Ein einfacher Auftrag. Wie gemacht für drei Rekruten. Was sollte schließlich schief gehen, wenn man einen Gefangenen die paar Meter zum Pseudopolisplatz eskortieren soll?
Dafür vergebene Note: 11
"Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Orten ist in der Theorie die Luftlinie. Wer schon einmal auf Vogeljagd war, weiß, dass das nicht immer der sicherste Weg ist." - Gutmut Flint, Flieger aus dem Langsee-Clan der Nac Mac Feegle ---------------
Braggasch Goldwart: "Äh ... könnte ich mir noch mal kurz dein Werkzeug borgen?" Das waren Braggaschs Worte gewesen - und jetzt lief Sebulon schon seit einer Woche ohne seinen Gürtel herum. Es war zum aus-der-Haut-fahren! Der blonde Zwerg schien immer direkt nach seinen Schichten zu verschwinden und sie hatten auch seit besagter Woche keinen Dienst mehr zusammen gehabt.
Sebulon murmelte einen milden Fluch und schnürte sich die Stiefel enger. Immerhin sollten sie heute gemeinsam auf Streife gehen - eine wunderbare Gelegenheit um den Werkzeuggürtel zurückzufordern. Ohne ihn fühlte sich der Sohn von Samax ganz nackt.
Überhaupt: Wo steckte Braggasch eigentlich? In wenigen Minuten mussten sie los, und sie konnten sich keinen zweiten negativen Vermerk in so kurzer Zeit leisten!
Menélaos, mit dem sein Freund vor zwei Tagen zur Wache eingeteilt gewesen war, und den Sebulon gestern in der Kantine gesprochen hatte, meinte, Braggasch hätte erwähnt, dass er einen Zwergenschmied gefunden hatte, der einen für wenige Cent in seiner Schmiede arbeiten ließ. Wahrscheinlich war er dort. Mit
Sebulons Werkzeug!
Die Tür ging auf. Nass aber zufrieden stapfte Braggasch in den Umkleideraum.
"Beeil dich!", schnauzte Sebulon härter als beabsichtigt. "Ich will mich nicht verspäten."
Der andere Zwerg nickte nur lächelnd und begann sich anzuziehen.
"Du scheinst ja hervorragende Laune zu haben ..."
"In der Tat.", grinste Braggasch.
Jetzt bemerkte Samax Sohn den neuen Gürtel. Obwohl der Gürtel selber der alte war, verändert hatte sich nur die Schnalle vorne. Sie sah jetzt aus wie ein großer, doppelter Kleiderhaken, dabei aber seltsam unförmig.
"Was'n das?"
"Hmm? Oh, das." Braggasch sah auf die Schnalle als würde er sie zum ersten Mal sehen. "Eine Idee von mir. Ich nenne es Schnell-Lader. Ich hänge die Sehne der Armbrust hier ein, wobei die Spitze natürlich nach unten zeigt, und drücke dann von oben mit den Armen auf das Griffstück. Ich bewege also eigentlich nicht die Sehne, sondern die Armbrust, während die Sehne fixiert ist. Das geht ein bisschen schneller als wenn ich das Ding erst auf den Boden stemme und mit der Hand spanne."
"Aha.", brummte der Andere und versuchte, sein Interesse zu verbergen. "Regnet es draußen?"
"In Strömen."
"Und du bist nur wegen dem Ding da so gut gelaunt?"
"Was? Wegen dem Schnell-Lader? Quatsch." Braggasch zurrte die Armschiene fest, bevor er antwortete: "Das ist eher ein Abfallprodukt. Nein, ich war viel ... äh ... kreativer." Mit diesen Worten holte er seinen Familiendolch hervor.
Sebulon wollte schon mit den Schultern zucken und sagen, dass er den Dolch schon öfters gesehen hatte, da entdeckte er, dass die Spitze anscheinend abgeschnitten war. Nur fein - die letzten Zentimeter - und trotzdem ziemlich dämlich, weil die Waffe dadurch natürlich stumpfer wurde.
"Was hast du mit dem guten Dolch gemacht?"
"Sieh ihn dir genauer an.", beharrte Braggasch.
Sebulon starrte - und bemerkte, was sein Kollege meinte. Die Spitze war nicht nur abgeschnitten, sondern jemand hatte auch einen schmalen Schacht senkrecht in den Dolch gebohrt. Er konnte sich schon vorstellen, dass sein Metallbohrer da gute Dienste geleistet hatte ...
"Was soll das? Damit machst du die Waffe total instabil."
Braggaschs Lächeln schwand ein wenig. "Sie wird zerbrechlicher, ja, aber nur ein bisschen. Und jetzt sieh dir das an." Er öffnete die Hand und zum Vorschein kam ein kleiner Knopf, der in einer Rille befestigt war, welche sich fast über die ganze Länge des Griffstücks zog.
"Du hast deinen ganzen Dolch zerschnitten.", stellte Sebulon fest.
Sein Freund verzog das Gesicht. "Mann, du bist heute aber schlecht gelaunt. Na gut, wenn du nicht raten willst, erklär ich's dir: Ich habe diese Röhre in den Dolch gebohrt und eine starke, wenn auch kleine Feder darin befestigt. Die Feder hat mich beim Schmied einen ganz schönen Batzen gekostet. Und die ist mit diesem Kopf verbunden. Wenn ich jetzt den Knopf in der Schiene nach unten drücke,", er tat es, "dann wird die Feder zusammengedrückt und der Knopf rastet ein, bis ich drauf drücke, dann löst sich die Feder sprunghaft wieder." Er drückte auf den Knopf und ein leises Knacken war zu hören.
"Und wozu das ganze?", wollte Sebulon, jetzt weitaus interessierter, wissen.
Braggasch grinste und zog aus einem winzigen Säckchen an seinem Gürtel einen noch winzigeren, zugespitzten Vollmetallbolzen, der aussah, wie ein Nagel ohne Kopf.
"Echt wahr?", hauchte Samax Sohn, der zu verstehen begann.
Statt zu antworten zog Braggasch lächelnd den Knopf nach unten und ließ ihn einrasten. Dann schob er den Metallbolzen in den frisch gebohrten Schacht seines Dolches. Ein leises "Pling" war zu hören als der winzige Bolzen die Röhre hinab bis auf die Feder rutschte.
Der Zwerg zielte auf die Wand und drückte den Knopf. Mit einem hauchdünnen Zischen raste der Nagel heraus und bohrte sich tatsächlich ein wenig ins Holz.
Sebulon lachte begeistert auf und Braggasch zog den Bolzen aus der Wand.
"Das Zielen ist sehr ungenau und er hat auch nicht wirklich Durchschlagskraft. Aber ich glaube er könnte im Richtigen Moment viel Verwirrung stiften."
"Wahnsinn! Kann man das Ding geladen lassen?"
"Solange man nicht auf den Knopf kommt ... Ich habe die Feder ein bisschen magnetisch aufgeladen, wodurch der Bolzen auch bei geringer Erschütterung drin bleiben sollte."
"Wie bist du denn auf die Idee gekommen?"
"Nach der Vampirsache hatte ich mir gedacht, es wäre gut, eine Art Miniarmbrust dabei zu haben ..." Braggasch verstummte. Harry stand in der Tür. Er sagte nichts, räusperte sich nur leise.
"Klar.", sagte Sebulon.
Beide Zwerge schnallten sich die Helme auf und sie traten hinaus in den Regen.
"Übrigens:", meinte Braggasch etwas später. "Du kannst jetzt natürlich dein Werkzeug wieder haben."
"Gut. Ich hatte extra nichts gesagt, vorerst. Wollte sehen, ob du von selbst drauf kommst.", antwortete Sebulon, aber die schlechte Stimmung wollte sich nicht mehr einstellen.
"Ich fürchte nur, dass dein Bohrer etwas gelitten hat, dieser Stahl war hart.", gestand sein Freund. "Sobald ich wieder Geld habe, kauf ich dir einen neuen! Und dann spare ich auf einen eigenen Werkzeuggürtel ..."
Der Sohn von Samax wollte sich gar nicht vorstellen, welche kranken Erfindungen bald noch auf ihn warten würden.
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Menélaos Schmelz:"Bescheidenes Wetter was?!" raunzte Menélaos und schüttelte sein schwarzes Haar, nickte den beiden Rekruten grimmig zu und zog wie selbstverständlich einen dunkel gekleideten, älteren Mann am Hemdkragen hinter sich her. Es roch gefährlich scharf nach Safran.
"Kommt doch bitte kurz mit ins Wachhaus, ich erzähls euch." Sie gingen die wenigen Schritte zurück bis zum Umkleideraum.
Die beiden neugierigen Zwerge schauten ihren Mit-Rekruten etwas erstaunt an und blickten dann verwundert auf den mittlerweile auf einem Tisch aufgebahrten Kerl. Sebulon holte Luft.
"Wer zur ..."
"Shlomo Soßmann, 48 Jahre alt, nicht lizensierter Dieb aus der Kröselstraße, quasi ein Nachbar."
"Wie bei ..."
"Hab ihm meinen Fuß in den Rücken gehämmert."
"Wieso in ..."
"Hat versucht einen Schmied in der Tropfengasse zu berauben. Man sollte meinen, die Menschen wissen, dass rotes Metall in der Regel heiß ist."
