Poet nickte und klopfte dem dritten Kleinen Freien Mann auf die Schulter. "Auf den passt du auf. Aber auf keinen Fall lässt du dich erwischen, is' das klar?"
Der Angesprochene nickte langsam und prüfte die beiden Tragegurte. Dann gab er seinen Clansbrüdern jeweils eine nach Maßstäben zärtliche Kopfnuss und lief geduckt auf den Zwerg zu.
"Bist du sicher, dass's richtig is', was wir tun?", fragte August.
Bruno schwieg. Die Kelda hatte es entschieden, welche eigene Meinung konnte er da haben?
Sie sahen zu, wie der Kleine Freie Mann sprintete, sprang, die Augen zukniff - und im Kopf von Sebulon verschwand.
"Ich hoff', 's is' richtig", brummte August.
*

"Ich vermute, dass du einfach besser darin bist, irgendwo wieder rauszukommen, als er", spekulierte der Affe.
Das ungleiche blaue Paar lief in einigem Abstand hinter den beiden Wächtern her. Sebulon hatte Mühe seine Füße zu koordinieren, die sich weitaus schneller bewegten, als er es gewohnt war.
"Das erklärt zumindest die Stimme in meinem Kopf, die ich nicht zum Schweigen gekriegt habe. Auch wenn mir das hier nicht gefällt. Kein bisschen."
"Komm schon, zeig ein bisschen Humor", sagte der Bibliothekar und grinste. "Gib zu, Bartgesicht, im Grunde ..."
Sie hielten an. Mina und der Zwerg hatten ebenfalls gestoppt. Etwas stimmte nicht, das konnte er fühlen. Seine winzigen Nackenhaare richteten sich auf. "Warte hier, Bibliothekar", flüsterte er und zog die Miniaturausgabe einer Axt. Behende verschmolz er mit den Schatten der Mauersteine.