"Hör auf ..."
"... dich zu unterbrechen?"
"Ja, verdammt!"
"Tut mir Leid, hatte einen miesen Tag und dieser Shlomo hat geschrien wie am Spieß. Meine Ohren singen noch immer. Aber schaut mal hier."
Menélaos holte aus einem Beutel, den er über der Schulter getragen hatte, einen kleinen, runden Kuchen hervor, der eindeutig nach Kanal, nassem Fell und Karamell roch.
"Eine Ratten-Karamellpastete. Habe ja jetzt endlich eine kleine Wohnung gefunden. Der Vermieter meinte, wenn ich die Ratten beseitige, kriege ich eine Monatsmiete umsonst. Da hab ich mir gedacht, es wäre zu schade sie wegzuschmeißen, und hab geschaut, was die kleine Küche so hergab."
"Das nenne ich eine gute Nachricht!" freute sich Braggasch und schnitt zwei Stücke heraus, reichte eines davon Sebulon und biss herzhaft in das andere hinein.
"Gar nimft fo flefft, man fmeckt fafft keine Galle!" kaute er.
"Freut mich, dass sie dir schmeckt. Ich roste langsam ein, was das Backen angeht. Wird Zeit, dass ich wieder mehr übe, bei Zuckerli und Salzla." Menélaos setzte sich und seufzte, legte den nassen Umhang über einen Stuhl. Während die Zwerge auskauten, beobachteten sie gemeinsam den ramponierten Mann auf dem Tisch, wie dieser gerade versuchte sich stöhnend aufzurichten, dabei allerdings vom Tisch fiel und die Wucht geschickt mit dem Kopf abfing, um gleich darauf wieder in Ohnmacht zu fallen.
"Ich denke, ich sage dem Oberstabsspieß bescheid, der wird mich vermutlich zum Pseudopolisplatz schicken, wo ich den Kerl zum Verhör abliefern muss."
Menélaos seufzte erneut und blickte auf den nassen Mantel, der ihn bereits jetzt an das ungemütliche Wetter erinnerte.
Braggasch schluckte ein großes Stück Ratte herunter und leckte sich die Lippen.
"Wir haben gleich Streife und passieren auf der Route auch den Pseudopolisplatz, also wenn du willst, kannst du uns begleiten."
"Klingt gut." Menélaos warf den beiden Zwergen einen dankbaren Blick zu. Sebulon war der
zwergigere von den beiden, kurzen Rekruten. Das hatte er schon damals in diesem Dorf während des Thiembildungseminars gemerkt. Braggasch war der wohl ungewöhnlichste Zwerg, den Menélaos kannte. Er war eher hager, verhielt sich zurückhaltender und es mangelte ihm etwas an zwergischem Temperament. Dennoch mochte ihn der ehemalige Konditor sehr gern.
"Ich gehe dann mal kurz zu Harry und kläre die Sache mit dem Dieb ab." Menélaos verließ den Umkleideraum und trottete zum Ausbilderbüro, grüßte auf dem Weg ein paar bekannte Rekruten und klopfte an die Türe des Büros.
"Herein!"
"Hallo, Sir!" salutierte Menélaos. Er mochte die Wache, die Struktur und das mehr oder eher weniger funktionierende System gab ihm den Halt, der ihm seit einer ganzen Weile gefehlt hatte. War er doch damals ...
"... nicht auf der Stelle sagst was du willst, dann ..."
"Entschuldige Sir, ich bin ... du weißt."
Harry seufzte, in seiner Hand ein Fingerhut voller Kaffee.
"Rekrut, das mit den unkontrollierten Gedanken muss aufhören."
"Ich weiß, Sir, es tut mir sehr Leid, Sir."
"Was gibt es denn, Menélaos?"
"Ich habe einen nicht lizensierten Dieb in der Tropfengasse ... unschädlich gemacht."
"Lebt er noch?" seufzte Harry hoffnungsvoll.
"Ja, Sir!"
"Gut, bring ihn ins Wachhaus am Pseudopolisplatz. Da kümmern sich dann die Jungs und Mädels von den SEALS oder irgendjemand kompetentes darum."
"Ja Sir!" Menélaos salutierte erneut und drehte sich bereits um, als Harry zögerte.
"Moment ... handelt es sich bei dem Kerl um ..." Der Gnom blätterte in einem Haufen Skripte und Rohrpost. Menélaos sah zu, wie der kleine Kerl mit Blättern um sich schmiss und nach irgendetwas suchte. Er verließ den Papierberg und streckte Menélaos einen Steckbrief entgegen.
"... um Shlomo Soßmann?"
"Ja, Sir, aber das ist der Steckbrief von ..."
"Ich weiß, von Feilgrosch Vielschlag, einem gesuchten Zwerg. Hat einige Häuser ausgeräumt und dabei bereits drei Leichen hinterlassen. Dieser Soßmann war mal sein Komplize, hat uns allerdings kürzlich ein paar Sachen über Feilgrosch verraten, was diesem Verbrecher wohl nicht schmecken wird."
"Verstehe, Sir!"
"Also pass auf, ich kann dich leider ..." Harry schielte zu einem Stapel bunter Heftchen herüber. "... nicht begleiten. Ein paar Informantenkontakter aus einer anderen Abteilung haben ersten gestern erfahren, dass Feilgrosch wieder in der Stadt sein soll. Vermutlich weiß der gute Soßmann noch nichts von seinem Glück, also pass ein bisschen auf. Am besten du schließt dich der Rekrutenstreife an, wenn du dich beeilst, erwischst du sie noch. Das ist sicherer, ich traue diesem Vielschlag eine Menge zu."
"Jawohl Sir!"
Menélaos verabschiedete sich und begab sich zurück in den Umkleideraum, um den beiden Zwergen von ihrem Auftrag zu berichten, begleitet von einem nachdenklichen Hauch Zitrone.
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Sebulon, Sohn des Samax: Der Safrangeruch von Menélaos hatte sich verzogen; geblieben war ein Aroma, das Braggasch kaum bestimmen konnte. Es roch nach frisch geschnittenem Gras.
Menélaos hatte den Gefangenen ordnungsgemäß gefesselt und ihm mit einigem Nachschauen seine Rechte erklärt; unter Sebulons Arm klemmte ein Stapel Papierformalia, die der Pseudopolisplatz auszufüllen hatte und wo sie schon einmal die wichtigsten Kreuze gesetzt hatten
[1] und Braggasch hatte sich die Route stichpunktartig auf einem weiteren Zettel notiert, den er nun immer wieder von oben nach unten laut durchging.
"Warum müssen wir eigentlich über die Helle Brücke?", fragte Sebulon, als sie das Wachhaus verließen.
"Weil da lange keiner gewesen ist, Sebu.", meinte Braggasch, "Außerdem gibt es da einen Schmied, der ..."
Menélaos seufzte. Wenn einer von den beiden mit Technik angefangen hatte, gab es kein Halten mehr. Dann klang der Rest des Gespräches nach "Feder", "verstellbar", "-trohnisch" und "innowatief".
Braggasch plapperte aufgeregt: "... und dann wäre der Rammbock sogar Höhenverstellbar."
"Wie innowatief.", murmelte Menélaos.
"Ja, nicht wahr!", rief Braggasch und klatschte in die Hände. "Seit wann interessierst du dich denn für Mechanik?"
Menélaos lächelte. "Tu ich das? Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Aber sag mal, Sebu, ... Sebulon? Was ist los?"
Sebulon nahm das Gespräch kaum wahr. "Irgendetwas stimmt hier nicht.", knurrte er. Seine Hand lag auf dem Axtgriff.
"Was meinst du?", fragte Menélaos, dessen Zitronengeruch die Umgebung einhüllte. "Es sieht doch alles ganz normal aus ..."
"Es ist zu ruhig.", flüsterte Sebulon. "Die Straße ist sonst viel voller. Und ..."
Seine Instinkte reagierten schneller als er fassen konnte, worauf sie eigentlich reagierten.
"Runter!", rief der Zwerg und stieß die beiden Wächter und den Gefangenen zu Boden, der sich sofort über die unmenschliche Behandlung zu beschweren begann. Durch seinen Schwall von Beschwerden hindurch surrte ein Pfeil quer über die wenig belebte Straße und blieb in der Häuserwand stecken - eine Armlänge von dort entfernt, wo gerade noch ihre Köpfe gewesen waren.
"Wessen Köpfe?", fragte sich Sebulon halblaut und sah sich um. Kein Schütze zu sehen.
"Lächeln.", flüsterte Sebulon und sagte übertrieben laut: "Das war eine gute Notfallübung. Falls jemals ein Notfall eintritt, meine ich, sind die Bürger
sicher. Nicht, dass wir einen Notfall erwarten."
Die umstehenden Ankh-Morporkianer runzelten die Stirn und taten den Zwischenfall als eine neue Marotte der Wache ab.
"Sicher.", brummte Braggasch ironisch.
Die Wächter erhoben sich, angestrengt lächelnd, klopften die Uniformen ab
[2] und gingen dann gemeinsam zum Pfeil, der noch immer in der Wand steckte. Und zwar auf Höhe des Kopfes des Gefangenen.
"Das ist nicht gut.", sagte Menélaos so gut gelaunt wie möglich und zog den Pfeil aus der Wand.
"Runter von der Hauptstraße.", flüsterte Sebulon, und winkte einer Passantin zu. "Und hört nicht auf zu lächeln."
Als sie im Dauerlauf die Gassen von Ankh-Morpork durchquerten, verließ Sebulon sein ungutes Gefühl nicht. Die Straße war zu leer gewesen. Das war alles abgekartet.
Sie bogen um eine weitere Ecke in eine noch schmalere Gasse.
Aber wenn die Straße so leer war, dachte Sebulon und sprang über einen Zaun, warum hatte der Schütze nicht getroffen? Warum hatte er keinen zweiten Pfeil abgefeuert?
Ihn überkam eine noch düstere Ahnung und er hielt seine beiden Kollegen fest, die gerade die nächste Biegung nehmen wollten.
"Stop, Jungs. Bleibt stehen und denkt mal kurz nach."
"Warum halten wir an?", fragte Shlomo und sah nervös um sich. "Es geht hier um meinen Kopf."
"Richtig. Und ich möchte, dass er noch möglichst lange ohne zusätzliche Löcher bleibt.", knurrte Sebulon. "Also bleib stehen."
Braggasch, der sich noch immer nicht an dieses ständige Ausdauermessen in der Wache gewöhnt war, rang nach Atem und sagte: "Schieß los."
"Der Pfeil sollte nicht treffen. Wir
sollten von der Hauptstraße abkommen.", sagte Sebulon und sein Blick huschte zwischen seinen Kollegen hin und her. "Wir
sollten durch diese Gassen hetzen."
"Sie lauern uns hier irgendwo auf?", fragte Menelaos und begann nach Mandeln zu duften.
"Das denke ich. Wenn wir nicht schnell zurück auf die Hauptstraße kommen, ..."
"Hast du nicht gerade noch vorgeschlagen, dass wir die Hauptstraße meiden?", fragte Shlomo ärgerlich.
"Das ist doch das, was man naheliegenderweise tut. Das wollte der Schütze.", brummte Sebulon. "Wir sind direkt in seine Falle gelaufen."
"Hast du ... äh ... dafür einen Beweis?", schnaufte Braggasch.
Sebulons Augen weiteten sich. Er deutete ans andere Ende der Gasse.
"Reicht dir ein Pfeil, der genau auf euch zeigt?", fragte eine gut gelaunte Frauenstimme.
Die junge, dunkelhaarige Frau trat aus dem Schatten, doch das änderte nicht viel, denn sie war ganz in schwarz gekleidet - etwas zu ärmlich für einen Assassinen, dachte Menélaos, der eigentlich einen unansehlichen Zwerg und keine schöne Menschenfrau erwartet hatte.
"Schön, dich wiederzusehen, Shlomo Soßmann.", sagte sie und machte einen angedeuteten Knicks. "Du alter Gauner. Wir haben uns lang nicht gesehen, nicht wahr? Nenn mir einen guten Grund, warum ich dich nicht auf der Stelle töten sollte."
"Tanja ...", sagte Shlomo und wirkte sogar noch nervöser, obwohl er jetzt sah, wer es auf ihn abgesehen hatte.
"Du kennst diese Dame?", fragte Sebulon den Gefangenen und schob sich vor ihn.
"Wie soll ich sagen ... Ja, in gewissem Sinne kenne ich sie.", antwortete der mit sich überschlagender Stimme.
"Du kennst mich?", lachte die Frau, die offensichtlich Tanja hieß. "Das ist alles? Nach all den Jahren ..."
Menélaos legte die Hand auf die Schulter des Diebes und schob sich ebenfalls vor ihn. Dieser versuchte, sich hinter den beiden Wächtern so gut wie möglich zu verstecken. Niemand bemerkte, dass auf der Schulter des Gefangenen leise eine kleine Glasphiole zersprungen war und das Hemd von Shlomo nun eine helle Flüssigkeit aufsog.
Menélaos sagte mit zitternder Stimme: "Hat dich Feilgrosch Vielschlag angeheuert um ihn zu töten?"
Tanja lächelte und vier Paar Augen folgten den Bewegungen des Pfeils, der sich dabei vor ihr bewegte. "Was hast du dir da nur für dumme Wächter ausgesucht um dich zu beschützen, Shlomo. Sie sollten wissen, dass eine Frau nicht alles erzählt, was wichtig ist."
"Du sprichst mit einem Gefangenen der Stadtwache.", sagte Menélaos. "Wenn du ihn tötest, Frau ..."
"Witwenmacher. Tanja Witwenmacher.", meinte diese hilfsbereit.
"Danke, sehr zuvorkommend.", fuhr Menélaos fort und konnte noch "Also, wenn du ihn tötest, Frau W..." sagen, bevor ihm auffiel, dass er den Namen Witwenmacher schon einmal gelesen hatte. Und zwar in einer stillen Minute im kleinen Leitfaden der Gilden.
[3]"Wenn ich ihn einen Gefangenen der Stadtwache töte, dann verstoße ich gegen das Gesetz?", fragte Frau Witwenmacher und lachte glockenhell. "Das Risiko nehme ich gerne ..."
Sie stockte.
"Ihr Idioten, er ist weg.", rief sie, stieß die Wächter beiseite und verschwand im Dunkel der Schatten. Der Dolch, den Braggasch unauffällig geladen hatte, endlud sich mit einem
Zing und das winzige Projektil prallte von zwei Wänden ab, bevor er in Sebulons linkem Arm stecken blieb, was dieser zum Anlass nahm, aufzuschreien.
"Pass besser auf, wohin du dein Ding hältst.", fluchte Sebulon und zog den kleinen Bolzen aus seinem Arm.
"Äh ... was machen wir jetzt?", fragte Braggasch.
Menélaos straffte sich, fuhr sich durch die schwarzen, krausen Haare. Safranduft stieg von ihm auf.
"Wir folgen ihnen.", sagte er.
"Wie ...", begann Sebulon.
"Indem wir unsere Nasen benutzen. Das sollte leicht sein."
"Was ..."
"Ich habe unseren Gefangenen vor nicht einmal einer Minute mit Pfirsich und Minze markiert, als wir mit der Dame geredet haben."
"Hör auf ..."
"Dich zu unterbrechen? Ja, in Ordnung. Gehen wir."
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Braggasch Goldwart: Tanja Witwenmacher, Tochter von Bertram Witwenmacher und damit Nichte von genau
dem Lord Witwenmacher kletterte behände an einer der Wände hinauf aufs Dach. Von dort setzte sie ihre Verfolgung weiter fort.
Dank ihrer familiären Beziehungen war sie schon früh in die Assasinengilde aufgenommen worden. Allerdings hatte sie die anspruchsvollen Prüfungen der Gilde nicht bestehen können - sie war in alter Geschichte, Teezeremonie und Schleichen-im-Kettenmantel komplett durchgefallen. Seither hatte sich Tanja ihren Lebensunterhalt mit allerlei Gelegenheitsarbeiten verdient, wobei ihr ihre (zwar nicht perfekte, aber dennoch ausreichende) Ausbildung als Assassine gute Dienste leistete.
Gerade in Kampfesdingen hatte sie schon immer großen Eifer gezeigt ...
Natürlich hatte sie daneben geschossen. Es war eine Sache einen Kleinkriminellen wegen persönlicher Indifferenzen zur Strecke bringen zu wollen, aber ihn direkt auf der Straße zu inhumieren
[4], das zeugte von einem schlechten Stil - noch dazu vor drei Wächtern.
Also hatte Frau Witwenmacher sie durch ihr Manöver in die Gassen gelockt, sie bildeten in dieser Gegend ein wahres Labyrinth. Die Rekruten hätte sie dann schon dazu gebracht ihren Schützling herauszurücken. Normalerweise waren Stadtwächter nicht besonders diensteifrig, wenn sie sich einem Pfeil gegenüber sahen. Doch sie musste ausgerechnet an diese drei Sturköpfe geraten! Es hätte wunderbar funktionieren können und niemand wäre zu Schaden gekommen. Nun ja, niemand von den Wächtern.
Jetzt war Shlomo weggelaufen, und es war gar nicht so einfach wie man dachte, jemanden, dessen Hände gefesselt waren, in Ankh-Morpork zu finden.
Behände sprang sie von Dach zu Dach der kleinen, baufälligen Hütten, und hielt Ausschau. Sie erzeugte dabei nicht mehr Geräusch als ein normaler Fußgänger.
Da! Sie hatte Soßmann zwar nicht entdecken können, aber die drei Wächter waren leicht auszumachen, und die schienen recht zielsicher. Mit der Geschmeidigkeit einer Katze sprang sie auf eine weitere Hütte und folgte dem Trio unauffällig.
Sebulon hatte Glück gehabt: der kleine Eisendorn, der seinen Arm getroffen hatte, war nach dem häufigen abprallen kaum mehr in der Lage gewesen, eine annähernd ernsthafte Wunde zu verursachen. Den Schmerz hatte der Zwerg durch ihre Verfolgung schon vergessen.