*

"Das is' es", flüsterte der Zwerg. "Schau dir diesen Schatten an. Das is' nich' ein Mann, das is' unser Monster."
Sie standen in einem der unscheinbaren Gänge der Universität. Mina hatte gehofft, dass ihnen niemand begegnen würde. Doch etwa hundert Meter vor ihnen stand nun ein durchschnittlich dicker Zauberer, der die Wand anstarrte.
'Vielleicht hat er uns nicht gesehen', dachte Mina und duckte sich zögerlich.
Dann schnupperte er. Als wäre er auf einer Drehscheibe, drehte sich Franziskus Bombastus von der Wand weg und auf die Wächter zu. Er schnupperte erneut. Seine Augen öffneten sich.
Sie waren weiß.
"Übersehen is' eine Sache, die man verschieden versteh'n kann", knurrte der Zwerg und griff an den Werkzeuggürtel unter seine Zaubererverkleidung.


~~~ Mina ~~~

Es war irritiert.
Die ganze Zeit war es ungestört durch die Gänge gekrochen, die meiste Zeit satt und zufrieden; immer den kleinen leuchtenden Schemen folgend, die sich selbst durch dicke Mauern abzeichneten. Seine Kraft wuchs. Der Körper, mit dem es zu Anfang noch Probleme gehabt hatte, gehorchte ihm mittlerweile ohne Widerstand. Macht, Kraft ... so sollte es sein. Die anderen, sie waren nichts. Nichts als schummrig leuchtende Schemen. Als Kraft. Als Wachstum. Nur da um ihm zu noch mehr Größe zu verhelfen. Und jetzt das. Es nahm die beiden Gestalten war, aber da war nicht der geringste thaumaturgische Funken. Kein heller Glanz, der noch mehr Macht versprach. Aber sie lebten ... irgendwie. Ein klopfendes Herz. Das andere war vollkommen stumm. Und dennoch waren da diese Gerüche ... die Luft vibrierte leicht von gesprochenen Worten ... von Bewegungen... Doch wo war die Thaumaturgie? Was hatten diese seltsamen
Dinger hier zu suchen? Es konnte sie nicht einordnen. Bedrohung oder Nahrung? Wichtig oder unbedeutend? Lebendig oder doch nicht?
Es war verwirrt. Und das machte es wütend. Es öffnete seinen Mund und schrie.


*

Und es war dieser markerschütternde, alles und jeden durchdringende Schrei, der durch die Gänge hallte, Mauern erbeben ließ und an jedes Ohr in der Universität klang.
Den Erzkanzler in seiner Nachtruhe störte.
Alexander Kleinmuth die Decke bis über's Kinn ziehen und noch mehr zittern ließ als er das ohnehin seit einigen Tagen tat.
Und auch alle übrigen Zauberer erreichte, doch diese waren entweder zu feige, zu müde oder aber schon zu alkoholisiert, um auch nur daran zu denken, vielleicht nachschauen zu gehen was da vor sich ging. Wenden wir uns also wieder denjenigen zu, die den Schrei bei klarem Bewusstsein aufnahmen.
Was den Erzkanzler angeht, so drehte er sich lediglich auf die andere Seite und kontrollierte die Watte in seinen Ohren - was bei ihm aber weniger mit Feigheit als mit schlichter Ignoranz zu tun hatte.
Der Student Kleinmuth hingegen ... zitterte immer noch. Allerdings war er inzwischen auf die Beine gekommen, zur Zimmertür geschlichen und spähte nun mit heftig klopfendem Herzen hinaus in die Dunkelheit ...

*

Es dauerte einen Moment, bis das Echo zwischen den Mauern verklungen war und erst dann wagten es die beiden Wächter die Hände wieder von den Ohren zu nehmen. Sofort umgab sie eine wohltuende Stille, die aber auch einfach daher rühren konnte, dass man nun taub war. Die Antwort auf diese Frage und gleichzeitig Entwarnung folgte allerdings umgehend, als der Zwerg sich räusperte und sich grinsend zu seiner Kollegin umwandte.
"Na, das war ja mal was, nich wahr?" Sein Gesicht strahlte vor Begeisterung.
Der Zauberer mit den weißen Augen war verschwunden: In einer dicken tintenschwarzen Rauchwolke, deren Überreste immer noch als Schlieren an der gegenüberliegenden Wand klebten.
"Der blanke Horror, wa'?"
"Na ja, im Grunde ein dicker Mann, der schreit."
Mina legte den Kopf schief und beobachtete, wie sich das schwarze Zeug langsam seinen Weg die Wand hinab bahnte, um sich dort in zwei kleinen Pfützen zu sammeln, wo es noch etwas weiter blubberte.
"Und puff, und schon isser weg. Unheimlich, nich? Fast wie so'n Tintendings- na, sach schon -fisch. Naja, der Schatten hat dazu gepasst. So viele Tentakel!"
"Der Kerl hatte die Augen von meinem Großonkel Waldemar. Das fand ich gruselig."
"Und jetzt hinterher!" Der Zwerg schwang triumphierend den Schraubenschlüssel, den er von seinem Gürtel genommen hatte und wies damit in den vor ihnen liegenden Gang.
Die Vampirin vertrieb energisch die sich aufdrängenden, unangenehmen Erinnerungen an Familienfeste in Überwald, mit der gesamten buckligen Verwandtschaft[7a], und trat vor ihren Kollegen.
"Sebulon, findest du nicht, dass das eine Nummer zu groß für uns ist? Wir haben keine magischen Waffen und sind - von der Masse her - deutlich in der Unterzahl."
"Da haste Recht." Der Zwerg begutachtete stirnrunzelnd sein Werkzeug und verstaute es anschließend wieder an seinem Gürtel. "Damit kann ich keine Monster erschlag'n. Viel zu wenig Masse. Und Masse ist ja Macht.[9]" Er sah sich in ihrer unmittelbaren Umgebung um, bis sein Blick von einem Objekt an der Wand nahezu magnetisch angezogen wurde. Dem folgten auch seine Füße.
"Ich meinte eher: Sollten wir uns damit nicht erstmal an jemanden wenden, der Ahnung von solchen Monstrositäten hat?"
"Kannste mir da ma hochhelfen?"
"Was?"
Der Zwerg wies ungeduldig auf zwei verschränkte Äxte, die offenbar zu Dekorationszwecken an der Wand über ihm hingen und im Fackelschein blinkten.
"Ich hätt' gern so eine da."
"Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?"
"Ach, das wird schon. Räuberleiter?"
"Sebulon könntest du vielleicht ... also ... den Stiefel aus meinem Gesicht nehmen ... und ... au, mal ein bisschen aufpassen, wo du hintrittst? Und dich dann vielleicht auch wieder normal benehmen? Was ist eigentlich los?"
"'s, ging mir nie nich' besser!"
Der Zwerg sprang wieder zu Boden und betrachtete verwundert die zwei immer noch überkreuzten Äxte in seiner Hand. Dann zuckte er mit den Schultern, stellte seinen Fuss auf die eine und zerrte an der anderen.
Es war eigentlich zum Haare raufen: Der Zwerg schien den Ernst der Lage nicht nur vollkommen zu verkennen, das ganze schien ihm auch noch Spaß zu machen. War er vorhin vielleicht irgendwo mit dem Kopf gegengeschlagen, als sie ihn durch die Gänge gehievt hatte?
Es krachte und der Zwerg stolperte nach hinten. In seiner Hand hielt er immer noch zwei verbundene Axtstiele, nur dass dem einen nun das Blatt fehlte, welches verbogen am Boden lag.
"Schlechte Qualität[10]", murmelte er, zuckte dann aber mit den Schultern und sah Mina auffordernd an. "Könn' wir?"
Die Vampirin verschränkte die Arme.
"Nein! Denn weder ich noch du können zaubern, und ich schätze, du wirst dich nicht vor dieses Vieh hinstellen und 'Tentakel hoch, Sie sind verhaftet!', brüllen."
"Warum nich?"
"Weil ich mir nicht überlegt habe, wie ich dich hier heraushole, damit du dich dann doch noch auf möglichst blutige Weise zerfetzen lässt!"
Der Zwerg setzte zu einer Antwort an, allerdings drang in diesem Moment erneut ein Geräusch an ihre Ohren. Ein sehr lautes Geräusch - und es kam näher.
"Aaaaahhhhh!!!"

*

Mustrum Ridcully hatte genug. So eine Unverschämtheit! Schon zum zweiten Mal in dieser Nacht einen derartigen Lärm zu veranstalten und ihn seiner wohlverdienten Nachtruhe zu berauben! Als ob die Gans vom Abend sich allein verdauen würde! Diesen Flegel würde er kopfüber vom Kunstturm hängen lassen!
Der Erzkanzler nahm einen tiefen Schluck aus einem unter dem Kopfkissen versteckten Flachmann, tastete nach Schuhen und Umhang und drückte sich den Hut tiefer in die Stirn. Mit langen Schritten rauschte er den Gang hinab, ab und zu mit der Faust gegen eine Tür donnernd.
"Quästor! Dekan! Stibbons!"

*

"Aaaaahhhhh!!!"
Der Schrei bog um die Ecke und wurde zu einem Zauberer, der vornübergebeugt ein dickes Bündel umklammert hielt und versuchte, sich gleichzeitig gegen einen wildgewordenen Berg orangefarbenen Fells zur Wehr zu setzen.
"Aaargh, Hilfe! N-nehmt ... nehmt den Affen weg, bitte! Neihihihin!"
"Kleinmuth? He, wassn los?" Der Lance-Korporal drehte sich um seine eigene Achse, da der Student sich hinter ihm zu verstecken versuchte.
"Dieb, Dieb, elender!", kreischte der Bibliothekar und sprang aufgeregt auf und ab. "Nehmt ihm das Buch ab, diesem feigen Verbrecher, der hat bestimmt auch das andere auf dem Gewissen!"
Der Zwerg nahm dem jungen Zauberer das Bündel aus den zitternden Fingern und schlug das Tuch ein wenig zurück. Eine Ecke und ein Stück Eisenkette schauten hervor.
"Nanu, is das nich das ..."
"Das brauch ich noch!!!", kreischte nun Alexander und riss ihm das Buch wieder aus der Hand. "Es wird uns alle umbringen! Erst Bob, dann Liebrecht und eben habe ich Barnabas in seinem Zimmer gefunden!" In seinen Augen stand das Grauen. "Jetzt bleib nur noch ich! Nein, ich will meinen Kopf behalten! Meine, meine, meine!"
Er weinte fast und warf panische Blicke nach links und rechts. Dann ergriff er den Zwerg beim Arm und zog ihn zu sich heran, bis ihre Nasen beinahe zusammenstießen.
"Es ist ein manifestiertes Monster der Kategorie D. Aus einem Buch. Wir waren alle dabei. Bob war sich sicher, dass es funktionieren würde. Woher konnten wir denn wissen ... es hat sich in Mopsvestia gesaugt. Da hat Liebrecht Panik gekriegt und wollte das Monster töten, indem er das Buch zerschneidet. Aber das hat nicht funktioniert. Hat es nicht, hähähä! Wir haben ein Ungeheuer erschaffen!!"
"Der faselt doch nur. Nimm ihn fest, Bartgesicht, verflucht, du bist als Wächter hier!"
"Es frisst", fuhr Alexander leise fort, "und wenn es frisst, wird es mächtiger. Ist vielleicht schon Kategorie C. Oder B." Er schauderte. "Es muss in ein Buch zurück, das mächtiger ist, als es selbst." Der Student klopfte auf das eingeschlagene Buch in seinem Arm, aus dem ein dumpfes Grollen erklang. "Mächtig, mächtig, hähähä." Er war offenbar dabei, vor lauter Angst den Verstand zu verlieren.
"Und warum sagste mir das erst jetz?", wollte der Zwerg wissen. Was er sich damit alles für Arbeit erspart hätte! Wie viel mehr Zeit wäre dann nicht zum trinken geblieben, hier wurden doch bestimmt irgendwo kostenfreie Alkoholika an die Studentenschaft ausgeschenkt. "Oder warum haste's nich dem Boss gesacht?", fuhr er fort.
"Dem Erzkanzler?" Alexander quiekte jetzt fast. "Der hätte versucht es zu erschießen oder so und dann ... dann wäre Bob ja richtig tot gewesen, also so richtig, richtig so so." Sein Blick irrte durch den Gang. "So wie die da", meinte er und zeigte auf die Vampirin, die sich zum Bibliothekar gesellt hatte und sich das Ganze in einer Mischung aus Irritation und Entsetzen ansah.
Alexander Kleinmuth bekam große Augen.
"Die da?", echote er noch einmal, aber das schien für sein Gehirn im momentanen Zustand zu viel zu sein. Er wandte sich noch einmal an Sebulon. "Lass nicht zu, dass es zu Kategorie A wird. Dann sind wir alle erledigt", flüsterte er, verdrehte dann die Augen und gab sich einer gnädigen Ohnmacht hin.

*

Ein Funken glomm am Rande seines Bewusstseins auf. Ein Funken, gar nicht weit weg. Eigentlich genau dort, wo es hergekommen war. Endlich! Und noch viel weiter entfernt näherte sich ein weiterer leuchtender Schemen, viel heller und kraftvoller als alle zuvor. Aber da waren noch immer diese stumpfen Punkte, deutlich vor dem überwältigenden thaumaturgischen Strahlen. Es knurrte. So viel Licht, so viel Kraft... Mit einem entschlossenen Fauchen drehte es herum und kroch den Weg zurück, den es eben schon gekommen war. Die Gier hatte es gepackt. Diese anderen interessierten es nicht mehr, es waren Hindernisse, die man aus dem Weg räumen konnte. So viel Macht! Geifer rann aus seinem Mund, als es anfing sich zu verändern. Es waren natürlich mehr also sonst, aber sie würden es nicht aufhalten können. Nicht mehr. Sie würden ihm alle hoffnungslos unterlegen sein!
Der Körper wuchs, Tentakel brachen durch die Haut, Hände wurden zu sichelförmigen Klauen, und schwarzer Rauch strömte aus pneumatisch pumpenden Kiemenöffnungen ...
Es bemerkte nicht, wie eine kleine blaue Gestalt sich an den Resten von Mopsvestias Zaubererumhang festklammerte und mitschleifen ließ.