Menélaos, die Nase wie ein Bluthund in die Luft gehoben, führte den Sohn Samax' und Barggasch mit erschütternder Genauigkeit durch den Irrgarten der Gassen. Letzterer keuchte und schnaufte hingebungsvoll, Konstitution war nun wirklich nicht seine Sache. Noch dazu kam, dass Goldwart versuchte, seinen Dolch-Nagelwerfer wieder zu laden, doch die winzige Röhre war während des Rennens kaum zu treffen. Die Armbrust ließ er direkt dort hängen, wo sie war, denn es war ein unmögliches Unterfangen, sie im vollen Lauf spannen zu wollen - selbst mit der Schnelllade-Gürtelschnalle.
Die beiden Zwerge hatten keine Ahnung, wer oder was ihren Kollegen eigentlich führte, denn sie konnten den feinen Pfirsich-Minze-Duft, der in der Luft hing, gar nicht erst wahrnehmen, doch Menélaos war so trittsicher wie ein Ankh-Läufer
[5].
Drei Abbiegungen weiter war es für Braggasch zuviel. Er stützte sich gegen eine Hausecke und keucht: "Lauft ... ohne mich ... müsst ..."
Die beiden Wächter nickten und eilten weiter. Menélaos war sich sicher, dass der Minze-Geruch zunahm, doch der Pfirsich wurde immer mehr von etwas anderem überdeckt. Tabak und Steinkohle?
Sie bogen nach rechts ab.
Dann wieder nach rechts.
Shlomo Soßmann war zwar völlig aus der Puste, aber glücklich. Hier, in den Gassen dieses Viertels kannte er sich aus, wie in der Westentasche eines unglücklichen, aber reichen, unaufmerksamen Bürgers. Hier konnte ihm niemand etwas vormachen! Hier konnten weder die Wächter, noch Tanja ihn einholen! Hier-
Der Knüppel traf ihn direkt hinter dem rechten Ohr.
"Shlomo, alter Kumpel.", polterte eine raue, unfreundliche Stimme. "Dich hab ich ja
ewig nicht mehr gesehen!"
Sebulon und Menélaos bogen gerade um die Ecke, als sie der Szene gewahr wurden, die sich einige Meter die Gasse hinab abspielte. Shlomo hing ohnmächtig an dem ausgestreckten Arm eines Zwerges, der einen großen Eisenknüppel über den Kopf hob.
"Halt! Im ... Namen der ... Stadtwache!", schnaufte Sebulon. Er war zwar weitaus besser trainiert als sein blondgelockter Freund, aber auch ihm waren Grenzen gesetzt.
Die Hand mit dem Knüppel verharrte, der Zwerg drehte den Kopf und schnauzte die Wächter an: "Verpisst euch!"
"Wenn du jetzt aufgibst, Feilgrosch,", brüllte Menélaos, denn er hatte das Gesicht des Fremden schon einmal gesehen - auf Harrys Steckbrief. "Dann lassen wir Gnade walten!"
Vielschlag hob nur eine Augenbraue und brummte amüsiert: "
Ihr lasst Gnade walten? Meine Leute ziehen grade eine Schlinge um diese Stelle, Wächter! Ihr solltet lieber beten, dass
ich Gnade walten lasse, obwohl ich das bezweifle ..."
Sebulon stieß lautlos seinen Lieblingsfluch aus. Wo war denn Braggasch, wenn man ihn mal brauchte? Dann wäre das ganze schnell erledigt. Außer ihm hatte allerdings keiner der drei eine Fernwaffe ...
"Wir hatten so schön die Straße abgesperrt und hätten uns Shlomo hier auf der Hellen Brücke geschnappt. Ihr wärt dabei wahrscheinlich mit ein paar Beulen davongekommen. Aber nein. Ihr musstet ja unbedingt abbiegen! Jetzt haben wir den Salat.", fuhr Feilgrosch fort und grinste breit. "Und ihr solltet euch auch nicht von der Stelle bewegen. Wenn ihr nur einen Schritt näher kommt, schwöre ich -"
"Lass den Knüppel fallen, Vielschlag!", erklang plötzlich eine Frauenstimme von oben. "Das ist
meine Angelegenheit!"
Einen Moment war es still, dann krächzte Feilgrosch: "Tanja Witwenmacher?"
Die Assassine stand breitbeinig auf dem Dach rechts zwischen den Wächtern und dem Zwerg.
"Ganz richtig, Feilgrosch. Runter jetzt mit dem Knüppel!"
"Warum kennt hier eigentlich jeder jeden?", raunte Sebulon seinem Partner zu. Menélaos zuckte nur mit den Schultern.
"Ich lasse mir meine Rache nicht nehmen, Tanja!"
Schmelz beugte sich leicht zu dem Sohn Samax' an seiner Seite hinunter und flüsterte zurück: "Ich frage mich eher wem der alte Shlomo da alles auf den Butterkuchen getreten ist ..."
"Ich ebenfalls nicht, Feilgrosch, also runter mit der Waffe!"
"Niemals!"
"Wenn du nicht sofort den Knüppel sinken lässt-"
"Waffen runter ... beide!", brüllte eine neue, erschöpft klingende Stimme. Braggasch war am anderen Ende der Gasse in Sicht gekommen.
Menélaos und Sebulon wurde zur gleichen Zeit klar: Sie waren fast im Kreis gelaufen, seit sie den Zwerg zurückgelassen hatten.
"Was mischt du dich denn da ein?", kreischte Feilgrosch.
"Genau, das ist eine Privatangelegenheit!", ergänzte Tanja Witwenmacher.
"Waffen runter!", wiederholte Goldwart. Die Spitze seiner Armbrust schwankte unsicher von Vielschlag zu Witwenmacher.
B'ka'ar't'k R'schk'la! Das kann heikel werden!, schoss es Sebulon durch den Kopf.
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Menélaos SchmelzMenélaos' Duftnote wechselte immer schneller. Nur selten erreichte sie eine Kombination wie Multivitamin oder Obstsalat, doch dieses mal überschlugen sich die Ereignisse so rasant, dass der exotische Duft die gesamte Gasse ausfüllte.
Braggasch hatte die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, wedelte mit der Armbrust umher und gewann wertvolle Zeit zum Überlegen. Sebulons Instinkte liefen auf Hochtouren. Die Frau war viel zu sehr damit beschäftigt Braggasch im Auge zu behalten und dabei Feilgrosch zu beschimpfen, welcher ihren wüsten Beleidigungen in nichts nach stand.
Menélaos schaute sich genauer um. Der starke Regen war einem leichten Nieseln gewichen. Wo waren sie? Eine schmale Gasse, es war ziemlich ruhig und dennoch kam ihm etwas bekannt vor. Diese schräge Holztüre da an der Fassade kannte er doch. Er hatte hier einmal was mit einer jungen Schankmaid aus dem ...
"Göbelnden Reiher!" murmelte Menélaos. Sebulon, der dicht neben ihm stand schielte zu ihm herüber.
"Was hast du gesagt?"
"Das Gasthaus
Zum göbelnden Reiher ist genau da drüben. Wir sind im Viertel zwischen der Brauerstraße und dem unteren Breiten Weg."
Braggasch hatte inzwischen wieder Luft gewonnen und ein besonnener Schuss Mut hatte ihn dazu veranlasst, sich in das Wortgefecht der beiden vermeintlichen Verbrecher einzumischen. Feilgrosch schien auf seine Männer zu warten und Tanja schien noch zu überlegen, ob Braggasch eine Bedrohung darstelle oder nicht.
[6]"Was nützt uns das?" Sebulon grunzte leise und schaute nervös zwischen den drei Streithähnen hin und her.
"Der göbelnde Reiher ist eine der schlimmsten Kaschemmen auf der Götterinsel!"
"Verstehe, Schläger, Spieler und solche Leute." meinte Sebulon.
"Schlimmer." Menélaos schluckte und fixierte die Türe.
Einen Moment lang herrschte Stille, dann entschloss sich Sebulons Fantasie zu streiken.
"Schlimmer?"
"Straßenhändler."
Sebulon legte die Stirn in Falten und schaute Menélaos kurz an.
"Straßenhändler?"
"Du wirst schon sehen. Man soll den Teig nicht vor dem Aufgehen loben! Pass auf, wir machen folgendes: ..."
Tanja Witwenmacher hatte langsam die Schnauze gestrichen voll. Dass Feilgrosch wieder da war, hatte sie schon gehört, aber dass er so schnell wieder so gefährlich geworden war, hatte sie nicht erwartet. Dies war nicht mehr seine Angelegenheit, zumindest wenn es nach ihr ging. Dazu noch diese idiotischen Wächter. Zwei Zwerge und ein großer, gebräunter Mensch. Der Kurze mit der Armbrust scheint kein versierter Schütze zu sein, der Große und der andere Zwerg ... wechselten plötzlich die Seite und standen beinahe direkt unter ihrem Dach. Sie fluchte leise über ihre kurze Unachtsamkeit. Dennoch blieben die beiden Wächter in Reichweite. Feilgrosch lieferte sich inzwischen ein heißes Wortgefecht mit dem schnaufenden, blonden Zwerg.
Knirsch! Holz krachte.
"Hey Leute, hier hinten sind Touristen aus Gennua, ganz frisch!" brüllte der große Wächter.
Es wurde laut.
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Sebulon, Sohn des Samax:Was nun geschah, ist legendenreif.
Die Zeit verlangsamte sich, bis sie nur noch träge wie Sirup dahinkroch.