~~~ Sebulon ~~~

Die großen (und manchmal auch die kleinen) Denker der Scheibenwelt sind sich einig: Wissen ist Macht.
Mina durchzuckte dieser Geistesblitz.
"Köpfe!", rief sie. "Sebulon, die Köpfe!" Mit der flachen Hand schlug sie sich gegen die Stirn.
Der Zwerg sah von dem ohnmächtigen Zauberer zu seiner Kollegin.
"Jetz' geht's auch mit ihr durch", seufzte er. "Ach, hätt ich nur auf meinen Vater gehört und die kleine Hufnagel geheiratet ..."
"Hör mir doch bitte EIN MAL zu!", flehte die verdeckte Ermittlerin. "Ich weiß jetzt, warum das Monster Köpfe frisst und in einem Buch eingesperrt war: Es kann nicht lesen!"
Ungläubig sah der Zwerg zu ihr hinauf. "Komische Annahme."
"Gar nicht, gar nicht. Hör zu!"
"Tu' ich doch."
"Das Monster tötet, um mächtiger zu werden", flüsterte Mina aufgeregt und lief mit hinter dem Rücken verschränkten Händen um den ohnmächtigen Zauberer herum. "Und es frisst Köpfe. In denen wir Wissen haben. Durch das Aufnehmen der Köpfe verleibt es sich Wissen ein."[11]
Die Lippen des Kleinen bewegten sich. "Also meinste, dass es schlauer wird, wenn es tötet? Dann könn' wa also ohne Überraschungs-dings ... -plan nich' gewinnen nich', wa?"
"Ja! Das heißt ... nein, eigentlich nicht. Ich glaube nicht, dass es wirklich intelligenter wird. Du wirst ja auch nicht grüner, wenn du Salat isst, nur kräftiger."
Scharf sog der Zwerg Luft ein. "Ich bin nicht fett! Vielleicht etwas unvorteilhaft gekleidet ..."
Ohne Verständnis sah Mina zu ihrem voluminös verpackten Kollegen hinab. Lag es an seinem fortschreitenden Wahnsinn, dass er sich derzeit so aufführte - oder an ihrem?
"Ich glaub', jetz' hab ich's, denk ich", grinste er mit einem Mal und hob die neu erworbene Axt.
"Ach."
"Wir müssen dem Mistviech einfach den Kopf köpfen, dann isses wieder dumm und wir können's einsperr'n! Ha, klasse Plan, wa'?"
Mina blinzelte ungläubig, was sich im Nachhinein als Fehler herausstellte. Als sie die Augen nämlich wieder öffnete, war der Zwerg nicht mehr vor ihr. Er hatte sich in Bewegung gesetzt und stürmte nun, noch immer beschleunigend, den Gang hinab.
Dorthin, wo sich das Monster jetzt aufhalten musste!
"Wenn wir das hier überleben, töte ich ihn", fluchte Mina und folgte dem kriegswütigen Zwerg, so schnell sie konnte.

*

"Wer hat ihm das angetan?", fragte der Erzkanzler den Bibliothekar.
"Ugh. Iiek. Eck, eck. Uuugh!", machte der Orang-Utan und kratzte sich im Fell.
"Na, das ist typisch für diesen feigen ..."
"Iiek. Ugh-Uuugh. Iiek."
"Was, es läuft frei herum, bist du sicher?"
Der Bibliothekar nickte betrübt und gab Ridcully das Buch, das er in der Hand hatte. Es schnurrte, als er es zu kraulen begann.
"Dann alarmiere alle ..."
"Ugh", machte der Bibliothekar und hob einen beeindruckend langen Zeigefinger. "Ugh-ugh, Ugga-Iiek! Iek, Iek!"
"Ich glaube, ich habe mich gerade verhört. Ich dachte, du hättest gesagt, dass eine Frau in der Universität ..."
Der Affe nickte. Dem Erzkanzler klappte der Unterkiefer hinunter.

*

Breitbeinig blieb der Zwerg an der Ecke stehen und hielt die Axt mit beiden Händen vor sich.
"Na endlich, Mistbiest!", keifte er dem schleimigen Ungetüm entgegen.
"Idiot!", rief Mina und sprang. Sie prallte unsanft gegen sein Kettenhemd und riss ihn zu Boden, bevor ein Tentakel genau dort entlangpeitschte, wo sein Kopf eben noch gewesen war.
"Kein Grund, persönlich zu werden", grinste er, eine Faustbreit von ihrem Gesicht entfernt, rollte sich von ihr weg und rappelte sich mühsam auf.
Der Gang vor ihm schien Licht zu schlucken. Düster wirkte er und doch leuchteten die Augen der Bestie wie zwei Salamander.
"Du wirst sowas von tot sein"[12], grinste er und wich behende einem Tentakel aus, das an ihm vorbeischoss und hinter ihm die Wand bersten ließ. Dann begann er wieder zu laufen, diesmal jedoch auf eine Wand zu.

*

Sebulon hörte seine Stimme. Das durfte alles nicht wahr sein! Jetzt rannte sein Körper in seinen sicheren Tod! Das musste er verhindern, koste es, was es wolle.
Vor seinen Augen begann sich die Welt zu drehen und das Farbspektrum, das er wahrnahm, wich ins Rötliche, als er den Mantel des Wirtskörpers losließ und sich auf den Boden fallen ließ. Mit aller verfügbarer Kraft stieß er sich sofort wieder ab, zog die Äxte im Flug und rief mit leiser, fiepsender Stimme: "B'ka'ar't'k R'schk'la!"

*

Der Zwerg sprang auf eine Kommode - und lief noch drei Schritte an der Wand weiter.
"Für Kelda und Clan!", rief er und schwang die Axtatrappe mit Macht.
Er zielte nicht. Im Gegensatz zum Kleinen Freien Mann auf der anderen Seite, der eine kritische Stelle zwischen den Beinen des Wirtskörpers anpeilte.

*

Schnaufend und keuchend hielt sich der Erzkanzler an einer Ritterrüstung fest, die glücklicherweise im Gang stand.
"Vielleicht hätte ich doch etwas weniger Nachtisch vor dem Zu-Bett-gehen zu mir nehmen sollen", seufzte er reumütig und schwelgte kurz in der Erinnerung an die unwiderstehliche Käse-Sahne-Creme.
Er wurde jäh unterbrochen durch einen erneuten gellenden Schrei. Die Rüstung neben ihm vibrierte und bekam schmale Risse in den Schutzplatten.
Der Schrei währte kürzer als die Vorangegangenen, fühlte sich jedoch deutlich länger an.
Als der Erzkanzler sich traute, die Hände wieder von den Ohren zu nehmen, zögerte er nicht länger.
Er krempelte die Ärmel hoch.

*

Erneut prallten Mina und Sebulons Körper aufeinander. Diesmal jedoch verfügte der Zwerg über die größere Geschwindigkeit.
"Jetz' fühlste dich stark, oda was?", rief er streitlustig und sprang wieder auf die Beine.
"Uff", machte Mina.
"Danke, dasste mir den Fall abgefedert hast", flüsterte er seiner Kollegin zu, die bereits in Sicherheit zu robben begann.
Das Monster ließ ein leises Grollen vernehmen, drehte sich jedoch um.
"Hat weh getan, nich'?", spottete er über das Biest und fuchtelte mit den Fäusten. "Na, warte, wenn ich ..."
Mit einem Mal wurde ihm klar, dass die Axt nicht mehr in seiner Hand war. Sie steckte noch immer in dem Tentakel, das ihn im mordlüsternen Flug abgefangen und zurückgeschleudert hatte. Grüne Flüssigkeit tropfte von ihr auf den Boden.
Entschieden und mit grimmigem Blick zog der Zwerg Sebulons besten Schraubenzieher.

*

Eine oktarin schimmernde Flüssigkeit tropfte aus dem Leib von Mopsvestia.
Mindestens zwei Augen starrten Sebulon an, der noch immer zwischen den Beinen des Wirtskörpers hing und versuchte, seine Waffen aus dem weichen Fleisch zu bekommen.
"Oh, äh, war das, äh, etwa deins?", fragte er, ängstlich aufwärts blickend. Warum musste gerade jetzt das Adrenalin nachlassen, das ihn bisher vor der Erkenntnis bewahrt hatte, in exakt welchem (äußerst ungünstigen) Zahlenverhältnis seine Größe momentan zu der seines erwählten Opfers stand?
Innerlich fluchend begann Sebulon in den Knien zu schlottern.
"Wir ... wir können drüber reden?", fiepte er, bevor ihn ein Tentakel ergriff, samt Miniaturäxten vom Leib abpflückte und etwa zehn Meter weit warf.
Langsam und unaufhaltsam kroch das Wesen auf den blauen Winzling zu.
"Hi-hilfe!", rief er mit leiser Stimme. In seinem Rücken spürte er die kalte Wand.
"Wuuuurrrrglllääääärgs!", machte die Tentakelbestie und warf ihre reichlich vorhandenen Gliedmaßen in die Höhe.
Ein schimmernder Schraubenzieher durchtrennte eines davon und blieb in der Decke stecken. Eine gelbliche Flüssigkeit quoll aus dem abgetrennten Teil des Ungetüms.
"Wie, bei allen Göttern, ist das möglich ...", fluchte Mina, die aus einer ihr sicherer erscheinenden Entfernung zusah.
"Ha!", rief der Zwerg und reckte die Faust seiner Nemesis entgegen. "Hätt'ste nich' gedacht, isnichso?"
Ungerührt hob das Ding eines seiner Tentakel auf der anderen Seite. Es holte aus. Sebulon begann zu wimmern. Es senkte sich in beeindruckend hoher Geschwindigkeit - ein Lichtblitz erhellte den Gang und das fragliche Glied des Ungetüms fiel zuckend zu Boden.
"Boah, echte Zauberei!", rief der Zwerg.
Eine klare Stimme, die Autorität ausstrahlte, sagte: "Das hier ist noch immer meine Universität."
Und dann zündete sich der Erzkanzler eine Pfeife an.

*

Das war nicht fair! Erst konnte es nicht speisen, wie es wollte, und jetzt tat man ihm weh. Und dabei sahen diese leuchtenden Punkte so lecker aus!
Vielleicht sollte es den Träger wechseln. Ja, das war eine gute Idee. Ein gesunder Körper würde nicht bluten und allein schon deshalb lohnte es sich. Dann würde es wieder klarer denken können.
Nur welches von den vieren könnte es sein ...


*

"Warum greift das Mistding nich' an, verdammich?", krakeelte der Zwerg und fuchtelte mit dem Kneifinsbein, den Braggasch Sebulon einst geschenkt hatte.
"Ich denke, das ist wie mit dem Esel und den beiden Heuhaufen, der in der Mitte steht und verhungert", vermutete Ridcully.
"Wen nenns' du einen Esel?", keifte der Zwerg und schwang die Fäuste - was drollig ausgesehen hätte, wenn er lediglich so groß wie eine Hand gewesen wäre. So mutete es etwas ungelenk an.
"Du bist nicht gemeint, Sebulon", sagte Mina, die noch immer etwas abseits saß und verschnaufte.
Als Ridcully sie bemerkte, weiteten sich seine Augen unmerklich. "Du schon wieder", grummelte er und spuckte aus.[13]
"Es war nicht meine Idee", seufzte die Ermittlerin. "Wenn einer von euch einen Plan hat, dann raus damit."
"Wir könnten warten, bis es einen von uns frisst", meinte der Erzkanzler sarkastisch.
Leider verstand der Zwerg die verborgene 'ich meine das anders, als ich es sage'-Botschaft nicht und ging auf das Ungetüm los.

*

Anderthalb Gebäudetrakte weiter spuckte Hex bei einem Testlauf mit drei verschiedenen Ameisenstämmen zur großen Verwunderung von Ponder Stibbons folgende Nachricht aus:
+++ Anormale Anhebung der Quantenmagischen Subspannung +++ Zustandsdichte wächst +++ Käse Käse Käse +++ EPR-Gleichung inkohärent +++ Neuberechnung +++ bitte warten +++ bitte warten +++ Bitte Zwiebel einführen +++ Speicher Überlauf +++
Mit einer gezielten Kopfnuss weckte Ponder seinen jüngsten Kollegen.
"Was um alles in der Welt hast du da angestellt?! Jetzt müssen wir schon wieder neue Ameisen sammeln gehen!"

*

-Zing-, machte der Kneifinsbein, als er blutdurstig ein Tentakel schnitt und dabei über die Wand schabte.
"Willst du denn gar nichts tun?", fragte Mina den Erzkanzler, der ein Buch aufgeschlagen und zu schmökern begonnen hatte.
"Nein, warum?"
"Er könnte sterben!"
-Zing-
"Ach, weißt du, Helden werden nicht über Nacht geboren. Wenn er denkt, dass er sich unter Beweis stellen muss, dann lassen wir den kleinen Racker sich doch ein wenig abarbeiten."
Wortlos vor Empörung sah die Ermittleren den alten Zauberer an. "Er hat keine adäquate Waffe, um gegen das Ungetüm zu bestehen ..."
"Oh Konträ, meine Gnädigste. Wie du sehen kannst, hinterlässt das Werkzeug in seiner Hand sichtbare - und man könnte sagen: blutende Spuren, wenn es trifft. Das sollte ohne Magie nicht der Fall sein."
Mina brauchte die vielen Öffnungen im Monster nicht noch einmal ansehen. Sie nickte. "Aber wie ..."
"Ein stinknormales Werkzeug, das ein magisches Wesen verletzt, das ist völlig unmöglich", konstatierte Ridcully, ohne vom Buch aufzusehen. Er leckte sich den Finger und blätterte eine Seite um. "Absolut. Es sei denn, mein verehrter Kollege, der Paläomagier Habebald Kreißler, hätte in seinem völlig abstrusen Aufsatz über magische Strahlungsbelastung recht gehabt, dass ..."
-Zkkcheeeeng-
"Kannst du bitte wenigstens versuchen, die Wand etwas seltener zu treffen?", rief Ridcully zum schwitzenden Zwerg hinüber, "Einige von uns wollen hier arbeiten!"
Wuchtig erwischte den kämpfenden Wächter ein Tentakel und ließ ihn geschlagene drei mal um die eigene Achse wirbeln, bevor er erneut Bodenkontakt hatte. Blut rann an seinem Arm herunter.
"Wir müssen doch irgendetwas tun können!", flehte Mina Ridcully an.
Der schlug seufzend das Buch zu, nickte - und sah einen Fleck am Boden an.
"Nanu, Kleiner, wer bist denn du?"
Für einen Moment dachte Mina: 'Jetzt fängt auch der Obermagier an, Dinge zu sehen, die nicht da sind', doch kurz darauf korrigierte sie sich: "Ich werd' verrückt!"