[7] Die Türen des
göbelnden Rheiers barsten beinahe, als sie aufgestoßen wurden und drei überladene Schemen stürmten heraus. Wie in einer abgesprochenen, grotesken Choreographie wirbelten diese drei an verschiedenen Punkten der Straße im Kreis und um sie herum entstanden je ein mobiler Verkaufswagen mit Schmuckstücken, ein ausgelegter hässlicher Teppich, und diverse sinnlose Gegenstände fanden in unfassbarer Geschwindigkeit ihren Weg auf je eine ausgebreitete Decke. Das waren professionelle Straßenhändler
[7a] - und sie hatten Blut geleckt.
Gleichzeitig griff Menélaos in seine Tasche, holte einen Dollar heraus und schnippte ihn in die Richtung von Herrn Vielschlag.
Erstaunlich kurz darauf holte Sebulon weit mit seiner Axt aus und warf sie. Im Vergleich mit den flinken Straßenhändlern hingen Zwerg und Axt beinahe reglos in der Luft und drehten sich langsam in entgegengesetzter Richtung um den je eigenen Mittelpunkt.
Menélaos duckte sich in die Kaschemme hinein, schloss und verriegelte die Tür hinter sich. Dann warf er sich auf den Boden, hoffte das Beste und begann nach bitterer Mandel zu duften.
Sebulon drückte sich von der Wand ab, sprang, schwebte über den Teppich eines noch aufbauenden Straßenhändlers hinweg, kam unsanft auf dem völlig erschöpften Braggasch auf und rollte sich ächzend über ihm ab.
[9]Herr Vielschlag fragte: "Was ..."
Braggaschs Armbrust entlud sich ungezielt und der Bolzen flog - wie es der Zufall wollte - in die Richtung von Frau Witwenmacher.
"... soll ..."
Die Assassine wich dem Armbrustbolzen aus. Aus einem Augenwinkel sah sie die Axt auf sich zu kommen und ihre Reflexe begannen zu arbeiten.
"... der ..."
Sebulon bedeckte beide Ohren mit seinen Händen und hauchte Braggasch zu: "Bleib unten!", was dieser mit einem Stöhnen quittierte, denn sein Freund lag noch immer mit Gewicht auf ihm.
"... ganze ..."
Frau Witwenmacher stellte fest, dass ihre Reflexe viel zu langsam arbeiteten, wenn ihr Leben aus der Gefahr gebracht war. Die Axt erreichte ihren Bogen und ließ ihn langsam und genüsslich splitternd auseinanderbrechen.
Und das war der Moment, in dem die Straßenhändler die Vorbereitungen beendet hatten, ihren seriösen Blick aufsetzten und zu reden begannen.
Neuneinhalb Sekunden später bemerkte Sebulon, dass er noch immer atmete. Er setzte sich auf und rieb sich die Schläfe, bevor er die Augen öffnete. Die Händler waren fort. Geblieben war eine Wolke von Staub, die sich zu lichten begann. Halb unter ihm lag sein Freund Braggasch, der mit geschlossenen Augen immer wieder schrie: "Ich habe doch nichts!"
[10] Außerdem kam es Sebulon so vor, als läge Marzipangeruch in der Luft.
Er klopfte ihm viermal auf den Helm, bevor der Zwergenrekrut es bemerkte, die Augen öffnete und sich umsah.
"Äh, sind sie ...?", fragte der Blondgelockte ängstlich.
"Ja, sind sie.", hauchte Sebulon ehrfürchtig und deutete zu Herrn Vielschlag. "Ich würde sagen, in der Richtung."
Braggasch erkannte Feilgrosch kaum wieder. Der trug jetzt einen Turban, sieben Ringe an jeder Hand, eine viel zu lange, bunte Hose, Elefantenschuhe, ein zu kurzes Hemd mit der Aufschrift "Ich
unförmiger Kreis A.M.", in der linken Hand einen staubigen Teppich und in der rechten einen Geldbeutel, der jetzt einige Kwittungen enthielt.
Von Tanja Witwenmacher gab es keine Spur.
Sie hatte es schlimm getroffen: Die Straßenhändler waren an der absolut glatten Mauer in einer Geschwindigkeit hinaufgeklettert, als wenn es eine sehr leichte Assassinen-Trainingsstrecke wäre, und hatten ihr Stoffe gezeigt, denen sie nicht widerstehen konnte. Als die Händler das Interesse an ihr verloren, weil ihr Geldbeutel zur Neige ging, und mit Leichtigkeit den Abstieg frustrierenderweise in minimaler Zeit schafften, hatte sie exakt ein Kleidungsstück an. Deshalb befahlen ihr ihre Instinkte den Rückzug, um nicht tödlicher Schande ausgesetzt zu werden.
"Was? Das! Was? Wer!", brüllte Vielschlag, der sich über den Tisch gezogen fühlte.
[11]Menélaos öffnete die Tür der Kaschemme und eine Mischung aus Safran und Minze wehte durch die Gasse.
"Herr Feilgrosch.", sagte er und zog sein Wächterschwert, "Du bist verhaftet, weil du Wächter in der Ausübung ihrer Pflicht bedroht hast."
Sebulon half dem verstörten Braggasch auf die Beine und klopfte sich den Staub von der Kleidung.
Feilgrosch Vielschlag, der neben dem noch immer ohnmächtigen Shlomo Soßmann stand, begann zu lachen. "Ist das so?", fragte er.
Die Wächter sahen einander an und ihnen war klar, dass besiegte Schurken nicht lachen sollten.
"Ihr vergesst etwas.", kicherte der Schurke.
Braggasch nahm allen Mut zusammen und rief mit sich überschlagender Stimme: "Ach, äh ... und was?"
Der kichernde Zwerg begann hysterisch zu lachen. "Meine vierzig Leute, die uns eingekreist haben", brüllte er über den Platz.
Menélaos runzelte die Stirn. "Haben wir das?", fragte er. "Wenn ich mich nicht irre, sind die Straßenhändler genau in diese Richtung dort verschwunden. Deine Männer sind bestimmt nicht einmal mehr bewaffnet. Es sei denn, du zählst Teppiche zu 'gefährlichen Waffen' ... Ich hingegen habe ein Schwert."
Mit einem mal war der Zwerg ruhig und geschäftsmäßig kühl.
"In der Tat. Stell dir vor, eine Bande von bösen Menschen wurde soeben offiziell bestohlen. Sie halten jetzt viele Kwittungen in der Hand - als nächstes finden sie drei Wächter in einer dunklen Gasse, die zusammen
ein Schwert haben. Was meinst du, was die Bande von bösen Menschen dann tut, Wächter? Oder lass mich anders fragen: Wieviele kannst du euch alleine vom Leib halten?"
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Braggasch Goldwart: "Er ist nicht allein, immerhin habe ich noch meine ... Äh ...", langsam sah Braggasch zu dem leeren Gürtel, an dem seine Armbrust hätte hängen sollen. Eine vorsichtige Erinnerung kroch in sein Bewusstsein. Natürlich! Er hatte die Armbrust ja in der Hand gehalten - und somit nicht unter Sebulons rettendem Gewicht. Aber wenn die Straßenhändler sie mitgenommen hatten, wogegen hatte er sie dann ...? Sein Blick glitt weiter zum Boden, auf dem eine kitschige, kleine Holzfigur vom Blinden Io stand. Der Zwerg hob sie auf, beendete seinen Satz mit "... verdammt!", und steckte die Figur ein.
Zum Glück steckte sein Dolch noch da, wo er sein sollte.
"Ich zittere!", grinste Feilgrosch hämisch, als Braggasch den Dolch zog und lud. "Jetzt stehen eure Schongsen natürlich viel besser! Ein Schwert und ein Dolch -"
"Und eine schmerzhafte Trümmerwaffe.", warf Sebulon ein und zog seinen großen Schraubenschlüssel. "Dein Leute werden, wenn sie überhaupt existieren, noch einen Moment brauchen, deshalb schlage ich vor, du übergibst uns Shlomo, oder ich mache eine hässliche Beule in deinen lächerlichen Turban!"
Vielschlags Lächeln verblasste. Unruhig sah er von einem Wächter zum anderen.
"Ihr kommt nicht weit!", prophezeite er, als er einige Schritte von dem reglosen Soßmann zurücktrat.
Während Braggasch zitternd mit dem Dolch-Nagelwerfer auf den vielfachen Mörder deutete, hob Menélaos den ohnmächtigen Körper auf und hievte ihn sich auf die Schulter.
"Meinst du nicht, wir sollten ihn festnehmen, solange wir noch können?", meinte Schmelz, in Richtung Feilgrosch deutend, zu Sebulon.
"Ich bezweifle, dass er es uns leicht machen würde, und wenn seine Männer wirklich da sind, erleben wir den nächsten Tag dann bestimmt nicht.", gab dieser zur Antwort.
Braggasch nickte zustimmend, und so entfernten sich die Wächter vorsichtig vom Schauplatz des Geschehens und eilten aus den Gassen.
Sie erreichten die jetzt wieder bevölkerte Straße ohne weitere Zwischenfälle.
Auch die Helle Brücke passierten sie ungestört.
Doch kaum hatten sie die Füße wieder auf festem Boden, trat eine in einen Mantel gekleidete Person einige Schritte entfernt aus dem Schatten.