*

Während hinter ihnen der Kampf tobte, erzählte Sebulon seiner ungeheuer lang wirkenden Kollegin und dem Zauberer von seinen Erkenntnissen.
"Soso", machte Ridcully. "Und jetzt bist du ein Gnom?"
"Ich denke, eher eine Elfe oder etwas in der Art", meinte Sebulon.
"Ohne Flügel?"
"Hey, es war nicht meine Idee."
"Alles schön und blau - gut, meine ich", stotterte die perplexe Mina, die sich nicht mit der neuen Größe ihres Partners anfreunden konnte, "aber was machen wir jetzt wegen ..."
Sie deutete auf das Ungetüm.
Mit einem schmatzenden Geräusch trennte der Zwerg zeitgleich ein Tentakel ab.
"Ha!", rief er.
Mit einem tiefen "Wuuhuurrrrglllääääärgs!" verließ das Tentakelwesen den Körper von Franziskus Bombastus, der nunmehr als eine leeren Hülle Boden sank, und saugte sich in Sebulons zwergischen Mund hinein.
Adrenalin kehrte zurück.
"Mein Körper!", kreischte Sebulon und rannte in blinder Wut auf sich selbst zu.
"Ja, ich denke, jetzt sollten wir langsam handeln", murmelte Ridcully und schlug das Buch wieder auf.

Was nun geschah, lässt sich nur schwer in eine chronologische Reihenfolge bringen, weil Dinge nicht immer nacheinander passieren. Im besten Falle passieren sie gleichzeitig.
Der Zwerg öffnete die Augen. Sie waren weiß.
Der Zauberer blätterte gelassen eine Seite um.
Mina zog einen Dolch aus einer Halterung am Gürtel - auch wenn dieser wahrscheinlich nicht von allzugroßem Nutzen sein würde.
"Wuuuuuu-", begann der Zwerg. Seine Haut schien ein Eigenleben zu entwickeln.
Wortlos stellte sich die Vampirin in eine verteidigende Position.
"-uuurrrr-"
"Neeeeein!", rief Sebulon und sprang seitlich in seinen zwergischen Kopf hinein.
"Was machst du hier?"
"So eine blöde Frage! Das hier ist immerhin mein Kopf!" Sebulon sah sich um. Weit und breit war weiße Leere. So hatte er seine Gedanken nicht in Erinnerung. "Was hast du mit meinem Kopf gemacht?"
"Ich verstehe nicht, was du meinst", kam die körperlose Antwort.
Ein Stück entfernt hörte er metallene Geräusche. Er begann zu laufen.
Etwas hackte in der Luft herum. Es bewegte sich so schnell, dass es kaum mehr als ein Schemen war.
"Du bist ..."
"Keine Zeit!", rief das kämpfende Etwas, "Das Mistbiest versucht mich zu plätten, aber da muss es schon früher aufstehen! Ich wäre nicht ..."
Eine krallenförmige Faust tauchte aus dem Nichts auf und erwischte den Kleinen Freien Mann.
"Verflucht! Du musst das Mistviech aufhalt'n!", keuchte er. Mit der Hand wischte er sich Blut aus dem Mundwinkel.
"Aber wie soll ich -", begann Sebulon, doch schon spürte er in seiner Hand eine schwere Axt.
Das war das richtige Gefühl. Seine Hände zitterten bereits etwas weniger.
Hierfür waren sie wie geschaffen.
Er holte aus.
Sebulons Körper bekam eigenartige Auswüchse, die langsam Tentakelform gewannen.
"M-hm", machte Ridcully.
Schleim tropfte aus dem Maul des Zwergs.
Vor Minas innerem Auge begannen die Höhepunkte der letzten hundert Jahre noch einmal vorbeizuziehen.
"-glllääää-"
Der Erzkanzler klappte das Buch zu und zog einmal so tief an der Pfeife, dass gleichsam eine Flamme aus dem Pfeifenkopf herausschoss.
"-äärgs!", machte das Monster.
Dann schloss Mustrum Ridcully die Augen, hob die Arme und sprach: "Confunde revere et averte retrorsum![14] ..."


~~~ Mina ~~~

Etwas traf es, irgendwo in den Tiefen eines fremden Bewusstseins, und sandte Wellen von Schmerz durch den ganzen Körper. Tentakel zuckten; Eingeweiden verkrampften. Der neue Wirt widersetzte sich. Es schrie und schlug um sich, doch der Schmerz ließ nicht nach. Selten hatte es jemand gewagt, derart gegen seine Präsenz aufzubegehren. Und dabei war dieses Ding noch nicht einmal thaumaturgischen Ursprungs - was allerdings auch bedeutete, dass da keine Energie war, von der es zehren konnte! Als es seinen Fehler erkannte, heulte es erneut wütend auf und zwang immer neue Tentakel nach außen. Es würde diesen Geist zermalmen und wenn es damit fertig war, würde es sich den nächsten vornehmen und immer den nächsten ...

*

Es passierte ... nicht viel. Einmal abgesehen davon, dass es einen hübsch anzusehenden Funkenregen gab, das Untier langanhaltend brüllte und noch mehr Tentakel auf den Boden klatschen ließ. Auch wenn diese scheinbar noch nicht ihre endgültige Konsistenz zu haben schienen - man sah noch immer die Mauer hindurchschimmern - erzitterte der Boden. In diesem Moment flog ein kleines, quietschendes Etwas in hohem Bogen durch die Luft und landete zwischen den Trümmern der zerstörten Mauer. Allerdings hatte niemand Zeit, wirklich darauf zu achten: Die seltsame Mischung aus Zwerg und Tentakelwesen wuchs langsam in die Höhe, wand sich wie unter Krämpfen und verteilte großzügig Schleim im Gang.
"Muss das so sein?"
Mina war sich der Tatsache durchaus bewusst, dass die kleine Waffe in ihrer Hand eher symbolischen Charakter hatte als eine echte Bedrohung für die Monstrosität darzustellen. Vielleicht wäre ihr ja noch irgendetwas eingefallen - wäre sie nicht zu beschäftigt gewesen, den peitschenden Tentakeln auszuweichen.
Der Erzkanzker hatte wieder begonnen, im Buch zu blättern.
"Vielleicht versteht es kein Latitianisch?", spekulierte er.
"Wuuurllläääggs!", brüllte das Ungetüm. Es war nicht gerade beruhigend, dass es dabei Sebulons Stimme verwendete. Dann wandten sich zwei bösartig funkelnde weiße Augen den noch verblieben Personen im Gang zu.
Ein Tentakelarm schoss nach vorn - direkt auf den Erzkanzler zu, was dieser allerdings nicht zu bemerken schien.
In diesem Moment schob sich am anderen Ende des Gangs ein Bauch um die Ecke - und diesem Bauch folgte der Dekan. Gähnend und sich am Kopf kratzend sah er sich um.
"Wassn los?"
Der Kopf des Monsters fuhr ruckartig herum - wodurch es sein eigentliches Ziel aus den Augen verlor.
Ein eher aus purer Verzweiflung geworfener Dolch flog durch den Gang und blieb in dem Tentakelarm stecken - der dadurch etwas von seiner Bahn abgebracht wurde und nur Zentimeter neben Ridcully die Luft zerteilte. Dennoch reichte das, um den Erzkanzler aus dem Gleichgewicht zu bringen, er drehte sich einmal um sich selbst, Hut und Pfeife gingen zu Boden - wobei letztere den Aufprall nicht heil überstand.
"He!" Mustrum Ridcully richtete sich zu voller Größe auf. "Das war ein tätlicher Angriff auf die Universitätsleitung, du ungebildete, schleimspuckende Monstrosität!"
Er holte weit aus und warf das Zauberbuch, offensichtlich mit der Absicht, es dem Ungeheuer gegen den Schädel zu schmettern.
"Lern das!"
Die "Magii der grauen Vorzait" wirbelte durch die Luft, streifte im Flug einen der Tentakel ... und biss zu.

*

Das Erste was er wahrnahm war, dass er aufrecht saß. Im Rücken spürte er etwas kaltes, unnachgiebiges, schätzungsweise aus dem selben Material aus dem auch der Untergrund bestand, den seine tastenden Finger erfühlen konnten. Zwei Bezugspunkte, immerhin. Zwei feste Punkte in einer Welt, die komplett schwarz war, sich aber dennoch drehte und drehte und hoch und hinab fuhr, rotierte und sich überschlug...
Sebulon riss die Augen auf, nur um festzustellen, dass sich seine Situation bis auf ihre Farbe nicht wesentlich verbessert hatte: Die Welt um ihn herum war nun grün und schien aus einer zähflüssigen Masse zu bestehen, die in den Augen brannte. Er blinzelte und wurde gleich darauf von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. Er konnte nicht atmen!
"Immerhin", dachte er, "sehe ich grün und nicht mehr weiß oder schwarz und wenn man dazu noch bedenkt, dass mir jeder Muskel wehtut, stehen die Chancen wohl nicht schlecht, dass ich noch am Leben bin. Faszinierend!"
Die Frage war nur, ob das auch so bleiben würde. Sebulon rang verzweifelt nach Luft und erbrach schließlich eine schleimige Substanz. Irgendwo fluchte jemand. Der Zwerg hob eine zittrige Hand um sich das grüne Zeug endlich aus den Augen zu wischen.
Sebulon sah sich um. Auch wenn er sich jetzt sicher war, wieder klar sehen zu können, so blieb grün noch immer die vorherrschende Farbe: Wände und Boden um ihn herum waren mit dem selben Schleim bedeckt, der ihm nun von den Fingern tropfte. Weiter hinten stapfte der Erzkanzler durch Pfützen und wrang seinen Hut aus, während der Dekan am Rande der Verwüstung stand und interessiert einen leicht fluoreszierenden Schraubenzieher musterte, welchen er mit spitzen Fingern ein gutes Stück von sich entfernt hielt.
"Das ist meiner!", krächzte der Zwerg, was allerdings in einem erneuten Husten unterging. Erst als die Sauerstoffzufuhr wieder sichergestellt war, schaffte er es auch seine unmittelbare Umgebung zu betrachten - die hauptsächlich aus einer Vampirin bestand, die einen Meter vor ihm hockte und nicht nur über und über mit grün sondern auch noch mit etwas anderem bedeckt war, was den Anschein erweckte, als wäre Schleim mit Resten von seinem Abendessen gemischt worden ...
"Oh."
"Vergiss es einfach." Mina zuckte resigniert mit den Schultern. "Eigentlich bin ich nur froh, dass es kein Blut ist."
"Im Grunde ist es das schon, zumindest zu einem gewissen Teil", hörte der Zwerg sich zu seinem eigenen Erstaunen sagen. "Nur dass das der beschworene Kreatur eine andere Zusammensetzung aufweist als das Blut andere Lebewesen."
Mina warf ihm einen schwer zu deutenden Blick zu.
"Dann hätten wir das wohl auch geklärt, besten Dank für den Hinweis", meinte sie sarkastisch und reichte Sebulon die Hand, um ihm auf die Füße zu helfen.
"Ugh!"
Jemand schlug ihm so kräftig auf die Schulter, dass er fast wieder in die Knie gegangen wäre.
"Uugh, ieek ieek!"
Der Bibliothekar schien erst später eingetroffen und so vom Schlimmsten verschont geblieben zu sein. Er hielt dem Zwerg ein Buch unter die Nase, ein triumphierendes Glitzern in den Augen.