"Ich hätte gedacht, dass ihr euren Weg ändern würdet. Das wäre klüger gewesen.", meinte Tanja leichthin.
Menélaos erstarrte, Braggasch zielte sofort mit seinem Nagelwerfer und Sebulon knurrte: "Was willst du, Frau Witwenmacher?"
"Euch ins Gewissen reden."
Die Wächter tauschten verständnislose Blicke.
Goldwart war der erste, der sprach. "Äh ... was?"
"Shlomo ist ein Schuft. Ihr werdet ihn nicht ewig im Gefängnis behalten können. Sobald er draußen ist wird er mit den Gaunereien weitermachen, das muss euch doch klar sein!"
Sebulon nutze die Zeit, in der sie redete, um die Frau aufmerksam zu mustern. Außer dem Pelzmantel schien sie nichts bei sich zu haben, selbst ihre Füße waren bloß. Natürlich hätte sie Waffen unter den dicken Pelzschichten verstecken können, aber nur kleine. Assassinen konnten zwar auch mit kleinen Waffen töten - aber je kleiner eine Waffe, umso kleiner auch der nötige Abstand zwischen Täter und Opfer. Der Zwerg entspannte sich ein wenig.
"Warum übergebt ihr ihn mir nicht einfach? Warum setzt ihr euer Leben für einen Dieb ein?", wollte Tanja wissen.
"Weil wir Wächter sind.", brummte Menélaos, als wäre das Antwort genug.
"Es ist unsere Pflicht.", ergänzte Braggasch.
Tanja Witwenmacher seufzte. "Wisst ihr, ich bin überrascht, dass ihr so trickreich und, ja, auch fähig seid, denn sonst wärt ihr schon lange tot. Aber ich kann mich nur über eure Dummheit wundern."
"Dümmer als all sein Geld und seine Sachen für einen Pelzmantel herzugeben?", konterte Sebulon.
Tanja starrte ihn böse an - Braggasch errötete und tastete erneut nach dem leeren Armbrusthalten an seinem Gürtel.
"Nein. Vielleicht nicht.", gab Witwenmacher zu. "Aber Feilgrosch wird nicht aufgeben, dass wisst ihr. Und jetzt kennt er keine Gnade mehr, wenn er sie denn je kannte."
"Wir werden bereit sein.", sagte Menélaos überzeugt. Leichter Minzegeruch mit einem Hauch Zitrone ging von ihm aus.
Tanjua schüttelte den Kopf. "Wollt ihr nicht mir einfach die Probleme überlassen?", versuchte sie es erneut.
"Äh ... nein.", sprach Braggasch aus, was alle drei dachten.
"Dann: Viel Glück. Vielleicht sehen wir uns ja unter besseren Umständen wieder."
Tanja Witwenmacher drehte sich schon um und verschwand wieder in der Umgebung, als Sebulon ihr nachrief: "Tanja?"
Ein "Ja?", war zu hören.
"Was hat Shlomo dir angetan, dass du so sauer auf ihn bist?"
Wieder ein seufzen. "Ach Wächter. Ich kann nur wiederholen, was ich schon in den Gassen sagte: Eine Frau erzählt nicht alles, was wichtig ist. Fragt Shlomo, wenn ihr unbedingt wollt." Dann deutete die stillere Stille
[12] darauf hin, dass Tanja fort war.
"Also weiter.", stöhnte Sebulon.
Sie kamen ganze fünf Querstraßen weiter. Dann schob sich ihnen ein hoher, schwerer Karren in den Weg und blockierte ihn mit erstaunlicher Konsequenz. Der Kutscher kletterte sofort über seinen Wagen auf ein nahes Dach.
Als die Wächter sich umdrehten erschien auch aus der Gasse hinter ihnen ein solches Gefährt.
Feilgrosch Vielschlag hatte gut vorrausgeplant.
"Sahnesteif und Krümelkuchen!", fluchte Menélaos.
"Äh ... verdammt!", stimmte ihm Braggasch zu.
"B'ka'ar't'k R'schk'la!", gab Sebulon zum Besten.
Von irgendwoher erklang das Geräusch von Elefantenschuhen auf Pflasterstein ...
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Sebulon, Sohn des Samax: "So, ihr wackeren Recken, jetzt rückt meinen alten Freund Shlomo Soßmann raus. Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen und möchten uns ein wenig unterhalten.", sagte Feilgrosch mit einem ironischen Unterton und trat aus dem Schatten der einzigen Gasse, in die sie hätten fliehen können.
Menélaos Schmelz, eingehüllt in eine Wolke aus Safran, legte den ohnmächtigen Gefangenen ab, schob das Kinn vor, hob das Schwert auf Gürtelhöhe und sagte: "Nur über deinen kalten, toten Körper."
Die beiden Zwerge stellten sich zu Soßmann, Rücken an Rücken. Sebulons Knie schlotterten und Braggasch ließ sein Leben noch einmal vor seinem inneren Auge entlangziehen.
Feilgrosch machte "Ts, ts, ts ...", und lehnte sich gegen einen der beiden Wagen. In der linken Hand hielt er den Teppich, den er ... erworben hatte; seine Rechte umschloss einen gezackten Dolch.
Als Sebulon ihn sah, merkte er auf und seine Hand umfasste den Schraubenschlüssel so fest, dass seine Fingerknöchel weiß vortraten. In durch Adrenalin gestützter Geschwindigkeit analysierte Sebulon die Lage und fragte sich:
Meer und Schafe, wo sind die vierzig Handlanger, die Feilgrosch uns versprochen hat? "Warum stehst du da alleine, Herr Feilgrosch?", knurrte er. "Haben deine Leute den Glauben in dich verloren? Zahlst du ihnen zu wenig oder ist ihnen klar geworden, dass mal zur Abwechslung der alte Vielschlag selbst ein paar Hiebe austeilen könnte?"
Hinter der Kutsche versuchte jemand ein Kichern zu unterdrücken. Das Gesicht von Vielgrosch verdüsterte sich schlagartig.
"Was soll das?", flüsterte Braggasch ihm zu. "Willst du ihn etwa wütend machen?"
Dann kam Sebulon ein genialer und sehr gefährlicher Gedanke.
Er hob den Gefangenen stöhnend auf seine Schulter, trat einen Schritt auf den Gauner zu, und fragte mit Strenge in der Stimme: "Ein klatschianischer Reißer? Verstößt der nicht in Ankh-Morpork gegen mindestens drei Gesetze?"
"Hast du den Verstand verloren?", zischte sein Freund und beeilte sich, wieder Rücken an Rücken mit Sebulon zu stehen. "Du willst ihn erst zur Weißglut bringen und dann versuchen ihn festzunehmen?"
"Mach mit, ich habe einen Plan!", wisperte sein Freund ihm zu. Laut und zu Vielschlag gewandt sagte er: "Und die Stadtverordnung macht mit Verordnung 53 sehr deutlich, dass du Frösche züchten solltest. Besitzt du Frösche?"
Seine beiden Kollegen sahen Sebulon aus den Augenwinkeln an. Hinter dem Wagen lachte jemand kurz auf.
"Willst du mich einschüchtern, Kleiner?", lächelte Feilgrosch und verlagerte das Gewicht des Teppichs. "Du und welche ..."
"Wusstest du, dass dieser Teppich mit giftigen Farbstoffen hergestellt wurde? Einige Mitglieder in der Wache legen großen Wert auf Umwältschudz, habe ich mir sagen lassen.", rief Menélaos und ging langsam auf den Zwerg zu.
Zimtgeruch hing in der Luft.
Er hat den Plan also verstanden, jetzt muss nur noch Braggasch mitspielen."Bitte", flüsterte Sebulon, unter dem Gewicht des Gefangenen schwitzend. "Mach mit!"
"Äh, deine Schuhe sind, hmm, geschmacklos!", rief sein Freund.
Na gut. Nicht gerade das, woran ich gedacht hätte, aber es könnte damit auch funktionieren.Laut sagte der Sohn von Samax: "Haben deine Karrenlenker eine gültige Lizenz? Unlizenzierte Karrenlenker werden ..."
"Stellst du Kwittungen aus, wenn du Menschen tötest?", fiel ihm Menélaos ins Wort. "Wenn nicht, dann müssen wir das der Assassinengilde ..."
Unwillkürlich trat der Zwerg einen Schritt zurück und hob seinen Dolch.
Der Wächter ließ sein Schwert niedersausen, Feilgrosch parierte den Schlag jedoch.
"Was soll der Mist? Ihr macht euch nicht ungestraft über mich lustig! Niemand macht sich über Feilgrosch Viel..."
"Du kämpfst wie ein dreifüßiger kleinwüchsiger Löwe mit Grippe!", rief Menélaos und traf erneut mit dem Schwert den Stahl seines Dolches.
Erneut erklang ein leises Kichern hinter der schweren Kutsche. Noch jemand begann zu kichern.
"Hörst du?", rief Menélaos, "Selbst deine eigenen Leute lachen über dich!"
"Das ist nicht wahr ...", begann Feilgrosch und wich einen weiteren Schritt in die Gasse zurück
"Deine Mutter war ein Backstein und dein Vater betrunken!", rief Sebulon.
"Und du hast eine hässliche ... äh ... Nase!", sagte Braggasch.