"Oh, ja, sehr schön. Ein Buch", stammelte der Zwerg, bevor er genauer hinsah. Der Einband war zwar recht ramponiert, aber man konnte zumindest noch die Worte "Magii" und "Vorzait" erahnen. Allerdings war das Buch sehr viel dicker, als jenes Exemplar, das Sebulon zu diesem Titel im Kopf hatte.
"Ugh! Uugh!" Der Bibliothekar grinste.
"Äh, was?" Sebulon war immer noch irritiert. Etwas stimmte nicht.
"Ieek, ugh!"
"Redest du nicht mehr mit mir?"
Der Bibliothekar sah in beleidigt an.
"Uuugh - uugh."
"Er meint, du hörst einfach nicht richtig zu", mischte sich der Erzkanzler ein, vergeblich bemüht ein sauberes Stück Stoff an seinem Umhang zu finden, um sich die Hände abwischen zu können.
Gut, noch etwas, was er erst einmal verdauen musste: Aus irgendeinem Grund verstand er den Affen nicht mehr. Aber eigentlich war das logisch. Ja genau, Affen sprachen ja gar nicht, worüber wunderte er sich eigentlich? Er war ja schließlich kein Zauberer.
Sebulon zuckte mit den Schultern. Eigentlich war ja alles wunderbar: Sie waren am Leben, das Ungetüm verschwunden und damit war der Fall wohl erledigt.
"In Ordnung, was ist hier eigentlich passiert?", erkundigte er sich dann in geschäftsmäßigem Tonfall.
Seine Kollegin sah ihn ungläubig an.
"Dir geht es wirklich wieder gut?", wollte sie wissen.
"Ja, natürlich, warum denn nicht?" Er verstand den Sinn der Frage nicht.
"Und du bist schon wieder du selbst, oder?"
"Selbstverständlich. Gibt es Anlass, das zu bezweifeln?"
"Ach nur so", murmelte Mina, "Ich dachte, ich frage besser nach. Es kommt ja nicht so häufig vor, dass sich erst ein Tentakelwesen in einen hineinfrisst und dann wieder hinausgesaugt wird."
Sebulon nickte. Das klang einleuchtend. Aber er fühlte sich wirklich wunderbar. Nie zuvor hatte er das Gefühl gehabt, derart klar denken zu können.
"Wie ist denn ...", begann er, wurde aber umgehend unterbrochen
"Uugh."
Der Bibliothekar patschte stolz auf das Buch in seiner Hand, welches zufrieden schnurrte - und aus dessen Seiten noch immer etwas grüner Schleim zu Boden troff.
"Aha, ich verstehe. Austreibung durch Aussaugung." Der Zwerg sah sich um und rieb sich die Hände. "Gut, was steht jetzt noch an?"
"Das kann ich euch sagen!" Mustrum Ridcully kam auf sie zugestapft, zornrot im Gesicht. Den Hut des Dekans hatte er als Handtuch zweckentfremdet und hielt ihn nun wie eine Waffe auf die beiden Wächter gerichtet. "Seit ihr hier herumlauft, herrschen in meiner Universität katastrophale Zustände!"
"Aber ...", wagte Mina einen Einwand, der von Ridcully allerdings mit einer unwirschen Geste bereits im Keim erstickt wurde.
"Wie es hier aussieht, diese Flecken lassen sich doch nie wieder aus dem Umhang entfernen! Vollkommen ruiniert!" Er klopfte sich erbost die Kleidung ab. Grüner Schleim tropfte vom Saum und überzog die Schuhe des Erzkanzlers mit einer weiteren Schicht. "Und dann liegen hier ständig irgendwelche kopflosen Studenten herum! Das ist einfach nur unhügienisch! Ihr habt ab heute Hausverbot! Lebens .... äh, existenzlang! Und nun hinaus aus meiner Universität!!!"

*

Zwei Tage später. Berichte wurden geschrieben. Man kehrte in die Normalität zurück - was auch immer das heißen mochte. Überraschenderweise war Post aus der Universität eingetroffen: Zwei Bücher, jeweils mit einer Menge Schleifenband umwickelt, das doch sehr an die Tatortabsperrung in der Bibliothek erinnerte. Es handelte sich um zwei Exemplare aus dem persönlichen Bestand des Bibliothekars, wohl eine Art Dankeschön, inklusive Bananenflecken und Erdnussschalen: Ein abgegriffenes Werk über intelligentes Birnbaumholz und ein Roman auf altüberwaldisch - unnötig zu erwähnen, welches für wen bestimmt war.
Sebulon sah sein Buch als willkommene Abwechslung zur sonstigen püschologischen Fachlektüre und würde seine Kenntnisse über die Holzverarbeitung der besonderen Art ausbauen, sobald sich eine Gelegenheit bot. Währenddessen machte sich Mina eher Gedanken darüber, dass ihr Buch aus einer magischen Bibliothek stammte und nach den Erfahrungen der letzten Tage - und einmal ganz davon abgesehen, dass es sich um eine schreckliche Schnulze handelte - sperrte sie es vorsichtshalber in die unterste Schreibtischschublade.
Unter den Paketen fanden beide eine Notiz des Abteilungsleiters vor - man solle sich umgehend in seinem Büro einfinden. Ob das nun etwas Gutes oder Schlechtes bedeutete? Es war wohl ratsam, das besser früher als später herauszufinden.
Romulus von Grauhaar hatte es sich hinter seinem Schreibtisch bequem gemacht und scheinbar keine Eile, zunächst seinen Kaffee auszutrinken, bevor er zum Kern der Sache kam.
"Zunächst einmal: Gute Arbeit. Es hätte schlimmer ausgehen können." Er blätterte in seinen Unterlagen. "Allerdings habe ich hier einen Beschwerdebrief des Erzkanzlers, wegen unerwünschter Intervention in eine universitätsinterne Angelegenheit, ..."
Ein Punkt über dem Kopf des Abteilungsleiters wurde auf einmal enorm interessant.
"... unautorisierten Eindringens auf das Fakultätsgelände, ..."
Mina versuchte, möglichst unschuldig drein zu schauen.
"... Zerstörung von Universitätseigentum und geschichtsträchtigen Ausstellungsstücken, ..."
Sebulon schluckte, fragte sich allerdings, was an einer Axtattrappe historisch wertvoll sein sollte.
"... und allgemeiner Unruhestiftung in einem Lehrinstitut."
Romulus sah die beiden an und runzelte die Stirn.
"Womit wir bei einigen Notizen wären, die mich heute Morgen per Rohrpost erreicht haben."
Ein leises Seufzen, man ahnte, was jetzt noch kam.
"Der Hauptgefreite Zwiebel beklagt den Verlust von zwei Kommunikationsdämonen, der RUM-Fundus scheint ebenfalls geringe Einbußen zu verzeichnen und dann habe ich hier noch die aktuelle Spesenabrechnung." Er wedelte mit einem Zettel, der verdächtig nach Wirtshausrechnung aussah. "Worüber ich mich beklage, davon will ich jetzt gar nicht erst anfangen."
Sebulon räusperte sich und wollte gerade zu einer langatmigen Erklärung ansetzen, als er einen warnenden Blick seiner Kollegin auffing, der mehr als deutlich machte, dass für so etwas jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt war! Minas Ansicht nach war das Büro des Abteilungsleiters nun wirklich kein passender Ort für vom Wahn diktierte Diskussionen. Der Zwerg benahm sich seltsam - noch seltsamer als zu Beginn des Einsatzes. Ob es richtig gewesen war, dass im Bericht zu erwähnen?
Der Werwolf schien derweil von all dem nichts bemerkt zu haben, er wühlte erneut in seinen Unterlagen und fuhr dann fort:
"Sebulon, der Kommandeur bat mich, dir das hier zu geben." Romulus reichte dem Zwerg ein zusammengefaltetes Stück Papier. "Er will sich noch einmal mit dir ... unterhalten."
Der Zwerg las schweigend: Ein weiteres Püscho-Gespräch mit Breguyar war angesetzt worden - doch warum eigentlich? Dazu bestand doch wirklich kein Grund. Und bestimmt würde das der Kommandeur auch einsehen, wenn er ihm die Umstände nur überzeugend darlegte.
"Nun, das wäre es vorerst", schloss der Abteilungsleiter seine Ausführungen. "Ich wäre euch sehr verbunden, wenn ich nie wieder so viel Erklärungsarbeit für euch leisten müsste. Verstanden? Nie. Wieder! Und das bezieht sich nicht nur auf die Zerstörung, die ihr hinterlassen habt."
Betretene Gesichter.
Romulus zog einen beidseitig mit Stichpunkten beschriebenen Zettel aus der Tasche, entfaltete ihn, überflog ihn gründlich, und steckte ihn wieder weg.
"Mir scheint, ich habe nichts übersehen. Falls doch, werdet ihr von mir hören. Wegtreten."

*

Ruhe war unterdessen auch wieder an den Mauern der Unsichtbaren Universität eingekehrt. Die Intelligenten Rote-Beete-Knollen waren an ihren ursprünglichen Platz zurückgekehrt und wucherten erneut geruchsintensiv vor sich hin. Nur ein Stück abseits zwängte sich eine kleine, blaue Gestalt durch einen Spalt zwischen den Mauerblöcken. Nach einer schier endlosen Bewusstlosigkeit war der Kleine Freie Mann wieder zu sich gekommen - gerade als ein Student der Zauberei ihn in ein Einmachglas hatte sperren wollen. Nun, der Kerl würde vorerst keinen Federkiel mehr halten können!
Er schaute sich um. Die Wächter hatten ihn ganz bestimmt vergessen. Außerdem hatte er seine schöne Axt eingebüßt, er musste sie irgendwie in diesem Zwergenkopf verloren haben. Verärgert trat er gegen einen Stein. Da stieg ihm ein Duft in die Nase - ein ihm nicht unbekannter Geruch. Irgendwo in der Nähe wurde Bier ausgeschenkt und das nicht zu knapp. Der Kleine Freie Mann grinste. Warum nicht das Beste aus seiner neuen Freiheit machen? Er versetzte einer in der Nähe liegenden Knolle einen Hieb, die sie bis auf die andere Straßenseite kollern ließ und spazierte pfeifend in den ankh-morporkischen Morgen.

ENDE

[1] Und zwar dann, wenn er fest davon überzeugt war, dass er im Recht war. Also praktisch immer.