Verwünschend und beleidigend näherten sich die Wächter mit gezogenen Waffen Feilgrosch, der im Angesicht dreier ihn lächerlich wirken lassender Rekruten nicht wusste, was er sagen konnte.
Gefreiter William de Morgue bog um die Ecke, ließ sein Pferd anhalten und sah ungläubig auf den Stau vor ihm.
Händler standen am Straßenrand und versuchten den größtmöglichen Profit aus der unerwarteten Ansammlung von Bürgern zu schlagen. Karren standen dicht an dicht und Schaulustige hatten sich am Straßenrand versammelt. Von irgendwo erreichte William der Geruch von Bratwürsten.
Warum bewegte sich niemand weiter? Das war kein gewöhnlicher Stau. Er spähte die Schwindel-Straße hinunter. War das dort hinten etwa ein 2477er Vierrader mit Kutschbock, der aus der Gasse heraus, mitten auf die Straße hin, quer geparkt war?
Er schüttelte den Kopf. Was diesen
gewöhnlichen Leuten wohl als nächstes einfallen würde? Auf Dächern parken?
Vorsichtig wendete er das Pferd und ließ es so schnell traben, wie es die gedrängte Menschenmenge zuließ.
Warum hatte noch kein Wächter etwas unternommen? Alleine würde er das jedenfalls nicht regeln können. Glücklicherweise war das Wachhaus ja nicht weit.
Noch drei Schritte ..., dachte Sebulon.
Menélaos hieb mit dem Schwert auf den immer schwächer parierenden Zwerg ein und begleitete den Schlag mit den Worten: "Niemand mag dich, nicht einmal deine Mutter!"
Braggasch rief: "Deine Mutter hat keine Kinder!"
Die Beleidigungen wurden mit Lachen und teilweise sogar Applaus von Feilgroschs unsichtbaren Leuten quittiert.
Zwei Schritte ...Sebulon rief übermütig: "Dein Bruder ist ein Troll!"
Feilgroschs Männer gröhlten vor Lachen.
"Mein Bruder?", brüllte Vielschlag. Seine Muskeln spannten sich. "Du elender ...!"
"Ganz richtig!", gab Sebulon zurück. "Und deine Schwester hat keinen Bart!"
In diesem Moment brannte bei Feilgrosch eine Sicherung durch.
Sebulons Brust durchzuckte ein heißer Schmerz. Bevor er verstand, was schief gelaufen war, wurde ihm schwarz vor Augen. Er glitt auf den Boden, der sich langsam von seinem Blut rot färbte.
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Braggasch Goldwart: Sebulon gab keinen Ton von sich, als er langsam in die Knie sank, die Hände an den Dolchgriff legte, der aus seinem Unterleib ragte, Feilgrosch verständnislos ansah und zur Seite weg kippte.
Doch er brauchte auch nicht zu schreien - das erledigte Braggasch für ihn. Mit einem schrillen, langgezogenen, unartikulierten Schrei beobachtete er den zeitlupenartigen Fall seines Freundes. Dann nahmen seine Augen einen komaartigen Glanz an.
"Bra-", konnte Menélaos noch rufen, da hatte sich Goldwart schon auf seinen Widersacher gestürzt.
Vielschlag riss die Augen auf, und einen Moment standen sich die beiden Zwerge gegenüber. Auge in Auge. Hemd an Lederpanzer. Turban an blonden Locken. Der Glanz vor Braggaschs Augen wich, und in einem unwirklichen Moment dachte er:
So muss sich Jargon fühlen, wenn er die Beherrschung verliert.Menélaos, Feilgroschs Männer und Sebulon wagten nicht zu atmen
[13], denn die dichte Spannung, die zischen den beiden Kämpfern knisterte, machte jede Handlung der Außenstehenden unmöglich. Dies passiert dauernd im Multiversum, die Geschichte sorgt dafür.
Dann begann Feilgrosch zu lächeln. Es war jenes irre Grinsen, das sie bereits von dem Mörder kannten, und das sich jede Sekunde in ein wahnsinniges Kichern verwandeln könnte.
Sie wurden nicht enttäuscht.
Während der Zwerg seinen Triumph in die Welt lachte, sah Braggasch nach unten. Der alte Teppich, den Vielschalg noch immer in der linken Hand gehabt hatte, als er Sebulon mit dem Dolch - den übrigens einer seiner Männer vor den Verkäufern hatte retten können - erstach, war zwischen ihnen. Die Reflexe des Mörders hatten anscheinend beschlossen, dass sie ihren Besitzer noch ein wenig am Leben erhalten wollten. Der Dolch war in den dicken, alten Stoff eingedrungen, und nur gerade so eben mit der Spitze an der anderen Seite wieder ausgetreten. Braggaschs wütender Vernichtungsstich hatte Feilgrosch gerade mal einen Kratzer zugefügt.
Von dem Gelächter aufgeweckt, begannen die Handlanger des Zwerges nun von den Karren zu klettern. In der Eile hatten sie sich alles mögliche als Waffen besorgt: Holzknüppel, Gabeln, Socken mit Sand darin und große Steine.
Menélaos wandte sich ihnen zu und deckte Goldwart mit seinem Rücken. "Brag?", entfuhr es ihm panisch, die Gefühle, die er bis dahin versucht hatte zurückzuhalten, löste eine Woge aus Himbeer, Zitrone, Safran und Mandel aus.
Doch Braggasch stand noch immer starr vor Feilgrosch, der ihn im Lachen mit Speichel bedeckte.
Eine winzige Gehirnelektrode erreichte ihr Ziel.
Es klickte.
Das Lachen verstummte.
In diesem Moment erreichte die Duftwoge den ersten Handlanger. Er schnüffelte - und würgte.
Unsicher trat Vielschlag einen Schritt zurück, der Teppich fiel ihm aus der Hand und löste sich vom Dolch, den Barggasch noch immer fest umklammert hielt. Sein Daumen ruhte auf dem kleinen Knopf in der Mitte des Griffes.
Der Mann vor Menélaos ging in die Knie und würgte und keuchte hingebungsvoll. Er ließ den Stein fallen und griff sich an die Kehle, versuchte Luft zu bekommen. Die Aufrückenden begannen, es ihm gleich zu tun.
Feilgrosch beobachtete den winzigen Blutfluss, der aus seiner Brust rann. Es tat nicht wirklich weh, es würde ihn ganz sicher nicht umbringen, aber es war so ... kalt ... und schockierend.
"Und dein Bruder ist doch ein Troll!", stieß Braggasch hervor, holte aus, und zielte auf Vielschlags Nase.
Weniger, weil der Schlag so heftig war, sondern mehr aus Überraschung, ging der Zwerg zu Boden.
Kampfbereit und mit einem ungewöhnlich tiefen Groll drehte sich Goldwart um - und sah einen Haufen kampfunfähiger, auf dem Boden liegender und nach Atem ringender Männer.
Menélaos, ein Tuch vor den Mund gepresst, drehte sich leicht zu seinem Kollegen um. "Das ist mir noch nie passiert! Ehrlich!" Schamesröte ließ sein Gesicht glühen.
"Was ... äh ... ist denn passiert?", wollte dieser wissen.
"Riechst du es nicht?", fragte der ehemalige Konditor perplex.
Braggasch schnupperte. "Doch ... es riecht sehr stark nach ... äh ... Ich glaube, meine Mutter hat so etwas mal gebacken ..."
Schmelz sah seinen Freund ungläubig an und schüttelte langsam mit dem Kopf.
"Los! Vorwärts! Etwas schneller, wenn ich bitten darf!" Der Ausruf ließ die beiden Rekruten herumfahren. Der dem Wachhaus nähere Wagen begann sich zu bewegen. Als eine breite Lücke entstanden war, trabte langsam ein Pferd hindurch. Auf sich einen äußerst selbstbewusst wirkenden Mann.
William rümpfte abschätzig die Nase. Wie es in dieser Gasse stank.
Über seine Nase hinweg beobachtete er die einzigen beiden noch stehenden Individuen. Der eine war groß und kräftig, er könnte gut einen Leibwächter oder Türsteher abgeben. Der Andere war klein und blond. Erst nach näherem hinsehen erkannte de Morgue, dass es sich wohl um einen Zwerg handeln musste. Beide trugen das Wappen der Stadtwache auf ihrer Bekleidung, beide sahen William an, wie zwei Katzen, die einen Stiefel heranfliegen sehen.
"Was ist hier los?", wollte der Gefreite wissen.
Der Eine sagte: "Äh ..."
Der Andere vervollständigte: "Wir brauchen einen Gefangenentransport!"
"Und einen Arzt!", warf der eine schnell ein, nachdem er hektisch zur Seite geblickt hatte.
"Und mehrere Männer, ich weiß nicht, wie lange es anhält ...", ließ sich der Andere wieder vernehmen.
William de Morgue runzelte empört die Stirn, holte Luft - sah sich dann allerdings noch einmal um, und ließ die Luft wieder entweichen. Er nickte knapp, wendete sein Pferd, schrie einige Befehle und setze sich unverzüglich in Bewegung.
Nach seinem Ausruf hatte sich Braggasch neben Sebulon gekniet. Unsicher, was er tun sollte, klopfte er ihm sanft auf den Bauch - was ein sofortiges Stöhnen zur Folge hatte.
"Na ja, wenigstens heißt das, dass er noch lebt.", meinte Menélaos mit trockener Stimme. Er war an den Zwerg herangetreten. "Braggasch, lass ihn am besten, wir haben keine Ahnung, was wir tun können, und alles könnte es noch schlimmer machen." Mitfühlend legte er seine haarige Hand auf Goldwarts Schulter.
Dieser schluchzte.
"Vielleicht ... kann ich ...?", meinte eine schüchterne Stimme hinter ihnen. Der Kondichemiker drehte sich um und erkannte Jargon.
"Du?"
"Ich war recht gut beim Verband anlegen ...", erwiderte ihr Mitrekrut vorsichtig. "Und da der hochnäsige Morgue mich schon zum Karrenziehen hergeschleift hat, könnte ich mir das zumindest mal angucken."
Menélaos nickte und zog Braggasch, der vollkommen teilnahmslos wirkte, von Sebulon weg.
Jargon sah sich den Körper des Zwerges an.
"Der Dolch steckt tief ... aber es hätte schlimmer kommen können, ein Teil vom Gürtel hat viel Wucht gebremst ... ich denke, wenn ich
hier ..."
Sebulon stöhnte hingebungsvoll.
"Oh ... Verzeihung!"
Nach drei Tagen liegen hatte er die Schnauze voll. Sebulon versuchte sich aufzurichten, doch der heiße Schmerz in seinem Magen ließ ihn wieder zurücksinken. Zischend ließ der Sohn von Samax den Atem entweichen, denn vom Stöhnen hatte er ebenfalls die Schnauze voll. Während Rogis Behandlung hatte er das oft genug getan.
Von dem Geräusch geweckt fuhr Braggasch auf dem Holzstuhl zusammen, der am Fußende der Pritsche stand.
"Was? Äh ... du sollst dich nicht ..."
"Jaja
ja! Bitte verschon mich, Brag." fuhr Sebulon direkt dazwischen. "Ich weiß. Aber ich hab's so satt!"
Sein Freund zuckte mit den Schultern. "Ich find es hier gar nicht so schlecht."
"Ja, normalerweise bist
du von uns derjenige, der hier liegt."
Braggasch nickte. "Sie sorgen sich hier um dich, reiben dich mit Salben ein und so ... Äh ... Und man bekommt so viel Verband, wie man nur essen kann."
Auf Sebulons geschockten Blick hin hob er sofort die Hände. "Ein Scherz, ein Scherz. Man bekommt Rattensuppe, wenn sie zufällig jemand gemacht hat ... und dafür hab ich schon gesorgt.", versicherte er.
"Danke."
Schweigend sahen sich die beiden Zwerge an.
"Wie lange bist du schon hier?", wollte Sebulon schließlich wissen.
"Oh ... ich ... äh ... sitze eigentlich hier, seit wir dich reingetragen haben. Nur zum essen und waschen geh ich manchmal, und wenn Rogi dich behandelt, das kann ich nicht sehen ... äh ... Und manchmal schlaf ich auch."
Der Sohn Samax grinste. "Ach Goldi, geh ruhig, ich lauf schon nicht weg."
Braggasch verzog gequält seine Miene. "Da bin ich mir nicht so sicher, Gürtel."
Sebulon lachte, und verzog sofort schmerzerfüllt das Gesicht. Nach einer Weile meinte er: "Na, wenn du mich nicht in Ruhe lassen willst, dann erzähl mir wenigstens, was passiert ist. Ich war in den letzten Tagen etwas ... abwesend."
"Ja. Gut. Äh ... also ich habe Feilgrosch angeschossen und Menélaos hat sich um seine Männer gekümmert ... und dann kam ein Straßenbeamter, William de Morgue, seltsamer Kerl, aber er hat alles geregelt. Jargon hatte es geschafft, dich transportfähig zu machen ... äh ... und dann ist ein Karren gekommen und hat dich abgeholt. Hier hat dich dann Rogi zusammengeflickt, natürlich. Ja ... äh ... und Shlomo haben wir abliefern können. Haben ein wohlgemeintes Nicken und einen Händedruck dafür bekommen. Äh ... ach ja, Feilgrosch ist ... äh ... abgehauen."
Bei diesen Worten verdüsterte sich Sebulons Gesichtsausdruck.
"Ja ... mein Projektil hat ihn natürlich nicht ernsthaft verletzt und mein Schlag war nicht kräftig genug ... Äh ... du weißt, wie schlecht ich im waffenlosen Kampf bin ... äh ... Aber einige seiner Männer konnten wir festnehmen ... die Leute von RUM kümmern sich jetzt darum, glaube ich. Oh, und Harry hat uns eine Woche frei gegeben."
"Oha.", meinte der verletzte Zwerg und sinnierte über die Geschichte. "Und was machst du mit deinem Urlaub?"
"Äh ... ich denke, wenn es dir jetzt wieder besser geht, dann werde ich mal ein wenig in der Schmiede arbeiten. Vielleicht kommt mir ja eine schöne Idee für was Neues - aber du müsstest mir ... äh ... Geld pumpen ... äh ... die Armbrust wurde mir vom Sold abgezogen ..."
Sebulon sah in das peinlich berührte Gesicht seines Freundes, schüttelte grinsend mit dem Kopf und entspannte sich.
Braggasch sah so aus, als wollte er noch etwas sagen, doch in diesem Moment öffnete sich die Tür und Menélaos kam herein. Lächelnd grüßte er den Verletzten wortlos und bedeutet dann dem Blonden, diesem endlich seine Ruhe zu gönnen. Eine Weile stritten die beiden gestisch miteinander, was nicht nur albern aussah, sondern Sebulon auch nicht im geringsten half Schlaf zu finden, dann komplettierte der Kondichemiker den Zwerg hinaus.
Abermals schüttelte der Invalide den Kopf, dann betrachtete er die weiß getünchte Decke.
Ob wir es jemals schaffen, heil aus einer Sache herauszukommen?, ging es ihm durch den Kopf, bevor er einschlief.
[1] So etwas wie: Ist er "Würklich ein Färbrächer?" und "Ahtmet er noch?". Am längsten überlegen mussten sie bei der Frage, ob der Gefangene "Ripprässiohnen" erlitten habe. Sie kreuzten nein an, nachdem sie ihn gefragt hatten, wann er zuletzt eines von TMSIDR-Schnappers Rippchen gegessen hatte.
[2] Der Gefangene weigerte sich, dass ihn jemand abklopfte, obwohl es der blondgelockte Zwerg mit einem frechen Grinsen anbot.
[3] Der kleine Leitfaden der Gilden von Ambrosius Grumpel lag auf dem Abort in der Kröselstraße. Die Ausbilder waren der Meinung, dass man Bildung an unauffälligen Orten platzieren musste, damit sie einen Weg in die Köpfe von Rekruten finden konnte.
[4] Trotz Rauswurf hatte sich Tanja die Redeweise der Gilde angeeignet.
[5] Fast wie ein Wasserläufer, nur mit weitaus breiteren und stabileren Beinen
[6] Die Bedrohlichkeit von Braggasch litt vor allem darunter, dass sich a) seine Stimme ständig überschlug und b) sein Repertoire an Verwünschungen, Drohungen und püschologischer Kriegsführung noch recht jungfräulich war. "Sohn einer verrosteten Feder und einer 18er Mutter!" hatte er sich später sogar aufgeschrieben.
[7] Das tat Zeit gerne, wenn sie einen Moment genießen wollte. Perfekte Momente hatten eben doch immer mit etwas Süßem zu tun.
[7a] Straßenhändler sind mitnichten unlizenzierte Händler. Im Gegenteil: Dass die Gilde der Händler und Kaufleute nach eigenen Angaben Straßenhändler nicht ausbildet, bedeutet nicht, dass sie nicht als eine Art Sondereinsatztruppe für die Gilde von einem gewissen Nutzen ist: Professionelle Straßenhändler arbeiten mit einer Frequenz von über dreißig Quittungen pro Sekunde. Und sie arbeiten effektiv. Sie sind allerdings innerhalb der Gilde für ihre Herzlosigkeit verpöhnt, stehen unter dem Verdacht Doppelagenten für die Diebesgilde zu sein, und werden auch nicht in der Statistik der Gilde geführt. Zumindest nicht in der offiziellen.
[9] Es gibt tatsächlich unangenehmeres als auf einem Zwerg zu landen. Beispielsweise kann man beim landen auf einem Zwerg ein Kettenhemd tragen.
[10] Braggasch würde später sagen, dass es ein Alptraum war. Seinen Geldbeutel hatte er im Umkleideraum gelassen und als die Straßenhändler zu ihm kamen, konnte er nichts kaufen. Er konnte nicht einmal etwas als Anzahlung geben, weil Sebulon halb auf ihm lang und nichts hörte. Wer weiß, was passiert wäre, wenn die Straßenhändler nicht ein fliegendes Geldstück bemerkt hätten, das ihnen die Richtung zu einem potentiellen Kunden wies.
[11] Zu recht; den Turban hätte er für den halben Preis bekommen, wenn er zum Feilschen bereit gewesen wäre.
[12] Normale Stille tritt ein, wenn jemand versucht leise zu sein. Stillere Stille entsteht, wenn
keiner mehr da ist, der versucht leise zu sein.
[13] Auch wenn dies bei letzterem andere Gründen haben mochte.
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