[2] Die Götter haben gern etwas Privatsphäre.

[3] Er hatte ein gut geordnetes Gedächtnis. Für Platz 57 siehe auch "Voll im Bilde".

[4] Die Paläologie beschäftigt sich mit der Magie der Vorzeit. Man versucht dabei mit komplizierten Verfahren nachzubilden, was damals mit einfachen Mitteln möglich war. Unnötig zu erwähnen, dass man mit den Rekonstruktionstechniken minderwertigere Effekte erzielt als die Magier vor dreihundert Jahren.

[5] Keine üble Anspielung auf gewisse historische Persönlichkeiten, die aus der gleichnamigen Kilikischen Stadt am Ceyhan stammen, beabsichtigt.

[6] Das stimmte in der Tat. Die Zauberer verbrachten ihre Zeit mit der pünktlichen Einnahme der Mahlzeiten.

[7] Mit magischen Büchern scheint es sich ähnlich zu verhalten wie mit der Bibliothek in der sie aufbewahrt werden: Es passt viel mehr hinein, als es von außen den Anschein hat.

[7a] Was in einigen Fällen nicht nur sprichwörtlich gemeint ist.

[9] Das wissen wir aus Pratchett's Hohle Köpfe: Wissen = Macht = Energie = Materie = Masse. Diese Formel erklärt auch, weshalb Zauberer dick sind und ... doch dazu später mehr.

[10] Selbst in der Universität hatte es eine Zeit gegeben, als man noch durch Waffen an der Wand Eindruck schinden wollte. Da aber leider das Geld recht knapp war, begnügte man sich mit einigen aufwändig gearbeiteten Attrappen.

[11] Weshalb es zwangsläufig wachsen muss, und zwar scheinbar überdimensional. Die vorletzte Fußnote wurde sicherlich beachtet ...

[12] Zitat aus 'I, Robot' (2004).

[13] Er erinnerte sich nur ungern an die de-Valtieri-Affaire und die damit verbundenen Schmähungen; er hatte nämlich im Pyjama Frauen innerhalb der Universität angetroffen und schlimmer noch: er wurde während seines Mitternachtssnacks unterbrochen.

[14] Latitianisch für: "Weiche zurück und erröte vor Scham".

Zählt als Patch-Mission für den Verdeckte Ermittlerin-Patch für Mina von Nachtschatten
Zählt als Patch-Mission für den Püschologe-Patch für Sebulon, Sohn des Samax



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Feedback:

Von Braggasch Goldwart

18.03.2010 21:15

für Mina von NachtschattenHerrlicher Humor! Allein die Beschreibung des Lächelns des Bibliothekars hat mich eine viertelstunde belustigt, bevor ich weiterlesen konnte. Man sieht, dass ihr euch gut aufeinander einstellen könnt, ich hab zwischendurch völlig vergessen, dass es zwei autoren gibt, ihr schreibt wie einer. ;)

Von Braggasch Goldwart

18.03.2010 21:15

für Sebulon, Sohn des SamaxVerwirrend, wie ich es nicht anders von deinen singles kenne. :DWir ham ja schon über das meiste geplaudert - was soll ich sonst noch groß sagen? Bin stolz auf dich. :)

Von Ophelia Ziegenberger

18.03.2010 21:15

für Mina von NachtschattenDer Schreibstil aus Minas Sicht liegt mir viel mehr. Die klaren Sätze bilden ebenso deutlich gezeichnete Szenen, die es mir leicht machen, mich in sie und in das Geschehen einzufinden. Ihr bodenständiger Blickwinkel, zusammen mit den nachvollziehbaren Emotionen, vermittelt eine gewisse Realität. Plotrelevante Entwicklungen wurden gut mit atmosphärischer Szenerie verbunden, so dass Hintergrundinformationen klarer wurden und sich etwas Ganzes ergab.

Von Ophelia Ziegenberger

18.03.2010 21:15

für Sebulon, Sohn des SamaxDie Erzählweise aus Sebulons Sicht ist mir etwas zu konfus. Der ständige Wechsel der Perspektiven, die zum Großteil nicht fertig formulierten Aussagen, bis hin zu den unzähligen Schriftartformatierungen, alles das lässt mich nicht richtig in einen normalen Lesefluss gelangen und macht das Lesen dadurch unnötig anstrengend. Was ich etwas schade finde, da die eingebrachten Plotideen und die Handlungsstränge abseits davon mit Originalität und Humor aufwarten.

Von Sebulon, Sohn des Samax

18.03.2010 22:02

O-kay ...

13 Punkte sind ein großartiges Ergebnis. Schön, dass euch die Geschichte gefallen hat. :)

Falls noch jemand, der die Geschichten bewertet hat / bewerten will, konstruktive Kritik äußern mag, soll er das gern tun, denn ich wüsste wirklich gern, wie man schreiben muss, um 15 Punkte zu schaffen. (Und zwar ohne den Stil von z.B. Bregs zu kopieren.)



Lieben Gruß

- Sebulon

Von Mina von Nachtschatten

18.03.2010 23:30

Da schließe ich mich einfach mal meinem Mitschreiber an: Danke für die feedbacks, es freut mich sehr, dass die Geschichte so gut angekommen ist. :)

Von Laiza Harmonie

19.03.2010 11:07

[quote="Sebulon"]O-kay ...

13 Punkte sind ein großartiges Ergebnis. Schön, dass euch die Geschichte gefallen hat. :)

Falls noch jemand, der die Geschichten bewertet hat / bewerten will, konstruktive Kritik äußern mag, soll er das gern tun, denn ich wüsste wirklich gern, wie man schreiben muss, um 15 Punkte zu schaffen. (Und zwar ohne den Stil von z.B. Bregs zu kopieren.)[/quote]

Ich hab die Geschichte gelesen und bewertet und da meine Bewertung stark von der Entgültigen abweicht, werde ich mich mal in Konstruktiver Kritik üben.



Erstens vorweg, um eine 15 zu bekommen muss von sicherlich nicht irgendeinen Stil [b]kopieren[/b], aber es wäre vielleicht hilfreich zu analysieren, wieso zB Bregs ne 15 für den Hexer bekommen hat.

Ich bezweifle stark, dass sie dieses Note bekommen hätte, wenn sie den Plot in etwa 22.000 Wörter gequetscht hätte. Somit kann man eure Geschichte schon gar nicht mit Bregs Hexer vergleichen (186.409 != 21.941). Dabei geht es sicherlich NICHT um Quantität! Eine Gute Geschichte und dazu gehören gute Charaktere muss man dem Plot entsprechend genug Wörter gönnen.

Wenn ich eine Geschichte lese, dann will ich nicht nur vom Plot überzeugt werden, sondern auch von den auftretenden Figuren. Wenn ich mich darüber freue wenn ein NSC wieder auftritt, eben nur weil er einfach sehr gut und lebendig gezeichnet ist und ich mich immer Frage "Was passiert als nächstes mit ihm/ihr?" und wenn ich traurig bin, wenn er vielleicht den Löffel abgeht ([size=65]R.I.P. Kamerun! [/size] :wink: ) dann hat man mit den Charakteren gut gearbeitet. Bei eurer Geschichte kamen mir ehr Fragezeichen rund um die Nebenfiguren auf.



Der Plot mag ja ganz gut gewesen sein, aber er war mir viel zu schnell auf gebaut und abgehandelt (nicht in Bezug auf Wörtern), vorallem weil es um ein Tentakelwesen ging - anscheinend was total normales in der heutigen Zeit.

Den Endkampf fand ich einfach nur unübersichtlich und verwirrend. Rache ist ja ein gern genommenes Motiv, dagegen ist auch nichts einzuwenden, aber bei eurer Ausführung hatte es einen sehr faden Beigeschmack. Mir fehlte auch etwas die Aufklärung, wieso die Studenten dem Ururdingens von Mopswieauchimmer geholfen haben.

Und der kleine freie Mann ... das war dann die Kirsche auf dem Sahnehäubchen der Fragezeichen. Sinn, Zweck und die Antwort auf WARUM? fehlten mir völlig...



Zudem hab ich das Gefühl gehabt, die Geschichte besteht hauptsächlich aus Dialogen, und kaum aus erklärenden und atmosphärischen Texten. (Für mich ist ein gutes Verhältnis wichtig)



Noch mal in Kürze: Die Charaktere waren flach, uninteressant und fragwürdig in ihrem Handeln, der Plot nicht so ausgebaut wie er es verdient hätte, wenns um Tentakelwesen geht darf Angst und Schrecken nicht fehlen, die Umsetzung war Größtenteils nur konfus. Meine Bewertung war eine 10.

Von Sebulon, Sohn des Samax

29.06.2010 10:56

Sorry, ich wollte nicht unhöflich sein.

Danke für die Rückmeldungen; ich werde an den Worten noch länger zu knabbern haben.



Dass es konfus wurde, merke ich im Nachhinein auch. (Die nächste Geschichte, an der ich plane, wird leider auch etwas konfus wirken. Mal schauen, ob ich diesen Habitus irgendwann ablegen kann.) Zu den vielen Fragezeichen schweige ich jetzt also erstmal (= ich weiß noch nicht, wie lange).

Die viele Formatiererei fand ich in der Schreibenszeitspanne eine nette Idee, die jetzt als nach-der-Wertung-nochmal-Nochmalleser ganz schön angestrengt wirkt. Stimmt.

Wie ich Nebencharaktäre plastisch werden lassen kann, ohne die Handlung aus dem Blick zu verlieren, das weiß ich noch nicht so ganz. Werde da herumexperimentieren müssen, glaube ich. Aus diesem Blickwinkel sind ja auch die Palastwächter, die ich in den letzten Geschichten hab auftauchen lassen, bisher sehr platt ...

Verhältnis sprechen-erzählen ... das liegt an meiner eigenen Lesegewohnheit. Wenn Orte/Personen/Dinge über mehrere Absätze beschrieben werden, finde ich das anstrengend und suche dann den nächsten Dialog, um weiterzulesen, weil die aus meiner Sicht immer mit Handlung verbunden sind. In der Wichtelsingle hab ich versucht, etwas mehr Beschreibung passieren zu lassen; mal schauen, wie sich das entwickeln wird.

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